ChemieXtra 1-2/2020

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FORSCHUNGSWELT

Unscharfe Grenze der Quantenwelt

Quantenphänomen bei Riesenmolekül Je weiter wir uns in die mikroskopische Welt der Natur begehen, desto eher treffen wir auf physikalische Gesetze, die uns in der Alltagswelt völlig fremd sind. Ab welcher Grösse – oder genauer ab welcher Masse – dann die klassische Physik beinahe unbrauchbar wird und die Quantenmechanik dominiert, ist nicht einfach zu beantworten. Forschende der Universität Wien und Basel konnten ein quantenmechanisches Phänomen bei einem Teilchen mit der Masse von 25 Kilodalton beobachten: ein neuer Rekord.

Das Überlagerungsprinzip ist ein Kennzeichen der Quantentheorie, das unter anderem aus einer der grundlegenden Gleichungen der Quantenmechanik hervorgeht, der Schrödingergleichung. Sie beschreibt Partikel als Wellenfunktionen. Die Teilchen haben also Eigenschaften von Wellen. Ähnlich wie bei Wasserwellen auf dem Meer können auch die Teilchen Interferenzeffekte aufweisen. Im Gegensatz zu Wasserwellen, die ein kollektives Verhalten vieler wechselwirkender Wassermoleküle darstellen, können Quantenwellen für ein einzelnes isoliertes Teilchen stehen.

Das vielleicht eleganteste Beispiel für die Wellennatur von Partikeln ist das Doppelspaltexperiment. In diesem Experiment werden, bildlich formuliert, Teilchen nacheinander an eine Wand geschossen. Die Wand enthält zwei passierbare Öffnungen, so dass die Teilchen entweder in den linken oder eben rechten Spalt auf eine direkt hinter der Wand stehende Leinwand treffen. Stellen wir uns dieses Experiment pragmatisch in unserer Alltagwelt vor: Ein Ball wird an eine Wand geschossen und kann eine der beiden Öffnungen passieren. Hier ist der Fall klar. Er fällt anschliessend je nach dem, durch welchen Spalt er fliegt, entweder eher rechts auf die Leinwand oder eher links. In der Quantenwelt läuft dies etwas anders ab. Sobald wir uns in die Welt der kleinsten Teilchen begeben, herrschen quantenmechanische Gesetze. Der Ball verfügt nun über Wellencharakter. In diesem Fall durchläuft er gleichzeitig die beiden 40

Bild: Shutterstock

Neuer Rekord wirft Fragen auf

Ein Doppelspaltexperiment: Alpha-Teilchen (4He) werden auf eine Goldfolie «geschossen». Auf der dunklen Leinwand bildet sich dann allmählich ein für Wellen typisches Verteilungsmuster.

Schlitze und hinterlässt auf der Leinwand ein Interferenzmuster. Dies wäre also, bildlich gesehen, vergleichbar mit Wasser. Wasser würde durch beide Öffnungen fliessen, wodurch sich Wellen mit einem bestimmten Muster bilden würden: ein Interferenzmuster. Dieser Effekt wurde für Photonen, Elektronen, Neutronen, Atome und sogar Moleküle demonstriert und wirft eine Frage auf, mit der Physikerinnen und Philosophen seit den Anfängen der Quantenmechanik zu kämpfen haben: Wie gehen diese merkwürdigen Quanteneffekte in die klassische Welt über, mit der wir im Alltag vertraut sind? Ab wann fliegt der Ball wie ein Quantenteilchen?

Die Experimente von Markus Arndt und seinem Team an der Universität Wien nähern sich dieser Frage auf möglichst direkte Weise, indem sie Quanteninterferenzen mit immer massereicheren Objekten aufzeigen. Die Moleküle in den jüngsten Experimenten haben Massen von mehr als 25 000 atomaren Masseneinheiten (u), ein Vielfaches des vorherigen Rekordes. Eines der grössten Moleküle, das durch das Interferometer geschickt wird, besteht aus mehr als 40 000 Protonen, Neutronen und Elektronen. Marcel Mayor und sein Team an der Universität Basel verwendeten spezielle Techniken, um derart massive Moleküle zu synthetisieren, die dennoch ausreichend stabil sind, um einen Molekular1–2/2020


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