CINEMA FOREVER
1/2021 FEBRUAR/MÄRZ EUR 5.00
celluloid filmmagazin
VANESSA
HTIGE C Ä R P E I D T VON R U B E G R WIEDE Foto: Katharina Foto: Universal PicturesSartena
A‘ T T I C E N I C
CINEMA FOREVER!
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CELLULOID FILMMAGAZIN 1/21
KIRBY
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CELLULOID FILMMAGAZIN
celluloid
inhalt ARTIG, NICHT BRAV
celluloid filmmagazin Ausgabe 1/2021 22. Jahrgang Februar/März 2021
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liebe leserInnen,
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VANESSA KIRBY
Sie gilt als heißeste Aktie im Rennen um die Oscars, ihr Film „Pieces of a Woman“ ist auf Netflix zu sehen. Wir sprachen mit dem Regisseur des Films, Kornél Mundruczó
2020 ist vorbei, 2021 scheint nicht viel anders zu werden, soviel ist schon klar. Die Kinos dürften nicht vor Herbst des Jahres mit einer breiten Wiedereröffnung rechnen, das ist spätestens fix, seit man den neuen „Bond“Film wieder einmal verschoben hat - von Ende März auf November des Jahres. Kleinere Kinobetreiber fordern nachhaltige Maßnahmen, um die Kinokultur zu erhalten, und das ist gut so. Die Politik wird ihren Rufen vermutlich nachkommen. Aber die Großen, die es braucht, um das Werkl überhaupt am Laufen zu halten? 800.000 Euro maximaler Umsatzersatz (durch EURecht gedeckelt) klingt viel, aber bei Kinoketten wie Cineplexx ist das vielleicht ein besseres Wochen-Einspielergebnis. Da muss man jetzt helfen, wenn man das Gesamtsystem nicht gefährden will.
FEATURES 12 14 16
VIGGO MORTENSEN sprach mit uns über sein
Regiedebüt „Falling“
ULRIKE KOFLER spricht über ihr Drama „Was
wir wollten“, das um den Oscar kämpft
ALEXANDER DUMREICHER-IVANCEANU & FLORIAN GEBHARDT über das Produzieren während
Corona und „grüne“ Filme 20 JOHN LE CARRÉ: Dossier zum Tod des Autors: 12 Verfilmungen seiner Bücher 26 CINECITTA: Die römische Filmstadt steht vor einer Renaissance 30 FILMPROGRAMME: Zwei neue Bücher widmen sich diesem verschwunden geglaubten Medium. Autor Herbert Wilfinger im Gespräch über die Lust am Sammeln und die Funktion der Programme für die Filmgeschichte 34 AM SET Thomas Stipsits dreht „Griechenland“
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FILMKRITIK
RUBRIKEN 4 43 46 48 50
Trivia: Franz Klammers Biopic Neue Bücher: Verschwundene Kinos im Weinviertel, 100 Jahre Karl May im Kino Neues im VOD-Club DVD & Blu-ray Legenden: Quo Vadis und Peter Ustinov
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Filmarchiv Austria; Filmladen;Katharina Sartena
36 The Midnight Sky 38 The Prom 39 Pieces of a Woman 40 Soul 42 Bild.Macht.Deutschland?
Herzlichst, Ihr MATTHIAS GREULING CHEFREDAKTEUR UND HERAUSGEBER
celluloid@gmx.at
CELLULOID ONLINE: WWW.CELLULOID-FILMMAGAZIN.COM CINEMA FOREVER!
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Susanne Auzinger-PR/Comité International Olympique (CIO) / United Archives
trivia
Franz Klammer, wie er 1976 den Berg bezwingt. So kennt man den legendären Schirennläufer.
DER KLAMMER FRANZ BEKOMMT EIN BIOPIC Schifoan is des leiwandste: Andreas Schmied verfilmt mit Julian Waldner das Leben des legendären österreichischen Schirennläufers Franz Klammer.
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ie muss ein Biopic über den legendären Franz Klammer aussehen? Klischeebeladen oder eher nüchtern-sachlich? Diese Frage wird sich beantworten lassen, wenn mit „Klammer“ im Herbst 2021 das erste Biopic über den großen heimischen Sportler in die Kinos kommt. Nicht als Doku, sondern als Spielfilm, mit Julian Waldner als Franz und Valerie Huber als seine spätere Ehefrau Eva. Elisabeth und Andreas Schmied schrieben das Drehbuch dieser Koproduktion zwischen epo-film, Samsara Film und Sabotage Film, Andreas Schmied selbst führt Regie.
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Die Vorbereitungen zu dem Film laufen bereits seit mehreren Jahren, der Kinostart im Herbst soll gar „weltweit“ erfolgen, wie die Produktion mitteilte. Und darum gehts: Beim Abfahrtslauf der Olympischen Winterspiele 1976 gibt es nur einen Favoriten: Franz Klammer. Der erst 22-jährige charismatische Abfahrtsläufer trägt die Hoffnung von ganz Österreich auf seinen Schultern. Während der Druck des Publikums astronomische Ausmaße erreicht, sein Skihersteller aus Promotion-Gründen in letzter Minute die Ausrüstung austauschen CELLULOID FILMMAGAZIN
will, die Wetterbedingungen von Tag zu Tag schlechter werden, sich der Berg als trotzig erweist und rivalisierende Rennfahrer auf seinen Fersen sind, muss sich Franz der ultimativen Herausforderung stellen: Die Kraft zu finden, den Berg auf eigene Faust zu bezwingen. Doch dazu braucht er die Liebe seines Lebens, Eva, die ihm den Mut gibt, sich von allen Zwängen zu befreien, um das Rennen seines Lebens bestreiten zu können. Klingt schmalzig, heroisch, pathetisch. Alles, was ein Biopic eben braucht. ZU SEHEN AB HERBST.
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COVER
Universal Pictures
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CELLULOID FILMMAGAZIN
Katharina Sartena
ZWISC
ZU SEHEN AUF NETFLIX
CHEN DEN ZEILEN Vanessa Kirby ist derzeit die heißeste Aktie in Hollywood und gilt als Favoritin für die Oscars 2021. Mit 32 steht Kirby am Zenith, weil sie sich traute, im richtigen Moment das Richtige zu tun. In gleich zwei neuen Filmen kann die britische Schauspielerin ihr ganzes Potenzial zeigen.
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s gibt diesen Moment im Leben einer Schauspielerin, in dem sie weiß: Jetzt oder nie. Die Chance seines Lebens zu erkennen, das ist die eine Sache. Den Mut zu haben, sie auch zu ergreifen, das ist die andere. Vanessa Kirby, 32 Jahre alt, hat diese Chance erkannt und ergriffen, sie wird mit großer Sicherheit das diesjährige Oscar-Rennen in der Kategorie „Beste Schauspielerin“ dominieren (und vermutlich auch für sich entscheiden). Der Grund dafür sind 30 Minuten atemberaubendes Kino, die keinen kalt lassen. In dem Netflix-Drama „Pieces of a Woman“ (seit Anfang Jänner im Netflix-Programm, eine spätere Kinoauswertung ist geplant) des ungarischen Autorenfilmers Kornél Mundruczó spielen Kirby und Shia La Beouf ein junges Paar, das der jederzeitigen Niederkunft der Gattin harrt: Kirby als hochschwangere Frau, die sich für eine Hausgeburt entschieden hat und Shia La Beouf, der ihr dabei gut zureden soll. Als die ersten Wehen kommen, scheint noch alles unter Kontrolle zu sein, auch die Hebamme ist bald da. Der Schmerz im Leib der
Frau wird stärker, er wird unerträglich, und dann gesellen sich in dieser Situation noch unerwartete Komplikationen hinzu: Das Kind, das sich im Mutterleib gerade noch via Ultraschall mit einem schnellen, festen Herzschlag gemeldet hatte, ist nach der schweißtreibenden Geburt nur kurz bei Bewusstsein. Die Hebamme sieht schnell, dass da etwas nicht stimmt, das Neugeborene läuft blau an. Der Notarzt kommt zu spät. ATEMBERAUBEND Bis hierhin war der Zuschauer Zeuge einer 30-minütigen Filmsequenz, die ohne einen einzigen Schnitt gedreht wurde; eine dramatische, auch quälende Eröffnungssequenz, die von den Darstellern alles forderte, um akkurat und drastisch zu wirken. Mundruczós englischsprachiges Filmdebüt zeigt ab diesem Zeitpunkt die Aufarbeitung der Trauer und die Frage: Wer trägt Schuld an dieser Totgeburt? Es ist allzu menschlich, diese Frage zu stellen, und Schuldgefühle sind sicher auch Teil einer Trauerarbeit. Aber nicht immer macht die Schuldfrage Sinn, wie auch „Pieces of a Woman“ zeigt. Die Stärke dieser langen EröffnungsCINEMA FOREVER!
szene, sie ist maßgeblich das Werk von Vanessa Kirby, die sich mit voller Wucht in diese Geburtssituation katapultiert. „Wir wollten die Szene so detailliert und lebensnah wie möglich zeigen, wollten Realität vermitteln und die Zuschauer unmittelbar mitfühlen lassen“, sagt Kirby. „Die Kamera sollte dabei wie eine eigene Figur des Films sein, wie der Geist des verstorbenen Kindes“. Innerhalb von 24 Stunden, nachdem Kirby Mundruczós Drehbuch gelesen hatte, saß sie bei ihm in Budapest, um alles zu besprechen. Sie hatte die Chance ihres Lebens erkannt und zugesagt: „Die Dreharbeiten waren einfach berauschend. Es war das beste Filmerlebnis meines Lebens“, sagt sie. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Schauspielerin zwar in einem karrieretechnisch einwandfreien Fahrwasser unterwegs, aber es sind eben die gewagten Rollen, die einen zum Zenith bringen, nicht die gefälligen. Vanessa Kirby hat früh angefangen, sich vor der Kamera zu exponieren, aber so intensiv war es nie zuvor. Die 1988 im Londoner Stadtteil Wimbledon geborene Kirby stand ab 2009 auf der Theaterbühne, zunächst im Octagon Theatre in 7
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Katharina Sartena
„ICH LIEBE TIEFE CHARAKTERE, BIN MIT HELDINNEN AUFGEWACHSEN“
Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó drehte mit Kirby „Pieces of a Woman“
Bolton. Bald landete sie in Fernsehserien, was oft die Endstation für Schauspieler bedeutet, wenngleich es eine recht einträgliche Endstation sein kann. Mitwirkungen in „The Hour“ oder „Agatha Christie’s Poirot“ sind Zwischenstationen auf dem Weg zum Serienmekka Netflix. Dort spielte sie in zwei Staffeln von „The Crown“ Prinzessin Margaret und fiel Hollywood auf. Der Sprung ins Blockbuster-Kino, etwa an der Seite von Tom Cruise in „Mission: Impossible - Fallout“ (2018) hätte zum Turbo werden können, doch Vanessa Kirby bremste. Sie will einfach nicht eine Frau der Marke „Aufputz“ sein, die Hollywood zu Tausenden hervorgebracht hat, sondern hat zwischen dem Antlitz eines scheuen Rehs eine ungemein starke Leinwandpräsenz und ein subtil agierendes Minenspiel, aus dem sich mehr formen lässt als bloße Leinwandklischees. Das hat Kirby auch erkannt: Sie spielte zwar auch im letzten „Fast & Furious“Spin-Off „Hobbs & Shaw“ (2019), zugleich wandte sie sich aber dem Autorenkino zu, drehte mit Agnieszka Holland, mit Mundruczó und auch mit der norwegischen Regisseurin Mona Fastvold. Diese Zusammenarbeit heißt „The World to Come“ und ist - genau wie „Pieces of a Woman“ - beim Filmfestival von Venedig vorgestellt worden. Es ist, trotz der intensiven Geburtsszene 8
der doch intimere Film der beiden, auch, weil er aus einer weiblichen Perspektive auf den „Wilden Westen“ blickt und etliche Klischees aushebeln kann. Fastvold besetzte Kirby und Katherine Waterston inmitten des ruralen Upstate-New-York der 1850er Jahre als zwei verheiratete Frauen, die in Leidenschaft für einander brennen, diese aber nur im Geheimen ausleben können. Beide glänzen in einer minimalistisch aufgebauten Performance aus zaghaften Annäherungsversuchen und großen Gefühlen. Es sind Blicke, Gesten, die zwischen dem Ausgesprochenen liegen, wo Vanessa Kirby groß aufspielen kann. Sie ist eine Schauspielerin, die zwischen den Zeilen spielen kann. FORDERND „Nach meiner Rolle in ‚The Crown‘ als Prinzessin Margaret habe ich versucht, forderndere Rollen zu finden“, sagt Kirby. „Das ist mir gelungen, und vor allem in ‚Pieces of a Woman‘ gehörte dazu auch eine intensive Recherche. Eine der Frauen, mit denen ich vorab sprach, hat es geschafft, mir zu vermitteln, wie sich das Leben nach einem solchen Ereignis anfühlt. Sie sagte, dass sie sich auf dem höchsten Berg der Welt wähnte und in den Wind schrie, während alle anderen Menschen, alle ihre Lieben, ihr Leben fortsetzten, als wäre nichts passiert“, so Kirby. „Das ist ein Gedanke, der mich sehr beeindruckt hat. Die Einsamkeit CELLULOID FILMMAGAZIN
und Isolation dieser Frauen, das sind die Gefühle, die ich im Film darzustellen versuchte“. „The World to Come“ war für Kirby eine ganz gegensätzliche Erfahrung, aber mindestens genauso intensiv. „Es geht um Frauen aus einer anderen Zeit, die ihre Gefühle nicht ausleben durften“, so Kirby. Beide Filme zeigen, wie sehr Kirby die Herausforderung und das Wagnis sucht, anstatt es sich im Netflix-Einheitsbrei gemütlich zu machen. Wobei: „Pieces of a Woman“ ist eine Netflix-Produktion; der Streaming-Riese weiß eben, dass Wagnis zum Filmgeschäft gehört, eine Tatsache, die man in manchem Hollywood-Studio längst vergessen hat. Kirby zeigt sich jedenfalls dankbar für die beiden Filme. „Ich liebe tiefe Charaktere, ich bin mit Heldinnen aufgewachsen, die von Tschechow, Ibsen, Shakespeare geschrieben wurden, ich liebe griechische Tragödien“. Aber, und das ist vielleicht ihr großer Vorteil für eine lang währende Karriere: Sie scheut auch den Mainstream nicht: „Ich mag es auch, mich ins Unbekannte zu stürzen und das zu tun, was mir am meisten Angst macht. Ich hatte keinerlei Erfahrung mit Action, und neben Tom Cruise am Set von ‚Mission: Impossible‘ zu sein, war eine großartige Schule“. Nachsatz: „Das Kunstkino bleibt aber definitiv meine Heimat, denn darin kann ich mich verlieren“. PAUL HEGER
Die meisten Kinos, darunter das Wiener Votivkino, öffnen wieder am 19. Juni.
Fotos: Netflix; La Biennale di Venezia
Kirby mit Shia LaBeouf in „Pieces of a Woman“
Lesbische Liebe: Kirby und Katherine Waterston in Mona Fastvolds „The World to Come“
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COVER
KORNÉL MUNDRUCZÓ IM INTERVIEW:
SO NAH RAN WIE MÖGLICH INTERVIEW. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó drehte mit „Pieces of a Woman“ ein
nahegehendes Geburtendrama. Im exklusiven celluloid-Gespräch verrät der Regisseur, wie persönlich diese Geschichte für ihn ist. Filmkritik auf Seite 39.
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s ist eine der intensivsten Filmszenen der letzten Jahre: Die beinahe halbstündige, ohne einen einzigen Schnitt auskommende Eröffnungsszene zu „Pieces of a Woman“ (neu auf Netflix), in der das junge Paar Martha (Vanessa Kirby) und Sean (Shia LaBeouf) sich auf die Hausgeburt ihres ersten Kindes vorbereitet. Zunächst scheint alles normal, doch es gibt bald Komplikationen. Die Hebamme lässt die Rettung rufen, doch die kommt zu spät. Es wird ein ungeheurer Schicksalsschlag für das Paar, das nun in einer quälenden Trauerarbeit auch die Schuldfrage stellt. „Pieces of a Woman“ reüssierte beim Filmfestival von Venedig im September, wo man Vanessa Kirby den Darstellerpreis überreichte. Ihre Performance gehört zu den Höhepunkten des Filmjahres und dürfte ihr auch eine Oscarnominierung einbringen. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó („Underdog“), bisher eher im Arthaus-Kino daheim, legt mit dem Drama sein englischsprachiges Filmdebüt vor. Im Interview in Venedig ließ er – trotz Sicherheitsabstand und Masken – tief blicken, was die Motivation für diesen Film angeht. celluloid: Mit knapp 25 Minunten Länge zeigen Sie in „Pieces of a Woman“ 10
eine Eröffnungsszene, die emotional intensiver nicht sein könnte – und das alles in einer Einstellung, ganz ohne Schnitt. Kornél Mundruczó: Ich wollte, dass die Zuschauer so nah an Martha und ihrem Schicksal dran sind wie möglich. Wie kann ich diese große Nähe herstellen? Wie kann ich ihre Erlebnisse mit dem Publikum so intensiv wie möglich teilen? Und wie kann ich meine Erfahrungen als Vater da mit einfließen lassen? Das waren die Grundfragen am Anfang dieses Projekts. Es ging mir dabei um einen sehr physischen Zugang zu der Szene, und zugleich wollte ich zeigen, wie wir die Kontrolle verlieren können in unserem Leben, und dass es dafür gar nicht viel braucht. Das Konzept der Unmittelbarkeit lebt von einer großen Verdichtung. Sie haben recht, die Szene ist sehr komprimiert. Ihnen mögen die 25 Minuten auf eine Weise qualvoll vorgekommen sein, aber im echten Leben dauern Geburten auch mal acht oder zehn oder 24 Stunden. Das also zu einer solchen Essenz zu verdichten, war mein Ziel. War es auch das Ziel, hier gänzlich ohne Schnitt auszukommen? Ja. Ich wollte eine Art Dancefloor für CELLULOID FILMMAGAZIN
die Schauspieler kreieren, wo sie sich selbst durch alle Phasen dieser Geburt bewegen konnten. Wo sie die Emotionen ausleben und ausdrücken konnten, so wie sie sie gerade empfinden. Das war auch logistisch eine ganz schöne Herausforderung, diese Szene so ganz ohne Schnitt hinzubekommen, und am Ende waren wir künstlerisch alle sehr glücklich damit. Sie erwähnten, dass das ein sehr persönlicher Film ist. Inwiefern? Wieviel von der Erfahrung dieses ungeheuren Verlusts kennen Sie selbst? Meine Erfahrungen sind sehr nahe an denen, die mein Film-Paar macht, wobei ich sagen muss, dass ich keine Totgeburt miterleben musste. Aber ich kann die Gefühle teilen, die man erlebt, wenn man von einem ungeborenen Baby Abschied nehmen muss. In meinem Fall war es nicht so drastisch und zugespitzt, wie ich das im Film erzähle. Und nicht jedes Detail meiner Geschichte hat es in den Film geschafft. Aber was ich herausgefunden habe, ist: Die Geburt und der Tod sind einander näher als wir denken. Das ist Teil unserer Humanität. Jeder wird geboren und jeder wird sterben. In unserer Gesellschaft hat sich zu diesem Thema ein Tabu entwickelt, das wir nicht zu brechen imstande sind.
Katharina Sartena
„Der animalische Akt der Geburt wird zusehends aus unseren Augen verdrängt“. KORNÉL MUNDRUCZÓ REGISSEUR „PIECES OF A WOMAN“ Drehbuchautorin Kata Wéber und Regisseur Kornél Mundruczó beim Filmfestival Venedig 2020.
Woran liegt das? An Verdrängung. Der animalische Akt der Geburt wird zusehends aus unseren Augen verdrängt. Die Geburt soll heute möglichst steril, schmerzfrei und mit einem sauberen Schnitt erfolgen. Niemand soll leiden. Herausschneiden, kein stundenlanges Prozedere, man fühlt sich gut und schmerzfrei und darf bald nach Hause. Und dann kommt die große Depression, verstehen Sie? Die technischer werdende Geburt nimmt uns als Menschen auch etwas weg: Im Film zeigen Sie, wie wir in dieser Situation zurückgeworfen werden können auf die ganz grundsätzlichen Dinge des Lebens. Ich stimme Ihnen zu. Aber ich bin, genau wie Sie, bei dem ganzen Akt der eher unnötige Teil. Also nicht ganz unnötig, denn ein Kind muss gezeugt werden, aber die Geburt liegt in der Hand der Frau, und es passiert nicht selten, dass man ihr das Recht auf den eigenen Körper verwehrt, weil es eben gewisse technische Möglichkeiten gibt. Nach dem Tod des Kindes gibt es verschiedene Inputs vonseiten der Familie, das betrifft Begräbnis, Anklage gegen die Hebamme, und auch das Weiterleben. Das geht alles so verdammt schnell.
