chilli cultur.zeit

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FONDATION BEYELER

29. 1.–21. 5. 2023

RIEHEN / BASEL

LEINWAND

KÖSTLICHE KINO-KOMÖDIE MIT WELTSTAR DEPARDIEU

MUSIK

BÜHNEN FÜR ALLE –ALLES IM EIMER?

LITERATUR

FREIBURG-STORYS VON DEN SCHREIBWILDEN

HEFT NR. 1/23 13. JAHRGANG

Begeisterte Netzwerkerin

ach mehr als 15 Jahren als Leitender Direktor der Städtischen Museen hat Tilmann von Stockhausen im Oktober 2022 Freiburg in Richtung Lübeck verlassen. Im November beschloss der Gemeinderat, die promovierte Kunsthistorikerin Jutta Götzmann zu seiner Nachfolgerin zu berufen. Die bisherige Gründungsdirektorin des Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte beginnt am 15. März mit ihrer Arbeit in Freiburg. Mit der cultur.zeit sprach die 57-Jährige über ihre künftigen Aufgaben.

cultur.zeit: Frau Götzmann, um mit der ersten in der Stellenausschreibung formulierten Anforderung für Ihre neue Tätigkeit zu beginnen: Ist Kunst und Kultur Ihre Leidenschaft und brennen Sie für Ihre Themen?

Götzmann: Das kann ich eindeutig

mit Ja beantworten. Auch wenn ich es nicht in der Stellenausschreibung gelesen hätte. Ich bin seit 1993 im Museumswesen tätig, habe während des Studiums in der Dokumentation des Landesmuseums in Münster begonnen und mir so auch mein Studium mitfinanziert. Auch nach 14 Jahren in leitender Funktion ist bei mir noch immer eine große Begeisterung für den Beruf vorhanden. Ich brenne für die Kunst und Kultur, aber auch für das Museum als wichtigen und zentralen Arbeitsort für künstlerische und gesellschaftliche Debatten.

cz: Wie soll dieser Ort aussehen?

Götzmann: Es sollte ein Ort sein, der nahe am Puls der Zeit ist. Ich bin an einer Vielstimmigkeit interessiert, sowohl im kulturellen Angebot als auch in den Zielgruppen. Museen sollten, und das können sie besonders in einem Verbund wie in Freiburg, ein möglichst breites Spektrum abdecken und viele Menschen erreichen. Ich habe den gesellschaftlichen Auftrag

mal als Formel so definiert: Ein Museum sollte ein niedrigschwelliges, weltoffenes Haus für die diverse Gesellschaft sein. Das ist für mich zentral bei der Überlegung, wie wir Begegnungsorte schaffen, an denen passive Besucher zu aktiven Nutzern werden können, die sich und ihre Interessen in das Programm einbringen.

cz: Sie haben in Potsdam schon einige niedrigschwellige Angebote erarbeitet, haben dafür 2016 den Wilhelm-Foerster-Preis „für besondere Verdienste in der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse“ erhalten. Sie waren dort gut vernetzt. Was hat Sie dennoch zu diesem Neustart bewogen?

Götzmann: Ich hatte dort meine Ziele erreicht und habe mich bewusst für eine Neuorientierung entschieden und einen Ort gesucht, der mir einen größeren Gestaltungsrahmen in einer attraktiven, kulturbewussten Region bietet. Da kam das Angebot in Freiburg gerade zum richtigen Zeitpunkt. Die Entwicklungen der Städtischen

MÄRZ WIRD DIE KUNSTHISTORIKERIN JUTTA GÖTZMANN LEITENDE DIREKTORIN DER STÄDTISCHEN MUSEEN FREIBURG
IM
von Erika Weisser
N
Will viele Menschen erreichen: Jutta Götzmann setzt auf niedrigschwellige Angebote.
38 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023
Foto: © Michael Lüder

Museen Freiburg habe ich mit Interesse viele Jahre zuvor verfolgt.

cz: Bisher waren Sie für ein Museum zuständig, jetzt sind es plötzlich sechs: das Augustinermuseum, die vier anderen Museen sowie das Dokumentationszentrum Nationalsozialismus. Worin genau besteht denn Ihre Aufgabe als Leitende Direktorin?

Götzmann: Als Direktorin des Augustinermuseums obliegt mir die inhaltlich-fachliche Leitung und damit die Ausstellungs- und Programmplanung für dieses Museum sowie die Begleitung des dritten Bauabschnitts. Die anderen Häuser haben auf der fachlichen Ebene ihre eigenen zuständigen Leiterinnen. Die Leitende Direktion ist eine Art übergeordnete amtliche Instanz, die stärker auf Koordination, Zukunftsorientierung und eine gemeinsame strategische Ausrichtung aller Einrichtungen im Verbund zielt. Das setzt eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit voraus, wovon ich nach meinem bisherigen Wissen über die gut aufgestellten Freiburger Museen aber ausgehe. Ich finde es auch positiv, dass es inzwischen im Kulturbereich mehr Frauen in Führungspositionen gibt.

cz: Was erwarten Sie von Ihren künftigen Kolleg·innen – und was können diese von Ihnen erwarten?

Götzmann: Ich arbeite sehr gerne als Netzwerkerin, sowohl außer- als auch innerhalb der Museumslandschaft, und setze auf persönlichen Kontakt und Kommunikation. Noch vor meinem Arbeitsbeginn werde ich mich mit den Leitungskolleginnen zu ersten Gesprächen treffen. Zuverlässigkeit und Loyalität sind für mich wichtige Eigenschaften, zumal ich fest davon überzeugt bin, dass ein Museum nur im Team gut aufgestellt ist. Ich glaube an die Systemrelevanz der Kultur und setze mich engagiert für die Häuser in meiner Verantwortung ein. Schon jetzt freue ich mich auf die Zusammenarbeit. Und natürlich auch auf die reizvolle Stadt, die ich schon mehrmals besucht habe.

cz: Frau Götzmann, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Kampf gegen Klimakiller

Wie Museen und Theater die Nachhaltigkeitsdeklaration mit Leben füllen

Bundesweit wollen Kulturbetriebe nachhaltiger werden. Auch in Freiburg: Im November haben Kulturamt, Theater Freiburg, Stadtbibliothek und städtische Museen die Nachhaltigkeitsdeklaration culture4climate unterzeichnet. Was ändert die Selbstverpflichtung? Das chilli hat beim Theater und den Museen nachgefragt.

