ERKER 03 2022

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Das Seilerhandwerk in Gossensaß Das Seilerhandwerk gehört zu den ältesten Handwerksberufen. Ist es ausgestorben? Nein, es lebt noch. Zumindest da und dort in Tirol. Und in Gossensaß gibt es noch vergessene Seilergeräte, die um 1900 angefertigt wurden. Im Marktflecken an der Brennerstraße steht am südlichen Ende des Dorfes in der Romstraße das im Volksmund allseits bekannte „Soalerhaus“, das noch heute auf das alte Seilerhandwerk hinweist. Es befand sich seit dem ausgehenden Mittelalter im Besitz der Familie Amorth, seit 1792 Amort geschrieben. Von den „Ehewirtsleit Amorth Andree, Dorfanwalt, und Frau Christina Fraisl“ – die Wirtsbehausung trug den Namen „beim Anwalt“ – ging das Haus 1712 an deren Sohn Anton über. Irgendwann zog hier eine Seilerei ein und seit damals nennt man die Behausung bis heute „beim Soaler“. Die letzten Erben verkauften das baufällige Haus 2020 an neue Besitzer, die es restaurieren ließen und darin Mietwohnungen schufen. Dabei wurde man in einem Keller auf die vergessenen alten Seilerge-

Restaurierte Seilergeräte von 1900 im „Soalerhaus“ in Gossensaß

Gossensaß zurückgebracht. Was mit ihnen nun geschieht, muss von den neuen Besitzern entschieden werden. Das Seilerhandwerk

räte aufmerksam. Das Kuratorium für Technische Kulturgüter in Bozen nahm sich der geschichtsträchtigen Werkgeräte an, suchte lange nach einem Fachmann für deren Restaurierung und fand diesen schließlich in einem Bauern in Glanz, einer Fraktion der Marktgemeinde Matrei in Osttirol. Der Bergbauer Josef Obkircher, der heute noch dieses alte Handwerk betreibt, restaurierte die drei kostbaren Stücke liebevoll. Diese wurden anschließend wieder nach

Der Seiler, Seilemacher, im Norden Deutschlands der Reeper genannt, war und ist ein nicht leichter Beruf. In den Hansestädten war dieser Beruf mit Ansehen und Reichtum verbunden, wer kennt nicht das Lied: „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins …“ von Hans Albers. Bei uns hingegen war und ist der Seiler, besonders heute, ein Nebenberuf von Bauern und anderen; man findet ihn in Tirol nur mehr selten oder überhaupt nicht mehr. Die Herstellung eines Seiles war eine langwierige und schwere Arbeit. Die Seile wurden bei uns vor allem aus Hanf und Flachs hergestellt, anderswo nahmen Seiler auch Tierhaar (Pferdehaar, Kuhhaar), Lindenbast, Nesseln und dergleichen. Dieses Rohmaterial musste vorerst bearbeitet werden. Es wurde in eine Röste gelegt, bis sich das Holz von den Fasern löste. Dann wurde es getrocknet und später auf mit Nägeln bezogenen Brettern durchgezogen, damit die Holzreste abgingen. Jetzt konnte

man die sogenannten Litzen erstellen, das sind ineinander gedrehte Flachsschnüre, aus denen das Seil gedreht wurde. Die Litzen werden zwischen einem Drehmechanismus und der Spannvorrichtung eingespannt. Der Drehmechanismus wird von Hand angetrieben. Je nach Seilstärke wird durch die Seilwinde die gewünschte Spannung erzeugt. Je nach Länge des Seiles braucht es ein variables Gegengewicht. Je stärker das Seil, desto größer das Führungsteil. Die Arbeitsstätte des Seilers lag gewöhnlich wie beim „Soaler“ in Gossensaß am Dorfrand. Sie

brauchte viel Platz und hatte meistens eine Überdachung. Darunter wurde eine längere Bahn, die Seilerbahn, angelegt. Sie sollte rund 30 m lang und 1 m breit sein. Es wurden hier Bindefäden, Schnüre, Seile und Stricke (kurze Seile bis zu 2 m Länge wurden Stricke genannt) hergestellt. Der Schutzpatron der Seiler ist übrigens der hl. Paulus. Nach 1900 wurde das Seilerrad durch die Spinnmaschine ersetzt. Heute haben das einstige Kleingewerbe maschinelle Großbetriebe ersetzt. IGünther Ennemoser

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