Ja, denn alle um das Paar herum wollen die Situation bewerkstelligen, damit „fertig werden“. Jeder hat eine andere Perspektive auf die Ereignisse, alle wollen, dass man „endlich weiterlebt“. Aber eine Mutter, die das erlebt hat, will nicht „weiterleben“. Denn auch, wenn ihr Kind gestorben ist bei der Geburt, ist es immer noch ihr Kind. Sie fühlt sich als jemand, der sich selbst betrügt, wenn man einfach so täte, als wäre nichts passiert. Da gibt es sehr viele Widersprüche, wie man damit umgeht. Martha ist äußerlich so gefühlskalt, wenn es um das Leben danach geht, aber zugleich hat sie ein so reiches Innenleben, dass einem eiskalt wird. Das wollten wir in diese Figur verpacken, und das war schwierig. Unter der Oberfläche zu bleiben und dort zu brodeln. Vanessa Kirby hat das famos interpretiert, finde ich. Wie sind Sie auf Vanessa Kirby aufmerksam geworden? Ich war ein Fan der Serie „The Crown“ und ihrer Darstellung von Prinzessin Margaret. Sie fühlte sich wie eine richtige, frische Wahl an. Ich finde, dass sie die Aura einer europäischen Ikone mit sich bringt, wie eine Deneuve, eine Schygulla, eine Cardinale. Das ist genau sie. Das liebe ich, dieses Klassische. Und genau danach habe ich gesucht. Als ich das Projekt CINEMA FOREVER!
begann, hatte ich ganz oft zwei Maler im Kopf, der eine war Lucian Freud und der andere war Balthus. Beide sind sehr klassische Maler. Ich wollte, dass die Hauptfigur hier diesen klassischen Typ repräsentierte, und Vanessas Körpersprache und ihr Innenleben passen hier perfekt zu der Figur, die sie spielt. Kirby kann ihr Innenleben in der Rolle in nur einem Gesichtsausdruck spüren lassen. Ja, das dachte ich auch, als ich sie das erst mal traf. Der Film ist ihre erste Hauptrolle und er ist mein erster englischsprachiger Film. Wir sind also quasi Erstlingsfilmer, obwohl wir beide eine reiche Geschichte haben. Für sie gab es bisher das Fernsehen, für mich ungarische Arthausfilme. Wie passt Shia LaBeouf da hinein? Das ist Teil des Konzepts: Er passt eben nicht rein, er ist wie ein Außenseiter in dem Film, in dieser Familie. Shia war so begeistert von diesem Film und dieser Idee, ihn dafür zu besetzen, weil er genau so eine Herausforderung suchte. Beide Schauspieler sollten im Zusammenspiel zeigen, wie Martha aus dieser Trauer einen Frieden für sich selbst machen konnte. Und das war ein gewaltiger Prozess. INTERVIEW: MATTHIAS GREULING 11
INTERVIEW
AB 09.04.21 IM KINO
„ICH SPÜRE MEINE SEELE
IN DIESEM FILM“ Dänemarks Superstar Viggo Mortensen im exklusiven celluloid-Interview über sein Regiedebüt „Falling“, in dem er über seine eigene Familie reflektiert.
celluloid: Mr. Mortensen, wie persönlich ist diese Geschichte, in Bezug auf Ihre Familie? Viggo Mortensen: Ich begann, diese Geschichte zu schreiben, nachdem meine Mutter gestorben war. Sie litt etliche Jahre an Demenz und starb 2015. Mein Vater, der zwei Jahre später starb, litt damals ebenfalls unter beginnender Demenz. Ich versuchte, alles aufzuschreiben, woran ich mich erinnerte, in Bezug auf meine Mutter, auf meine Jugend, kleine Schnipsel und Geschichten, Anekdoten aus der Jugend, die jede für sich noch keine Geschichte ergaben, in Summe aber schnell zu einer Art Familienchronik wurden, die sich sehr wohl als Drehbuch erzählen ließ. Ich habe für das Drehbuch die Handlung aber verändert, habe das meiste in einen fiktionalen Rahmen gesteckt, anstatt es autobiografisch zu machen. Das 12
hat den Vorteil, dass man viel freier mit den Geschichten umgehen kann, und zugleich stellte ich sicher, dass in dem Film vor allem die Gefühle und Gerüche, die Bilder und Momente meiner Jugend zu spüren sind; und so kann ich in diesem vollständig erfundenen Film dennoch meine eigene Seele spüren. Was erzählt der Film über die Familie und ihren Stellenwert für die Gesellschaft? Ich glaube, der Film zeigt sehr gut, wie wichtig die richtige Kommunikation in einer Familie ist, ja, in jeder Beziehung! Man kann das Maß an schlechter Kommunikation hernehmen und sehen, wie es sich negativ auswirkt auf eine Familie - und genauso auf die Gesellschaft. Der homosexuelle Aspekt der Geschichte zeigt, dass die ältere Generation mit Homosexualität überhaupt nicht umgehen kann, während die jungen sich da bedeutend leichter tun. Die homosexuelle Thematik fand ganz organisch in den Film, als ich ihn schrieb. Ich dachte: Warum sollte die Hauptfigur anstatt einer Ehefrau nicht einen Ehemann haben? Ich war von der Idee überrascht und probierte sie aus. Das war nicht geplant, aber fühlte sich gut an. Das kreierte gleich eine ganz neue Ebene an Geschichten, und ich mag es als Zuschauer, wenn man diese Ebenen schrittweise freilegen kann, Stück für Stück. Ich mag es nicht, CELLULOID FILMMAGAZIN
Filmladen
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in Regiedebüt, das Schauspieler Viggo Mortensen viel Lob eingebracht hat: „Falling“ mit ihm selbst in der Hauptrolle, erzählt von familiären Banden und schließt Mortensens Erinnerungen an seine Jugend und seine Eltern ein. Nicht immer waren diese Erinnerungen frei von Konflikten, aber damit geht Mortensen souverän um. Eine Filmkritik ist bereits in unserer Ausgabe 5/2020 erschienen. Im coronabedingten Telefon-Interview mit celluloid lässt sich Mortensen in die Karten schauen.
wenn mir Regisseure vorgeben, was ich zu denken und zu fühlen habe. Der Film dreht sich eigentlich nicht um die sexuelle Orientierung, sondern viel mehr um das Zusammengehörigkeitsgefühl in einer Familie, in der man einander zuhört und einander respektiert. Dass es die hier nur zum Teil gibt und auf der anderen Seite eine autoritäre Vaterfigur steht, der man sich unterzuordnen hat, daraus bezieht der Film seinen Dramaturgie. Half Ihnen der Name Viggo Mortensen dabei, ins Regiefach zu wechseln? Es war ein langer Weg, diesen Film zu finanzieren. Man sollte meinen, dass der Name auf dem Plakat schon die halbe Miete ist, aber das täuscht. Ich habe schon
Neue, noch ungewohnte Rolle für Schauspieler Viggo Mortensen: Am Set gibt er nun die Anweisungen, bei seinem Regiedebüt „Falling“
einmal versucht, einen Film zu machen, das ist über 20 Jahre her, doch damals konnte ich das Geld nicht aufstellen. Jetzt ist es mir gelungen, aber mit Schwierigkeiten: Ich hatte bereits das Geld zusammen, als einer der Geldgeber es sich plötzlich nochmal anders überlegte und ausstieg. Dann musste ich wieder von vorne beginnen. Das ist verdammt anstrengend. Und nur, weil man einen bekannten Namen hat, wird es deshalb keineswegs leichter, zeigt meine Erfahrung. Und künstlerisch? Der Prozess zum Regiesessel war ein langwieriger. Ich habe mich in den letzten Jahren immer sehr nah beim Regisseur meiner Filme aufgehalten, um ihm
über die Schulter zu schauen und zu lernen, wie man so eine Aufgabe stemmen kann. Diese Praxis ist sehr wichtig für mich, genau wie die Einblicke, die ich sammelte, als ich auch beim Schnitt, bei der Kamerabesprechung und so fort anwesend war. An einem gewissen Punkt wusste ich, dass ich nun genug Erfahrung gesammelt hatte, um es selbst zu versuchen. War es von Vorteil, als Schauspieler andere Schauspieler anzuleiten? Ich glaube, die besten Schauspieler spielen nicht, sie reagieren. Wenn man Regie führt, dann achtet man auf jede Kleinigkeit: Die Stimme, die Körperhaltung, das Licht einer Szene, die KaCINEMA FOREVER!
mera. Man muss alles im Blick haben - und man ist auch jemand, der reagiert auf das, was man sieht. Insofern sind Schauspieler und Regisseure in ähnlicher Weise am Prozess des Filmemachens beteiligt, wenn sie reagieren. Seit wann gibt es diesen Wunsch bei Ihnen, Filme zu machen? Meine Mutter nahm mich das erste Mal mit ins Kino, da war ich drei Jahre alt. Und ich erinnere mich an dieses Ereignis, es hat mich geprägt. Seit diesem Tag faszinieren mich Geschichten, und wie man sie fürs Kino erzählen kann. Das klingt leidenschaftlich, und so ist es auch gemeint. INTERVIEW: MATTHIAS GREULING 13
INTERVIEW
KINDERLOSIGKEIT
ZU SEHEN AUF NETFLIX
IST EIN TABU-THEMA
Regisseurin Ulrike Kofler über ihr Kinderwunsch-Drama „Was wir wollten“, das pandemiebedingt nun bei Netflix gestartet ist. Eine spätere Kinoauswertung wird jedoch überlegt.
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schichte von Peter Stamm, die mich sehr berührt hat: Es gibt da dieses Paar, das den Urlaub einfach nicht genießen kann. Die beiden sehen immer nur das Glück der anderen, nie ihr eigenes. Das Thema Kinderwunsch ist für jedes Paar sehr persönlich, auch für mich. Ich bekam mit 33 mein erstes Kind, wollte dann noch ein zweites, aber das hat nicht mehr geklappt und warf mich in eine regelrechte Lebenskrise. Ich fragte mich: Wenn ich schon so darunter litt, wie muss es dann erst Paaren gehen, die gar keine Kinder haben? Ungewollt kinderlos zu sein, das betrifft in Europa jedes fünfte Paar.
Ulrike Kofler
Pamela Russmann
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igentlich hätte dieses Interview bereits Mitte November erscheinen sollen, denn für damals war der österreichische Kinostart von „Was wir wollten“ geplant. Doch der Lockdown verunmöglichte selbst die Galapremiere in Wien. Ulrike Kofler trug es mit Fassung: Das Regiedebüt der Schnittmeisterin - sie saß etwa an allen Filmen von Marie Kreutzer am Schneidetisch - ist nämlich inzwischen weltweit auf Netflix zu sehen, und kann dort ab 22. Dezember auch in Österreich gestreamt werden. „Es ist schade um den Kinostart“, sagt Kofler, aber wenigstens könne der Film sein Publikum finden. Inhaltlich setzt sich „Was wir wollten“ mit dem Thema Kinderwunsch auseinander: Alice (Lavinia Wilson) und Niklas (gegen den Typ besetzt: Elyas M’Barek) sind ein glückiches Paar - aber leider kinderlos, trotz etlicher In-VitroVersuche. Die Ärztin rät dem Paar zu einer Auszeit, ein Urlaub auf Sardinien soll es auf andere Gedanken bringen. Aber wie, wenn in der Ferienwohnung nebenan ausgerechnet ein Ehepaar aus Tirol einzieht, das mit gleich zwei aufgeweckten Kindern gesegnet ist und dem Paar ständig die eigene Sehnsucht nach Nachwuchs in Erinnerung ruft. „Was wir wollten“ wurde von Österreich zur Vorauswahl für die Oscar-Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ eingereicht.
celluloid: Frau Kofler, wie ist das Gefühl, aus dem Schneideraum heraus auf den Regiestuhl zu wechseln? Ulrike Kofler: Es ist ein langer Prozess gewesen, denn ich bin sehr gerne Cutterin und werde das auch sicher bleiben. Aber mein Wunsch, eigene Geschichten zu erzählen, war immer schon da, ich habe schon etliche Drehbücher geschrieben, schon während meines Studiums in Köln. Wieso das Thema Kinderwunsch? Der Film basiert auf einer KurzgeCELLULOID FILMMAGAZIN
Ist unsere auf den Beruf fokussierte Gesellschaft daran schuld? Es ist ein Tabuthema, und gerade bei Akademikern sind über 40 Prozent kinderlos, weil sich im Leben alles nach hinten verschiebt, Studium, Job und Karriere sind erst einmal wichtiger, und dann ist es oft schon zu spät. Haben Sie recherchiert, welchen Einfluß die Psyche hat, wenn Paare kinderlos bleiben? Machen sie sich zu viel Druck? Die Psyche spielt sicher eine Rolle und es ist Zeit, diesem Thema eine laute Stimme zu geben. Aber mich hat auch ein anderer Faktor interessiert: Wir leben in einer Zeit, wo alles möglich und käuflich ist. Dieser neoliberale Gedanke ist auch
Foto: Filmladen/Netflix
Lavinia Wilson und ein völlig gegen den Typ besetzter Elyas M‘Barek in Österreichs Oscar-Einreichung „Was wir wollten“.
in der Reproduktionsmedizin verankert. Jeder hat das recht, dass es mit dem Nachwuchs klappt. Wenn es nicht klappt, empfindet man das als persönliches Versagen. Wie haben Sie Ihre persönliche Krise gemeistert? Die Krise dauerte ein paar Jahre, aber inzwischen habe ich ein Pflegekind. Das war mir erst möglich, als ich die Idee eines leiblichen Kindes losgelassen habe. Wie ich das überwunden habe, kann ich allerdings kaum in Worte fassen. Sie haben die meisten Filme von Marie Kreutzer geschnitten, diesmal hat Kreutzer auch am Drehbuch mitgeschrieben und Sie haben die Rollen getauscht: Der Filmschnitt von „Was wir wollten“ geht auch auf Kreutzers Konto. Wieso? Wir haben deshalb Rollen getauscht, weil einen der erste eigene Film sehr fordert. Es war eine sehr inspirierende Erfahrung für mich, wenn man das eigene Material nicht selbst schneidet. Es gab Momente im Schneideraum, da dachte ich: Das wird nix. Marie sprach
mir dann gut zu: „Das wird schon“. Ich habe dann erkannt, wie sehr ich als Cutterin eigentlich auch Seelenanwalt der Regisseure bin, die mit mir arbeiten. Ich habe es oft erlebt, dass jemand im Schnitt verzweifelt und ich dann mit großer Ruhe und dem Blick des Außenstehenden Struktur in das Projekt bringen kann. Das war mir bis zur eigenen Filmarbeit gar nicht bewusst. Den Druck einer Regisseurin hat man als Cutterin nicht. Ihre Figuren sind hochinteressant: Die Frau, gespielt von Lavinia Wilson, nicht gerade sympathisch, der Mann, mit Elyas M’Barek völlig gegen den Typ besetzt. Elyas wollte einmal etwas anderes machen, und ich fand die Idee spannend, ihn gegen den Typ zu casten. Bei Lavinias Figur brachte das auch Probleme bei der Fördereinreichung. Die Frau hat unsympathische Züge, und Frauen, die nicht ganz der Norm entsprechen, die haben es als Filmfigur immer schwer. Immer wieder musste ich bei der Einreichung darauf hinweisen, CINEMA FOREVER!
dass es in Ordnung ist, wenn man auf der Leinwand nicht immer nur glückliche, lachende Frauen zeigt, die perfekt sind. Interessant: Eine unsympathische männliche Figur ist hingegen nie ein Problem. Immerhin ist es positiv, dass durch Filme wie „Was wir wollten“ auch mehr Frauen in höheren Positionen hinter der Kamera sitzen. Werden Sie weitermachen? Ja, ich will auf jeden Fall beides machen: Regie führen und am Schneidetisch sitzen. Ich habe Blut geleckt, aber die Finanzierung der Filme bleibt schwierig. Mein nächstes Projekt ist schon geschrieben, es geht darin um eine 22-jährige, heillos überforderte Mutter, die das vierte Kind erwartet. Also quasi ein Sequel in der Gegenrichtung? Die Geschichte ist inspiriert von meinem Pflegekind, und ja, es ist eine Art Gegenentwurf zu „Was wir wollten“. Das Thema Kinder hat einfach unzählige Facetten. INTERVIEW: MATTHIAS GREULING 15
Alexander DumreicherIvanceanu, der gerade erst das 25-Jahr-Jubiläum seiner Produktionsfirma „Amour Fou“ gefeiert hat, engagiert sich nun als Obmann seines Fachverbandes.
Foto: Weinwurm
FILMPOLITIK
FILMBRANCHE UND CORONA-KRISE:
„ES GEHT NUR GEMEINSAM“ 16
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Der Filmproduzent Alexander Dumreicher-Ivanceanu fordert als neuer Obmann seines Fachverbands in der Wirtschaftskammer nachhaltige Maßnahmen für die (Post-)Corona-Zeit.
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angeweile gibt es für Alexander Dumreicher-Ivanceanu dieser Tage nicht, trotz Lockdown und umfassender Corona-Maßnahmen. Im Gegenteil. Gerade feierten er und die Filmemacherin Bady Minck mit ihrer gemeinsamen luxemburgisch-wienerischen Filmproduktionsfirma „Amour Fou“ deren 25-jähriges Bestandsjubiläum. Zudem muss Dumreicher-Ivanceanu die eigenen Produktionen mit strengen Corona-Auflagen zur Umsetzung bringen, plant den Kinostart von Evi Romens beim Zürich Filmfestival ausgezeichneten Film „Hochwald“ in den nächsten Wochen und steht seit Anfang November 2020 zudem dem Fachverband der Film- und Musikwirtschaft in der Wirtschaftskammer vor; eine Funktion, die die Interessen von nicht weniger als 6.000 Unternehmen vertritt. Dumreicher-Ivanceanu ist für fünf Jahre gewählt, und es dürften fünf turbulente Jahre werden. „Es ist mitten in der Pandemie natürlich eine große Herausforderung, diese Branche zu vertreten“, sagt der Produzent im celluloid-Gespräch. Wiewohl die erste große Hürde der Filmbranche in Hinblick auf Corona Anfang des Sommers genommen werden konnte. „Ab 16. März konnte die Filmbranche nicht mehr drehen, das bedeutete Stillstand und eine unglaubliche Krise. Durch die Schaffung eines Ausfallsfonds für coronabedingt unterbrochene Dreharbeiten konnte jedoch die Branche weiterhin produzieren.“ Der Fonds wurde kurz nach Antritt der Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer, die der glücklosen Ulrike Lunacek nachfolgte, gegründet. „Mayer macht wirklich einen großartigen Job, die Branche spürt, dass sie sich mit Leidenschaft einsetzt“, so Dumreicher-Ivanceanu. Gerade beim Ausfallsfonds für abgesagte Dreharbeiten sei Österreich ein Vorreiter in Europa
gewesen. „Gemeinsam mit einer an einem Strang ziehenden Branche und der Politik konnte da viel bewegt werden“, so Dumreicher-Ivanceanu, allerdings: „Was sichtbar bleibt, ist, dass wir große strukturelle Probleme haben. Es gibt ein hohes kreatives Potenzial, aber keine ausreichenden Finanzierungsmittel. Dass der geförderte Film ein Arbeitsplatzmotor sein kann, haben wir bewiesen. Aber nur, wenn es gut läuft. In einer Krise wie dieser finden sich viele Filmschaffende schnell am Rande des Prekariats wieder, weil es kaum Absicherungssysteme gibt. Auch der Aufholbedarf bei Geschlechtergerechtigkeit und beim Nachwuchs ist sehr klar sichtbar geworden.“
lem aber bleibt: „2021 wäre das Jahr, in dem die gesamte Branche in die Offensive gehen könnte, Kreativitätund internationale Reputation sind breit vorhanden. Dafür gibt es bei den Förderstellen aber zu wenig Geld“, weiß DumreicherIvanceanu. Deshalb schwebt ihm als Obmann des WKO-Branchenverbandes ein neues Konzept vor: „Ich trete ein für eine Investitionsprämie, die es für Filmproduktionen geben soll. Investitionen in das heimische Filmschaffen sollen belohnt werden“. Dieses Anreizmodell soll dabei auch den Bereich „Grünes Produzieren“ forcieren: „Da haben wir Aufholbedarf: Auch bei der Filmherstellung umweltbewusst zu sein“, sagt Dumreicher-Ivanceanu.