„Wir schreiben uns das gerne auf die Fahnen“, sagt Christine Litz. Die 55-Jährige ist kommissarische Leiterin der städtischen Museen Freiburg. Sie sieht die Deklaration als ersten Schritt. Jetzt müsse sie mit Leben gefüllt werden. Dazu schaue sich das Team an: „Was sind die größten Klimakiller?“ Ein konkreter Vorschlag steht im Raum: sogenannte Klimakorridore einzurichten. Bei Museen ist der wohl größte CO ²-Verursacher der Energieverbrauch für konstante Temperaturen und Luftfeuchtigkeit. „Kunst braucht ein spezifisches Klima“, erklärt Litz. Sonst würden beispielsweise alte Gemälde Risse bekommen.

Permanente 20 Grad Raumtemperatur sind zum Schutz der Exponate vorgegeben. Zudem 50 bis 55 Prozent Luftfeuchtigkeit. Mit den Klimakorridoren sollen die Werte breiter werden: „Wir können so auf 40 bis 60 Prozent Luftfeuchtigkeit öffnen – und auf 19 bis 25 Grad“, erklärt Litz. Doch die Werte dürften sich pro Stunde nur um 0,5 Prozent oder 0,5 Grad ändern. Im Zentralen Kunstdepot seien solche Korridore seit zehn Jahren Standard. Im Raum steht nun, das auch für die Museen zu übernehmen.

Litz findet Nachhaltigkeit wahnsinnig wichtig und sagt: „Es geht nur, wenn man alle mitnimmt.“ Durch die Unterzeichnung habe das Team das Thema noch mehr auf dem Schirm. Die Maßnahmen würden nun strategisch zu-

Wiederverwertet: Bei den Kostümen des Stücks „Die Schneekönigin“ war keine Neuware dabei.

sammengetragen – und neue Vorschläge eingebracht. Beispiele sind die Wiedernutzung von Vitrinen oder der Bau von Sockeln, die nach einer Ausstellung als Regal weiterverwendet werden könnten.

Im Theater Freiburg wird Nachhaltigkeit ebenfalls großgeschrieben. „Viele Anstrengungen unternehmen wir schon seit Jahren“, sagt die kaufmännische Direktorin Tessa Beecken. Der Fokus werde durch die Selbstverpflichtung verstetigt. Das größte Thema im Theater? „Gebäude, Gebäude, Gebäude“, sagt die 56-Jährige. Zugesagte 13,4 Millionen Euro Bundesförderung für die Sanierung sieht sie daher als Glücksfall.

Zu den bisherigen Maßnahmen zählt das Umstellen auf LED-Beleuchtung im Gebäude. Zur effizienteren Steuerung von Heizung und Lüftung seien Sensoren installiert worden. Die Zahl der Drucker im Haus soll von 70 auf 20 reduziert werden. „Wir schaffen spürbare Sprünge in der Vermeidung“, sagt Beecken. Kürzlich habe sich ein interner Umweltausschuss im Theater gegründet. Er soll helfen, noch mehr in Bewegung zu setzen.

Ein weiterer Punkt: Das Nutzen des riesigen Theaterfundus. „Muss es immer etwas Neues sein für ein Stück?“, fragt Beecken. Jüngst hat die Kostümbildnerin Su Bühler für eine Produktion ausschließlich auf Kostüme aus dem Theaterfundus und auf SecondHand-Ware gesetzt. Bis 2035 will das Theater Freiburg klimaneutral sein. Beecken ist überzeugt, es zu schaffen. Die Deklaration helfe –als Push für Kommunikation, Vernetzung und Verstetigung.

Till Neumann Wollen was ändern: Christine Litz (links, städtische Museen) und Tessa Beecken (Stadttheater) Foto: © Theater Freiburg Foto: © Patrick Seeger Foto: © Britt Schilling
FEBRUAR 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 39 KULTUR

Betörende Pastelltöne

DES US-AMERIKANISCHEN KÜNSTLERS WAYNE THIEBAUD

Wayne Thiebaud? Wer ist denn Wayne Thiebaud? Diese Frage, die selbst unter kunstaffinen Menschen in Europa bisher mit einiger Berechtigung gestellt werden konnte, ist seit Ende Januar zumindest im euroregionalen Dreiländereck Schweiz/ Frankreich/Deutschland leicht zu beantworten: In der Fondation Beyeler in Riehen ist bis zum 21. Mai eine Werkschau dieses außerhalb der USA weitgehend unbekannten Künstlers zu sehen. Und wer sie besucht, wird ihn und sein Werk bestimmt nicht so schnell wieder vergessen.

Bei der Retrospektive mit 65 Gemälden und Zeichnungen dieses Malers handelt es sich um die erste Thiebaud-Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum. Bisher war hier lediglich eine kleine Auswahl seiner Bilder zu sehen, zusammen mit Werken anderer Kunstschaffender – und das

vor 50 Jahren: 1972 bei der Documenta 5 in Kassel und 1975 im Wallraf-Richartz-Museum in Köln. Und anders als in den USA sind sie in Europa auch in öffentlichen Sammlungen und Dauerausstellungen nur sehr spärlich vertreten. Kein Wunder also, dass Thiebaud, der in der figurativen Tradition von Edward Hopper und Georgia O’Keeffe steht, immerhin 101 Jahre alt wurde und bis an sein Lebensende (2021) malte, hierzulande kaum bekannt ist.

Dank der Pionierleistung des Teams um Beyeler-Chefkurator Ulf Küster kann sich dies jetzt ändern. Ob bei der Entscheidung, Thiebaud nun ins Dreiländereck zu holen, ein in blassen Blautönen gehaltenes Ölgemälde auf Leinwand den Anstoß gab? „35 Cent Masterworks“ heißt das 1970 entstandene Bild, und es zeigt zwölf bedeutende, sehr teuer gehandelte Werke der Welt-Kunstgeschichte,

DIE FONDATION BEYELER ZEIGT EINE GROSSE WERKSCHAU Wayne Thiebauds „Two Paint Cans“ (oben) ziehen den Blick der Betrachter in die Tiefe des nuancenreichen Farbspektrums seiner figurativen Malerei. von Erika Weisser Wayne Thiebaud, Two Paint Cans, 1987, Öl auf Papier auf Karton aufgezogen, 34,9 x 50,5 cm, Sammlung der
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Wayne Thiebaud Foundation © Wayne Thiebaud Foundation/2022, ProLitteris, Zurich, Foto: Matthew Kroening

Wayne Thiebaud: Eating Figures (Quick Snack) 1963 (u.l.), Öl auf Leinwand, 181,6 x 120,7 cm, Privatsammlung, Courtesy Acquavella Galleries

die zugleich als seine künstlerischen Vorbilder gelesen werden können. Fein säuberlich hat er sie arrangiert in einem Zeitschriftenregal, das vor jedem Kiosk stehen könnte. Drei dieser hier im Miniaturformat dargestellten Werke gehören zur Sammlung der Fondation Beyeler: Piet Mondrians Tableau No. IV, Claude Monets Seerosen und Pablo Picassos Stillleben mit Gitarre.

Cent Masterworks, 1970−72 (o.r.), Öl auf Leinwand, 91,4 x 61 cm, Sammlung der Wayne Thiebaud Foundation, beide: © Wayne Thiebaud Foundation/2022, ProLitteris, Zurich

Dieses Bild, das gewissermaßen die Verbindung zwischen Beyeler und Wayne Thiebaud manifestiert und das in jedem einzelnen, bis ins kleinste Detail wiedergegebenen Werk trotz Postkartengröße ein breites und differenziertes, das jeweilige Original nie verfälschendes Farbspektrum aufweist, macht den Auftakt zu der Ausstellung. Zusammen mit dem 1968 entstandenen Porträt „A Student“, dessen farbliche Tiefe, Vielfalt und Strahlkraft sich erst beim zweiten Blick offenbart – und Bewegung und Leichtigkeit in die strenge, sehr statisch scheinende Figur bringt.

Diese Bilder, sagt Kurator Küster, können als Schlüsselwerke für die Ausstellung gelten, die nach seinen wichtigsten Werkgruppen sortiert ist: Stillleben, Porträts, Stadtansichten und (Fluss-)Landschaften. Zu

den Schlüsselwerken gehört auch das Bildnis einer Figur, die allen vertraut ist: Mickey Mouse. So, wie man diesen liebenswerten Superstar der Comic- und Popkultur kennt – mit gelben Latschen, roter Hose und frechem, vorwitzigem Gesichtsausdruck. Und beim Anblick dieser räumlich dargestellten Gestalt mit dem merkwürdigen blauen Schatten hat man das Gefühl, Wayne Thiebaud doch gekannt zu haben, ohne seinen Namen zu kennen – allein durch dieses ikonische Werk.

Außer den erwähnten Miniaturen gehört auch Mickey zu den Sujets, die Thiebauds künstlerischen Werdegang geprägt haben: Während seiner Studentenzeit verdiente sich der talentierte Zeichner seinen Lebensunterhalt in den Walt-Disney-Studios. Und womöglich hat er sich seinen ironischen Blick auf die Verheißungen des konsumorientierten American Way of Life, die er auf einem Großteil der ausgestellten Bilder in betörenden Pastelltönen beschwört und zugleich entlarvt, von dieser cleveren Maus abgeschaut.

INFO

Wayne Thiebaud

Ausstellung mit umfangreichem Rahmenprogramm

29. Januar bis 21. Mai 2023

Fondation Beyeler

KULTURNOTIZEN

100.000 mehr in Freiburgs Museen

Die fünf städtischen Museen Freiburg zählten im vergangenen Jahr 240.672 Gäste, über 100.000 mehr als im Vorjahr. Ins Augustinermuseum mit dem Haus der Graphischen Sammlung strömten knapp 108.000 Kunstbegeisterte – trotz baubedingter Teilschließungen. Publikumsmagnet war mit mehr als 40.000 Besuchern die Ausstellung „Freiburg und Kolonialismus: Gestern? Heute!“, die noch bis zum 25. Juni läuft. Im Haus der Graphischen Sammlung wollten 3443 Menschen die Schau „Christoph Meckel – Mensch-Sein, KindSein, Ich-Sein“ (siehe Foto) sehen.

Im Museum Natur und Mensch sorgten 55.200 kleine und große Gäste für regen Betrieb, das Museum für Neue Kunst erzielte mit 33.023 Besucher·innen ein deutliches Plus von fast 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (16.948), mehr als 10.000 allein, um „Freundschaftsspiel. Horst und Gabriele Siedle-Kunststiftung: Museum für Neue Kunst“ zu erleben.

Skeptischer Blick: Die „Eating Figures“ scheinen nicht begeistert vom „Quick Snack“

Baselstrasse 77, CH-4125 Riehen www.fondationbeyeler.ch

Das Archäologische Museum Colombischlössle verkaufte 31.190 Tickets, sogar mehr als im Vor-Corona-Jahr 2019 (23.119). Der dritte Teil der Trilogie zum Stadtjubiläum, „freiburg.archäologie – Leben vor der Stadt“ zählte insgesamt 18.154 Gäste. Bei „Habalukke – Schätze einer vergessenen Zivilisation“ hinterfragten 13.860 Personen Erkenntnistheorien der Archäologie, die Museumspraxis und die Geschichte ausgestellter Objekte der vermeintlichen MittelmeerZivilisation „Habalukke“.

Das Museum für Stadtgeschichte hatte 13.366 Interessierte, mehr als doppelt so viel wie 2021. Die Website der Städtischen Museen Freiburg wurde im vergangenen Jahr fast 200.000 Mal aufgerufen. bar

Figur mit Maske ist das Bild betitelt, das Christoph Meckel 1962 gemalt hat. Foto: © Axel Killian Bezug zu Beyeler: Drei dieser Meisterwerke sind Bestandteil der Museumssammlung.
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Eine Spur von Umami

SCHWERGEWICHT DEPARDIEU SUCHT NACH DEM TIEFEREN SINN VON ESSEN UND LEBEN

Der Geschmack der kleinen Dinge

Frankreich/Japan 2022

Start: 9. Februar 2023

EEigentlich müsste Gabriel Carvin überglücklich sein: Als allererster Küchenchef Frankreichs erhält er für seine außergewöhnlichen Kreationen das dritte Exemplar des in der kulinarischen Welt sehr begehrten Kristallsterns. Doch der Meisterkoch und Inhaber des exquisiten Pariser Nobelrestaurants „Monsieur Quelqu’un“ lässt die Verleihungszeremonie ungerührt und missmutig über sich ergehen – und antwortet auf die entsprechende Frage, dass er sich nur über seinen Töpfen glücklich fühle.

Kein Wunder: Von seiner Familie hat sich der einst leidenschaftliche Sternekoch, der nur für sein Metier lebte, längst entfremdet. Dem älteren, zum Nachfolger bestimmten Sohn Jean spricht er jegliches kulinarisches Talent ab, zum jüngeren Nino findet er keinen Zugang – und Ehefrau Louise betrügt ihn. Ausgerechnet mit dem smarten Restaurant-Kritiker, der den prestigeträchtigen Stern vergibt. Schon seit geraumer Zeit flüchtet sich der schwergewichtige und von sich selbst frustrierte Maître nicht nur in übermäßiges Essen, sondern auch in ausgiebigen Alkoholkonsum. So auch am Abend nach der Preisverleihung: Während Louise auf dem Weg zu ihrem Liebhaber ist, Jean sich in der Restaurantküche abmüht und Nino mit seinen Freunden auf Skateboard-Tour ist, greift Gabriel zur Flasche – und erleidet einen lebensbedrohlichen Herzinfarkt. Das alarmiert nicht nur die Familie, sondern auch ihn selbst. Allerdings weiß er nicht, was er ändern könnte. Bis sein alter Freund und kulinarischer Wegbegleiter Rufus ihn überredet, sich auf ein Hypnose-Experiment einzulassen. Frei

nach dem Motto: Wenn man den eigenen Körper nicht mehr bewegt bekommt, dann muss eben der Geist reisen. Das Experiment gelingt, Gabriel erwacht mit einem längst vergessenen Geschmack auf der Zunge. Und erinnert sich an den einzigen Kochwettbewerb, den er je verloren hat – gegen einen japanischen Kontrahenten, dessen Nudelsuppe damals die Jury in Verzückung versetzte.

