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Besser spät als nie (Manfred Weber MdEP)

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von Manfred Weber MdEP (Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament und stellvertretender Parteivorsitzender der CSU)

Willkommen im Brexit – es tut mir leid!”, sagt der niederländische Zöllner als er die frisch geschmierten Vesperbrote des LKW-Fahrers am Fährterminal beschlagnahmt. Sichtlich ungläubig und angesichts des Verlusts seines Proviants traurig, schaut dieser seinen sorgfältig gepackten Pausenbroten hinterher. Die Szene zeigte die niederländische Nachrichtensendung Een Vandaag.

Der Zöllner hat seit dem 1. Januar 2021 keinen Spielraum mehr: Bei der Einreise aus einem Nicht-EU-Land, dürfen keinerlei Fleisch- oder Milcherzeugnisse mitgeführt werden. Die Befreiung von gesundheitspolizeiund pflanzenschutzrechtlichen Kontrollen innerhalb der EU gilt nicht mehr für Großbritannien.

Mit dem Ablauf des letzten Jahres endete die zuvor geltende Übergangsfrist und damit auch die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches im EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Doch leider gibt es deutlich schwerwiegendere wirtschaftliche Konsequenzen als die drohende Beschlagnahme von Wurst- und Käsestullen. Es ist vielmehr das Ende des freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs.

Umso bedauerlicher, dass der britische Premierminister Johnson sich in seiner Verhandlungsstrategie dazu entschieden hatte, bis Weihnachten keine Einigung zuzulassen – aus Angst vor der Reaktion der harten Brexiteers in den eigenen Reihen. Uns Europäern zwang er damit ein sehr unwürdiges Verfahren auf. Nur dank des unermüdlichen Einsatzes des europäischen Chefunterhändlers Michel Barnier und seines Teams gelang es, nach einem nicht enden wollenden Verhandlungsmarathon, am Heiligabend eine Übereinkunft zu erreichen. Wie in einem Scheidungsvertrag zwischen früheren Eheleuten gibt es auch beim Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich keine Gewinner. Aber für Bürger sowie Unternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals und der Irischen See schafft der Vertrag in den wesentlichsten Bereichen Rechtsicherheit und damit Planbarkeit. Auf den über 1.400 Seiten der deutschen Textversion regeln vier Säulen die zukünftige Partnerschaft: erstens ein Freihandelsabkommen, zweitens eine umfassende Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Energie, Soziales, Umweltschutz und Fischerei, drittens eine enge Sicherheitspartnerschaft für die Bürgerinnen und Bürger und viertens ein Governance-Rahmen.

Der Freihandelsteil sieht, im Gegensatz zu Abkommen mit anderen Drittstaaten wie Japan oder Kanada, keine Zölle oder Mengenbeschränkungen für Waren vor. Das ist gerade für die europäischen Produzenten von sensiblen Gütern aus der Landwirtschaft oder der Automobilindustrie wichtig. Dadurch konnte auch eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland abgewendet werden, da die Zollgrenze de facto in die Irische See verschoben wurde.

Die vereinbarte Zusammenarbeit in weiteren wirtschaftsrelevanten Bereichen bezweckt vor allem gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen: Großbritannien kann so seinen Firmen keine unfairen Wettbewerbsvorteile durch Aufweichung der bisherigen hohen EU-Standards, insbesondere in Bereichen wie Umweltschutz, Kampf gegen den Klimawandel und der CO2-Preisgestaltung, Sozial- und Arbeitsrechte, Steuertransparenz und staatliche Beihilfen, verschaffen. Abgesichert sind diese gegenseitigen Verpflichtungen durch einen verbindlichen Streitbeilegungsmechanismus und die Möglichkeit von Gegenmaßnahmen.

Die dritte Säule regelt die weiterhin enge Vernetzung aller europäischen Sicherheitsbehörden bei der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung. So werden Fluggastdaten und Strafregistereinträge weiter ausgetauscht. Bedauerlicherweise hat sich das Vereinigte Königreich jedoch zum Rückzug aus dem Schengener Informationssystem, einer der wichtigsten Datenbanken zur Fahndung nach Kriminellen, entschlossen.

Ein Governance-Kapitel klärt und überwacht als vierte Säule die rich- tige Handhabung des Abkommens: Im gemeinsamen „Partnerschaftsrat“ werden auftretende Probleme bei der ordnungsgemäßen Anwendung und Auslegung erörtert und gelöst. Aus europäischer Sicht ist vor allem bedauerlich, dass der Vertrag keine Regelungen für eine Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik enthält. Zudem wird das erfolgreiche und gerade für junge Europäer oftmals prägende ERASMUS+ Programm nicht gemeinsam weitergeführt. Aus britischer Sicht schmerzt, dass das Abkommen weder einen Zugang zum EU-Binnenmarkt noch für den Bankensektor gewährt.

Ferner bleibt ein Wermutstropfen: Die vorläufige Anwendung des Vertrages, ohne vorherige Einbeziehung des EU-Parlaments, darf auf keinen Fall zum Vorbild für andere internationale Verhandlungen der EU werden. Denn nur eine umfassende, genaue und nicht überhastete demokratische Kontrolle schafft das unabdingbare Vertrauen der Bürger in die oftmals komplexen Verhandlungsergebnisse. Das EU-Parlament wird den Vertragstext nun sehr sorgfältig prüfen. Das bedeutet viel Detailarbeit in den zuständigen Fachausschüssen. Nach hoffentlich positiver Prüfung folgt dann die Ratifizierung des Abkommens in einer Plenarsitzung im Frühjahr dieses Jahres.

Auch über vier Jahre nach dem britischen Referendum sitzt der Schock des Brexits nach wie vor tief. Die EU ist auch künftig nicht immun gegen Spaltungstendenzen. Bleibt zu hoffen, dass mittlerweile die Mehrheit gelernt hat, wie wir mit Europa und miteinander in Europa umgehen müssen.

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