2021 WIRD DIE KRISE AUF DER LEINWAND SICHTBAR WERDEN Die Folgen der Krise
NEUE FINANZIERUNGEN. Die Idee eines dritten Finanzierungsstandbeins neben den nationalen und regionalen Förderungen sowie dem ORF in der Filmbranche ist keineswegs neu, seit Jahrzehnten wird darüber debattiert. Allein: Wegen seines Nischendaseins hatte der österreichische Film bisher stets das Nachsehen. Bedenkt man, welche positiven Effekte Film etwa auch im Bereich des schwer getroffenen Tourismus erzielen kann, könnte das auch die Wertigkeit der Künste für die Politik neu ordnen. „Ich finde, eine Investitionsprämie mit grünem Bonus ist ein richtiger Weg, denn Dreharbeiten schaffen viele Arbeitsplätze und Filme haben eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung“. Und: „Den Zusammenhalt, den wir in der Krise erleben, wollen wir unbedingt in die Zukunft mittragen“, sagt Alexander Dumreicher-Ivanceanu. Das Gemeinsame, es war nicht immer selbstverständlich in Österreichs Filmbranche. Die Pandemie hat das geändert. Heute ist nicht nur Dumreicher-Ivanceanu klar: „Es geht nur miteinander“. ARNO VEUER
liegen auf der Hand: „2021 werden uns die Filme ausgehen“, so DumreicherIvanceanu. Der Hunger auf bewegte Bilder sei gerade während eines Lockdown unstillbar, dabei wurde weltweit 2020 bedeutend weniger gedreht. Insiderschätzungen gehen davon aus, dass die Anzahl der Produktionen mindestens um 50 Prozent eingebrochen ist. Heißt auch: Der Content wird 2021 fehlen, in Kino, TV und bei Streamingdiensten. „Das ist der spannende Moment, in dem wir uns befinden: Die unmittelbare Krise ist bewältigt, weil wir wieder drehen können, aber die Zukunft in der Pandemie ist ungewiss, und da drängt sich die Frage auf, wie man eine Branche strukturell neu aufstellen kann“, so Dumreicher-Ivanceanu. Dank einer Stoffentwicklungsoffensive des Österreichischen Filminstituts (ÖFI), die nach dem ersten Lockdown zahlreiche Autorinnen und Autoren animierte, sich in Drehbuchentwicklungen zu vertiefen, können erstklassige neue Stoffe erwartet werden, ein GrundprobCINEMA FOREVER!
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SET-ALLTAG
CORONA IST TEURER UND
FILMEN WIRD GRÜN
Fotos: Gebhardt Productions/Steffi Leo; Alexander Gebhardt
Neue Realitäten am Set: Filmdreharbeiten finden unter strengen Corona-Regeln statt und sind ab 2021 auch „grün“. Ein Gespräch mit Produzent Florian Gebhardt.
Höchste Sicherheitsvorkehrungen: Beim Dreh zur TV-Serie „Soko Kitzbühel“ gab es 2020 verpflichtende Corona-Tests für das komplette Team und absolute Maskenpflicht für alle, ausgenommen die Schauspieler, die gerade vor der Kamera standen.
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CELLULOID FILMMAGAZIN
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ie letzten Monate waren für ten Orte Österreichs. Natur pur, wo man Österreichs Filmbranche dop- hinblickt. Der Umweltschutz- und Nachpelt hart: Einerseits verhinderte haltigkeitsgedanke war uns wichtig. Wir der erste Lockdown zunächst sämtli- wollten die Öffentlichkeitswirksamkeit che Dreharbeiten, andererseits fehlten des Erfolgsformats nutzen und mit der durch die geschlossenen Kinos auch Green-Producing-Auszeichnung eine die Auswertungsmöglichkeiten für Fil- Vorbildwirkung mit Multiplikatoreffekt me. Die Produktion von Filmen steht erzeugen“, sagt Gebhardt. daher am Beginn von 2021 vor großen In Sachen Corona wiederum mussVeränderungen, denn: Solange die Co- te Gebhardt schnell handeln, um die rona-Pandemie andauert, wird es nur geplanten Drehtage trotz aller Vorkehmit viel Aufwand möglich sein, neue rungen über die Bühne zu bekommen. Filmware herzustellen. Hinzu kommt: „Filmsets sind Hochsicherheitszonen. Nicht nur Sicherheitsvorkehrungen zur Pandemie-Bekämpfung sind Pflicht, sondern ab heuer auch das „grüne“ Produzieren; Das Österreichische Filminstitut (ÖFI) wird „Green Filming“ zum Standard bei Förderungen machen, konkret geht es um Themen wie Energie, Transport oder Abfall bei der Filmherstellung. „Für mich ist Kulturpolitik auch Klimaschutzpolitik“, sagte Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer zur Ankündigung der Initiative. Auch ÖFI-Direktor Roland Teichmann findet: „Mit den neuen BestimFlorian Gebhardt mungen in unseren Förderrichtlinien setzen wir hier erstmals ein klares Zeichen und unterstützen die Bei uns durfte niemand das Set betreten, Branche auch aktiv beim Know-how- der vorher keinen negativen Covid-19 Transfer für nachhaltiges Produzieren.“ Test hatte. Die Maskenpflicht galt - ausgenommen für die Schauspieler vor der „SOKO KITZBÜHEL“ IST GRÜN Einer, der Kamera - trotzdem zusätzlich für sämtbereits beim Thema Corona am Set so- liche Personen am Set.“ Das Resultat bewie „Green Filming“ Erfahrung sam- stätigt das Sicherheitskonzept: Bei insgemeln konnte, ist Filmproduzent Florian samt 120 Drehtagen für die neue Staffel Gebhardt. Seine Firma Gebhardt Pro- gab es coronabedingt nur vier Tage, an ductions fertigt für den ORF erfolgrei- denen nicht gedreht werden konnte. che Comedy-Formate wie „Was gibt es TESTEN, TESTEN, TESTEN „Der Schlüssel Neues?“ oder „Wir sind Kaiser“, aber auch fiktionale Filme und Serien. Im ist: Lückenloses, regelmäßiges Testen und Corona-Jahr 2020 entstand beispiels- das Zutun der Crew, sich an die Regeln weise die neue, finale Staffel der belieb- zu halten“, sagt Gebhardt. Was aber auch ten Serie „Soko Kitzbühel“ - und zwar stimmt: Corona-Dreharbeiten sind „mit unter den höchstmöglichen Corona- erheblichen Mehrkosten verbunden, die Sicherheitsvorkehrungen einerseits und von Auftraggebern und Finanzierungsunter den Standards, die das nunmehr partnern mitgetragen werden mussten. eingeführte „Green Filming“ erfordert. Der ORF war auch in dieser Krisenzeit Eine Vorreiterrolle für Gebhardt, der ein verlässlicher Partner“, sagt Gebhardt. Was vielen Produktionsfirmen zuaus Überzeugung handelt: „Die ,Soko Kitzbühel‘ spielt an einem der schöns- dem half, war der von der Regierung CINEMA FOREVER!
aufgelegte staatliche Ausfallsfonds. An Filmsets ist so ziemlich alles versichert, aber das Risiko, einen Dreh wegen eines Corona-Falls stoppen zu müssen, wollte keine Versicherung auf sich nehmen. Also sprang der Staat ein und übernahm diese Leistung in Form von Garantien. Ein Modell, ohne dass es im Drehalltag nicht geht, auch, wenn die daraus bezogenen Leistungen - der guten Hygienekonzepte sei Dank - bisher nur selten in Anspruch genommen werden mussten. Bleibt die Frage, wie Produktionen künftig sichergestellt werden können. Florian Gebhardt meint, eine Aufwertung des Fernsehfonds Austria bei der RTR brächte einen „starken Wirtschaftsimpuls“. Und dann ist da noch das Argument, das wieder greift, wenn Corona erst einmal besiegt ist: „Film ist ein starker Beschäftigungs- und Wirtschaftsmotor. Die ‚Soko Kitzbühel‘ alleine hat im letzten Jahr knapp 5.000 zusätzliche Nächtigungen in der Region erwirkt. Ein Ankurbeln der Produktionstätigkeit ist gleichzeitig eine Stärkung der regionalen Hotellerie und Gastronomie - auch außerhalb der Hochsaison.“ Filmdrehs sind zudem auch Visitenkarten für Österreichs Tourismus. ÖKO-PRÄMIE FÜR MUSTERSCHÜLER In Zusammenspiel mit dem „Green Filming“Gedanken ergibt sich daraus eine neue Dreh-Realität für Österreichs Filmer: Alexander Dumreicher-Ivanceanu, der neue Obmann der Filmwirtschaft in der Wirtschaftskammer: „Gerade die Filmwirtschaft ist einer der umweltfreundlichen Motoren, um Fortschritte und Innovationen zu erzielen, die sich die Filmförderung auf Bundesebene vorgenommen hat.“ Dumreicher-Ivanceanu fordert eine Öko-Prämie für in diesem Bereich vorbildliche Produktionsfirmen. Am Ende wird der Alltag am Filmset aber vom Verlauf der Pandemie abhängen, weiß auch Florian Gebhardt. „Die Covid-19-Maßnahmen hören erst dann auf, wenn das Virus keinen Schaden mehr anrichten kann - also aus derzeitiger Sicht: Wenn alle geimpft sind.“ MG 19
JOHN LE CARRÉ: DIE WICHTIGSTEN FILME
DAS ERBE DES MAGIERS Mit dem Tod von John le Carré (19.10.1931 - 12.12.2020) verlor die Welt nicht nur einen begnadeten Literaten, sondern auch einen Lieferanten vieler großer Filmgeschichten. Wir haben uns die zwölf wichtigsten Verfilmungen seiner Romane noch einmal angeschaut.
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VON GUNTHER BAUMANN
on „Der Spion, der aus der Kälte kam“ über „Dame, König, As, Spion“ bis „The Night Manager“: Der britische Schriftsteller John le Carré war mit seinen Spionage-Romanen ein verlässlicher Bestseller-Fabrikant. Auch die Hollywood-Studios und die TV-Stationen bedienten sich nur zu gern seiner Geschichten. In den 53 Jahren von 1965 bis 2018 entstand die rekordverdächtige Zahl von 19 Kino- und TV-Produktionen, die auf Le-Carré-Texten basierten. Mochten sich die Leser und die Filmfreunde zu Beginn noch darüber wundern, woher John le Carré seine intime Detailkenntnisse der Geheimdienst-Welt bezog – er gab seinen Beruf damals als „Botschafts-Angestellter“ an –, so offenbarte der Autor im Lauf der Zeit, dass er in jungen Jahren selbst als Agent für die britischen Dienste MI5 und MI6 tätig gewesen war. Seine Geheimdienst-Karriere begann Cornwell, der perfekt Deutsch sprach, übrigens in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Graz. Thematisch konzentrierte sich le Carré bis zum Zerfall der 20
Sowjetunion auf Geschichten, in denen der Kalte Krieg zwischen Ost und West den Hintergrund lieferte. Zusätzlich öffnete er den Blick auf Brennpunkte in aller Welt – von den Terrorattentaten des Nahost-Konflikts („Die Libelle“) bis zu üblen Machenschaften der Pharma-Industrie („Der ewige Gärtner“). Was die Helden und Heldinnen von John le Carrés Geschichten betrifft, begegnet man immer wieder dem gleichen Menschentyp: Idealisten, oft noch jung an Jahren, die auf der Suche nach ihrem Platz im Leben, aber auch nach festen Strukturen und nach Abenteuern sind. Der Autor hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass diese Figuren autobiografisch geprägt waren. Umgekehrt erfand er im Charakter des alternden und einsamen Agenten George Smiley die Wunschfigur eines Vaters, wie er ihn im wirklichen Leben nie gehabt hat. Die zwölf Le-Carré-Verfilmungen, die in diesem Beitrag vorkommen, sind als Stream und/oder DVD zu bekommen. Sie konzentriert anzuschauen, ist ein Abenteuer, das jeden Filmfreund begeistern muss. Auch wenn nicht alle Produktionen gelungen sind.
CELLULOID FILMMAGAZIN
Fotos: Katharina Sartena; Filmarchiv Austria, Pidax
DOSSIER
DER SPION, DER AUS DER KÄLTE KAM
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Kinofilm. GB 1965. 112 Minuten. Regie: Martin Ritt. Mit Richard Burton, Claire Bloom, Oskar Werner. Hintergrund: Kalter Krieg zwischen Ost und West
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as Schreibgerät glühte: Der junge John le Carré brachte 1963 in nur fünf Wochen „Der Spion, der aus der Kälte kam“ zu Papier – eine Erzählung aus dem geteilten Berlin, die zum Weltbestseller werden sollte und die das Genre des Spionageromans neu definierte. Denn hier ging es nicht um Abenteuer, Sex und Glamour wie etwa bei James Bond, sondern um Abenteuer, Verrat und Skrupellosigkeit. Mit hyperrealistischer Präzision schilderte le Carré eine gänzlich moralbefreite, nur am Ziel der Nützlichkeit orientierte Geheimdienstwelt: „Wir führen Krieg, um den großen furchtbaren Krieg zu verhindern.“ Martin Ritts Verfilmung setzte 1965
auf Richard Burton (Oscar-Nominierung) in der Hauptrolle. Er spielt den britischen Agenten Leamas, der vorgibt, sich vom Geheimdienst der DDR anheuern zu lassen, um seinem Kontrahenten Mundt (Peter van Eyck) das Handwerk zu legen. Zwar hat der Film fesselnde Höhepunke wie etwa ein Wortgefecht zwischen Burton und Oskar Werner (der Wiener war damals dank Meisterwerken wie „Jules und Jim“ ein internationaler Star). Doch aus heutiger Sicht muss man sagen, dass die Kinoversion des Bestsellers nicht sonderlich gut gealtert ist. Der Film wirkt über weite Strecken langatmig, pomadig und ohne Pep. Erst im grandiosen Finale, wenn Leamas
entdecken muss, dass er nicht mehr ist als eine Schachfigur in einem abgrundtief zynischen Spiel, sitzt man gebannt und erschüttert vor dem Bildschirm. Dieses Finale ist freilich in jeder Hinsicht Weltklasse.
DAME, KÖNIG, AS, SPION
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TV-Serie. GB 1979. Sieben Folgen, 315 Minuten. Regie: John Irvin. Mit Alec Guinness, Michael Jayston, Bernard Hepton, Ian Richardson, Ian Bannen. Hintergrund: Kalter Krieg. Geheimdienst-Wettstreit zwischen Großbritannien und der Sowjetunion
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ie „Karla-Trilogie“: In den Jahren 1974 bis 1979 schrieb John le Carré drei Bestseller über den Kampf seiner charismatischsten Figur – des dicklichen, privat unglücklichen, professionell aber brillanten Agenten George Smiley – gegen seinen größten Kontrahenten, den sowjetischen Geheimdienstboss Karla. Zwei
Romane wurden damals als BBC-Serien mit Alec Guinness verfilmt. „Dame, König, As, Spion“ machte 1979 den Anfang. Der Plot: Nach einem komplett missglückten Einsatz in der CSSR keimt beim britischen Geheimdienst MI6 der Verdacht, einen Maulwurf in der eigenen Führungsetage sitzen zu haben. Einen Doppelagenten, der alle Interna direkt an Karla in Moskau weitermeldet. George Smiley, erst vor kurzem in Pension geschickt, wird reaktiviert, um den Maulwurf zu enttarnen. Filmtechnisch ist die siebenteilige Serie, die der britische Regisseur John Irvin aus dem Roman destillierte, das genaue Gegenteil eines Agenten-Thrillers. Keine Action, kein Glamour. Stattdessen hört man ältlichen Herren in dunklen Anzügen beim Reden zu. Der visuelle Höhepunkt des Geschehens ist schon erreicht, wenn einer der Männer versucht, eine volle Teetasse unfallfrei zum Konferenztisch zu tragen. Doch trotz der ereignisarmen Bildsprache ist diese Version von „Dame, König, As, Spion“ ein Abenteuer, an dem man sich nicht sattsehen kann. Das CINEMA FOREVER!
hat zwei Gründe: Die Erzählkunst von John le Carré und die Schauspielkunst von Alec Guinness. Le Carré, der auch am Drehbuch mitschrieb, ist ein Meister des what happens next. Er kann so massiv Spannung und Neugier aufbauen, dass man nach jeder Szene sofort wissen will, was als nächstes passiert. Das gelingt bei der Serie exemplarisch gut. Wenn etwa der Moment naht, in dem die Entlarvung des Maulwurfs bevorsteht, ist das im Roman genauso atemraubend spannend wie im Roman. Für den britischen Superstar Sir Alec Guinness war die Serie die erste große Arbeit fürs Fernsehen. Kaum zu glauben, dass er darüber grübelte, die Rolle zurückzulegen, weil er befürchtete, diesem George Smiley nicht gerecht zu werden. Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Mit seiner stillen, doch stets zielgerichteten Beharrlichkeit adelt Guinness diese nach innen schillernde Figur. Und er lässt seinen (bei uns weitgehend unbekannten) Mitspielern genügend Raum, damit auch diese ihr Talent voll entfalten können. 21
DOSSIER SMILEYS LEUTE
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TV-Serie. GB 1982. Sechs Folgen, 324 Minuten. Regie: Simon Langton. Mit Alec Guinness, Eileen Atkins, Curd Jürgens, Mario Adorf, Anthony Bale. Hintergrund: Kalter Krieg. Geheimdienst-Wettstreit zwischen Großbritannien und der Sowjetunion
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it „Smileys Leute“ endet, im Film wie im Buch, die „Karla-Trilogie“. Der zweite Roman, „Eine Art Held“, wurde nicht verfilmt. Leider, muss man sagen – für viele Leser ist „A Honourable Schoolboy“ (so der Originaltitel) der packendste aller Le-Carré-Romane. Aber für eine TV-Serie war diese Geschichte, die großteils in Hongkong und anderen Schauplätzen in Südostasien spielt, seinerzeit womöglich zu teuer. Bei „Smileys Leute“ ist der Agent George Smiley zurück in Europa. Noch immer sucht er die Auseinandersetzung mit seinem KGB-Kontrahenten Karla. Ein mysteriöser Überfall auf eine Exilrussin in Paris könnte als Lebenszeichen Karlas gewertet werden. Hat der Agent
aus Moskau vielleicht eine schwache Stelle? Gibt es unter Umständen eine Möglichkeit, ihn aus der Reserve und in den Westen zu locken? Eine aufreibende und aufregende Jagd beginnt. „Smileys Leute“, entstanden 1982, schaut filmisch viel moderner aus als die drei Jahre zuvor gedrehte Serie „Dame, König, As, Spion“. Die Farben sind heller, die Action nimmt ein wenig zu. Es gibt neue Schauplätze außerhalb Londons, in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Zwei große Schauspieler ergänzen das englische Ensemble: Curd Jürgens spielt in seiner letzten Rolle einen Exilrussen, den „General“. Und Mario Adorf hat eine kleine, feine Rolle als windiger NachtclubBesitzer mit großem Herzen.
DIE LIBELLE
bens“ trifft freilich auch auf den Film zu, der zwangsläufig seine Probleme damit hat, einen vielschichtigen 670-SeitenRoman auf 130 Kinominuten einzudampfen. Regisseur George Roy Hill lässt die erste Hälfte der Story in atemlosem Express-Tempo dahinrattern, wobei viele Zwischentöne verlorengehen. Auch die Besetzung der Hauptrollen scheint nicht ideal. Klaus Kinski ist, seinem Naturell entsprechend, ein bisweilen sehr exaltierter Geheimdienst-Boss. Diane Keaton wirkt mehr wie eine flatterhafte Stadtneurotikerin (die sie ja bei Woody Allen war) denn als radikale Polit-Aktivistin. Trotz seiner Schwächen ist „Die Libelle“ aber sehenswert. Die Schauplätze wechseln von Deutschland nach Griechenland und wieder zurück (besonders gelungen ist eine Szene, die im steirischen Leibnitz spielt, wenngleich sie in Deutschland gedreht wurde). Eine wichtige und überaus dramatische Sequenz spielt in einem palästinensischen Ausbildungslager. Einmal mehr muss man sich vor John le Carré verbeugen. Der Autor lässt seinen Thriller auf ein knallhartes Finale zulaufen, das viel Stoff zum Nachdenken bietet. Le Carré gelingt das Kunststück, Verständnis für beide Seiten des bis heute so hoffnungslos verfahrenen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern zu erzeugen.
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Kinofilm. USA 1984. 130 Minuten. Regie: George Roy Hill. Mit Diane Keaton, Klaus Kinski, Yorgo Voyagis, Sami Frey. Hintergrund: Der Nahost-Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern
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ie Libelle“ („The Little Drummer Girl“) ist die erste große Le-CarréVerfilmung, die das Themenfeld des Kalten Krieges verlässt. Der Autor erzählt eine Geschichte über Terror und NahostKonflikt. Der Film beginnt mit einem Bombenattentat in Bonn, bei dem ein israelischer Diplomat und sein kleiner Sohn getötet werden. Der israelische Geheimdienst erkennt in dem Anschlag die Handschrift des palästinensischen Terroristen Khalil (Sami Frey). Dem Mann soll das Handwerk gelegt werden, indem ein weiblicher Lockvogel auf ihn angesetzt wird. Die Wahl der Mossad-Agenten um den Kommandanten Kurtz (Klaus Kinski) fällt auf die Londoner Schauspielerin Charlie (Diane Keaton) – eine idealistische und politisch engagierte junge Frau, die auf der Suche nach dem Sinn noch etwas haltlos durchs Leben treibt. Das Attribut des „haltlosen Dahintrei22
CELLULOID FILMMAGAZIN
Im Mittelpunkt steht aber wieder Alec Guinness als britischer Agent Smiley. Diesmal ist er mit beträchtlichem Jagdinstinkt unterwegs, in den sich auch ein Hauch Melancholie mischt. Denn Smiley weiß: Sollte er seinen russischen Widersacher Karla nun im letzten Anlauf besiegen, dann würde ihm auch ein Alter Ego fehlen, dem er stets die allergrößte Hochachtung entgegengebracht hat. Regisseur Simon Langton schafft es, eine ähnlich intensive Atmosphäre entstehen zu lassen wie in „Dame, König, As, Spion“. Wie es sich für einen guten Thriller gehört, wird die Spannung fein säuberlich und konsequent gesteigert – bis sie beim Showdown in Berlin ihren Höhepunkt erreicht.
DAS RUSSLAND-HAUS
Kinofilm. USA 1990. uvlmn
122 Minuten. Regie: Fred Schepisi. Mit Sean Connery, Michelle Pfeiffer, Klaus Maria Brandauer. Hintergrund: Der Kalte Krieg im finalen Stadium
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it dem Roman „Das RusslandHaus“ kehrte John le Carré noch einmal ins vertraute Terrain des Kalten Krieges zurück. Das visionäre Buch erschien 1988, als sich die Welt noch in einer Form des Friedens glaubte, die durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen Ost und West aufrechterhalten wurde. Doch ein Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer stellte le Carré in seiner Geschichte die These auf, dass die UdSSR derart massiv abgewirtschaftet habe, dass sie sich vom Wettrüsten verabschieden müsse. Drei Jahre später, 1991, sollte die Sowjetunion krachend zusammenbrechen. Die Verfilmung entstand 1990. Dank des west-östlichen Tauwetters der Gorbatschow-Ära konnte vor Ort in Moskau gedreht werden. Die Besetzung war luxuriös. Sean Connery, als James Bond bereits im Ruhestand, spielte die Hauptrolle: Den freundlich-versoffenen
englischen Verleger Barley Blair, der in Moskau ein brisantes Dokument über die Krise der Roten Armee zugespielt bekommt. Für den Part des geheimnisvollen russischen Informanten Dante wählte Connery den Österreicher Klaus Maria Brandauer aus, der ihm im BondThriller „Sag niemals nie“ als schurkischer Maximilian Largo gegenüber gestanden war. Michelle Pfeiffer spielte die russische Buchhändlerin Katya, in die sich Barley Blair unsterblich verliebt. Trotz der Aktualität des Themas und des großen Star-Aufgebots fiel die Verfilmung enttäuschend aus. Regisseur Fred Schepisi („Roxanne“) spulte die politischen Szenen eher beiläufig ab (die USA haben in der Erzählung kein großes Interesse an einem geschwächten Russland, weil die US-Waffenkonzerne weiter aufrüsten wollen). Die Inszenierung konzentrierte sich auf die privaten Aspekte der Story. Da finden sich zwar feine Wortgefechte mit Connery und Brandauer, aber die Romanze zwischen Connery und Pfeiffer wird zum sentimentalen Rührstück. Obendrein bekam der Film ein Hollywood Ending verpasst – ein Happy End, das man im Roman vergeblich sucht. Fazit: „Das Russland-Haus“ ist in der CelluloidWertung die schwächste aller Le-CarréVerfilmungen.
DER SCHNEIDER VON PANAMA
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Kinofilm. USA / IRL 2001. 105 Minuten. Regie: John Boorman. Mit Pierce Brosnan, Geoffrey Rush, Jamie Lee Curtis, Brendan Gleeson, Harold Pinter, Daniel Radcliffe Hintergrund: Machtspiele und Korruption in Zentralamerika, wobei die geostrategische Bedeutung des Panama-Kanals für zusätzliche Brisanz sorgt.
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er Schneider von Panama“ ist der ungewöhnlichste Roman im Werk von John le Carré: Eine Mischung aus Komödie und Farce, in der die politischen Aspekte (der Autor attackiert die aggressive Lateinamerika-Politik der USA) eher nebensächlich bleiben. In der höchst unterhaltsamen Verfilmung von John Boorman („Excalibur“) bekommt – und nutzt –Pierce Brosnan ausgiebig die Gelegenheit, sein JamesBond-Image auf die Schaufel zu nehmen. Zwischen den zwei 007-Thrillern „Die Welt ist nicht genug“ und „Stirb an einem anderen Tag“ spielt er hier den blasierten britischen Spion Andrew Osnard, der wegen einer verhängnisvollen erotischen Affäre ins provinzielle Panama strafversetzt wird. Auf der Suche nach neuen Informanten gerät er an den Herrenschneider Harold Pendel (hinreißend: Geoffrey Rush), der nicht nur sein Handwerk, sondern auch das Schwindeln perfekt beherrscht. Vom Agenten Osnard bedrängt,
DER EWIGE GÄRTNER
erfindet der Schneider eine absurde Geschichte, wonach eine (nicht existente) „Stille Opposition“ einen Staatsstreich in Panama plane. Mit dieser Meldung versetzt der Spion nicht nur seine Bosse vom MI6 in London, sondern auch die USA in helle Aufregung. Schließlich schicken die USA das Militär los, um ihre Interessen rund um den PanamaKanal zu schützen… Obwohl „Der Schneider von Panama“ schon vor 20 Jahren gedreht wurde, macht der Film auch heute noch viel Spaß. Daran haben neben den Hauptdarstellern auch Stars wie Brendan Gleeson (als vom Alkohol durchweichter Möchtegern-Revoluzzer) und Jamie Lee Curtis (als Geoffrey Rushs resolute Ehefrau) ihren Anteil. Ach ja, und dann spielt auch noch ein gewisser Daniel Radcliffe mit. In seinem ersten Kinofilm lässt der Elfjährige aber noch nicht erkennen, dass er bald als Harry Potter weltberühmt werden wird.
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Kinofilm. GB / D 2005. 129 Minuten. Regie: Fernando Meireilles. Mit Ralph Fiennes, Rachel Weisz, Danny Huston, Bill Nighy, Anneke Kim Sarnau. Hintergrund: Intrigen, Korruption und Machenschaften der Pharma-Industrie vor der Kulisse Kenias.
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essa Quaile (Rachel Weisz), eine englische Menschenrechts-Aktivistin, wird in Kenia ermordet aufgefunden. Ihr Mann, der Karriere-Diplomat Justin Quayle (Ralph Fiennes), verlässt die geordnete Welt der britischen Botschaft in Nairobi, um die Hintergründe von Tessas Tod herauszufinden. Der Plot: Glaubt Justin zunächst,
der Mord könnte mit einer (vermuteten) außerehelichen Affäre seiner Frau zusammenhängen, so entdeckt er bald eine ganz andere Spur. Tessa scheint nahe daran gewesen zu seinen, einen Pharma-Skandal um unerlaubte Testreihen für ein neues TBC-Medikament aufzudecken. Die Enthüllungen könnten nicht nur in der Konzernzentrale des Pharma-Riesen, sondern auch in britischen Polit-Kreisen höchste Unruhe auslösen… Mit „Der ewige Gärtner“ verlässt John le Carré sein gewohntes Areal der Geheimdienste und Spione. Er erweist sich aber einmal mehr als zorniger Moralist, der sein überragendes Talent als Geschichtenerzähler dazu nutzt, die Anklage gegen Big Pharma in eine spannungsgeladene und melodramatische Form zu gießen. CINEMA FOREVER!
Mit dem Brasilianer Fernando Meireilles („City Of God“) erhielt das Projekt einen idealen Regisseur. In den Afrika-Sequenzen lässt Meireilles die Atmosphäre nur so vibrieren auf jenem schmalen Grat, wo Lebenslust und Not, Sinnlichkeit und Tod nahe beieinander liegen. Die Szenen in London hingegen strahlen jene Kälte aus, die auch für die erstarrten Herzen der dortigen Protagonisten typisch ist. Das Ensemble ist großartig. Rachel Weisz wurde für ihr energiegeladenes Spiel mit einem Oscar ausgezeichnet. Ralph Fiennes macht den Wandel vom Karrieristen zum Aufdecker eines Skandals auf berührende Weise deutlich. Stars wie Bill Nighy, Danny Huston oder Pete Postlethwaite tragen das ihre dazu bei, diesen überaus gelungenen Film abzurunden. 23
DOSSIER DAME, KÖNIG, AS, SPION
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Kinofilm. GB / F / D 2011. 127 Minuten. Regie: Tomas Alfredson. Mit Gary Oldman, Tom Hardy, Benedict Cumberbatch, Colin Firth, Kathy Burke. Hintergrund: Kalter Krieg. Geheimdienst-Wettstreit zwischen Großbritannien und der Sowjetunion
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ach der TV-Serie von 1979 nun der Film von 2011: „Dame, König, As, Spion“ ist der erste Roman von John le Carré, der gleich zwei Mal verfilmt wurde. Das Überraschende daran: Die Kinoversion kann mit dem betulichen TV-Mehrteiler in keiner Weise mithalten. Das liegt zu einem nicht geringen Teil an Regisseur Tomas Alfredson. Der Schwede („So finster die Nacht“) erzählte in einem Interview, dass ihn das Genre des Spionage-Thrillers nicht sonderlich interessiert. Das merkt man seinem Werk auch an. „Dame, König, As, Spion“ ist als Buch ja ein echter Page Turner; ein Stück große Hochspannungsliteratur, bei dem
man in jeder Sekunde wissen will, wie es weitergeht. Die Serie mit dem großen Alec Guinness übertrug diese Spannung auf den TV-Schirm. Doch Filmregisseur Tomas Alfredson scheint es nicht zu interessieren, das Publikum an den Sitz zu fesseln. Wenn sich der Agent John Smiley (hier gespielt von Gary Oldman) auf den Weg macht, einen russischen Maulwurf im britischen Geheimdienst zu entlarven, wird das höchst beiläufig und fast desinteressiert erzählt. Der im Roman nervenzerfetzende Moment etwa, in dem Smiley (und das Publikum) erfährt, welcher der Verdächtigen nun wirklich der Maulwurf ist, wird im
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A MOST WANTED MAN
an braucht einen Barrakuda, um einen Hai zu fangen“, lautet der Wahlspruch des deutschen Agenten Günther Bachmann (Philip Seymour Hoffman in der letzten großen Rolle vor seinem viel zu frühen Tod). In der Verfilmung von John le Carrés Roman „A Most Wanted Man“ (deutscher Titel: „Marionetten“) hat dieser Bachmann einen tschetschenischen Flüchtling auserkoren, um einen muslimischen Geschäftsmann zu überführen, den er für einen großen Terror-Finanzierer hält. So wird der unglückliche und ahnungslose junge Mann für die Geheimdienstler zur Spielfigur in ihrer Schachpartie, die angeblich dazu dient, „die Welt sicherer zu machen.“ Was für die Beteiligten freilich mit Tod, Verhaftung oder einem Aufenthalt in Guantanamo Bay enden kann.
THE NIGHT MANAGER
onathan Pine (Tom Hiddleston), der charmante Nachtportier eines Luxushotels in Kairo, verliebt sich in eine geheimnisvolle Frau, die ihm streng 24
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Kinofilm. GB 2014. 121 Minuten. Regie: Anton Corbijn. Mit Philip Seymour Hoffman, Rachel McAdams, Willem Dafoe, Daniel Brühl, Nina Hoss, Herbert Grönemeyer. Hintergrund: Der Krieg gegen den Terror; ausgetragen auf deutschem Boden. Die Spannung kommt auf leisen Sohlen daher. Der holländische Regisseur Anton Corbijn nimmt sich Zeit, um die vielen Handlungsstränge der Story auszulegen, und er gibt den Figuren Raum, ein Eigenleben zu entwickeln. Philip Seymour Hoffman zeigt seine volle Meisterschaft. Er lässt den Agenten Bachmann zwischen Wut und Resignation, zwischen Zynismus und Humanismus dahinschleudern, und er porträtiert ihn zugleich als Mann der Tat. Rachel McAdams modelliert mit großem Höhere-Töchter-Charme die Rolle einer idealistischen, menschenuvwxy
TV-Serie. GB/USA 2016. 8 Folgen, 360 Minuten. Regie: Susanne Bier. Mit Tom Hiddleston, Hugh Laurie, Olivia Colman. Hintergrund: Vor der Kulisse des arabischen Frühlings und des Nahost-Konflikts geht es um Waffenhandel in ganz großem Stil.
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Film in Sekundenschnelle und auf fast lächerliche Weise verschenkt. Einziger Lichtblick der Produktion ist Gary Oldman, der für sein Porträt des einsamen und sonderbaren, aber beharrlich ermittelnden Agenten George Smiley eine Oscar-Nominierung bekam. Doch seine Co-Stars wie Tom Hardy, Benedict Cumberbatch, Colin Firth oder John Hurt verströmen in der lähmenden Inszenierung keinen Glanz, sondern sie bleiben stumpf – obwohl sie schillernde Figuren verkörpern. Fazit: Für „Dame, König, As, Spion“ bleibt in der Celluloid-Wertung nur das Prädikat der langweiligsten aller John-le-CarréVerfilmungen.
vertrauliches Material über einen gigantischen Waffenschieber-Deal anvertraut. Pine leitet die Akten an den britischen Nachrichtendienst weiter – und muss CELLULOID FILMMAGAZIN
rechtsbewegten Anwältin. Willem Dafoe stattet einen Bankier mit all der eleganten Grandezza aus, die zu den undurchsichtigen Herren des Geldes passt. Im Multi-Kulti-Ensemble glänzen auch Robin Wright und Nina Hoss, Daniel Brühl und Martin Wuttke. In kurzen Auftritten huscht Herbert Grönemeyer, fast unerkennbar mit Anzug und Krawatte, durchs Bild – nebstbei komponierte der Popstar auch den Soundtrack. Grigori Dobrygin gewinnt als verschreckter Flüchtling Issa Karpow viele Sympathien. Großes Kino. miterleben, wie seine Geliebte bestialisch ermordet wird. Daraufhin lässt er sich vom britischen Geheimdienst anwerben und wird undercover in die Organisation des Oligarchen und Waffenhändlers Richard Roper (Hugh Laurie) eingeschleust. Das Ziel seiner lebensgefährlichen Mission: Pine will mithelfen, dem charismatischen, aber völlig skrupellosen Roper das Handwerk zu legen.
Das ist der Plot der Verfilmung von John le Carrés Roman „Der Nachtmanager“, der schon gut 20 Jahre lang in den Bücherregalen lag, bevor er 2016 zur TV-Serie umgewandelt wurde. Die behutsam aktualisierte Filmfassung zeigt, dass Le-Carré-Thriller einfach keinen Staub ansetzen. Ganz im Gegenteil: Der dänischen Regisseurin und Oscar-Preisträgerin Susanne Bier („In einer besseren Welt“) gelang ein Meisterwerk, das mit großen Schauspiel-Leistungen und spektakulären Bildern prunkt und das obendrein 360 Minuten lang atemlose Hochspannung verströmt. Mit Schauplätzen nahe der Pyramiden und des Matterhorns, einer Luxus-Vila in Mallorca und einem Militär-Camp in der Türkei kommt „Der Nachtmanager“ der
Atmosphäre großer Hollywood-Blockbuster sehr nahe. Die Farben sind meist strahlend, die Fassaden (und Menschen) schön. Doch der Blick hinter die Kulissen eröffnet düstere Abgründe. Susanne Bier hat für diesen Krimi, den man am liebsten volle sechs Stunden lang im Binge-Modus anschauen will, ein ideales Ensemble zusammengestellt. Tom Hiddleston schenkt dem Titelhelden, dem Nachtmanager Jonathan Pine, eine unnachahmliche Mischung aus Freundlichkeit und Zuvorkommenheit, aber auch aus Härte und Brutalität. Sein Gegenspieler Hugh Laurie agiert auf Augenhöhe mit Hiddleston. Dieser Richard Roper strahlt die unbarmherzige Gefährlichkeit eines Raubtiers aus – eine Aura, die er mit ausuferndem Charme nicht mildert, sondern sogar noch verstärkt. Auch rund um die beiden Schwergewichte im Ring wird exzellent gespielt. Hervorzuheben sind Rising Star Elizabeth Debicki (als Richard Ropers unglückliche Geliebte) und Oscar-Preisträgerin Olivia Colman („The Favourite“) als zielstrebige britische Geheimagentin, die sich auch durch eine Schwangerschaft nicht davon abhalten lässt, die Spur des Gangsters aufzunehmen. Tom Holland zeugt als bissiger Roper-Adlatus von der großen Gefahr, die kleine Männer auslösen können.
VERRÄTER WIE WIR
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Kinofilm. GB 2016. 108 Minuten. Regie: Susanna White. Mit Stellan Skarsgard, Ewan McGregor, Naomie Harris, Hintergrund: Eine Geldwäsche-Aktion der russischen Mafia.
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ine Geschichte über die russische Mafia, zugleich aber eine Abrechnung mit Großbritannien. Der Autor zeichnet ein England-Bild, in dem es vor ratlosen, verantwortungslosen und egomanischen Figuren nur so strotzt. Der Uni-Dozent Perry Makepiece (Ewan McGregor) möchte beim Urlaub in Marrakesch die ramponierte Beziehung zu seiner Frau Gail (Naomi Harris) reparieren. Da stürmt ein offenkundig steinreicher, polternder und charmanter Russe namens Dima (Stellan Skarsgard) auf ihn ein und lädt Perry und Gail zu einer rauschenden Party ein, wo er seinen neuen englischen Freund zur Seite nimmt. Er sei der Chef der größten GeldwäscheOrganisation der russischen Mafia. Und er schwebe in Lebensgefahr, weil er zwischen die Fronten eines Konflikts geraten sei. Der Russe möchte unter neuer Identität nach Großbritannien. Im Gegenzug bietet er sein Wissen über die internationale Geldwäscherei an. Doch es gibt Probleme:
DIE LIBELLE
Zum einen sind die Russen hinter ihrem abtrünnigen Kapo her. Und zum anderen entwickeln sich auch in Großbritannien die Dinge nicht so, wie Dima es will. „Our Kind Of Traitor“ (Originaltitel) ist gewiss kein Hauptwerk von John le Carré – aber ein solider Thriller, der dank der erzählerischen Meisterschaft des Autors zu fesseln vermag. Die oftmals effekthascherische Inszenierung von Regisseurin Susanna White profitiert vom feinen Spiel der Hauptdarsteller. Stellan Skarsgard braucht als rauer, protziger, warmherziger und liebenswürdiger Mafia-Oligarch keine zehn Minuten, um vom Rand des Geschehens ins Zentrum zu rücken. Ewan McGregor hat es angesichts der kreuzbraven Naivität seines Perry schwer, eine große Figur aufzubauen. Naomie Harris (Miss Moneypenny bei Bond) stellt eine souveräne Erfolgsfrau auf die Leinwand. Und Damian Lewis porträtiert wunderbar einen Geheimagenten zwischen Jagdlust, Zynismus, Kälte und Moral.
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TV-Serie. GB/USA 2018. 6 Folgen, 330 Minuten. Regie: Park Chan-wook. Mit Florence Pugh, Michael Shannon. Hintergrund: Der Nahost-Konflikt.
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5 Jahre nach der Veröffentlichung des Romans und 34 Jahre nach dem Kinofilm kam „Die Libelle“ 2018 auch als Serie heraus: Die TV-Version ist gewiss die wundersamste Neuverfilmung der Werke des Autors. Die Serie ist ein multinationales Projekt: Die israelisch-palästinensische Geschichte, die großteils an Schauplätzen in Europa spielt, wurde vom koreanischen Regisseur Park Chan-wook („Oldboy“) neu interpretiert. Die Story ist großteils unverändert geblieben, wenngleich die Serie (330 Minuten) ungleich tiefer gehen kann als der Kinofilm (130 Minuten): Nach einem tödlichen Terrorattentat auf eine israelische Diplomatenfamilie in Deutschland will der Mossad einen weiblichen Lockvogel beim Bombenleger einschleusen, um den Mann auszuschalten. Vom Grundton her ist „Die Libelle“ eine dunkle und oft gemächlich erzählte Serie geworden. Keine schlechte Idee, denn das langsame Tempo erzeugt einen interessanten Kontrast zu den vielen grellen Ereignissen. Die junge Schauspielerin Charlie, die als CINEMA FOREVER!