Gabriel beschließt, diesen Tetsuichi Morita zu suchen – und dem Geheimnis der mysteriösen, zwischen salzig, sauer, süß und bitter angesiedelten, vollkommenen Geschmacksnote dieser Suppe auf die Spur zu kommen – dem Aroma von Umami, das er nie ergründen konnte. Er reist nach Japan, macht Erfahrungen mit Kapselhotels, Suppenküchen und Thermen, trifft auf merkwürdig weise Gestalten – und schließlich auf den meisterhaften Umami-Künstler, der ein einfaches Straßenlokal führt.

Nach anfänglichen Animositäten –und einem weiteren Vollsuff Gabriels – kommen die beiden ehemaligen Rivalen sich näher und gehen auf eine nicht nur kulinarische Reise zu den wesentlichen Geheimnissen eines guten Essens – und eines gelingenden Lebens. Köstliches und angenehm mysteriöses Wohlfühlkino.

Regie: Slony Sow Mit: Gérard Depardieu, Akira Emoto, Pierre Richard, Sandrine Bonnaire, Kyozo Nagatsuka, Rod Paradot, Bastien Bouillon u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 105 Minuten
42 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBURAR 2023 KINO
Fotos: © Neue Visionen

BIGGER THAN US

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR

Frankreich 2021

Regie: Flore Vasseur

Dokumentarfilm mit: Melati Wijsen u.a.

Verleih: Plaion Pictures

Laufzeit: 95 Minuten

Start: 16. Februar 2023

Recht auf Zukunft

(ewei). Seit Jahren kämpft Melati Wijsen gegen die Plastikverschmutzung in ihrem Land. Die 18-jährige Indonesierin hatte damit zwar schon einigen Erfolg; der Müll, der ihre Insel und das Meer überschwemmte, darf nicht mehr einfach so in die Gegend gekippt werden.

Doch das ist ihr nicht genug. Sie sucht Kontakt zu Gleichgesinnten, um sich mit ihnen zu vernetzen und gemeinsam für eine bessere Welt zu kämpfen. Im Libanon und in Griechenland, in Malawi und Uganda, in Brasilien und den USA wird sie fündig; sechs junge Menschen zeigen Melati ihre ganz eigene, von Mut und Engagement geprägte Welt. Sie kämpfen für Menschenrechte, für das Klima, für Meinungsfreiheit, soziale Gerechtigkeit und den Zugang zu Bildung oder Nahrung. Und sie sind in der Lage, alles zu verändern. Getragen von einem überzeugten Humanismus, von Mut und Hoffnung, verstehen sie sich als Teil eines Ganzen, das größer ist als sie selbst: das Recht auf eine lebenswerte Zukunft.

Deutschland 2022

Regie: Sonja Heiss

Mit: Devid Striesow, Laura Tonke u.a.

Verleih: Warner

Laufzeit: 116 Minuten

Start: 23. Februar 2023

Klinik als Spielplatz

(ewei). Joachim ist der jüngste Spross der Familie Meyerhoff. Und er hat – wie viele Nachzügler – unter seinen beiden älteren Brüdern zu leiden. Ihnen ist es ein Vergnügen, den Kleinen in hilflose Wutanfälle zu treiben.

Ganz hilflos ist er indessen nicht: Zum Glück hat er Menschen, bei denen er zumindest Verständnis findet. Weniger bei der Mutter, die zwar anwesend ist, aber ständig wie entrückt Aquarelle malt und von italienischen Sommernächten träumt. Auch nicht beim meist abwesenden Vater, der auch über seine Arbeit als Direktor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie hinaus ziemlich viel zu tun hat – auf privaten Abwegen.

Zuflucht findet der Junge bei den Patienten der Klinik, die sich mit schrägen Gefühlen und Ausnahmezuständen auskennen, freundlich zu ihm sind und schließlich seine Freunde werden – in vielen Lebenslagen. Die skurrile Geschichte eines Aufwachsens unter besonderen Umständen –irrsinnig komisch und tief berührend erzählt und gut gelaunt gespielt.

USA 2022

Regie: Todd Field

Mit: Cate Blanchett, Nina Hoss u.a.

Verleih: Universal

Laufzeit: 158 Minuten

Start: 2. März 2023

Schein und Sein

(ewei). Lydia Tár ist Dirigentin und Komponistin, weltberühmt und viel beschäftigt, eine leidenschaftliche Künstlerin, die weiß, was sie kann und will. Sie steht auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und gönnt sich nur selten ein wenig Privatleben, das sie mit ihrer Lebenspartnerin und Konzertmeisterin Sharon und der gemeinsamen Adoptivtochter Petra teilt.

Zur Krönung ihrer künstlerischen Laufbahn fehlt der Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker nur noch eines: Das Dirigat der 5. Sinfonie von Gustav Mahler. Sie will damit den kompletten Mahler-Zyklus vollenden, was bisher noch kein Maestro geschafft hat. Immer wieder musste sie das Projekt aufschieben, doch nun haben die Proben begonnen.

Doch plötzlich schleichen sich einzelne kleine Irritationen in ihr Leben – und weiten sich zu massiven Störungen aus. Ihre demonstrative Souveränität bröckelt, sie wird misstrauisch und unberechenbar. Cate Blanchett glänzt als fiktive Diva im Haifischbecken des Kulturbetriebs.

TÁR
Foto: © Plaion Pictures Foto: © Warner Bros
KINO
Foto: © Universal

Die Letzten ihrer Art

KÜNSTLER UND VERANSTALTER WÜNSCHEN SICH MEHR OPEN STAGES

Der Geruch von Rauch und Bier liegt in der Luft. Auf der kleinen Bühne in der Ecke des dunklen Raums spielen drei Musiker. An mehreren im Saal verteilten Tischen hören manche interessiert zu, andere lassen sich nicht in ihren Gesprächen stören. Nach einigen Minuten tritt der Sänger mit einer Ansage ans Mikro. „Wer ist der nächste“, will er wissen. „Du, oder?“, sagt er und zeigt auf einen Besucher. „Gut, okay“, erwidert der, wenig später steht er mit Gitarre auf der Bühne.

die Abende mit einem kurzen Set, gibt bei Bedarf den Lückenfüller. „Zu uns können alle kommen, auch Anfänger“, erklärt der 36-Jährige.

