Gewalt.
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Staatsbürgerschaft zwischen Verfassung und Insurrektion
as bedeutet es, heute Bürger1 zu sein? Dieser Frage geht der französische Philosoph Étienne Balibar in seinem Werk Gleichfreiheit nach. Diese repräsentiert die interne Verschränkung von Gleichheit und Freiheit. Balibar zufolge klagt der Bürger, zwischen einer Politik der Verfassung und einer Politik der Insurrektion gefangen, die Gleichfreiheit immer dann ein, wenn er gegen die Erscheinungen der Ungleichheit bzw. der Unfreiheit vorgeht. Beide Prinzipien werden stets gleichzeitig angefochten. Laut Balibar sind „die (faktischen) historischen Bedingungen der Freiheit […] genau dieselben wie die (faktischen) historischen Bedingungen der Gleichheit“ (Balibar 2012: 94). Dies bedeutet, dass keine Situation eintreten kann, in der die Freiheit verletzt wird, die Gleichheit jedoch nicht und vice versa. Dieser Aufsatz untersucht das kritische Verhältnis des Bürgers zum Gesetz bzw. zum Recht und seine Rolle in dessen Manifestation. Einleitend skizziere ich das Verständnis der politischen Gemeinschaft bei Balibar. Im zweiten Schritt geht es um die Konzeption der Staatsbürgerschaft als eine kollektive Praxis. Abschließend werde ich eine Lösung für das Problem der Verzerrung der Rolle des politischen Subjekts bei Balibar vorschlagen, die entlang der Konzeption des Bürger-Subjekts von Jacques Rancière erfolgt.
Politische Gemeinschaft Die Gemeinschaftlichkeit an sich betrachtet Balibar als kontingent. Die Staatsbürgerschaft basiert nicht, wie in der Moderne angenommen, auf der nationalen Zugehörigkeit derer, die als Bürger eines Staates bezeichnet werden. Die Zusammensetzung der Individuen auf einem bestimmten Territorium, das sich als Staat bezeichnet, ist zufällig und lässt sich nicht auf irgendein höheres Prinzip zurückführen. Nur die kollektive Praxis der revolutionären Kämpfe vor dem Hintergrund der gleichen Freiheit und Gleichheit kann als Grund für die Mit-Bürgerschaft dienen. Die politische Gemeinschaft ist nicht etwas Gegebenes oder in der Welt Existierendes. Sie muss von ihren Teilnehmern fortwährend etabliert und der Grund für ihr Bestehen muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Sie ist nicht positiv zu bestimmen. Der Gemeinschaft der Bürger fehlt die unan1 Die Verwendung des generischen Maskulinums erfolgt im Folgenden aus rein stilistischen Gründen.
tastbare und unbestreitbare Begründung, deswegen „fehlt“ sie selbst ihrem Wesen nach (ebd.: 245). Balibar bezeichnet sie ganz in der Tradition von Jacques Derrida als eine „kommende Gemeinschaft, die es zu erfinden und durchzusetzen gilt“ (ebd.: 249). Sie weist auf ein nie zu erreichendes Ziel hin. Dieses Ziel findet seine Verkörperungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung, es kann jedoch nie vollkommen verwirklicht werden. Und genau darin besteht seine Errungenschaft. Die innere Konflikthaftigkeit und Zerstrittenheit der politischen Gemeinschaft und ihre Offenheit für Eingriffe in ihre Struktur sind für ihre Konstitution unabdingbar. Vielmehr sind es gerade diese Eigenschaften, die ihr schöpferisches Moment verkörpern – ihre absolute Unbestimmtheit verleiht ihr die emanzipatorische Kraft.
Staatsbürgerschaft als kollektive Praxis Der einzige Anhaltspunkt für politische Gemeinschaften ist die Anerkennung des Rechts des Anderen, bestehende Rechte einzufordern und neue Rechte einzuklagen. Die Individuen werden zu Bürgern im Laufe und gerade durch den Prozess der Konstituierung der Staatsbürgerschaft. Da jeder seiner Teilnehmer vor dem Hintergrund seiner subjektiven Vorstellungen und im Namen seiner persönlichen Interessen agiert, führt dies zu Dissens, der den Kern der Demokratie ausmacht. Die Konfrontation zwischen Macht und GegenMacht spielt sich auf zwei Ebenen ab: zum einen als eine Konfrontation innerhalb des Volkes, bezüglich der Gründung von Verfassung; zum anderen als eine Konfrontation zwischen dem Volk als der konstituierenden und dem Staat als der konstituierten Macht. Balibar beschreibt sehr prägnant diesen der Demokratie immanenten Konflikt, wenn er konstatiert: „Die demokratische Staatsbürgerschaft ist konfliktgeladen oder sie ist nicht“ (ebd.: 236). Der Bürger befindet sich dabei in einer ambivalenten Situation. Er stellt eine „Schnittmenge“ zwischen dem Staat und der revolutionären Bewegung gegen den Staat dar. Wenn er sich auf die institutionalisierten Rechte bezieht bzw. von ihnen Gebrauch macht, tritt er auf der Seite der Verfassung auf. Zugleich ist der Bürger aber auch derjenige, der in der Lage ist, zum Aufstand gegen die Staatssouveränität aufzurufen. Diese Fähigkeit zum Ungehorsam, wenn sie nicht auf pure Gewalt und Zerstörung ausgerichtet ist, bezeichnet Balibar als eine „schöpferische, konstruktive politische Tugend“ (ebd.: