Le Guillon Nr.57 - DE

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Chabag Text: Alexandre Truffer Fotos: Sandra Culand

Das Ende einer Waadtländer Heldensaga

Chabag − eine Welt, die verschwindet Die Errichtung eines Denkmals in Chexbres geht Hand in Hand mit dem Verschwinden der letzten Kolonisten von Chabag. Im zweiten Teil unseres Berichts über das grösste Waadtländer Winzerepos interessieren wir uns für drei Persönlichkeiten, die an den Ufern des Lémans die Erinnerung an die Waadtländer am Dnister-Liman wachhalten. Es ist ein perplexer US-Offizier, der im Herbst 1945 an der österreichisch-ungarischen Grenze zu den hier gestrandeten Familien aus Chabag sagt: «Ich verstehe, dass Sie nach fünf Jahren der Flucht im Krieg und quer durch Europa nach Hause wollen! Aber wo ist das, Ihr Zuhause?» Gertrude Zwicky Forney meint: «Ich habe länger in Froideville gelebt als irgendwo sonst, doch damals hofften wir alle, nach Chabag zurückkehren zu können.» 1932 in der helvetischen Kolonie geboren, ist sie acht Jahre alt, als Bessarabien, in der Zwischenkriegszeit unter rumänischer Kontrolle, von sowjetischen Truppen besetzt wird. «Rund um Chabag gab es mehr als hundert deutsche Dörfer. Eine Kommission des deutschen Reichs, damals noch Alliierter der Sowjetunion, besuchte alle deutschsprachigen Familien – mein Vater, von der rumänischen Armee mobilisiert, war Schweizer, aber meine Mutter Deutsche –, um ihnen eine Umsiedlung vorzuschlagen. Wie 80% der Bewohner von Chabag akzeptierte meine Mutter den Vorschlag; sie hatte gesehen, wie sich die Läden nach der Ankunft der roten Armee leerten (man konnte nur noch zwei Artikel kaufen: Halstücher und Seife).» Das ist der Beginn eines sechs Jahre dauernden Exodus. Herzzerreissende Abschiedsszenen – «gewisse Familien lebten seit fünf Generationen in der Kolonie» – und Zelte in einem Flüchtlingslager in Jugoslawien. «Die Partisanen schossen in der Nacht

auf unseren Zug und es war eiskalt, doch wir wurden gut aufgenommen», erinnert sich die bald Neunzigjährige. Danach kam die Tschechoslowakei: «Wir waren 400 Leute in einem Industriegebäude. Dieses Lager wurde von der SS verwaltet. Es gab eine einzige Toilette und die Nahrungsmittel waren verseucht. Als eine Frau an Typhus starb, haben sie alle Türen verschlossen und sie nur geöffnet, um Essen hineinzureichen.» Nach zwei Jahren schickt die Naziverwaltung das Winzergrüppchen nach Slowenien,

Ich habe länger in Froideville gelebt als irgendwo sonst, doch damals hofften wir alle, nach Chabag zurückkehren zu können.  Gertrude Zwicky Forney

in eine Weinregion. «Wir wurden in Häusern untergebracht, deren Bewohner hinausgeworfen worden waren. Das war schrecklich!» Gertrudes Eltern verbringen mit ihren vier Kindern zwei Jahre in dieser Region, die einigermassen verschont bleibt von den Schrecken des Krieges. Im Frühling 1945 wird die Familie nach Österreich geschickt. «Nach einer Woche in Klagenfurt, das Tag und Nacht bombardiert wurde, kamen wir in ein kleines Dorf in Kärnten. Nach Hitlers Tod brachen alle Strukturen zusammen. Die Amerikaner, die nicht so recht wussten, zu welcher Kategorie sie unsere kleine Gruppe zählen sollten, sprachen wir doch russisch, französisch und deutsch wild durcheinander, übernahmen uns.» Ein Jahr später kommen die einstigen Bewohner von Chabag in der Schweiz an. «Man hatte uns in einem mit Stroh ausgelegten Viehwagen transportiert. Der Konvoi, der alles andere als prioritär behandelt wurde, brauchte drei Tage, um die Schweiz zu erreichen. Wir waren so schmutzig, dass uns die Schweizer unverzüglich unter die Dusche schickten.» Doch Gertrude, damals 14, erinnert sich vor allem an die Körbe voller Brot und Orangen, die auf die Flüchtlinge warteten, «eine Frucht, die wir sechs Jahre lang nicht mehr gesehen hatten!» Auf dem Mont-Pèlerin interniert, kehrt die Familie schliesslich in ihre Heimatgemeinde Obstalden zurück. «Mein Vorfahr, der zusammen mit Louis-Vincent Tardent nach Chabag ausgewandert war, hatte in den napoleonischen Kriegen gekämpft. Es war also 120 Jahre her, seit ein Zwicky im Dorf gewohnt hatte, doch wir wurden empfangen wie die Könige!» Einige Jahre später arbeitet Gertrude in Lausanne, wo sie Igor kennen-

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