Lockvogel für den Terroristen die Rolle ihres Lebens bekommt, wird von der 24-jährigen Florence Pugh (Oscar-Nominierung 2020 für „Little Women“) verkörpert. Eine ausgezeichnete Wahl, denn Miss Pugh ist nicht nur höllisch begabt, sondern sie strahlt auch viel reflektierte Nachdenklichkeit aus. Das passt viel besser zu dieser Charlie als die hippiehafte Flatterhaftigkeit, die Diane Keaton im Kinofilm an den Tag legte. „Die Libelle“, im alten Kinofilm eine Art politischer Action-Thriller, wird in der Serie zum Kammerspiel, bei dem es vorrangig um das Innenleben der Protagonisten geht: Wie kommt man damit zurecht, in einem Metier tätig zu sein, in dem Menschen sterben? Wie steht es im die Fragen von Ethik und Moral? An diesen Erörterungen und Entwicklungen teilzuhaben, ist reich an faszinierenden Momenten. Überraschend wenig Aufmerksamkeit hat Regisseur Park Chanwook hingegen auf die Action-Sequenzen gelegt. Da wurden manche aufregenden Szenen regelrecht verschenkt – unter anderem eine, die im Original im steirischen Leibnitz spielt. Doch egal: Stattdessen gibt’s in dieser Sequenz einen Abstecher zur alten jugoslawisch-österreichischen Grenze, die dem Wiener Darsteller Thomas Mraz einen Moment voller Humor (und Sliwowitz) schenkt. 25
FILMSTUDIO
NEUER GL
CINEC Foto: Cinecitta Holding
Die legendären Cinecittà-Filmstu d Künftig soll an alte Zei te
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CELLULOID FILMMAGAZIN
LANZ FÜR
Legendäre Studiofront: Die Studios im Süden Roms beherbergten zahlreiche Filmsets, in denen große Klassiker entstanden.
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u dios stehen vor einer Renaissance: i ten angeknüpft werden.
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Fotos: Arthaus/StudioCanal; Warner; Fox
Federico Fellini drehte in Cinecittà unter anderem den Klassiker „Achteinhalb“ mit Marcello Mastroianni.
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ie Meldung schlug Anfang Dezember 2020 in Cineastenkreisen ein wie eine Bombe: Der italienische Staat hat große Pläne für die legendären Filmstudios Cinecittà vor den Toren Roms. Sie sollen zu „Europa Hollywood“ werden, wenn es nach dem Willen von Italiens Kulturminister Dario Franceschini geht. Dann sollen hier, südlich von Rom, große nationale und internationale Produktionen entstehen, das Studioareal von gut 60 Hektar könnte flächenmäßig verdoppelt werden. „Wir stellen die Weichen für einen großen Qualitätssprung. Wir wollen ein europäisches Hollywood aufbauen. Dies soll mit Partnerschaften und der Förderung ausländischer Produktionen geschehen“, sagt der Minister. Das Interesse des Staates an einer florierenden Filmproduktionsstätte ist nicht neu. 1937 wurde Cinecittà gegründet, und zwar von niemand Geringerem als dem „Duce“ Benito Mussolini - der übrigens auch die Filmfestspiele von Venedig anregte und dort in faschistischer Architektur Prunkbauten für das Kino errichten ließ. Dem Kino als MassenManipulator wurde von den Faschisten viel zugetraut, und daher war das Engagement entsprechend groß, in Italien wie auch in Deutschland. Für die Studios Cinecittà bedeutete das Größe, Wachstum und Budgets ohne Ende. Auch 2020 - inmitten einer veritab28
len Krise - sehnen sich die Menschen wieder nach Ablenkung und Zerstreuung, was die Zulaufraten zu den großen Streamingdiensten beweisen, die derzeit zweistellige User-Zuwächse verzeichnen können. Dass der italienische Staat, dem die Cinecittà-Holding, der Betreiber der Studios, seit 2017 gehört, weckt Erinnerungen an die große Einflussnahme der Politik auf die Kunst in den 30er Jahren, aber es soll diesmal freilich unter ganz anderen Vorzeichen geregelt sein wie damals. Es geht dem Kulturminister natürlich nicht um Propaganda, sondern allein um die Wachstumschancen der italienischen Filmindustrie, die durch die Streamingdienste enorm seien. Netflix hat schon sein großes Interesse bekundet, in den neu belebten Studios etliche italienische und internationale Produktionen drehen zu wollen, der italienische Staat macht dafür 150 Millionen Euro locker, um die Studios auf Vordermann zu bringen. Praktischerweise stammt das Geld aus einem aktuellen Corona-Fonds und ist sofort einsetzbar. 3000 PRODUKTIONEN Mehr als 80 Jahre Filmgeschichte wurden in Cinecittà geschrieben, über 3.000 Filme wurden hier gedreht, mehr als 50 wurden zu Legenden der Filmgeschichte und gewannen begehrte Oscars. Doch der Glanz ist lange her. Das neue Licht am Horizont steht am Ende einer beinahe tristen Entwicklung: Zuletzt dienten die Cinecittà-StuCELLULOID FILMMAGAZIN
dios vermehrt als Ort für billige TV-Produktionen, Shows und als Kulisse für die italienische Version von „Big Brother“. Vorbei die Zeit, als hier Elizabeth Taylor als Königin „Cleopatra“ über das Gelände schritt, oder als sich Regiegrößen wie Visconti oder Rossellini hier zwischen den Ateliers über den Weg liefen. Vor gut zehn Jahren schien es mit Cinecittà überhaupt zu Ende zu gehen. Die Regierung kürzte das staatliche Budget auf 7,5 Millionen Euro, was nicht einmal für die Gehälter der Fixangestellten reichte. Der Grund für die miserable Situation der Studios war die Verlagerung der Produktionen in den Osten: In Tschechien oder Rumänien fanden prestigeträchtige US-Produktionen nicht nur reale Kulissen aus weitgehend intakt gebliebenen historischen Straßenzügen und die unterschiedlichsten Landschaften, sondern auch gleich das Profipersonal dazu - allerdings zu einem Bruchteil des Lohns, den man in den USA oder auch in Italien dafür hätte einkalkulieren müssen. Cinecittà konnte mit den aufstrebenden ehemaligen Ländern des „Ostblocks“ nicht mithalten. Früher war das anders: Die Idee zu Cinecittà, der „Stadt des Kinos“, kam auf, nachdem 1935 die alten römischen Filmstudios einem großen Feuer zum Opfer fielen. Der neue Studiokomplex wurde in nur 15 Monaten hochgezogen, charakteristisch ist ein Einfahrtsportal mit dem Namen darauf, geprägt von
Klassiker aus der Hoch-Zeit des Studios: „Cleopatra“ (1963) und „Ben Hur“ (1959)
meisten der Hallen seine Meisterwerke gedreht. Für „La dolce vita“ (1960) ließ er hier in der Pampa die noble römische Via Veneto nachbauen. Wer Cinecittà heute besucht, der findet zahlreiche Kulissen und Objekte aus den einst legendären Filmen vor, etwa eine riesige Büste aus Fellinis „Casanova“, ganze Straßenzüge aus Martin Scorseses „Gangs of New York“ oder Requisiten aus Ridley Scotts „Gladiator“ - Hollywood kann man in Europa also nirgends näher sein als in Rom.
faschistischer Architektur, aber doch erinnernd an die großen Vorbilder wie Warner, Universal und Paramount in Hollywood. So etwas Pompöses wollte der „Duce“ in Italien eben auch haben. Mussolini schuf damit die größten Filmstudios Europas, mit mehr als 20 riesigen Hallen und drei künstlichen Seen. Zunächst entstanden hier wie geplant die Propagandafilme der Faschisten aber auch jede Menge Unterhaltungskino. Bald war es auch der Ort für Filmkunst: Roberto Rossellini schuf hier die essenziellen Werke seines neorealistischen Kinos, große Regisseure wie Vittorio de Sica oder Luchino Visconti arbeiteten hier. Letzterer setzte 1952 mit „Bellissima“ dem Leben in der italienischen Traumfabrik selbst ein Denkmal. Was aber wäre Cinecittà ohne die Filme von Federico Fellini? Er hat in den
SANDALEN-EPEN In den 1950er Jahren hatte sich das Geschäft in Cinecittà nämlich internationalisiert. Es entstanden Monumentalfilme wie „Ben Hur“ (1959) mit dem berühmten Wagenrennen, „Quo vadis?“ (1951) mit Peter Ustinov als verrücktem Kaiser Nero oder „Cleopatra“ (1963) mit Liz Taylor, der zum Megaflop für das Studio wurde. Riesige Kulissen wurden gebaut, tausende Statisten kamen zum Einsatz. Der Grund war der gleiche wie jener, aus dem die großen Produktionen heute fehlen: Italien war damals für die Amerikaner ein billiger Drehort. Und außerdem ergab sich der marketingtechnisch nicht blöde Schmäh, die alten, in Rom spielenden Sandalenschinken quasi an „Originalschauplätzen“ zu drehen. Mitten in Rom. Schnell erarbeitete sich Cinecittà den Ruf, das „Hollywood am Tiber“ zu sein. Und Fellini, der hier am Studiogelände sogar eine eigene kleine Wohnung hatte, war der lokale Zampano, der hier seine größten Erfolge, darunter auch „8 1/2“ (1963), drehte, noch so ein Film, der sich mit dem Filmemachen an sich beCINEMA FOREVER!
fasste. Es scheint, als wäre Cinecittà ein guter Boden für das Kino gewesen, um über sich selbst zu reflektieren. Das Fernsehen hielt bald Einzug, die großen Monumentalfilme waren aus der Mode gekommen, da wurde Cinecittà zum Schauplatz des Italowesterns der 1960er Jahre. Viele italienische Filme dieses Genres wurden hier gedreht, aber auch internationale Erfolge. Sergio Leone filmte hier etwa die Innenaufnahmen von „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968). Auch mitten im Niedergang der Studios entstanden immer wieder Teile von Filmperlen, darunter „Der Name der Rose“, „Gladiator“, „Der englische Patient“, „Die Passion Christi“ oder eben „Gangs of New York“. Dazwischen aber viel TV-Ware und eine gute Einnahmequelle aus Ausstellungen und Führungen, die den Mythos von Cinecittà beschwörend hochhalten wollen. Erst Anfang 2020 hat im ehemaligen Kopierwerk der Studios, das lange leer stand, ein neues, multimediales Museum eröffnet, seit Juli gibt es mit der „Roma World“ eine neue Attraktion im Freizeitpark „Cinecittà World“, der den Besuchern, so sie coronabedingt anreisen dürfen, die Welt des antiken Rom nahebringen will. Kein Wunder: Ist man doch auch den Monumentalschinken treu geblieben - die Streaming-Mehrteiler „Ben Hur“ und „Rom“ wurden auch hier gedreht. STEUERLICHE ANREIZE Die neue Initiative des italienischen Staates betreffend der Ausweitung des Areals und des Ausbaus werden begrüßt. „Cinecittà ist ein riesiger Schatz für die italienische Kultur, der im staatlichen Besitz bleiben muss und nicht gefährdet werden darf “, findet beispielsweise der italienische Star-Regisseur Marco Bellocchio. Auch Roberto Benigni setzte sich stets für eine Rettung der Studios ein. Der Clou, den Italiens Politik nach vielen Jahren endlich kapiert zu haben scheint: Mit steuerlichen Anreizen und attraktiven Konditionen wieder mehr internationale Produktionen anzulocken - ein Konzept, das übrigens auch in Österreichs Filmbranche seit Jahren debattiert und gefordert wird. Cinecittà könnte durchaus zum Modellprojekt für das ganze europäische Filmschaffen werden. DORIS NIESSER 29
FILMBUCH
FILMPROGRAMME:
KINOLUST AUF VIER SEITEN Herbert Wilfingers monumentales, 2-bändiges Buchprojekt „Kino zum Mitnehmen“ (Verlag Filmarchiv Austria) feiert das Filmprogramm, ein legendäres Kinomedium.
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och gibt es sie, die hartgesottenen Filmfans. Die, die sie alle haben: Die Filmprogramme, dereinst kleine, papierene Beigaben zum Kinoticket, die man sammeln konnte. Stolze Sammler brachten und bringen es auf mehrere Tausend Exemplare. Zu fast jedem Kinofilm ist eines erschienen, damals in der großen Zeit des Kinos, in den 50er und 60er Jahren. Herbert Wilfinger ist auch so ein Sammler. Der Wiener Filmjournalist und Begründer des Filmpreises „Der papierene Gustl“ hat nicht weniger als 23000 Filmprogramme gesammelt, „das sind gut 98 Prozent aller je erschienenen Filmprogramme der Tonfilmzeit“, sagt Wilfinger. „Ich habe sie in meinem Büro und eigenen Räumen untergebracht, ich bin nun mal ein alter Sammler“. Und das nicht nur, weil er Filme liebt. Wilfinger ist jener Mann, der bis heute regelmäßig Filmprogramme gestaltet, die dann über eine Druckerei in Klosterneuburg produziert werden. Aber er gibt unumwunden zu: „Der Markt ist sehr klein geworden“. 30
Früher, da konnte man die gedruckten, reich bebilderten Filmprogramme an jeder Kinokassa kaufen, inzwischen haben sich ab 2018 sämtliche Kinos davon verabschiedet: „Nur das Wiener Burgkino verkauft noch ein Filmprogramm: Es ist jenes zum Klassiker ‚Der dritte Mann‘“, sagt Wilfinger mit traurigem Unterton. Aber dennoch arbeitet er ohne Unterlass daran, Woche für Woche neue Filme zu besprechen. „Derzeit mache ich gut 20 Programme in der Reihe Filmindex im ‚Neuen Filmprogramm‘ pro Monat“, so Wilfinger, der auf eine treue Abo-Gemeinde verweisen kann. Rund 250 Abonnenten erhalten regelmäßig die neuesten Filmprogramme. „Die meisten Sammler sind über 60“, sagt Wilfinger. Es ist eine analoge Generation, die Sammeln zu einer Zeit gelernt hat, die weniger flüchtig und digital war als heute. ZWEI OPULENTE BÄNDE Jetzt hat Herbert Wilfinger seine eigene Sammlung, seinen Erfahrungsschatz und sein historisches Filmwissen zu einer publizistischen Großtat vereint: Im Verlag Filmarchiv Austria ist unter dem Titel CELLULOID FILMMAGAZIN
„Kino zum Mitnehmen“ in zwei Bänden mit insgesamt über 1200 Seiten Umfang und 2120 Abbildungen ein monumentales Buchprojekt zustande gekommen, in dem Wilfinger die Geschichte der heimischen Filmprogramme nachzeichnet. Von den Anfängen um 1911 über die Hoch-Zeit des Mediums bis zu seinem Niedergang und zu neueren Heften, die sich ausführlicher mit den besprochenen Filmen befassen. Weil man anhand des Filmprogramms auch gut ablesen kann, wann welche Art von Filmen herausgekommen sind, wie sie rezipiert wurden und - im Rückblick wie sie die Filmgeschichte fortgeschrieben haben, liest sich dieses überaus reich bebilderte Buch-Duo auch wie ein Who-is-Who der Filmgeschichte. Es birgt einen wissenschaftlichen Ansatz, bei dem die Filmpublizistik in all ihren Facetten beleuchtet wird, darunter die akribische Leistung und Illustration der Stummfilm-Titel, der Tonfilmprogramme ab 1930, der verschiedenen Reihen und Verlage, die sich um die Veröffentlichung kümmerten. Zugleich ist Wilfingers Werk aber auch gespickt mit Bonmots und Anekdoten zum Film, die
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Foto: Verlag Filmarchiv Austria
FILMBUCH Nostalgiker und Historiker gleichermaßen frohlocken lassen dürften. Eine Reflexion von über 100 Jahren Film- und Kinogeschichte, die in ihrer analogen Form jedes Bücherregal adelt. Die Filmprogramme waren durchaus lokale Phänomene: „Was in Österreich, Deutschland und der DDR jedem älteren Kinogeher durchaus vertraut ist und meist nostalgische Erinnerungen weckt, ist beispielsweise einem amerikanischen Filmenthusiasten so gut wie unbekannt“, so Wilfinger. „Zwischen Heft, Broschüre und Zettel variierend, mit wechselndem Seitenumfang, von einem Blatt bis zu vierzig Seiten, sind sie für heimische Filmfreunde über viele Jahre hinweg beliebte Mitbringsel und persönliche Erinnerungen an so manches unvergessliche Kinoerlebnis. Aber selbst, wenn der Film hinter den persönlichen Erwartungen zurückblieb, war das Programm Beleg für diese eventuelle Enttäuschung. Ein kleiner Schnipsel des jeweiligen Films für die private Sammlung, lange noch, bevor sich die Möglichkeit bot, Film-Erinnerungen via Band, Kassette oder DVD zu archivieren und so möglicherweise einer neuen Prüfung zu unterziehen“.
NETFLIX-PROGRAMME Inzwischen sind allein in der Reihe „Neues Filmprogramm“ mehr als 14400 verschiedene Ausgaben erschienen. Dort hat man sich häufiger dem breitunwirksamen Kino gewidmet. Herbert Wilfinger selbst hat mit der Reihe „Filmindex“ dann auch eine Serie für das Arthaus-Kino herausgebracht, weil es für diese spezielleren, künstlerischen Produktionen kaum Programme bei anderen Verlagen gab. „Und heute? Heute machen wir sogar
Fotos: Aichholzer Film
IN DEN USA UNBEKANNT
Gesammelt wurden die Programme erst ab circa 1930, denn davor gab es keine Nummerierungen der einzelnen Serien. In der Frühzeit des Kinos dienten diese Programme vor allem dazu, den Kinobesuchern den Film vorab zu erklären, weil viele Zuschauer an die neuen dramaturgischen Fähigkeiten des noch relativ jungen Mediums Film nicht gewohnt waren und so manche Wendung vielleicht gar nicht mitbekamen. Umso wichtiger war, dass man das Geschehen im Programm nachlesen konnte (In Theater und Oper sind Programme bis heute gern gekauftes, aber auch umfangreicheres Erinnerungsobjekt eines Besuchs).
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Programme zu Netflix-Produktionen“, sagt Wilfinger. Zuletzt erschienen etwa Hefte zu „Mank“ oder „Hillbilly Elegy“, beides Filme, die erst kürzlich bei Netflix gestartet sind. Im Corona-Jahr ist man halt auch da gezwungen, neue Wege zu gehen. Dass Filmprogramme vor allem in der Frühzeit des Kinos so beliebt waren, hatte neben dem Sammler- und Erklär-Aspekt noch einen weiteren Grund. „Vor allem in der Stummfilmzeit hat die Zensur ab 1911 viele Filme arg verstümmelt. Viele Szenen wurden herausgeschnitten, oftmals entstanden so regelrechte Handlungslücken“, weiß Wilfinger. „Das Filmprogramm konnte hier als Brücke dienen: Dort konnte man Szenen nachlesen, die im Film rausgeschnitten wurden“. FILMTITEL-CHAOS Die Programme waren stets mehr Beschreibung als Kritik, man machte Werbung für den Film, und das im eigenwilligen Format 161 x 239 Millimeter, das keiner gängigen Din-Skala entspricht. „Wie man auf das Format gekommen ist, ist ein Rätsel“, sagt Wilfinger, der sich noch an das erste von ihm gestaltete Filmprogramm erinnert. „Das war 1983 ‚Der schwebende Schritt des Storches‘ von Theo Angelopolus. Dieses Programm hatte ich aus Kostengründen damals in der Gefängnisdruckerei herstellen lassen“, erinnert sich Wilfinger, dessen Buch auch in Details darauf eingeht, wie unterschiedlich Filme und Filmtitel in der Filmgeschichte gehandhabt wurden. „In der Stummfilmzeit wurden die kürzeren, 20-minütigen Einakter oft von Bezirk zu Bezirk anders betitelt“. Da waren dann auch einheitliche Programme nur schwer herzustellen. Oftmals mussten auch verschiedene Programme in Deutschland und Österreich erscheinen, weil der Titel abgeändert wurde. „In Deutschland hieß der Film ‚Kuck mal wer da spricht‘, in Österreich ‚Schau mal wer da spricht’. In
Mr. Filmprogramm: Der Wiener Filmjournalist und -historiker Herbert Wilfinger und sein zweibändiges Monumentalwerk „Kino zum Mitnehmen. Filmprogramme in Österreich 1896-2020 (Herbert Wilfinger, Verlag Filmarchiv Austria. Band 1: Geschichte und Systematik, Band 2: Die österreichischen Filmprogrammserien. Je 600 Seiten, 49,90 Euro)
Österreich hieß ‚Happy End am Attersee‘ so, weil der Film am Attersee spielte. Für den deutschen Markt änderte man den Titel in ‚Happy End am Wörthersee‘. Der war dort offenbar bekannter“, erzählt Wilfinger. Die „Blume von Hawaii“ wiederum erschien hierzulande als „Die Blume der Südsee“ - man war nicht so sicher, ob die Österreicher Hawaii anno 1953 richtig verorten konnten. Dass die Filmprogramme ein deutschsprachiges Phänomen sind, ist nicht ganz richtig, sagt Wilfinger. Zwar war hier die Verbreitung am größten, aber es gab auch in Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei oder in Portugal rege Publikationstätigkeit. „Das Filmprogrammland Nummer eins ist bis heute aber Japan“, sagt Wilfinger. Dort machen die Verleiher selbst die Programme, der Grund für die Beliebtheit ließe sich aber nicht klären, sagt der Autor. Geklärt werden kann aber die Bedeutung der Filmprogramme für die Rezeptionsgeschichte von Filmen, zumindest im deutschsprachigen Raum. Souvenir, Informationsmaterial, Sammlerstück: „Die Filmprogramme sind alles drei, sie waren zu einer Zeit, in der man nur sehr wenige Informationen über Filme erhalten konnte, ein wesentlicher Faktor“, sagt Wilfinger. Manchmal ist
die Bedeutung sogar in ganz hohe Filmemacherkreise vorgedrungen. Regisseur Stanley Kubrick, der als überaus pedantisch galt, soll davon erfahren haben, dass es ein Filmprogramm zu seinem Film „Uhrwerk Orange“ (1970) erstellt werden sollte. Erbost hat er sich persönlich eingeschaltet und darauf bestanden, dieses Filmprogramm selbst zu gestalten. CINEMA FOREVER!
