~ Dossier ~ ANGST
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Angst R SIE S O D
Von KARIN DEHMER ( Text) und GUILLAUME DUPRAT (Illustration)
Erstarren, fliehen, kämpfen, vermeiden, verleugnen: So vielfältig wie die Reaktionen auf Angstgefühle sind es auch deren mögliche Verursacher. Angst kann einen davon abhalten, sich in gefährliche Situationen zu begeben, sie kann aber auch dafür sorgen, wichtige Erfahrungen zu verpassen.
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ie Psychologie unterscheidet sieben Basisemotionen, die kulturübergreifend erkannt und in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegelt werden: Freude, Wut, Ekel, Verachtung, Traurigkeit, Überraschung und Angst. Evolutionsgeschichtlich ist die Angst für das Überleben unserer Art zu einem grossen Teil mitverantwortlich. Angst hielt die ersten Menschen davon ab, sich schutzlos wilden Tieren auszusetzen oder gedankenverloren einen Abgrund hinabzusteigen. Heute zeigen sich existenzielle Bedrohungen glücklicherweise nur noch selten in Form von wilden Tieren. Dafür haben andere Ängste Einzug in unsere Leben gehalten: Prüfungsängte, Versagensängste, Lampenfieber, Flugangst, Zukunftsängste und im Zeitalter von Social Media die Fear of Missing Out (FOMO, dt. Die Angst, etwas zu verpassen). Natürlich schützt uns Angst auch heute noch vor grossen Gefahren – über eine befahrene Autobahn zu laufen, mit dem Feuer zu spielen oder unser ganzes Geld im Roulette auf Rot zu setzen. Solche und ähnliche Verhaltensweisen sind aber mittlerweile für Menschen so selbstverständlich, dass sie kaum noch mit Angst oder Furcht in Verbindung gebracht werden. Man nennt es gesunden Menschenverstand. Marina Zulauf Logoz, Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie an der Uni Zürich, hält allerdings dagegen, dass nicht nur Menschen automatische Angstreaktionen kennen: «Typi-
sche Angstreaktionen gibt es auch bei Tieren. Sie reagieren auf klassische Gefahren wie Menschen, obwohl sie viel weniger verstandsgesteuert sind.» ÜBERSTEIGERTE ANGST Angst setzt einen die Sinne schärfenden und Körperkraft aktivierenden Schutz- und Überlebensmechanismus in Gang, der in tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet: Flucht oder Angriff, Erstarren oder schnelles Handeln. Ist die Angstreaktion in Bezug auf die tatsächliche Bedrohungslage viel zu stark, tritt zu häufig auf und hält zu lange an, spricht man von einer Angststörung. Ist diese Angststörung an ein bestimmtes Objekt oder eine bestimmte Situation gebunden, spricht man von einer Phobie – Platzangst, Höhenangst, Phobien bezogen auf ein Insekt. Weitere Angststörungen sind die Soziale Phobie, Trennungsstörung bei Kindern oder Panikstörung. Eine Studie der Pro Infirmis von 2016 hat ergeben, dass etwa jede zehnte Schweizerin und jeder zehnte Schweizer im Laufe des Lebens einmal an einer Angststörung leiden. Die Reaktionen reichen von weichen Knien, Schwindel und Herzklopfen über Zittern, Atemnot bis zum Gefühl ohnmächtig zu werden oder zu ersticken. Eine Panikstörung kann so heftig sein, dass die Betroffenen bei einem Anfall glauben, sterben zu müssen. Glücklicherweise sind sie heute relativ gut und nachhaltig therapeutisch behandelbar.