Als die Open Stage in der Metal- und Rockkneipe startete, war sie eine unter

Das „White Rabbit“ hat eine Leerstelle hinerlassen

Seit Anfang an dabei: Host und Moderator Markus Schillberg auf der Open Stage im Eimer.

Eine Szene, die sich so ähnlich jede Woche im „Eimer“ in der Freiburger Innenstadt abspielt. Seit fast dreizehn Jahren steigt hier eine Open Stage, zu Beginn vierzehntägig, bald dann wöchentlich. Schon immer mit dabei ist Host und Moderator Markus Schillberg. Er eröffnet

vielen. Heute ist das anders. „Es gibt in Freiburg keine Bühne mehr, die so offen ist wie diese“, sagt Schillberg. Als Verlust sieht er das Aus des „White Rabbit“ am Leopoldring. Über Jahre war die dortige wöchentliche Open Stage zur festen Instanz geworden.

Im Gegensatz zum kleinen Raum im „Eimer“ konnten Bands dort bis zur Schließung 2019 ordentlich Krach machen.

von Pascal Lienhard und Till Neumann Foto: © Pascal Lienhard
44 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023 MUSIK

Zwar gibt es in Freiburg Formate, die dem im „Eimer“ oder „White Rabbit“ ähneln. Im „KuCa“ an der Freiburger PH steigen die Open Stages aber nur gelegentlich. Die „Jazzsessions“ im Ruefetto sind musikalisch festgelegt. Bei der „New Constellation Kitchen“ der Freiburger Blues Association stehen monatlich festgelegte Stücke im Mittelpunkt. Die „MyStage“ von Jugendbildungswerk und Jazz- & Rockschulen zielt auf angemeldete Bands mit Musiker·innen zwischen 16 und 25 Jahren.

Auch Cristian „Kata“ Carrasco findet, dass es zu wenige offene Bühnen in Freiburg gibt. Der Sänger und Trompeter der Freiburger Gruppe El Flecha Negra organisierte von Juni bis August eine Open Stage im „Mamita“. „Am Anfang kamen 15 Leute, am Ende 50“, erzählt der 38-Jährige. Nach dem Auftakt musste er wegen eigener Konzerte pausieren. Bei einer Session im Winter kamen dann wenig Besucher·innen, inzwischen fehle ihm die Zeit für weitere Events.

Sechs verrucht aussehende Typen aus Freiburg wollen der Musikwelt ihren Stempel aufdrücken. Mit der EP „Dawgs“ möchten Cosmic Mints durchstarten. Um ihren „Psychedelic Fuzz & Roll“ auf mehr Bühnen zu bringen, fehlt derzeit aber eine Verstärkung.

Auch der Popbeauftragte sieht Handlungsbedarf

Einer, der seine ersten Freiburger Konzerte auf Open Stages gespielt hat, ist Sebastian Hesselmann. Der Musiker, der mittlerweile unter seinem Nachnamen mit Band Konzerte spielt, hält viel von dem Konzept. „Open Stages sind eine super Möglichkeit, relativ einfach und unkompliziert aufzutreten“, sagt der 30-Jährige. Gerade zu Beginn einer Karriere sei ein solches Angebot richtig gut, um sich auszuprobieren und eigene Songs live zu testen. Vor allem für junge Bands fehle dieses Angebot nach dem Ende des „White Rabbit“ definitiv. „Dort war es toll, es war immer viel los, es gab eine große musikalische Bandbreite und die Möglichkeit, sich zu vernetzen.“

Auch Tilo Buchholz, Popbeauftragter der Stadt Freiburg, sieht Handlungsbedarf. Gerade der niederschwellige Zugang auf eine Bühne für neue, unbekannte Bands, den das „White Rabbit“ geboten habe, fehle. Angebote in bestehenden Venues könnten punktuell helfen. Daher habe er im November begonnen, sich mit Akteuren auszutauschen, die aktuell oder früher in verschiedenen Locations Abende oder Reihen im Format einer offenen Bühne veranstaltet oder organisiert haben.

„Aktuell sammele ich deren Ideen und Bedürfnisse, um zu schauen, ob sich das irgendwie sinnvoll bündeln lässt“, erklärt er. Eine finanzielle Unterstützung durchs Kulturamt wäre zwar wünschenswert. Zurzeit sei der Fördertopf für Rock, Pop und Jazz aber mit etwa 14.000 Euro pro Jahr eher klein und von vielen Einzelprojekten umworben oder in Beschlag genommen.

Ob es in Freiburg bald mehr Angebote geben wird, bleibt unklar. Im „Eimer“ wird in jedem Fall weiter musiziert. Der Gitarrist, den Schillberg auf die Bühne geholt hat, jammt nach dem Host mit zwei Mitmusikern. Kurz darauf gibt es den nächsten Wechsel: Ein weiterer Künstler hat sich angekündigt.

Auf dem Foto sind die Musiker umrandet von roten Blumen. Doch rosig war die Lage zuletzt nicht: Ihr Debütalbum veröffentlichten sie kurz vor der Corona-Krise. Vieles ging den Bach runter. Doch aufgeben war kein Weg. Es entstanden fünf Songs, die am 17. Februar als „Dawgs“-EP erscheinen. Im Sommer soll eine LP folgen. Das lässige Piano-Intro im EP-Opener „Nighttime“ wird nach 16 Sekunden von einem wilden Soundgewitter unterbrochen. „Der Krach geht von einer unmelodiösen in eine melodiöse Richtung“, erklärt Gitarrist Attilio „Atti“ Ferrarese. Nach acht Sekunden löst er sich in einer melancholischen Melodie auf. Der Knoten scheint geplatzt für neue Wege. „Der Sound klingt vibyer, melancholischer als früher“, sagt Bassist Joey Ssymank. Das Debütalbum sei jumpy gewesen, jetzt seien mehr Hintergrundgedanken dabei. „Es liegt an der Zeit“, erklärt Ferrarese. Die vergangenen Jahre haben die Band mitgenommen. Jetzt wollen sie wieder von sich reden machen. Zur ersten Single Nighttunes haben sie ein Video gedreht. Es erzählt von kreativen Momenten in der Nacht. Wie aus dem Nichts ist der Song entstanden. Bei einer Rooftop-Session kam Ferrarese die Idee zum Lick: „Ich habe einfach etwas gespielt, Axel hat dazu gesungen.“ Für ihn und Ssymank ist es der Lieblingstrack der EP. „Wir haben ihn im Sommer in einem One Take aufgenommen – es war so perfekt“, erzählt der Bassist. Es habe einfach Klick gemacht. „Das macht den Song ein bisschen magisch.“ Mit fünf erdigen Tracks zeigt die Band erneut ihr Gespür für Groove – serviert in einem wilden Stilmix: Alexander Emmert singt gewohnt leidenschaftlich, die Band mag es experimentell. „Coffee Later“ mischt Blues und Funk, „Don’t Move“ kommt als rotzige Gitarrenballade daher, „Black Dogg“ hat Country-Elemente, und „Defeaning Storm“ schickt Reggae durch die Boxen. An einer Releasetournee arbeitet die Band. Doch dafür bräuchte es eine Person mehr: „Gigs zu kriegen ist schwierig ohne Booker“, sagt Ferrarese. Umso wichtiger ist es ihnen, mit guter Musik auf sich aufmerksam zu machen. Und zwar im DIY-Style. Alles außer dem Mastering haben die Musiker selbst gemacht. Till Neumann

MUSIK
„Bisschen magisch“
Foto: © CM
COSMIC MINTS VERÖFFENTLICHEN DIE EP „DAWGS“

Blues made in Black Forest

(pt). Vor einem Jahr erschien die erste LP. Nun legt das Freiburger Psychedelic-, Soul- &-BluesrockQuartett Sound of Smoke mit „Phases“ nach. Berliner Produktion sei Dank, klingen die elf neuen Songs geschliffener, kommen aber nicht ohne musikalische Ecken und Kanten daher.

Aufgenommen wurden sie immerhin mit Tonband-Technik aus den 60er- und 70er-Jahren. Der Sound ist klar und warm, die erklärten und großen Vorbilder Grace Slick (Jefferson Airplane), Lemmy Kilmister (Motörhead), John Bonham (Led Zeppelin) oder Ritchie Blackmore (Deep Purple) sind trotz Albumtitel in Versalien allerdings weit weg. Oft muss Isabelle Baptés helle Stimme gegen die Instrumente ihrer Bandkollegen Jens Stover, Florian Kiefer und Johannes Braunstein kämpfen. Nicht immer gewinnt die Frontfrau gegen markante Gitarrenriffs, verspielte Drums und grollenden Bass.

Smoke auf Sound setzen mit ihrem neuen Werk nicht nur auf Bewährtes: Das psychedelische Phases fusioniert spielerisch Orgel mit orientalischen, sphärischen Synthies und kurzweiligen Krautrock-Klängen. Da ist für jeden Geschmack etwas dabei, manchmal fehlt leider die geheime Zutat.

Nichts für Eilige

(pl). Das Debüt der Freiburger Formation Cydonia ist angenehm aus der Zeit gefallen. Die fünf Musiker zelebrieren Progressive Rock, der direkt aus den 70ern kommen könnte. Das Ergebnis ist spannend, langatmig wird’s trotz langer Songs selten.

Die Anfänge von Cydonia gehen zurück ins Jahr 2007, in der aktuellen Besetzung sind sie seit Ende 2019 unterwegs. Auf „Stations“ warten drei Studiosongs sowie zwei Liveaufnahmen aus dem Freiburger Slow Club. Der Opener „Way to Cydonia“ liefert einen super Einstieg. Der Song zieht die Hörer·innen direkt in den Sound des Quintetts. Über fast eine Minute dominieren Gitarre und Keyboard, bevor es etwas ruhiger wird und schließlich auch Sänger Michael Bernauer einsetzt. Klar, dass auf der Nummer mehrere Gitarrensolos nicht fehlen. Mit knapp unter acht Minuten ist der Song einer der kürzesten des Albums. Auf mehr als vierzehn Minuten bringt es „Union of Souls“.

Die hohe musikalische Klasse hört man etwa dem gelungenen Livetrack „Caravan of Slaves“ an: Auf der instrumentalen Nummer stehen – mit Ausnahme des Sängers – alle Musiker zeitweilig im Mittelpunkt. Zwar hat sich auf die Platte die eine oder andere Länge eingeschlichen, die die Spannung etwas mindert. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

Typische Melancholie

(pl). Sie sind aktuell vermutlich die am wenigsten deutsch klingende Folkband – zumindest nach eigenem Bekunden. Wer die aktuelle Single der Freiburger Band Lambs & Wolves hört, denkt wirklich nicht an eine Combo aus dem deutschsprachigen Raum, sondern träumt sich eher in amerikanische Weiten.

Mit „Not a Party at all“ hat die Band 2021 ihr Debüt veröffentlicht, Ende März folgt „Devil in the Orchard“. Die zweite Vorabsingle kommt mit Country-Anleihen und – verhältnismäßig – beschwingt daher. Aus der Stimme von Sänger und Texter Julian Tröndle klingt dennoch die typische Melancholie, die den Sound der Formation prägt. Die Lyrics von „More Clouds“ sind verschlüsselt, Zeilen wie „I know you can’t bear the Moon tonight, I send in Clouds, let Angels cry till Rivers flow the Corners of your Mind“ bieten Interpretationsspielraum. Wer geübte Ohren hat, hört im Hintergrund die Stimme der Gastmusikerin Maggie Belm von der Freiburger Combo Catastrophe Waitress.

Die Nummer entfaltet zwar nicht die Dichte und den Sog des tollen Vorgängersongs „Devil in the Orchard“. Lust auf das gesamte in Freiburg und Augsburg aufgenommene Album macht sie aber allemal. Vorgestellt wird das Werk am 30. März mit einer Release-Show im Jazzhaus.

MUSIK Platte desMon a st
SOUND OF SMOKE
Blues / Rock
CYDONIA STATIONS (ALBUM) Progressive Rock
PHASES
46 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023
LAMBS & WOLVES MORE CLOUDS Single – Indie-Folk

SCHEISSEDIEBULLEN SIMULATION EINES GUTEN LEBENS

Geschrammelte Kritik

(pl). Dass eine Band namens scheissediebullen ungehobelten Deutschpunk spielt, dürfte keinen wundern. Rund sechs Jahre nach „Anwohner raus!“ hat das Freiburger Quartett mit „Simulation eines guten Lebens“ seine dritte Platte vorgelegt. In den 14 Songs üben die Musiker größtenteils Gesellschaftskritik – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug, roher Gesang – so zelebrieren scheissediebullen ihren Sound. Inhaltlich geht’s etwa um die Ablehnung der Leistungsgesellschaft („Fördern & Fordern“) oder Verschwörungsgläubige und Faktenverdreher („Ein Telegramm“). Im Ohr bleibt vor allem der Song „Mittelmeer“, der im Refrain musikalisch an Die Ärzte erinnert. Mit anklagenden Zeilen wie „Wenn über einem Kopf das Mittelmeer zusammenschlägt, dann ist das europäische Gewalt“ thematisieren scheissediebullen den Umgang mit Menschen auf der Flucht.

