Gewalt.
Die Zerrissenheit
der Welt
U
nd nachdem Achill ihn dreimal um die Stadtmauern Trojas gehetzt hatte, stellte sich Hector dem übermächtigen Gegner. Es heißt, Hector hatte seinen Mut wiedergewonnen, den er zuvor auf dem Schlachtfeld im Angesicht des schier unermesslichen Zorns Achilles’ verloren sah. Doch an welcher Einsicht hing sein neu gewonnener Mut? War es Trotz, gar Mut? Ergab er sich seinem Schicksal? Und war darin nicht auch das Schicksal des Achill verwoben? Vielleicht war Hector der erste Held wider Willen, der erste vormoderne Anti-Held, wie man ihn sonst nur aus dem Film-Noir kennt. Sicherlich nicht im klassischen Sinne aufgrund der Struktur, die einen Ausweg verunmöglicht hatte oder ihn in entgegengesetzter Richtung zu ihrem eigenen Versprechen aufstellt oder aufgrund der Korrumpiertheit der Welt, die den Helden ausschließlich noch negativ zulassen wollte. Hector handelte gewaltvoll gegen sich selbst. Gewaltvoll gegen die Vernunft, die ihm mit jeder Faser seines Körpers zur Flucht riet. Gewaltvoll musste auch sein Handeln gegen den eigenen Willen sein, um es mit dem von Dionysos beseelten Achill aufzunehmen. Gewalt musste in jede denkende und agierende Zelle kriechen und ihre Mechaniken mit geballter Faust umschließen, bis auch der letzte Nerv abgestorben war, der sich zaghaft Richtung Hoffnung gesehnt hätte. Hector richtete die Gewalt mit einer Härte nach innen, deren äußere Darstellung wohl nur der Kraterhölle von Verdun entsprechen kann. Mit einer unvorstellbaren Wucht torpedierte Hector sein eigenes Wirken. Geschoss um Geschoss ließ er auf seinen Fluchtreflex, seine Angst, sein Gewissen, seinen Instinkt, seine genealogischen Pflichten niederregnen – um sich und seine um die Stadtmauern eilenden Schritte aufzuhalten. Im Moment,
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als er sich dem Verfolger zuwandte, schien es, als drehe sich die gesamte Erde unter seinen Füße mit ihm. In dieser Drehung lag alles Gewicht der Welt und ihre historische Gewordenheit, jede einzelne menschliche Existenz und ihre myriaden Erfahrungen waren darin aufgehoben. Die Eigentlichkeit der Vorsehung des Menschengeschlechts musste für einen winzigen Moment in der Geschichte des Universums nachgeben, so sehr hatte Hectors Kraftakt Raum und Zeit bis zu den Enden der Milchstraße durchschritten, und in dieser Abmessung seine Entscheidung unwiderruflich verfestigt. Mit der Vorwärtsverlagerung des Oberkörpers, dem Ausholen des Schwertes, seinem sich von oben herabsenkenden Schwung und dem Klang der aufeinandertreffenden Klingen bahnte sich die Gewalt ihre Spur. Die Gewalt, die er gegen sich hatte herrschen lassen, verwandelte sich in Energie, in physischen Widerstand, transzendierte seine Handeln, war von einer gänzlich neuen Qualität. Sie hatte sich nicht vom Leben leiten lassen, sondern ausschließlich von der ihr innewohnenden Zügellosigkeit. Sie war schnell, geschickt und trickreich. Alles in ihrem Weg walzte sie unerbittlich nieder und opferte es der spontanen Handlung. Insofern wäre es vielleicht richtiger, von einem Wandel der Form zu sprechen oder von einer zweiten Geburt einer anderen Gewalt – der inneren terreur. Gewalt hatte es schon immer gegeben. Der Mythos war übersät davon. Aber diese hier wollte sich feiern, obwohl sie feige war, wollte heroisch sein, obwohl sie winzig blieb. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf den etymologischen Ursprung des Begriffs ‚Gewalt’. Dieser wird im althochdeutschen von ‚waltan’ abgeleitet, was so viel bedeutet wie ‚beherrschen’ oder ‚stark sein’. Fer-