Wilfinger ist mit dem nun zu Papier gebrachten Erfahrungen und Sammlungen zufrieden. Nur die Zukunft der Filmprogramme sieht er im Ungewissen. „Das Medium lebt noch, es ist schwierig, einen Abschluss zu finden, solange es Filme gibt“, sagt Wilfinger. Nachsatz: „Aber eines weiß ich: Wenn es mich nicht mehr gibt, gibt es vermutlich auch die Filmprogramme nicht mehr“. MATTHIAS GREULING 33
Thomas Stipsits dreht im Frühjahr in Griechenland.
AM SET
POPCORN-KINO
Fotos: Pertramer; Sattler
IM BESTEN SINNE
In seinen neuen Film „Griechenland“ agiert Thomas Stipsits als Drehbuchautor und Hauptdarsteller in Personalunion. Auf halber Strecke – die Dreharbeiten in Wien sind abgeschlossen, die in Griechenland folgen im Frühling – haben wir uns mit ihm zu einem Gespräch über Sehnsuchtsorte, seine Vorstellungen von Komödie und die Option, Regie zu führen getroffen.
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elluloid: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie für „Griechenland“ Drehbuch und Hauptrolle übernommen haben? Thomas Stipsits: Es ist eine Riesenbehauptung, wenn ich sage „Ich schreibe ein Drehbuch“, aber diese Geschichte schlummerte lange in mir. Ich habe das Drehbuch dann mit Georg Weisskram, Harald Sicheritz und Eva Spreitzhofer erarbeitet. 34
Wieso gerade Griechenland? Adele Neuhauser hat mir erzählt, dass ihr Vater, ein Grieche, gestorben ist. Sein letzter Wunsch: dass seine Kinder seine Asche in einer griechischen Meeresbucht verstreuen. Ich habe dieses Bild schön gefunden und bin dann auf die Geschichte des Österreichers Fritz Bläuel gestoßen, der mit einer Kommune in Griechenland gelebt hat. Als das Geld ausgegangen ist, sind alle nach Österreich zurück – bis auf Bläuel, CELLULOID FILMMAGAZIN
der in einem Dorf die Menschen motiviert hat, biologisches Olivenöl zu pressen. Auch das Buch und der Film „Alexis Sorbas“ haben mich beeinflusst. Also die Idee, dass jemand ohne Vorurteil in die Fremde kommt, eine Katharsis erfährt und zu einem besseren Menschen wird. Ist das in „Griechenland“ auch so? Ja. Die Hauptfigur Johannes ist Juniorchef in einem bürgerlichen Mittelklasse-Hotel. Die Eltern sind konser-
Startschuss zu den Dreharbeiten von „Griechenland“ in Wien.
vative ÖVP-Wähler. Er wird von einer Ödipus-Mutter dominiert, die seiner Verlobten das Leben zu Hölle macht. Das klingt tragisch, aber Komödie beinhaltet immer auch Tragik. Johannes erfährt durch Zufall, dass sein Vater Grieche war, verstorben ist und sich gewünscht hat, dass sein Sohn nach Griechenland kommt, um seine Asche zu verstreuen. Er bricht nach Griechenland auf und erlebt dort viele Turbulenzen. Haben Sie die Besetzung im Kopf gehabt als Sie das Drehbuch verfasst haben? Ich wusste, dass ich die Hauptfigur spielen möchte und habe bei meiner Verlobten im Buch meine Frau im Kopf gehabt. Es kann positiv oder negativ sein, wenn man schon beim Schreiben jemanden im Kopf hat. Denn kann deroder diejenige nicht, ist es umso schwerer, sich auf jemand Neuen einzulassen. Wie schwer war es, in Zeiten wie diesen Förderungen zu bekommen? Vom Filminstitut haben wir relativ schnell eine Förderzusage bekommen und gedacht, dass auch der Wiener Filmfonds und der ORF dabei sein werden, dem war aber nicht so. Deshalb ist der Umschreibe-Prozess losgegangen. Der ORF hat an das Potenzial geglaubt, hat aber gemeint, dass wir den Film, der die Geschichte von „Irgendwann bleib i dann dort“ ist, lustiger machen könnten. Wir haben uns dann darauf geeignet, dass wir es als Komödie im Komödiensinn machen. Was kann man sich darunter vorstellen? Man verwendet die Humorfarbe einer Komödie, wie „Meet the Parents“ mit Ben Stiller und Robert De Niro, in der komödiantische Elemente verwendet werden, die teils überhöht sind. Nicht Slapstick oder Klamauk, aber so, dass man manchmal auch dick auftragen darf und Dinge nicht zu Ende erklärt werden müssen. War es schwer, den Drehbuchautor am Set loszulassen und sich ganz aufs Schauspiel zu konzentrieren? Ja, manchmal. Aber wir waren so ein tolles Team mit Kolleginnen und Kollegen wie Mona Seefried und Erwin Steinhauer, die sich ewig kennen und „alte Hasen“ sind, die das aus dem klei-
nen Finger spielen. Und mit meiner Frau kann ich so und so sehr gut, auch privat – zum Glück (lacht). Es ist kein Kabarettfilm, aber es werden ein paar Kabarettisten, wie Gerry Seidl, auftauchen. Eine Zeit lang war der österreichische Kabarettfilm in einer Art Dornröschenschlaf. Tut sich wieder mehr? Ich glaube schon. Es ist die Bereitschaft der Förderstellen da, Filme wie „Love Machine“, Popcorn-Kino im besten Sinne, zu machen. Filme, bei denen die Leute ins Kino gehen und glücklich herauskommen. Das ist ein Film, der nicht so viel Anspruch hat wie einer von Marie Kreutzer – aber er hat genauso seine Berechtigung, denn er holt die Leute für eineinhalb Stunden aus ihrem Alltag und nimmt sie mit auf eine Reise. Das ist gerade in Zeiten wie diesen wichtig. Merken Sie schnell, ob eine Idee funktioniert? Im Laufe der Zeit bin ich feinfühliger geworden und sehe Szenen rhythmischer. Man stellt sich wo anders hin oder nimmt nur ein Wort weg und oft hilft das schon. Natürlich kann man im Schnitt alles regeln aber, wenn du in eine schnelle Dialogszene reinkommst, finde ich schwierig, wenn die Stichworte zu spät gegeben werden und der Rhythmus der Szene nicht mehr stimmt. Wäre Regieführen eine weitere Option für Sie? Ich habe ein bisschen Blut geleckt. Aber ich würde es nur in Verbindung mit jemandem sehr Erfahrenen an der Kamera und in der Regieassistenz machen. Natürlich ist jeder Einzelne an einem Set wichtig, aber Kamera, Regie und Regieassistenz sind so etwas wie die Dreifaltigkeit. CINEMA FOREVER!
Sie haben gerade ihr neues Buch „Uhudler-Verschwörung“ herausgebracht, drehen Filme, machen Kabarett – befruchten die drei Bereiche einander? Wenn man das Glück hat, dass die Arbeit in den unterschiedlichsten Bereichen gemocht wird, ist das ein Segen. Schon mein erster Krimi „Kopftuchmafia“ war nur eine Behauptung. Niemand, weder ich noch der Verlag, hat gedacht, dass das Buch so gut funktioniert. Wir haben für die Erstauflage 8.000 Stück drucken lassen und gedacht, dass wir damit bis Weihnachten durchkommen – doch dann war sie innerhalb von eineinhalb Wochen ausverkauft und die zweite Auflage wurde um das Doppelte erhöht. Das ist etwas, bei dem man sich richtig freut, weil man nicht damit rechnet. Die beiden Bücher bieten sich für eine Verfilmung an, oder? Es wird noch dauern, weil wir 2021 „Griechenland“ abdrehen und die Dreharbeiten zu „Love Machine 2“ starten, aber dann ist die Verfilmung von „Kopftuchmafia“ geplant. Wie wird es mit Georgy aus „Love Machine“ weitergehen? Er ist gerade in einem thailändischen Kloster, als er erfährt, dass er Vater geworden ist. Er kommt zurück nach Österreich, wo seine Schwester den Betrieb ausgebaut hat – und ihn um Hilfe bittet. Wie blicken Sie derzeit in die Zukunft der Filmbranche? Ich trau’ mich keine Prognose mehr abgeben. Im April hätte ich gesagt, dass wir im Herbst ganz normal spielen. Jetzt heißt es, dass es im Frühjahr wieder normal wird. Ich glaube fast, dass es erst im Herbst 2021 wieder normal ist.
INTERVIEW: SANDRA WOBRAZEK
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Aufgrund der Corona-Krise ist diese Rubrik kleiner als gewöhnlich, und behandelt vorwiegend aktuelle Streaming-Titel mit Oscar-Ambitionen.
filmkritik THE MIDNIGHT SKY
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George Clooney im arktischen Eis und eine irrlichternde Crew im Weltall: Die Netflix-Apokalypse „The Midnight Sky“.
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Rückreise an - nicht ahnend jedoch, dass inzwischen auf der Erde der Untergang stattfindet. Mit an Bord des ultramodern gestylten Raumschiffs, das in futuristischer Romantik von der Zukunft im All erzählt, ist eine schwangere Astronautin (Felicity Jones), die auch den Kindsvater (David Oyelowo) mit dabei hat. Die Rückkehr zur Erde wird schwierig, man fliegt durch unentdecktes All. Auf der Erde antwortet niemand mehr auf die Funksprüche, weil keiner mehr antworten kann. Das weiß da oben aber niemand. EIN RUHIGER FLUSS Nur noch Augustine hält die Stellung. Dieser mit allem fremdelnde Einsiedler, gefangen in Krankheit und den Erinnerungen an eine dereinst zerbrochene Beziehung, spielt hier in einem Film über die Einsamkeit, ganz ruhig und besonnen, aber ermahnt von der Bedrohung der Zeit. Oben im All spiegeln sich das Heimweh und die Sehnsucht nach Zuhause in den Hologrammräumen wider, wo die Crew inmitten videoanimierter Erinnerungen an ihre Familien bei Laune gehalten werden muss, um nicht völlig durchzudrehen. Dieser ruhige Fluss von einem Film wird aber jäh beendet, denn ein bisschen Raumschiff Enterprise ist da schon dabei: Zuerst muss Augustine raus in den Schnee, weil das Teleskop zu klein ist. Weiter nördlich ist ein größeres - er packt Iris, und ab geht die Odyssee im Schnee. Zugleich gibt es oben im All einen Meteoritenhagel, der viel am Raumschiff zerstört und zwecks Reparatur CELLULOID FILMMAGAZIN
Netflix
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as Weltall und ferne Planeten, sie könnten die Rettung für die Menschheit bedeuten, eines Tages, wenn die Erde unbewohnbar geworden ist, weil dort Umweltkatastrophen, Seuchen und Viren wüten. Diese Fantasie geistert durch die SciFi-Literatur, seit es sie gibt. Und George Clooney heizt sie nun in seiner neuen Regiearbeit, in der er auch die Hauptrolle spielt, kräftig an: Der von Netflix produzierte Film basiert auf dem Roman „Good Morning, Midnight“ von Lily Brooks-Dalton und erzählt die Geschichte einer Postapokalypse. Das Jahr 2049 ist hier das Ende der Menschheit, denn auf der Erde tobt eine globale Umweltkatastrophe, die uns alle ausrottet. Mit wenigen Ausnahmen, denn der krebskranke Weltraumforscher Augustine Lofthouse (Clooney) verschanzt sich in seinem Häuschen am Nordpol, wo er via Teleskop das ganze All betrachten kann und die Naturkatastrophe vorerst noch nicht eingetroffen ist. Auf der Station zurückgeblieben ist auch die kleine Iris (Caoilinn Springall), die sich vor der Abreise der anderen verschanzt hatte. Die Annäherung zwischen Augustine und Iris ist schweig- und langsam, erst über einer Erbsenschlacht beim Mittagstisch kommt man einander näher. Gleichzeitig erzählt „The Midnight Sky“ auch von der Mission eines Raumschiffs, dessen Crew tief ins All vorgedrungen ist, wo noch nie zuvor ein Mensc . . . man kennt das. Tatsächlich wurde ein erdähnlicher Planet entdeckt, und nun tritt die Crew die
einen Weltraumausgang der Crew nötig macht. Dazwischen existiert sogar schon kurz ein Funkkontakt zwischen Erde und All. „Wissen Sie irgendetwas darüber, was auf der Erde vor sich geht“, fragt Augustine. Die Crew da oben hat keine Ahnung, und es wird eine schwere Entscheidung werden, wohin ihre Reise geht. „The Midnight Sky“ ist stoisches, manchmal philosophisches Weltraumkino, das bald zur rasanten Rallye wird, mit Schneegestöber und Not-OP im All. Clooney bringt den Arche-NoahGedanken ebenso unter wie die Genese
der Menschheit und ihren Untergang. Das alles ist ein großes Vorhaben, denn fundamentale Themen und ihre filmische Umsetzung sind häufig der Grund, weshalb Regisseure an ihnen scheitern. Zuviel sollte man sich jedenfalls nicht vornehmen, und gerade diese NetflixProduktion tut das, auch in Hinblick auf ihre mehrheitliche Rezeption im Laptop-Format. Clooney spielt in seinen Szenen vor allem mit Leid und Schicksal, und trotz Vollbart lassen sich Gefühle ausmachen. Im All oben geht es visuell zeitweise so elegant und actionreich zu wie
CINEMA FOREVER!
in „Interstellar“ oder „Gravity“, zwei Filmen, deren Einfluss man hier deutlich sieht. Was man aber auch sieht, und das gibt dem Film zumindest den Anstrich einer Relevanz: wie sehr man in sich selbst wohnt, wie sehr die Heimat einem innewohnt. Und wie sehr die Erinnerung das eigentliche Zuhause jedes Menschen ist. MATTHIAS GREULING THE MIDNIGHT SKY USA 2020. Regie: George Clooney. Mit: George Clooney, Felicity Jones, David Oyelowo, Caoilinn Springall. Zu sehen bei NETFLIX.
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THE PROM
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Das Netflix-Musical „The Prom“ mit Meryl Streep und Nicole Kidman zeigt selbstverliebte Stars im Kampf für die gute Sache.
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Doch da kommt ihnen der Fall aus Indiana ganz recht - die Truppe beschließt, in dem Kaff einzufallen und dort für die Rechte der LGBTQ-Szene einzutreten, „obwohl ich gar nicht nachgelesen habe, wofür diese Abkürzung überhaupt steht“, singt Dee Dee Allen. Medienwirksam wollen die Broadway-Stars so ihr Image verbessern, auf dass wieder mehr zahlende Gäste in ihre Theater kommen. Selbstlosigkeit sieht anders aus. Das Netflix-Musical „The Prom“ erzählt diese Story in glitzernden Bildern, illustriert aber auch das „Gefälle“ zwi-
ist ratlos. Woran mag es denn gelegen haben? Doch wohl nicht an uns? Wahrscheinlich ist das Publikum einfach zu dumm für unsere Kunst! Aber es fällt das Wort von der Überheblichkeit, das den anwesenden Musical-Darstellern die Röte ins Gesicht treibt. Man ist ganz offensichtlich zu selbstgefällig im eigenen Metier, hält sich für gottgleiche Geschöpfe, für Promis, die heller strahlen als die Sterne da draußen. Eine Hochnäsigkeit, die eben nicht gut ankommt, und so beschließt die Truppe von Schauspielern, mit einer „Aktion“ das eigene Image aufzupolieren, weg von der Selbstsucht, hin zu aufopfernder Hingabe. Für die Musical-Stars Dee Dee Allen (Meryl Streep), Barry Glickman (James Corden) und Angie Dickinson (Nicole Kidman) gar keine leichte Aufgabe.
schen den Superstars und den gewöhnlichen Leuten aus Indiana. Eine Kluft, die definitiv vorhanden ist - auch im echten Leben, wo immer mehr Stars wegen ihrer Abgehobenheit beim Publikum schlecht wegkommen, was zumeist nur sie selbst überrascht.
Netflix
esbisch sein in Indiana, das kann schon mal dazu führen, dass gleich der ganze Abschlussball abgesagt wird. Weil die junge Emma (Jo Ellen Pellman) diesen Ball gerne mit ihrer Freundin besucht hätte, regt sich krasser Widerstand in der örtlichen Schulgemeinde. Wie kann es nur sein, dass „so etwas“ möglich ist? Wo Indiana doch einen so rigiden, umfangreichen Wertekompass vertritt, dass dort für das Wort „Schwul“ einfach der Platz nicht reicht. Zur gleichen Zeit in New York: Am Broadway floppt ein Musical über Eleanor Roosevelt, und die Starbesetzung
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STÖRFEUER Ryan Murphy hat die Musical-Vorlage, die wiederum auf einem echten Diskriminierungsfall beruht, mit sicherer Hand umgesetzt, kombiniert die Sanges- und Tanzeinlagen mit akzentuiert gespielten Dialogen und pointierten Aussagen: „Wir sind keine Monster, wir sind kulturelles Störfeuer“, bellt Dee Dee Allen in Richtung des örtlichen Schuldirektors (Keegan-Michael Key), der sich als ihr Fan outet, was der Grande Dame natürlich schmeichelt. CELLULOID FILMMAGAZIN
Für diese Selbstverliebtheit gebührte Meryl Streep schon fast ein Oscar, vor allem als sie „It’s not about me“ („Es geht hier nicht um mich“) darbietet, in dem es ausschließlich um sie geht. Streep, Kidman und Corden spielen zunächst in bester Musical-Manier auf, die Nummern haben Tempo und Charme, und doch hat das Thema schnell sein Feuer verloren; „The Prom“ wird dann zu einer gut gemachten, aber zusehends uninteressant werdenden Nummernrevue, in der auch die Lieder mit ihren naiv-idealistischen Texten bald mehr nerven als unterhalten. Ein bisschen Eskapismus in CoronaZeiten bietet das Spektakel allerdings schon, zumal die simple Message, dass am Ende nur die Liebe zählt, ohnedies gemeinhin als die Beschwörung eines Ideals verstanden wird, von dem die Menschheit weit entfernt ist. Daran ändert auch dieser Film nichts, daran wird auch der politische Umschwung in den USA zu Joe Biden nichts ändern. Denn manchmal, auch das lehrt uns „The Prom“, sind die Dinge eben, wie sie sind: In Indiana steckt grundsätzlich in jeder Limonade Alkohol, und weil die lesbische Liebe hier sogar zwischen Weiß und Schwarz passiert, ist das Grund genug, von den Eltern verstoßen zu werden. Zwei Tabubrüche auf einmal? Na warte! Ryan Murphy, der mit „The Prom“ die erste Spielfilm-Arbeit unter einem neuen, millionenschweren Deal bei Netflix abliefert, hatte sich zuvor um Serien wie „Hollywood“, „Ratched“ und „The Politician“ gekümmert. Die von ihm ersonnene TV-Serie „Glee“ und seine Affinität zu Musical und Gesang schlagen in „The Prom“ voll durch. Und weil sich Streep, Kidman und Corden hier durchaus selbstironisch geben, verbreitet der Film die Hoffnung, dass manchmal auch die gute Sache im Vordergrund steht. Mehr als eine Hoffnung KIKI ADLER ist es aber nicht. THE PROM USA 2020. Regie: Ryan Murphy. Mit: Meryl Streep, Nicole Kidman, James Corden, Jo Ellen Pellman. Zu sehen auf NETFLIX.
PIECES OF A WOMAN
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Vanessa Kirby und Shia LaBeouf zerbrechen am Tod des eigenen Kindes. Interview und Porträt ab Seite 6.
