Leseprobe Psychiatrische Pflege 1/2020

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Interview

Es hilft bei Stigma-Bewältigung Michael Schulz im Gespräch mit Nicolas Rüsch Mit der Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen hat sich Nicolas Rüsch über viele Jahre wissenschaftlich und in seiner Arbeit als Psychiater auseinandergesetzt. In Zusammenarbeit mit Patrick Corrigan hat er die Intervention „In Würde zu sich stehen“ für den deutschen Sprachraum zugänglich gemacht. Am LWL-Klinikum Gütersloh hat er Psychiatrie-Erfahrene und professionell Tätige in der Durchführung der Intervention geschult.

Michael Schulz: Warum gibt es das Gruppenprogramm „In Würde zu sich stehen“ (IWS)? Nicolas Rüsch: Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen kämpfen nicht nur mit den Symptomen ihrer Erkrankung, sondern oft mindestens ebenso sehr mit Stigma und Diskriminierung. Stigma kommt dabei in verschiedenen Formen vor: Öffentliche Stigmatisierung, wenn Mitglieder der Allgemeinheit (Arbeitgeber, Vermieter, Nachbarn) Betroffene diskriminieren, und Selbststigma, wenn Menschen mit psychischen Erkrankungen Vorurteilen zustimmen und sie gegen sich wenden („Ja, ich bin psychisch krank, daher muß ich schwach sein“). Selbststigma ist oft mit Scham und Geheimhaltung der Erkrankung verbunden. Psychische Erkrankungen sind, zumindest außerhalb akuter Phasen, meist von außen nicht sichtbar. Daher stehen Betroffene vor der oft schwierigen Entscheidung, ob und wie sie Anderen von ihrer Erkrankung erzählen. Geheimhaltung kann zwar vor Diskriminierung schützen, ist aber oft langfristig belastend und kann in die soziale Isolation führen. Offenlegung andererseits birgt, je nach Umfeld, das Risiko von Diskriminierung, erlaubt aber größere Authentizität, kann Selbststigma abbauen und Unterstützung durch Andere erst ermöglichen. Offenlegungsentscheidungen sind daher komplex, hängen vom Umfeld und von der Person ab, und sind nur persönlich zu treffen. Um Menschen mit psychischen Erkrankungen bei Offenlegungsentscheidungen zu unterstützen, gibt es das Programm IWS. Was ist „In Würde zu sich stehen“? IWS ist ein von Peers geleitetes Programm, das aus drei Sitzungen sowie einer zusätzlichen Auffrischungssitzung besteht, die je zwei Stunden dauern. Es ist manualisiert, Psychiatrische Pflege (2020), 5 (1), 32–33

Nicolas Rüsch ist Professor für Public Mental Health und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg.

d. h. es liegt ein strukturiertes Arbeitsbuch mit Arbeitsblättern und Übungen vor. IWS hat drei Hauptthemen: Im ersten inhaltlichen Komplex geht es um die Fragen „Welche Geschichten erzählen wir uns selbst (Selbststigma)?“ „Welche Vor- und Nachteile hat Offenlegung je nach Umfeld?“ Ein zweiter Block stellt Fragen wie „Welche Vor- und Nachteile haben verschiedene Stufen der Offenlegung, von sozialem Rückzug und völliger Geheimhaltung bis hin zur aktiven Verbreitung der eigenen Erfahrung?“ „Wer ist ein geeigneter Adressat für meine Offenlegung?“ Und der dritte Block fragt: „Wenn ich meine Geschichte erzählen möchte, wie kann ich sie erzählen?“ Jedes Thema wird in einer der drei Sitzungen behandelt, die Auffrischungssitzung befasst sich etwa einen Monat später mit den Erfahrungen, die die Programmteilnehmenden mit ihren Entscheidungen für oder wider Offenlegung seit dem Programmende gemacht haben. Es ist nicht das Ziel von IWS, Teilnehmende zur Offenlegung zu bewegen, sondern ihnen je nach Kontext eine selbstbewusste, informierte, strategische Entscheidung für oder gegen Offenlegung zu ermöglichen. Dazu dient der Austausch in der Gruppe, angeleitet durch Peers, die aufgrund ihrer eigenen Geschichte selbst Erfahrung mit Offenlegungsentscheidungen haben. Wie kann das Programm umgesetzt werden? Aufgrund seiner Kompaktheit (3 × 2 Stunden plus ein Auffrischungstermin) lässt sich IWS flexibel in verschiedenen Settings einsetzen. In bisherigen Studien wurde IWS im ambulanten Bereich ebenso eingesetzt wie im stationär© 2020 Hogrefe


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