Auf „Kleinstadt“ arbeitet sich die Band an Themen ab, die ihr an Deutschland nicht behagen. Kritik an Spießertum oder Intoleranz geht klar. Doch mit Lyrics wie „Jede Zeitung eine Dorfgazette, überall die gleiche Hetze drin“ macht es sich die Gruppe zu einfach. Und der Disstrack gegen UniFM („88,4“) wird wohl wenige gegen den Freiburger Sender aufbringen.

Liebe und Schmerz

(tln). Die Freiburger Sängerin Fofo meldet sich mit ihrer zweiten EP zurück: Einsamer Sonntag heißt das Fünf-Track-Release. Es dreht sich vor allem um die Schattenseiten der Liebe: Sehnsucht, Enttäuschung, Lügen. Fofos Stimme ist unverkennbar: Zerbrechlich-sanft bis durchdringend-klar in den höheren Lagen singt Florine Puluj ihre deutschen Texte. Das ist mutig: Der emotionale Stoff klingt auf Englisch oft lässiger. Doch poetisch und feinfühlig arbeitet sie sich durch Gefühlswelten.

Im Intro „Einsamer Sonntag“ geht’s zu einer Akustik-Gitarre um das Warten auf den Liebling. Die vier Maintracks liefern mit elektronischen Beats und reduzierten Vocaleffekten modernen Pop-Sound. Im Ohr bleibt vor allem „Fata Morgana“ mit einem minimalistischen PingPong-Beat und einem LaidbackFlow, der zum Kopfnicken einlädt. Orchestral wird es bei „Mir den Atem raubst“. Streicher und ein Piano sind das Herz einer Ballade mit sphärischen Momenten.

Die Künstlerin zählt zu den markantesten Stimmen der Stadt. Das zeigt sie auch bei der Jazzband Triaz. Das Spektrum ihrer Stimme beeindruckt. Die Ausflüge in hohe Lagen dürften dennoch nicht jedermanns Sache sein. Für die jazzaffine Freiburgerin ist es ein Markenzeichen.

... zum neuen Jahr

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Neues Jahr, alter Dreck oder neuer Dreck in alten Schläuchen? Egal, was immer auch kommen mag, es wird nicht besser. Früher, ja, da war noch alles besser. Außer das Schlechte. Bevor es jetzt zu philosophisch wird, biegen wir hier ab und beschäftigen uns wieder mit dem harten Alltag eines Geschmackspolizisten und dem gemeinen Audioverbrechen. Der Thrill und die Herausforderung sind weiter allgegenwärtig. Ein Beispiel?

Wincent Weiss, Popbarde der seichten Sorte, mit einem dringlichen Statement (zum Berliner Silvester-Feuerwerk?), seinem „Feuerwerk“. Wir hören da mal rein, so rein textlich:

Lass uns leben wie ein Feuerwerk, Feuerwerk, oh oh Als wenn es nur für heute wär', oh oh Denn dieser Augenblick kommt nie zurück Lass uns leben wie ein Feuerwerk, Feuerwerk, oh oh Die ganze Welt kann uns gehör'n, oh oh Verbrenn'n wie Raketen Stück für Stück

Und leben wie ein Feuerwerk, Feuerwerk, Feuerwerk

Die Augen brenn'n, doch ich hör' auf mein Gefühl Geh' noch nicht heim, weil ich nichts verpassen will Du weiß auch genau, wir hab'n das alles nur einmal

Das Lied ist schon etwas älter, aber unfreiwillig brandaktuell. Musikalisch so aufregend wie ein nasser Knallfrosch, zündet es textlich gewaltig, aber letztlich doch fehl. Einweg-Metaphern treffen auf Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen und dort schwere Schäden anrichten. Berlin lässt grüßen.

Ergo: Finger weg von nicht von amtlichen Stellen zertifiziertem Feuerwerk als auch Liedgut.

Feurig grüßt, Ralf Welteroth

KOLUMNE
FOFO EINSAMER SONNTAG Deutschpop
Deutsch-Punk

Fußball im Stehcafé

SECHS SCHREIBWILDE FRAUEN THEMATISIEREN FREIBURG UND SEINE BESONDERHEITEN IN 58 GESCHICHTEN UND GEDICHTEN

Sie sind zwischen Ende 40 und Anfang 80, sie sind in ganz unterschiedlichen beruflichen Bereichen tätig –oder waren es, vor der Rente. Was die sechs Frauen aus Freiburg und Umgebung verbindet, ist ihre Liebe zum Schreiben. Oder besser: dass sie ganz wild darauf sind, sich Geschichten auszudenken und zu Papier zu bringen. „Die Schreibwilden“ nennen sie sich – und das mit dem Papier ist wörtlich gemeint: Soeben erschienen ist ihr richtiges, gedrucktes, papiernes Buch.

„Chikiding!“ lautet der neugierig machende Titel, den Alex Devesper, Ellen Göppl, Claudia Hellstern, Sabine Lauffer, Uta Neumann und Ilse Reichinger als Überschrift über ihre 58 Geschichten und Gedichte gewählt haben, in denen sich alles um Freiburg dreht. Die Stadt, die ihnen laut Prolog Heimatstadt oder Wahlheimat ist, die Stadt, die viele lieben, die manche auch nervt und die jedenfalls „niemanden kaltlässt“.

Was es mit „Chikiding“ auf sich hat? Das sei der „energetische Ausruf“ ihres früheren Salsalehrers gewesen, um die Leute auf Trab zu halten,

Chikiding!

58 x Freiburg von Die Schreibwilden

Verlag:

tredition, 2022

260 Seiten, broschiert

Preis: 9,99 Euro

sagt Ellen Göppl, die Autorin der gleichnamigen Kurzgeschichte. Darin geht es um eine sehr beleibte ältere Dame, die regelmäßig zu den „in den Nuller-Jahren legendären Salsapartys im Hauptbahnhof“ geht und dort zu einem leichtfüßigen Vögelchen wird, das schließlich einfach davonfliegt. Und als Titel für das Buch hätten sie diesen Kunstnamen gewählt, „weil wir alle etwas chikiding sind“.

Das bestätigt nicht nur der von Claudia Hellstern verfasste Text „Der beste Kaffee in ganz Freiburg“. Darin nimmt eine äußerst gestresste Frau, die täglich zwischen zwei Arbeitsstellen pendeln muss, eine Auszeit aus ihrer Routine, entknäult sich aus dem Gedränge und gönnt sich einen Espresso in einem Stehcafé in der Eisenbahnstraße. Sie lässt sich von einem Alemannisch-Sprecher in elegant tailliertem weißem Hemd in ein Gespräch verwickeln, in dem es auch um ihr Lieblings-Hass-Thema Fußball geht. Zwar kommt ihr die Stimme bekannt vor, auch sein Gesicht und die „wahrscheinlich gefärbte“ schwarze

Ponyfransenfrisur. Doch sie kommt erst viel später drauf, mit wem sie sich da stundenlang unterhalten hat.

Auf die Idee, eben diese Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen in ihren vielen Facetten sichtbar zu machen, kamen die Schreibwilden, die sich in Workshops am privaten Institut für kreatives Schreiben kennenlernten und seit 2016 regelmäßig austauschen, „durch das Freiburgjubiläum“: Sie hatten sich damals mit Erfolg für die Ende 2018 ausgeschriebenen städtischen Projektförderungen beworben und „wurden ein bisschen gesponsert“.

Zehn Monate hatten sie, um ihre Stücke zu schreiben – und schafften es. Die geplante Präsentation ihrer teils verrückten, teils kriminalistischen und manchmal auch schrägen und abgefahrenen Geschichten über Aktuelles und Vergangenes während einer 2020 geplanten Rundfahrt in einer historischen Straßenbahn „hat dann allerdings Corona vermasselt“. Lesungen sind für dieses Jahr geplant. Und ein neues Projekt.

Die Schreibwilden: Sechs Frauen begeben sich auf Spurensuche in ihrer Heimatstadt oder Wahlheimat – mit beachtlichen Ergebnissen. von Erika Weisser Foto: © Die Schreibw!lden
48 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023
LITERATUR

WARUM ICH MEINE BESTE FREUNDIN TÖTETE

DIE SCHMUTZIGE FRAU PUTIN IM WARTEZIMMER

von Amanda Michalopoulou

Übersetzung:

Michaela Prinzinger

Verlag:

Bahoe Books, 2022

300 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

Toxische Abhängigkeit

(ewei). Maria ist neun, als sie 1976 von Ikeja nach Athen kommt. Und sich fremd fühlt. Vor allem in der Schule stößt die Tochter griechischer, von der Regierung beauftragter „Entwicklungshelfer“ bei der Rückkehr aus Nigeria auf Misstrauen und Ablehnung; sie wird nicht nur von Mitschülern gehänselt und ausgegrenzt.

Auch in der großen neuen Wohnung fühlt sie sich beengt: Sie vermisst die kolonialen Ausmaße des Hauses in Afrika und die stets freundlichen Bediensteten. Untröstlich ist sie. Bis Anfang 1977 eine andere Außenseiterin ihre Schulbank teilt: Anna. Sie ist stolze Tochter von Widerstandskämpfern, die nun, nach dem Ende der Militärjunta, aus ihrem Pariser Exil zurückkehren. Trotz aller politischen Unterschiede im familiären Hintergrund werden die beiden zu besten Freundinnen – allerdings in einer toxischen Beziehung, in der Anna die Bestimmende ist. Bis Maria sich emanzipiert und nach Jahren gemeinsamen Engagements in den aufblühenden sozialen Bewegungen eigene Wege geht.

Am 23. Februar, bringt Amanda Michalopoulou ihren autobiografisch inspirierten Roman nach Freiburg – zum Tischgespräch an der Langen Tafel bei Suppe und Brot im Literaturhaus. Aus ihren Texten liest die Freiburger Dramatikerin Theresia Walser.

von Lou Bihl

Verlag:

Unken, 2023

260 Seiten, gebunden

Preis: 20 Euro

Panzer im Matsch

(ewei). Unter den sechs Personen, die sich im Wartezimmer einer Ärztinnenpraxis eingefunden haben, ist kein Wladimir. Auch kein Wolodymyr. Hier sitzen drei ältere Menschen – Frau Luxner, Frau Glueck und Herr Wissmer – und drei ganz junge: Kevin, Kira und Amira.

Und doch sind Wladimir und Wolodymyr an diesem 3. März, dem achten Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, mit im Raum. Nicht nur, weil auf dem stummgeschalteten Fernsehbildschirm „Putins Panzer tonlos durch den Matsch rollen“. Auch das Gruppen-Geplauder dreht sich um den Krieg, die Zeitenwende und Putins Psyche, um Waffenlieferungen, Sanktionen und Diplomatie, um Irrtümer, Fehler, Stärken und Schwächen von Politikern – im Allgemeinen und im Besonderen.

Dabei kamen die sechs Patienten nur zusammen, weil alle mit ihrem Gewicht kämpfen und unter Anleitung der Ärztin diverse Pfunde loswerden wollen. Doch das Seminar für gesunde Ernährung mutiert im Laufe der zehn Sitzungen zusehends zu einem Diskussionsforum über das aktuelle politische Geschehen, wobei unterschiedliche Weltsichten diametral aufeinanderprallen. Für den scharfsinnigen Roman, der am 24. Februar erscheint, hat die Freiburger Autorin Lou Bihl gründlich recherchiert – und eine dramatischunterhaltsame Lektüre mit vielen Einsichten geschaffen.

von Annette Pehnt

Verlag:

Piper, 2023

176 Seiten, Hardcover

Preis: 22 Euro

In der selbst gewählten Falle

(ewei). Beim Blick aus dem Fenster ihres schicken Lofts sieht die namenlose Frau über die Dächer einer namenlosen Stadt. Sie steht oft dort. Denn sie hat nichts zu tun, sie langweilt sich, sie verlässt nicht einmal die Wohnung.

Auch nicht zum Einkaufen oder Haareschneiden: Das besorgt ihr gleichfalls namenloser Gatte, den sie durchgängig Meinmann nennt. Er ist im einst gemeinsamen Haus geblieben, als er ihr das Apartment besorgte, wo sie „endlich und ohne Alltagsbelastung ihre literarische Seite verwirklichen“ sollte. Fast täglich kommt er vorbei, füllt den Kühlschrank auf, putzt, kocht und leistet ihr nach dem Essen gelegentlich Gesellschaft im Bett.

Das klingt nach Komfortzone –wissend, dass die Autorin Annette Pehnt in Freiburg lebt, drängt sich beim Lesen die Vorstellung von Häusern in Herdermer Hanglage auf. Ist es aber nicht: Meinmann, der sie mit ihrer erschlichenen Zustimmung hierher verfrachtete, um ihr vorgeblich zur Freiheit zu verhelfen, spielt ein perfides Spiel mit Verachtung und Abhängigkeit.

Sichtbar werden ihre dadurch ausgelösten inneren Abgründe in den Episoden, die sie über eine freundliche, aber „schmutzige“ Frau schreibt, die in beklemmende Situationen gerät.

Lesung: 17. Februar, 19.30 Uhr, Literaturhaus Freiburg

REZI
FREZI FREZI
FEBRUAR 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 49

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