DANN IST DA STILLE Die Hebamme Eva (Molly Parker) trifft ein, das entspannt alle Beteiligten erst einmal. Sie gibt Martha Anweisungen, misst die Herztöne des ungeborenen Kindes, es schleicht sich eine seltsame Stille ein in dem gerade noch wuselnden Chaos. Eva misst wieder, weist Sean an, im Krankenhaus anzurufen. Zu diesem Zeitpunkt hat man dieser Hausgeburt schon 20 lange Minuten gefesselt beigewohnt, ist von der Intensität der Szene überwältigt und beinahe atemlos. Ihr unglaublich dramatisches Ende erahnt man, als Eva wieder und wieder die Herztöne messen will, aber nichts mehr zu messen ist. Das Kind kommt zur Welt. Und dann ist da Stille. Martha und Sean schlittern in das Trauma ihres Lebens. Nichts kann ihnen helfen, in der Stunde unendlicher Trauer die Gräben zuzuschütten, die sich zwischen ihnen auftun. Anstatt sich im Schmerz anzunähern, liegen ihre Herzen plötzlich kilometerweit auseinander.
Die Schuldfrage steht im Raum, Marthas Mutter (Ellen Burstyn) wettert gegen den Ehemann, eine zynische Anwältin verschärft die Situation, eine Klage gegen die Hebamme wird vorbereitet. „Pieces of a Woman“, das englischsprachige Debüt des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruzcó, hinterlässt gewaltige Gefühlsregungen: Die in nur einer Einstellung ganz virtuos gefilmte Eröffnungsszene ist ein fast halbstündiger emotionaler Kraftakt und intensives Kino, wie man es lange nicht gesehen hat. Man ist danach in seinen Sitz gepresst, ähnlich devastiert wie die Figuren auf
Wut. Vanessa Kirby, bisher bekannt als junge Prinzessin Margaret in der Serie „The Crown“, verleiht ihrer Martha eine Zerbrechlichkeit, hinter deren Fassade sie nicht blicken lässt. So bleibt ihre Gefühlswelt, in die man zu Beginn so unmittelbar eingetaucht ist, in der Trauerarbeit eher verschlossen. Dennoch schafft sie es mit ihrem nuancierten Spiel, das Publikum daran teilhaben zu lassen. Kirby erhielt für die Rolle den Schauspieler-Preis beim Filmfestival von Venedig, wo „Pieces of a Woman“ im September Premiere feierte. Sie wird wohl auch bei der kommenden Oscar-
der Leinwand. Mundruzcó und seine Drehbuchautorin Kata Wéber vollführen das Kunststück, nahtlos von Freude, Schmerz, Hoffnung zu Zuversicht, Angst, Aussichtslosigkeit und Leere zu gelangen, all das mit einer Dichte und Nähe zu erzählen, in der sich LaBeouf und Kirby ihrem Schwall an Gefühlen völlig ergeben können. Die Leere und die Stille läuten dann den eigentlichen Film ein, der sich um die Aufarbeitung von Trauer dreht, aber in keinem Moment mehr so fesselt wie an diesem Beginn. Dennoch ist man bei „Pieces of a Woman“ Zeuge einer cineastischen und darstellerischen Großtat. Benjamin Loebs Kamera umkreist die Protagonisten mit Mut zu großer Nähe und spürt den Rhythmus dieses Films. Shia LaBeouf gibt eine feine Darstellung an der Bruchlinie zwischen Verzweiflung und
Verleihung als beste Schauspielerin berücksichtigt werden. Auch, wenn nach dieser famosen Eröffnungsszene der Fortgang von „Pieces of a Woman“ nie mehr emotional annähernd so in Fahrt kommt und viele der Wendungen den gängigen Mustern aus thematisch ähnlichen Sujets entsprechen, ist Mundruzcós Anspruch doch gänzlich erfüllt: Er schafft, woran viele seiner Kollegen scheitern - Kino, das einen wegreißt und mitnimmt und dafür nur zwei Personen braucht. Zwei Personen, durch die wir in die Hölle des Lebens blicken können. MATTHIAS GREULING
Filmladen/Netflix
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s ist der Moment im Leben werdender Eltern, der am allermeisten mit den denkbar gegensätzlichsten Emotionen aufgeladen ist: die Geburt. Hier changiert man zwischen der Glückseligkeit, ein neues Leben zu empfangen, und der panischen Angst, es könnte dabei doch einiges schieflaufen. Hier ist jeder Herzschlag doppelt intensiv, jede Wehe und jeder neue Anlauf von dieser Glücksangst überzogen; ein Ausnahmezustand der Gefühlswelt, wie es ihn nirgendwo sonst gibt. Martha (Vanessa Kirby) und ihr Mann Sean (Shia LaBeouf) stehen unmittelbar vor diesem großen Ereignis. Martha ist hochschwanger, sie hat sich für eine Hausgeburt entschieden. Die beiden leben in einem Haus in der Vorstadt, alles wirkt harmonisch, man ist gut vorbereitet, die Beziehung ist intakt, Sean kümmert sich um Martha und ihre Bedürfnisse. Als die Fruchtblase platzt und die Wehen einsetzen, kommt Nervosität auf; die bestellte Hebamme ist nicht verfügbar, aber Ersatz ist unterwegs. Sean reagiert angespannt, aber vorbildlich: Er lässt seiner Frau ein Bad ein, beruhigt sie, alles wird gut.
CINEMA FOREVER!
PIECES OF A WOMAN CAN/HU 2020. Regie: Kornél Mundruczó. Mit Vanessa Kirby, Shia LaBeouf, Ellen Burstyn, Molly Parker, Sarah Snook. Auf NETFLIX. 39
SOUL
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Disney
Seven Elephants/Oliver Wolff
Weil die Kinos geschlossen sind: Disney und Pixar starteten ihren neuen Animationshit „Soul“ exklusiv auf Disney+.
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ei Disney und Pixar hat man immer schon gerne hinter die Fassaden geschaut und dabei Faszinierendes entdeckt: In „Coco“ (2017) hat Held Miguel die Möglichkeit, ins Reich der Toten zu reisen und Verstorbene zu treffen. In „Alles steht Kopf “ (2015) unternimmt Pete Docter einen Blick in die Emotionswelt der kleinen Riley und lässt ihre Gefühle Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel zu Filmfiguren werden. Im neuen Film „Soul“, den ebenfalls Pete Docter inszeniert hat, geht man noch einen Schritt weiter als bei „Coco“ und „Alles steht Kopf “: Nichts weniger als die menschliche Seele und die Persönlichkeit sind hier Untersuchungsgegenstand. Aber freilich sind Disney-Pixar40
Produktionen niemals didaktisch, also keine Angst: Unterricht gibt es hier keinen. Dafür ein bisschen Philosophie rund um den Sinn des Lebens. Anspruch und Unterhaltung, das haben Pixar und Disney inzwischen mehrfach bewiesen, schließen einander nicht aus. VERLORENE SEELEN „Soul“, mangels geöffneter Kinos direkt auf Disney+ zu sehen, erzählt eine herzerwärmende Geschichte um einen Jazzmusiker und eine widerspenstige verlorene Seele. Joe Gardner (im Original von Jamie Foxx gesprochen) liebt nichts mehr als den Jazz, doch anstatt auf den Bühnen der Clubs zu stehen, verdingt er sich als Musiklehrer in New York. Als er CELLULOID FILMMAGAZIN
eine Fixanstellung an der Schule erhält, frohlockt zwar seine gestrenge Mutter, eine Schneiderin, doch für Joe sieht das Engagement eher aus wie eine Sackgasse, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Einmal Lehrer, immer Lehrer. Doch just am gleichen Tag erhält Joe die Chance, der berühmten Jazzmusikerin Dorothea Williams am Klavier vorzuspielen - und der Funke springt über: Noch am selben Abend soll er in ihrem Club die erste Show an ihrer Seite spielen. Joe kann sein Glück nicht fassen; ein Anzug muss her, und alles muss jetzt schnell gehen - zu schnell, wie sich herausstellt. Denn weil Joe vor Freude weder links noch rechts schaut, fällt er durch seine
fetten Katze. Von da an beginnt „Soul“, rasant zu werden - und auch die Ideen der Macher sprudeln wie verrückt und versüßen einem die detailverliebte Umsetzung der Geschichte. Die putzigen weißen Babyseelen, die zu tausenden in die Erden-Kinder hüpfen, sind dabei ebenso einfallsreich umgesetzt, wie die Aufseherinnen im Seelenland, die allesamt aussehen, als hätte Kandinsky sie entworfen. Wenn eine Seele sich zu sehr in die eigene Befindlichkeit hineinsteigert, dann landet sie in „The Zone“, einem Ort zwischen spiritueller und physischer Welt. Als schwarze „Lost Souls“ laufen die dann wütend umher, die meisten von ihnen waren einmal Hedgefonds-Manager.
Unachtsamkeit in einen offenen Kanalschacht. In einer anderen Dimension angekommen (das Wort Tod wird hier vorerst ausgespart), findet sich Joe auf einer Rolltreppe in gleißendes Licht wieder, mit ihm tausende andere Seelen, die gerade verstorben sind. Doch Joe wehrt sich gegen sein Schicksal und läuft die Treppe wieder zurück. „Ich will da nicht hin, ich habe doch ein Konzert am Abend!“ Die Endlichkeit missachtend, landet er schließlich in der Zwischenwelt „The Great Before“, wo Verstorbene dafür eingesetzt werden, noch ungeborenen Seelen eine Leidenschaft anzueignen. Alle hier sehen aus wie weiße Marshmallows (was einfach zu
animieren gewesen sein muss), und Joe soll als Instruktor der widerspenstigen Seele 22 (launig: Tina Fey) endlich den letzten Schliff verpassen. 22 weigert sich nämlich, fertig zu werden und als Kind auf die Erde zu gehen. Und zwar schon lange: Auch Abraham Lincoln, Albert Einstein oder Mutter Teresa gehörten nach ihrem Ableben schon zu ihren Betreuern in diesem „You Seminar“ getauften Prozedere - und alle sind an 22 gescheitert. Das kleine Seelchen pfeift nämlich auf Anstand und findet das Leben langweilig. Es kommt natürlich, wie es kommen muss: Joe und 22 landen zurück auf der Erde, nur mit dem Problem, dass 22 in Joes irdischen Körper gelangt und die Seele von Joe in den Körper einer CINEMA FOREVER!
PHILOSOPHICUM MIT CHARME Zwischen all den Einfällen gelingt es „Soul“ auch, einerseits über die Leidenschaft für Musik, andererseits durch einige vortreffliche Gedankenexperimente zu einem Philosophicum zu werden; Pixar hebt damit einmal mehr deutlich das Niveau des AnimationsfilmGenres, in dem nicht immer nur alles voller platter Gags sein muss. Zu den schönsten Momenten gehören hierbei die Szenen, in denen die Mensch gewordene Seele 22 entdeckt, wie das Leben riecht und schmeckt (anhand einer Salami-Pizza). Oder auch die Sequenz, in der Joe bei seinem Stammfriseur einmal nicht nur über seine Musik labert. „Soul“ wird dann auch rührend, weil hier die Ansage lautet: Folge deinen Träumen, dann bekommst du auch eine zweite Chance. Aber, und das ist vielleicht die wichtigste Botschaft dieses fulminanten Animations-Meisterstücks: Sei kein Hans-Guck-in-dieLuft und schau bitte auf die Straße! DORIS NIESSER SOUL USA 2020. Animationsfilm Regie: Pete Docter Zu sehen auf DISNEY+ 41
BILD.MACHT.DEUTSCHLAND?
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Boulevard-Journalismus hautnah: Die Amazon-Serie „Bild.Macht.Deutschland?“ blickt hinter die Kulissen der „Bild“-Zeitung.
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ie deutsche „Bild“ ist seit jeher das Symbol für Boulevard-Journalismus härterer Gangart, und das ist ziemlich vornehm ausgedrückt. Denn niemand, der bei „Bild“ arbeitet, ist in irgendeiner Weise zimperlich, wenn es um eine gute Geschichte geht, um einen Aufreger, um eine Schlagzeile im gedruckten Großformat mit den Riesenlettern. Dass das Nachrichtengeschäft im Corona-Jahr 2020 besonders ergiebig, aber auch heikel gewesen ist, zeigt nun eine siebenteilige Amazon-Doku-Serie. In „Bild. Macht. Deutschland?“ blickt ein Kamerateam für ein Jahr hinter die Kulissen des Zeitungs- und Medienalltags, der längst nicht mehr nur die Konferenzen für die Printausgabe umfasst, sondern ein quasi 24-Stunden-Online-Livebetrieb geworden ist. Gerade in Zeiten der Pandemie hat man bei Springer viel in Online und in den eigenen TV-Kanal „Bild Live“ investiert, er ist ein neues Aushängeschild. Dass eine von Amazon produzierte Doku mit dem Hinweis auf ihre „Unabhängigkeit“ bis in die heiligsten Hallen der Bild-Redaktion vorgelassen wurde und daraus nun ein (nicht allzu) kritisches Bild dieser Redaktion zeichnet, ist zumindest eine interessante Prämisse, die als Antrieb, sich die Sendung anzusehen, durchaus ausreicht. STAR-CHEFREDAKTEUR Man wird dann auch mit so manchen klischeebehafteten Szenen belohnt, die deutschen Boulevard-Journalismus eben ausmachen. In Form einer hautnahen Reportage begleitet das Kamerateam vor allem den engsten Führungskreis und die Chefredaktion bei der täglichen Arbeit. Die „Stars“ der Serie sind Chefredakteur Julian Reichelt und sein Vize Paul Ronzheimer. Der 40-jährige Reichelt macht seinen Job mit der Energie eines Marathonläufers, nur dass sein Kraftstoff keine isotonischen Drinks sind, sondern eine Schachtel Zigaretten nach der anderen. Das Klischee vom kettenrauchenden Journalisten, der alles tut für eine gute Geschichte, erfüllt Reichelt nur zu gut. Dass „Bild“ von au42
ßen gerne als Schmierblatt bezeichnet wird, stört ihn kaum. Kampagnen für oder gegen Themen, die die „Bild“ regelmäßig fährt, nennt Reichelt „kritische Berichterstattung“. Man fahre nämlich niemals Kampagnen gegen irgendjemand, sondern diese kritische Haltung sei „vielmehr unsere Job Description“. Im „Bild“-Büro bei Reichelt darf noch geraucht werden, und einen hübschen Pater Noster gibt es dort auch. Plötzlich, als die Arbeit an der Doku noch ganz am Anfang steht, bricht Corona aus und beschert dem Blatt „die beste Nachrichtenlage seit dem Zweiten Weltkrieg“. Aber: „Wo sind unsere 500 Bild-Reporter, wenn man sie braucht?“, donnert Reichelt bei der Redaktions-Konferenz. „Wir wollen keine Corona-Zahlen, sondern wir wollen Geschichten über die Menschen da draußen“. Reichelt meint: „Das Home Office der Reporter ist die Straße!“ Verdammt noch mal, ausschwärmen und liefern! Es muss menscheln, das Ende scheint nahe, man muss Angst haben, es muss knallen! LIVE IN BERGAMO Man sieht, wie Korrespondenten im italienischen Bergamo live, im Web und in Print über die dortigen Zustände berichten und dabei oftmals an ihre Grenzen gelangen. „Weil die in Berlin sich eine Geschichte so und so vorstellen, die mit der Realität vor Ort dann oft nicht viel gemein hat“, so eine Reporterin. Es gibt sie also, die kritischen Töne in dieser Doku. Man sieht auch, wie die „Bild“ sich in politischer Einflußnahme übt: Natürlich sind die Hauptstadtpolitiker stets bereit, beim „Bild“-eigenen TV-Kanal vorbeizuschauen, schließlich braucht man diese größte Medienmarke Europas zur Kommunikation. Doch, wie es ein Politiker formuliert: „Der Facebook-Beziehungsstatus zwischen der ‚Bild‘ und der Politik würde lauten: Es ist kompliziert“. Dass die „Bild“ gerne Stimmung macht, ist hinlänglich bekannt: Als Angela Merkel zu Beginn der Pandemie länger schwieg, wetterte Reichelt: „So einen Kurz Sebastian, den könnten wir auch CELLULOID FILMMAGAZIN
gebrauchen“. Das Standing der Zeitung in Politkreisen ist umstritten, aber: Keiner kann sagen, die „Bild“ wäre ihm wurscht. Immerhin: Auch Springer spürt die Corona-Krise durch sinkende Auflagen und rückläufige Werbeerlöse. Deshalb ist das Nachrichtengeschäft zuvorderst wirtschaftlich motiviert, man ist weit weniger der „Anwalt der Leser“, als der man sich selbst gerne darstellt. Was auch auffällt: Die „Bild“-Macher, von Julian Reichelt abwärts, sind überwiegend weiße, leicht untersetzte Männer zwischen 30 und 40, zumindest in der Doku sind die Frauen hier eine Minderheit. Was sich ja auch tagtäglich an der Themengestaltung der „Bild“ zeigt. EITELKEIT „Bild. Macht. Deutschland?“ ist vom Ansatz her als Blick hinter die Kulissen konzipiert, und es gelingt auch, zu transportieren, wie Boulevard-Medien funktionieren. Jedoch ist die Serie auch ein wahres Sammelsurium der Eitelkeiten: Journalisten, die wahre NachrichtenJunkies sind, und die sich auch gar nicht genug Selbstlob geben können. Als Julian Reichelt in einer Geschichte China die Schuld am Corona-Virus gibt, und dies sogar zu einem Tweet von US-Präsident Trump führt, wähnt man sich am Gipfel der schreiberischen Macht: China, christianisiert durch die „Bild“. „Jetzt können wir uns endlich Kuba widmen“, lacht Reichelt selbstsicher. Und zündet sich eine Zigarette an. Man kann der Doku mangelnde Distanz zu den „Bild“-Machern vorwerfen, aber sie zeigt Essentielles: Inmitten des Boulevard-Getöses, das die „Bild“-Macher 24 Stunden täglich umgibt, scheint aus den Augen verloren gegangen zu sein, wofür Medien auch da sind: Um zu informieren, nicht, um zu verunsichern. Um einzuordnen, nicht, um zu verwirren. Jeder Zeit ihre Zeitung, doch der Boulevard der Angst ist in Zeiten wie diesen ein Auslaufmodell. HUBERT NEUDÖRFL BILD.MACHT.DEUTSCHLAND D 2020. 7-teilige Doku-Serie zu sehen auf Amazon Prime Video
Edition Winkler-Hermaden
LESE STOFF
DER CHARME VON DAMALS
Das Buch „Verschwundene Kinos im Weinviertel“ spürt alte Lichtspielhäuser auf.
