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Dimensions 1 2015 | wissenschaft
Endokarditisprophylaxe in der Zahnmedizin Die Endokarditisprophylaxe hat sich in den letzten Jahren deutlich geändert. Die Anzahl der Patienten, welche sich gemäss neusten Empfehlungen für eine Endokarditisprophylaxe qualifizieren, hat drastisch abgenommen. Dies hat mit der historischen Entwicklung der Empfehlungen genauso zu tun wie mit der Beobachtung, dass spontan auftretende Bak teriämien, z.B. auch beim Zähneputzen oder Kauen, viel häufiger Ursache einer Endokarditis sind als zahnärztliche Eingriffe. Die wichtige Rolle der guten und regelmässigen Mund hygiene ist in den letzten Jahren wieder vermehrt in den Vordergrund getreten.
Dr. med. Johannes Nemeth Prof. Dr. med. Rainer Weber UniversitätsSpital Zürich
Einführung Für das Entstehen einer Endokarditis sind im Wesentlichen zwei Faktoren wichtig. Erstens ein Oberflächendefekt am Endothel einer Herzklappe, der zum Beispiel bei einem Herzfehler oder einer bikuspiden Aortenklappe durch veränderte Strömungsverhältnisse des Blutes entstehen kann. Zweitens die Fähigkeit gewisser Bakterien, vor allem grampositiver Keime der Mund- und Hautflora, an geschädigten Endotheloberflächen anhaften zu können. Deshalb wird seit Mitte des letzten Jahrhunderts bei gewissen medizinischen Eingriffen die Durchführung einer Endokarditisprophylaxe mit Antibiotika empfohlen. Dies geschieht unter der Annahme, dass es während Eingriffen an mit Bakterien besiedelter Haut oder Schleimhaut zu einer Bakteriämie kommen kann, welche bei prädisponierten Patienten, vor allem solchen mit Herzfehlern, zu einer Endokarditis führen kann. Im Jahr 2007 wurden die Indikationen für eine Endokarditisprophylaxe signifikant geändert. Die allermeisten Patienten, welche sich vorher noch für eine Antibiotikaprophylaxe qualifizierten, erhalten heute keine Antibiotika mehr. Vielmehr wird nun bei ihnen eine optimale Mundhygiene empfohlen. Wie es zu diesem radikalen Wechsel kam, wird im Folgenden diskutiert. Um das Verständnis zu erleichtern, werden die historischen Entwicklungen der Empfehlungen ebenso beleuchtet wie die zugrunde liegenden Daten. Die für die zahnärztliche Praxis geltenden Empfehlungen werden am Ende des Artikels zusammengefasst. Historische Entwicklung Im Jahr 1885 beschrieb Sir William Osler die «maligne Endokarditis» in seinen berühmten «Gulstonian lectures on malignant endocarditis»
[1]. Er postulierte, dass die Endokarditis durch Bakterien hervorgerufen wird («The constant presence of bacteria seems undoubted»). Zudem beobachtete er, dass bei Patienten mit Endokarditis überdurchschnittlich häufiger Rheumatismus vorkam. Seine Schülerin, Maude Abbott (Abb. rechts), beobachtete zudem, dass Patienten mit Herzfehlern häufiger an einer Endokarditis litten. Zudem war sie die Erste, die im Jahr 1908 eine gute Hygiene («careful hygiene») empfahl [2, 3]. Einer der ersten Versuche der Prophylaxe einer Endokarditis mit Penicillin nach Zahnextraktion wurde im Jahr 1951, also wenige Jahre nach der klinischen Einführung dieses ersten Antibiotikums, publiziert [4]. Basierend auf den bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Daten wurde 1955 von der American Heart Association bei Patienten mit rheumatischen Herzfehlern oder mit angeborenen Herzfehlern eine antibiotische Prophylaxe bei Zahnextraktion empfohlen (zusammengefasst in [5]). Zwei Jahre später empfahl dieselbe Gesellschaft sowohl eine orale als auch eine intramuskuläre Gabe von Antibiotika über 5 Tage. Zusätzliche Evidenz gab es zu diesem Zeitpunkt keine. Über die nächsten 40 Jahre wurden die Empfehlungen mehrfach überarbeitet und abgeändert, aber immer ohne relevante Verbesserung der zugrunde liegenden Datenlage. 1997 wurde die mehrtägige Antibiotikagabe auf eine einmalige Gabe reduziert. In den nächsten 10 Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Assoziation zwischen Endokarditis und operativen beziehungsweise zahnärztlichen Eingriffen deutlich geringer ist als angenommen [6]. Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass die Endokarditis durch die häufigen im Alltag auftretenden Bakteriämien, insbesondere