UPDATE Standpunkte
WOKE SEIN
Ist DIE NEUE WACHHEIT, mit der wir Diskriminierung wahrnehmen, zeitgemäß und notwendig – oder einfach nur die nächste Evolutionsstufe des Spießertums?
PRO
Na, wie gut kamen Sie heute Morgen aus dem Bett? Waren Sie direkt mit dem ersten Weckerklingeln hellwach? Oder brauchten Sie erst eine kalte Dusche, Kaffee, etwas Zeit? Wach zu werden ist ein Prozess, den wir alle anders beschleunigen. Sie können sich schon denken, worauf ich hinauswill: Schließlich ist das englische Wort für aufwachen, „to wake“, namengebend für das Wokesein. Und auch bedeutungstiftend: Denn wir sind nicht einfach woke. Jeder, der mit seinem IdeologieSchwert die Gesellschaft in „Aufgewachte“ und „Ignorante“ teilt, vermittelt hier ein falsches Bild. Wokeness ist eine Haltung, die wir uns erarbeiten müssen. Ein Weckersound, der uns beim ersten Klingeln hellwach macht. Warum wir das brauchen? Sagen Sie mir lieber, warum nicht. Welchen Grund gibt es, nicht dafür zu sorgen, dass sich alle Menschen in unserer Gesellschaft wohlfühlen? Natürlich muss man Ungerechtigkeiten dafür erst einmal erkennen. Vor allem als Person, die keiner Minderheit, sondern der Mehrheit angehört, das egozentrische Weltbild kurz ziehen lassen und die Welt mit den Augen anderer sehen. Genau darum geht’s beim Wokesein: sich eine Feinfühligkeit gegenüber Momenten der Diskriminierung, etwa Rassismus oder Sexismus, anzueignen. Dafür auch das eigene Handeln infrage zu stellen. Schließlich formt jeder Einzelne von uns die Gesellschaft mit. Dass in der kollektiven Wokeness schon manches gut läuft, vieles aber noch nicht, zeigte sich etwa Anfang des Jahres im RTL-Dschungelcamp: Unser Februar-Cover-Star Linda Nobat bricht in Tränen aus, nachdem Mit-Camperin Janina Youseffian nach einer rassistischen Beleidigung, die sie ihr an den Kopf warf, rausgeworfen wurde. Denn: Es war das erste Mal in ihrem Leben, sagte die 27-jährige Linda, dass so etwas „gerecht gemacht wurde“. Klingelt’s bei Ihnen auch? 28
CONTRA
PHILIP WOLFF Playboy-Textchef, tolerant
Der Moment, in dem ich bemerkt habe, dass auch ich schon etwas woke im Kopf bin, war die Einschulungsfeier meiner Tochter 2018. Viertklässler trugen ein harmloses Begrüßungslied vor: „Alle Kinder lernen lesen, Indianer und Chinesen.“ Dazu hielten sie ihre Finger als Federschmuck hinter die Köpfe und zogen die Augen zu Schlitzen. Kein Problem, indigene Amerikaner waren nicht anwesend, und meine Tochter, die mütterlicherseits koreanische Vorfahren hat, fühlte sich nicht angesprochen. Nur ich Idiot zuckte zusammen und hätte beinahe was gesagt. Und dafür schäme ich mich sehr. Denn ich will nicht, dass meine Kinder Rassismus erfahren – weder von rechts noch aus der linken Ecke der Woken: jener selbst ernannten „Erwachten“, die mit spießbürgerlicher Verve darauf achten, dass Menschen anderer Kulturen, Hautfarben oder Geschlechter identitäten nicht imitiert oder beschämt werden. Eine Idee, die schön klingt, aber den gravierenden Denkfehler hat, dass sie identitär funktioniert: Wer was sagen oder machen darf, ist eine Frage der Herkunft. So konnte neulich die weiße Sängerin Ronja Maltzahn nicht bei „Fridays for Future“ auftreten, weil sie Dreadlocks trägt. Das dürfen nur Schwarze. So musste ein Kanadier sein Yoga-Studio schließen, weil Yoga aus Indien kommt, er nicht. Konsequente Wokeness ist rassistisch und bildungsfern. Bücher kommen auf den Index, weil sie von der Kolonialzeit handeln. Und einem woken Berliner Publikum ist die französische Publizistin Caroline Fourest nicht zuzumuten, weil sie in ihrem Buch „Generation Beleidigt“ den Woken „den alten Reflex“ vorwirft, dass sie Menschen nach Hautfarben beurteilen. Übrigens: Im bayerischen Dirndl sieht meine Tochter top aus. Und ich – eat this, wokies! – trage gern Lederhosen, obwohl ich vom Niederrhein komme.
ILLUSTRATION : LENNART GÄBEL FÜR PLAYBOY. FOTOS: PLAYBOY (2)
NINA HABRES Playboy-Redakteurin, kritisch