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in alter Kinosaal hat eine ganz besondere Atmosphäre, weil er von etwas Vergangenem erzählt; von einem gemeinsamen Traum, den das Publikum hat, wenn es ihn betritt. Vom gemeinsamen Lachen, Weinen, vom Angsthaben und vom Gerührtsein. Das Kino entführte in eine andere Welt, zumindest für zwei Stunden. Jetzt, in der Pandemie, wo die Kinos wieder zu sind und die Menschen zuhause bleiben sollen, wird das Defizit, das ein geschlossenes Kino hinterlässt, wieder besonders deutlich. Und auch die beiden Autoren des liebevoll gestalteten Buches „Verschwundene Kinos im Weinviertel“ hegen eine deutliche Zuneigung für die Laufbilder. „Der Genuss begann schon mit dem Aufgehen des Vorhangs“, erinnert sich Karl Zellhofer, Jahrgang 1951. Sein Sohn Martin, geboren 1977, hat in seinem Heimatort in den Lichtspielen Leobendorf das erste Mal Kinoluft geschnuppert. „Der dunkle Saal war mir unheimlich und erschien mir unermesslich groß“, sagt Martin Zellhofer. Für das Vater-Sohn-Gespann war es ein Herzensanliegen, sich der einstigen, blühenden Kinolandschaft des Weinviertels, „ihres“ Viertels, anzunehmen. Es ist ein bildreiches Buch, das stark lokal verortet ist, das aber dennoch eindrucksvoll zeigt, wie drastisch sich die Filmrezeption über die Jahrzehnte geändert hat; viele kleine Einsaalkinos in den Dörfern am Land mussten schließen, die Kinoketten
konzentrierten darauf hin ihre Multiplexe in den Peripherien der Ballungsräume; der Status quo ist kein erfreulicher: Durch Corona machen gerade die Großen der Branche so viele Verluste wie nie zuvor und das Publikum sucht sich seine Unterhaltung bei den Streaming-Portalen. Da ist der Hauch von Nostalgie, den das Buch verströmt, gerade willkommen: Die Zellhofers haben sich auf eine Entdeckungsreise zu den Ruinen der einstigen Kinos begeben und dabei allerlei Kurioses ausgehoben. Viele der einstigen Kinos sind längst abgerissen, an ihrer statt stehen dort nun Geschäfte, Büros oder Wohnungen. „Noch lohnt sich die Recherche, noch können Suchende den Fingerzeig der Geschichte spüren“, so die Autoren, die natürlich auch in alten Filmprogrammen, Aushangfotos, Filmplakaten und Kinokarten stöberten. BELIEBTE FOTOMOTIVE In manch raren Fällen sind die lange geschlossenen Kinos noch beinahe vollständig erhalten. Die Front der 1953 eröffneten und 1977 geschlossenen Groß-Kadolzer Lichtspiele etwa, mit dem markanten Schriftzug „Tonkino“ darauf, ist heute ein beliebtes Fotomotiv, und auch im Inneren ist alles weitgehend erhalten. „Es wirkt, als ob der Filmvorführer bloß eine kurze Pause machen würde“, so die Autoren. Nicht so gut in Schuss sind die Lichtspiele Großkrut, wo der Verputz von den Wänden bröckelt. In Haugsdorf ist vom „Pariser Ideal Kino“ nur mehr ein verblasster Schriftzug CINEMA FOREVER!
an der Hauswand sichtbar, der Kinosaal dient heute als Garage. Das einstige, 1987 geschlossene Tonkino Poysdorf hat auch eine Nachnutzung gefunden: In dem 1932 aus der Pfarrscheune zum Kino umfunktionierten Saal baut eine Tischlerei heute Särge, inmitten des Ambientes eines Kinos - der Projektionsraum ist seit der Schließung gar nicht verändert worden, in ihm stehen nicht nur zwei Projektoren und Umspulgeräte, sondern es hängt dort auch ein Kalender aus dem Jahr 1987 - mit viel Staub darauf. Die Autoren erzählen bei ihrer Entdeckungsreise von ihren Eindrücken, die sie beim Wiederfinden dieser Orte erlebten, unterfüttern diese mit zahlreichen Fotos und Dokumenten und lassen auch Zeitzeugen zu Wort kommen, etwa Josef Pauker, einst Vorführer in den Lichtspielen Großkrut. „Einmal brannte eine Filmrolle ab“, erinnert sich Pauker, „sinnigerweise passierte das bei einem Film mit dem Titel ‚Berge in Flammen‘.“ Das Buch macht auch deutlich, wie viele Kinos es einmal gab: Auch kleinere Gemeinden wie Hadres, Herrenbaumgarten, Prottes, Sitzendorf an der Schmida oder Wildendürnbach hatten einmal ein Kino. Sie alle verströmten die magische Atmosphäre, die man sich nach der Lektüre dieses Buches so bald als möglich wieder zurückwünscht. KIKI ADLER „Verschwundene Kinos im Weinviertel“. Karl und Martin Zellhofer, 116 Seiten, Edition Winkler-Hermaden, 21,90 Euro 43
Bis aus den abenteuerlichen Büchern von Karl May veritable Kinohits wurden, verging viel Zeit. Ein neuer Bildband zeigt: Es brauchte etliche Flops, bis Winnetou & Co. endlich zu den Legenden wurden, die sie heute sind.
LESE STOFF
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m Anfang von Karl Mays Eroberung der Kinoleinwände stand viel Herzblut - und ein kapitaler Flop. Als sich die glühende May-Verehrerin Marie Louise Droop (1890-1959) im Alter von 13 Jahren ein Herz fasste und begann, ihrem Lieblingsautor Briefe zu schreiben, da ahnte sie noch nicht, dass sie einmal die erste sein würde, die eine Verfilmung eines MayRomans produzieren würde. Droop traf den Abenteuer-Autor sogar noch persönlich, ehe dieser 1912 starb. Zu Lebzeiten ist nichts bekannt davon, dass sich findige Produzenten um die Filmrechte zu Mays Oeuvre bemüht hätten, da hatten Kollegen wie Jack London mehr Strahlkraft (er wirkte in der Ve r f i l mu n g seines Buches „Der Seewolf “ 1913 sogar selbst mit). Aber Marie Louise Droop erkannte die Breitenwirksamkeit des relativ neuen Mediums und konnte Mays Witwe Klara davon überzeugen, die Rechte für drei Verfilmungen herauszugeben. Für die Umsetzung gründete Droop in Berlin die Ustad-Filmgesellschaft; das persische Wort Ustad steht für einen Ehrentitel (etwa „Maestro“), bezeichnet aber auch eine Figur aus Karl Mays „Im Reiche des 44
DER DR. NO DES KARL MAY silbernen Löwen“. Die Produktionsfirma sollte sich voll und ganz der visuellen Umsetzung von Mays Werk widmen, und die ersten drei Produktionen waren auch innerhalb eines Jahres fertig: „Auf den Trümmern des Paradieses“, „Die Todeskarawane“ und „Die Teufelsanbeter“ (der einen frühen Leinwandauftritt des späteren Dracula-Darstellers Bela Lugosi enthält) wurden allesamt 1920 gedreht, zu einer Zeit, als es deutschlandweit 3000 Kinos und 350 Millionen zahlende Zuschauer gab. Ein Riesenpotenzial also. Doch das Publikum verweigerte den Filmen seine Zustimmung. Die Stummfilme, die aufwändig in Studios in Berlin und bei Außendrehs in der Sächsischen Schweiz entstanden, konnte dramaturgisch nicht überzeugen, das sagten zumindest die damaligen Filmkritiker. Den hellen Geist Karl Mays, seine Leidenschaft für das Abenteuer, für Exotik und Spannung konnten die Filme offenbar nicht reflektieren. Überprüfen lässt sich das allerdings nicht: Alle drei Filme gelten heute als verschollen, es gibt davon keinerlei Kopien. Sie sind dennoch der Anlass für den neu im Karl-May-Verlag erschienenen Bildband „100 Jahre Karl May im Kino“, eine liebevoll zusammengestellte Hommage an die Filme, die Karl May zum Straßenfeger machten. Autor Stefan von der Heiden versammelt auf den rund 200 Seiten Fotos und Anekdoten, die die Herzen der May-Fans wohl höher schlagen lassen dürften, die aber auch gut als Einführung in das filmische May-Werk dienen können. ZU ANFANG EIN FLOP Die Bewerbung der ersten May-Verfilmungen mit den Worten, sie hätten „eine sensationelle Wirkung“ auf den Zuschauer, ging jedenfalls daneben: Der Flop der May-Trilogie CELLULOID FILMMAGAZIN
von 1920 führte direkt in die Pleite der Ustad-Film; zu ambitioniert war die Idee, kurz nach dem Ersten Weltkrieg die Menschen an exotische, ferne Orte zu entführen. Mehr als 15 Jahre lang wagte sich niemand an die Bücher Karl Mays, und das, obwohl sie (im deutschen Sprachraum) fast jeder kannte. Auch, wenn Mays Werk in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde, zum Weltautor hat er es nicht gebracht - er blieb bis heute ein sehr deutsches Phänomen. 1935 wagte sich die Berliner LotharStark-Film an die Adaption von „Durch die Wüste“ - und ging einen anderen Weg als die Stummfilme: Um wirkliche Exotik zu zeigen, reiste das Filmteam für die Außenaufnahmen nach Ägypten - aber die zeitgenössische „Filmkritik“ der NSPresse war erbarmungslos: Zu langatmig, zu wenig Spannung - und am Ende noch ein halb-jüdischer Regisseur, was die Firma unter der NS-Herrschaft zuverlässig ins Aus manövrierte. Wieder vergingen Jahrzehnte. Erst mit den beiden in Spanien gedrehten „Die Sklavenkarawane“ (1958) und „Der Löwe von Babylon“ (1959) wagte man sich wieder an zwei May-Vorlagen, wobei ersterer von Georg Marischka, dem Neffen des „Sissi“-Regisseurs Ernst Marischka, inszeniert wurde und es immerhin zum Achtungserfolg brachte, sodass hinterher gleich der zweite folgte.Der jedoch floppte - und wieder ging der Plan, aus Karl Mays Romanen serienhafte Kinoerfolge zu produzieren, daneben. Auch, als man die beiden Filme Anfang der 60er Jahre nochmals in die Kinos brachte, wollte sie kaum jemand sehen, was nicht an der Besetzung mit Georg Thomalla und Theo Lingen lag, die ihre Sache recht ordentlich machten. Aber der Erfolg von Karl May auf der großen Leinwand sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Leonine Studios
Pierre Brice und Lex Barker wurden durch ihre Rollen als Winnetou und Old Shatterhand in den WinnetouFilmen berühmt. Im Karl May-Verlag ist nun der Titel „100 Jahre Karl May im Kino“ erschienen.
Denn es kam: 1962. Im selben Jahr, in dem auch James Bond mit „Dr. No“ seinen Siegeszug um die Welt antrat und dem bis 1970 weitere fünf Abenteuer folgten, gelang es auch, Karl May im Kino zur absoluten Gelddruckmaschine zu führen. Initialzündung für den Erfolg, also quasi der „Dr. No“ des Karl May, wurde Harald Reinls Verfilmung von „Der Schatz im Silbersee“, der zum Überraschungshit wurde. Das Branchenblatt „Filmecho/ Filmwoche“ vermeldete zu Weihnachten 1962: „Schlangen vor den Kinokassen, wie man sie nur noch in blasser Erinnerung hatte, beweisen, dass es sich bei diesem Film offenbar um einen Goldschatz handelt“.Und die May-Anhänger waren viel produktiver als Bond: In nur sieben Jahren wurden 17 Filme gedreht, die mehr oder weniger auf Mays Büchern basierten, darunter die „Winnetou“Trilogie (1963-1965), „Old Shatterhand“ (1964), „Der Schut“ (1964) oder „Durchs wilde Kurdistan“ (1965). Allein 1965 kamen sieben Karl-May-Verfilmungen heraus, in denen zumeist die jugoslawische Landschaft als Kulisse für die USA herhalten musste. Überzeugt hat das damals wie heute jeden Fan. Bis in die 70er Jahre hielten sich Proteste der Kinobetreiber gegen eine TV-Ausstrahlung dieser Filme, weil die bei jeder Wiederaufnahme in den Kinos so viel Publikum anlockten. Und: Es war die Zeit ikonografischer Helden im deutschen Kino, an deren Spitze
der Beliebtheitsskala ausgerechnet ein Franzose und ein Amerikaner standen: Pierre Brice gab seinem Winnetou - den holzschnittartigen Vorzeichen der Filmreihe getreu folgend - eine Sanftheit und Anmut, eine Güte und eine Heroik, die kein Schauspieler im US-Kino über Native Americans je auf die Leinwand brachte. Und Lex Barker, der Hüne und ColtAkrobat, wurde als kongenialer Partner des Indianers schnell zum Helden jedes Kinderzimmers. Man darf behaupten, dass die Faschingsspiele vom „Cowboy und Indianer“ hier ihren wahren Ursprung hatten. USCHI APANATSCHI Für viele Darsteller wurde diese Filmreihe zu einem Karriereturbo: Uschi Glas wurde mit „Winnetou und das Halbblut Apanatschi“ (1966) berühmt, auch für Götz George, Eddi Arent oder Mario Girotti bedeutete die Reihe Aufwind. Letzterer wurde später bekanntlich als Terrence Hill sogar noch zum Weltstar, in komödiantischen Variationen des Western-Genres. Historisch akkurat waren die Karl May-Verfilmungen eher nicht - denn sie sollten in erster Linie das deutschsprachige Unterhaltungskino befeuern, was auch famos gelang. Zeitgleich entwickelte sich in der DDR allerdings ein ähnlicher Trend. Dort drehte die DEFA in den 60er Jahren auch etliche Indianer-Filme, die jedoch wesentlich genauer auf den hisCINEMA FOREVER!
torischen Umgang der kapitalistischen Amerikaner mit den unterjochten Indianern eingingen. Wie dem auch sei: Jeder Trend hat mal ein End‘, und auch die Hoch-Zeit der KarlMay-Verfilmungen ging vorüber. 1974 fokussierte das Bio-Pic „Karl May“ - hochkarätig besetzt mit Helmut Käutner (als Karl May), Attila Hörbiger, Lil Dagover, Rudolf Prack und „Reichswasserleiche“ Kristina Söderbaum (die zur NS-Zeit in vielen Filmen ihres Mannes Veit Harlan mitwirkte und in „Jugend“ und „Jud Süss“ ihren Tod im Wasser fand, was ihr diesen Spitznamen einbrachte) - auf die letzten 12 Lebensjahre des sächsischen Schriftstellers. Es folgten ein paar TV-Filme, aber der nächste große Kinofilm rund um Karl May war dann eine Parodie: „Der Schuh des Manitu“ (2001) von Michael „Bully“ Herbig durfte sich lange der erfolgreichste deutsche Film aller Zeiten nennen. Humor war Karl May nicht fremd, und dieser Ulk hatbis heute Kultstatus. Vielleicht auch deshalb, weil seither nicht mehr viel passierte. Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif für einen neuen Winnetou. Vielleicht denken einige Produzenten aber schon im Geheimen nach, wie „Der Schatz im Silbersee“ als Remake aussehen könnte: Mit Elyas M’Barek als Winnetou, Lars Eidinger als Old Shatterhand und Nora Tschirner als Apanatschi. Warum denn nicht? Lustig wär‘ das schon. SOPHIE BRAUNER 45
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Blu-ray-Premiere: „Fair Game“, erschienen bei Camera Obscura
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„Fair Game“, als deutsche Blu-ray-Premiere: Eine Frau gegen drei wilde Kerle im australischen Outback
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s gab einmal eine Zeit, da stand es um das australische Kino extrem schlecht. Es war gewissermaßen inexistent. Dann, Anfang der 70er Jahre, ergeben sich gleich zwei Fügungen, die sich positiv auf die Filmindustrie eines ganzen Kontinents auswirken: Auf der einen Seite schafft die australische Regierung finanzielle Anreize für heimische Produktionsfirmen, auf der anderen werden die strengen Zensurbestimmungen gelockert. Aus scheinbar unfruchtbarem Wüstenboden sprießen somit zarte Pflänzchen und grober Wildwuchs gleichermaßen. Die Zeit einer künstlerisch extrem hochwertigen neuen Welle, an deren Speerspitze Filmemacher wie Peter Weir oder Bruce Beresford stehen, bricht ebenso an wie jene der „Ozploitation“ genannten Schundler, die auf erfrischend sorglose Weise Komödie und Action, Sex und Gewalt vereinen. FAIR GAME aus dem Jahr 1986 vom damals jungen Regie-Neuling Mario Andreacchio ist zeitlich schon eher am Schluss des Ozploitation-Hypes anzusiedeln, steht aber Glanzlichtern des Genres wie LONG WEEKEND (1978) oder ROAD GAMES (1981) in nichts nach. Backwood-Terror und MenschenjagdFilm gehen hier eine furiose und extrem spannende Symbiose ein: Irgendwo im 48
verlassenen Outback, meilenweit von der Zivilisation entfernt haust die junge Jessica auf einer Farm, wo sie sich um bedrohte Tiere kümmert. Die idyllische Ruhe stören drei Raubeine, die sich ausgerechnet ihr Land für die Känguru-Jagd auserkoren haben. Als sie zum ersten Mal auf Jessica treffen, wittern sie in ihr ebenfalls wehrlose Beute. Sie wird zunächst Opfer kleiner Sticheleien und fieser Streiche, die sich im weiteren Verlauf jedoch immer weiter steigern. Aus harmlosem Spaß wird bitterer Ernst. Allerdings sind die drei durchgeknallten Machos bei ihr an die falsche Adresse geraten. Mutig tritt sie ihnen entgegen, schlägt sie bald mit ihren eigenen Waffen und macht so die Jäger am Ende selbst zu Gejagten. KARGE LANDSCHAFT Zugegeben: Diese Geschichte gewinnt keine Originalitätspreise – das muss sie aber auch nicht, denn wichtig ist, wie sie inszeniert ist und da punktet FAIR GAME umso deutlicher. Die einsame Weite der kargen Landschaft birgt schon von Anbeginn etwas Bedrohliches in sich, nicht ganz zufällig findet Jessica gleich zu Beginn ein angeschossenes Känguru, das sie in Pflege nimmt. Ihre kleine Farm soll nicht nur ihr selbst Schutz bieten (heute könnte man „safe space“ dazu sagen), sondern auch der CELLULOID FILMMAGAZIN
Natur, mit der sie in weitgehender Symbiose lebt. Von der Männerwelt hat sie nichts zu erwarten: Der Sheriff, den sie zu Beginn noch zu Rate zieht, ist machtlos, ihr Freund/Partner irgendwo in der Ferne und unerreichbar, die Nachbarn ebenfalls verschwunden. Je mehr sie in Bedrängnis gerät, umso mehr versteht sie es, sich zur Wehr zu setzen. Die drei mit enden wollender Intelligenz gesegneten Wilderer machen hingegen von Anfang an den Fehler, sie zu unterschätzen. So hat man es hier nicht mit plumper Exploitation zu tun, sondern mit einem eigentlich recht gefinkelten Film, der auf besonders fulminante Weise Klischees unterwandert und darüber hinaus sowohl visuell als auch auf der Tonebene (sofern man ein Herz für hemmungslose 80er Jahre Synthies hat) voll überzeugt. Die Veröffentlichung von Camera Obscura bietet nicht nur hervorragende Bild- und Tonqualität sondern auch kurzweiliges Bonusmaterial, ein sehr informatives Booklet sowie als Bonus die Doku NOT QUITE HOLLYWOOD von Mark Hartley zur Genese und Geschichte des Ozploitation-Kinos: Eine leicht oberflächliche, nichtsdestotrotz essenzielle Fundgrube für alle, die sich weiter damit auseinandersetzen wollen. FLORIAN WIDEGGER
DIE GODARD-MELVILLE CONNECTION
Zwei zentrale Werke des französischen Kinos, von Studiocanal frisch restauriert.
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or 60 Jahren schickt sich ein junger Cinephiler, Filmkritiker und Regisseur an, das Kino in seinen Grundfesten zu erschüttern und einen neuen Stil zu etablieren: Mit AUSSER ATEM gelingt Jean-Luc Godard, der vor kurzem seinen 90. Geburtstag feierte, genau das. Ein Film, der damals gegen jede Regel verstößt. Die Geschichte eines Kleinganoven, der sich auf der Flucht vor der Polizei in eine amerikanische Studentin in Paris verliebt und mit ihr – nicht nur, aber auch – über Literatur philosophiert, findet an Originalschauplätzen, und somit außerhalb von Studioateliers statt, und sucht eine ganz neue Form der (filmischen) Wahrheit. Hauptdarsteller Jean-Paul Belmondo etabliert sich damit als Leinwand-Star und neuer Typ und Godard steigt in den Olymp der Kinogötter
auf. Vieles, was wir heute bei einem Kinofilm als selbstverständlich erachten, wurde hier erstmals erprobt. Ein bisschen ist das aber auch das Problem: Den Eindruck, den AUSSER ATEM damals machen musste, können wir heute nur mehr teilweise nachvollziehen. Anhand der 4k-Restaurierung lässt sich der Film allerdings nun so schön wie nie zuvor erleben. „Un s t e r b lich werden … dann sterben“, antwortet der von dem Regieaußenseiter und erklärten Vorbild Godards Jean-Pierre Melville gespielte Schriftsteller in AUSSER ATEM auf die Frage nach seiner größten Ambition. Damit nimmt er auch ein wenig das Leitmotiv für seine eigenen tragischen
Helden und Filme voraus. Einer seiner größten, VIER IM ROTEN KREIS (1969) erscheint nun ebenfalls in einer atemberaubenden Neurestaurierung, mit einer Fülle an interessantem (und zum Teil neuen) Bonusmaterial. Während Godards nahezu zwanghaftes Gegen-den-Strich-Bürsten inzwischen etwas anstrengend wirken kann, erlebt man hier wahre, zeitlose Kinomoderne: Trotz über zwei Stunden Länge ein extrem reduzierter, extrem spannender Heist-movie, der in der ersten Hälfte nahezu zusammenhanglose Geschichten schicksalshaft vereint und dann die Schlinge enger zieht. Der etwa 30 Minuten lange Coup bei einem Pariser Juwelier schließlich demonstriert die Kraft unseres Lieblingsmediums auf höchst anschauliche Weise. Schlicht: ein must-see! FLORIAN WIDEGGER
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KINOIMPRESSUM CELLULOID FILMMAGAZIN Nummer 1/2021 Februar/März 2021 erscheint zweimonatlich Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films Chefredakteur: Matthias Greuling Freie AutorInnen: Gunther Baumann, Jürgen Belko, Christopher Diekhaus, Paul Heger, Sarah Riepl, Carolin Rosmann, Katharina Sartena, Constantin Schwab, Manuel Simbürger, Florian Widegger, Sandra Wobrazek Coverfoto: Katharina Sartena Anzeigen: Katharina Sartena Layout/Repro: Matthias Greuling Werbeagentur Printed in Austria. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder.
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Grundsätzliche Richtung der Zeitschrift gemäß §25 MedienG: celluloid begreift Film als Kunstform und will dem österreichischen und dem europäischen Film ein publizistisches Forum bieten. celluloid ist unabhängig und überparteilich.
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