Nr. 3 Saison 22/23 – La Mer

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CHF 5 PROGRAMM-MAGAZIN NR. 3 SAISON 22/23 Sinfonieorchester Basel Pekka Kuusisto, Violine Aziz Shokhakimov, Leitung LA MER 19. OKT. 2022 19.30 UHR STADTCASINO BASEL

ÜBERSICHT DER SYMBOLE

Diese Institution verfügt über eine Höranlage

Nummerierte Rollstuhlplätze im Vorverkauf erhältlich Concert Lounge

ANDERS HILLBORG Sound Atlas 6

PORTRÄT Pekka Kuusisto, Violine 10

PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKI Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35 14

PORTRÄT Aziz Shokhakimov, Leitung 16

CLAUDE DEBUSSY La Mer, trois esquisses symphoniques pour orchestre 18

RÜCKBLICK 21

ORTSGESCHICHTEN von Sigfried Schibli 22

VORGESTELLT Dorothee Kappus, Violine 24

LEXIKON DES ORCHESTERS von Benjamin Herzog 28

IN ENGLISH by Bart de Vries 30

VEREIN ‹FREUNDESKREIS SINFONIEORCHESTER BASEL› 31

IM FOKUS 33 DEMNÄCHST 34

PROGRAMM 5
INHALT

LA MER

Liebes Konzertpublikum

La Mer von Claude Debussy ist vielleicht die brillanteste und zugleich konzentrier teste Komposition unter den sinfonischen Orchesterstücken. Es ist ein Meisterwerk voller Fantasie, das wie selbstverständlich die traditionelle Form verlässt und die Tore zur Moderne öffnet. Man spürt die befrei ende Sprengkraft dieser Musik noch heute. Einzigartig, wie subtil Debussy die Verwand lung von Wellen und reflektierendem Licht in Musik gesetzt hat.

Auch unser ‹Composer in Residence› Anders Hillborg hat sich in seinen Werken mit der Veränderung von Materie beschäf tigt. In Sound Atlas macht er musikalisch erlebbar, wie Glas vom festen in den flüssi gen und in den gasförmigen Aggregatzu stand übergeht. Als Ausgangspunkt dient ihm dafür eine Glasharmonika, die mit ihrem ätherischen Klang im Zentrum des Werks steht. Aus ihrem Wechselspiel mit dem Orchester heraus entwickeln sich fas zinierende, sich permanent verändernde Klanglandschaften. Wir sind gespannt, wel che musikalische Wellen und Wolken der usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov mit unserem Orchester an diesem Abend entstehen lassen wird.

Es sei nur nebenbei bemerkt, dass der Musikkritiker Eduard Hanslick Tschaikows kis Violinkon zert zynisch mit einer duf tenden Parfümwolke verglich. Umso mehr

freuen wir uns auf die Aufführung dieses Konzerts mit unserem ‹Artist in Residence› Pekka Kuusisto.

Mehr über unser Programm erfahren Sie in der neuesten Ausgabe unseres Pro gramm-Magazins.

Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre viel Vergnügen und grüssen Sie herzlich.

SINFONIEKONZERT

Pekka Kuusisto, ‹Artist in Residence› in der Saison

VORVERKAUF, PREISE UND INFOS

VORVERKAUF

Bider & Tanner –Ihr Kulturhaus in Basel Aeschenvorstadt 2, 4051 Basel +41 (0)61 206 99 96

ticket@biderundtanner.ch

Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 60

Sinfonieorchester Basel +41 (0)61 272 25 25

ticket@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch

ZUGÄNGLICHKEIT

Das Stadtcasino Basel ist rollstuhlgängig und mit einer Induktionsschleife versehen. Das Mitnehmen von Assistenzhunden ist erlaubt.

PREISE CHF 105/85/70/55/35

Junge Menschen in Ausbildung: 50 %

AHV/IV: CHF 5

KulturLegi: 50 %

Mit der Kundenkarte Bider & Tanner: CHF 5

• Bei Menschen, die für den Konzert besuch eine Begleitung beanspru chen, ist der Eintritt für die Begleit person frei. Die Anmeldung erfolgt über das Orchesterbüro.

© Ronald Kapp im Sinfoniekonzert
4VORVERKAUF
ERMÄSSIGUNGEN •
2022/23 und Solist
‹La Mer›

LA MER

18.30 Uhr: Konzerteinführung mit Benjamin HerzogMi, 19. Oktober 2022, 19.30 Uhr

Stadtcasino Basel, Musiksaal

Anders Hillborg (*1954): Sound Atlas (2018, Schweizer Erstaufführung)

1. Crystalline

2. River of Glass

3. Vaporised Toy Pianos

4. Vortex

5. Hymn

Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840–1893):

Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35 (1878)

1. Allegro moderato

2. Canzonetta. Andante

3. Finale. Allegro vivacissimo

PAUSE

Claude Debussy (1862–1918):

La Mer, trois esquisses symphoniques pour orchestre (1905)

1. De l’aube à midi sur la mer – très lent

2. Jeux de vagues – allegro

3. Dialogue du vent et de la mer –animé et tumultueux

ca. 20’ ca. 35’ ca. 25’

Sinfonieorchester Basel Pekka Kuusisto, Violine Aziz Shokhakimov, Leitung

Konzertende: ca. 21.15 Uhr

5PROGRAMM
HÖR’ REIN

Sound Atlas

KRISTALLINE KLÄNGE

Glasinstrumente faszinieren

Anders Hillborg seit Langem, er setzt sie in vielen seiner Stücke ein. «Ihr Klang füllt den Saal, aber niemand kann genau sagen, woher er kommt», sagt der schwedi sche Komponist, der in dieser Saison ‹Composer in Resi dence› beim Sinfonie orchester Basel ist. In ferne, überirdisch anmutende Sphären entführt uns die Glasharmonika, die in Sound Atlas eine zentrale Rolle spielt. 2019 mit grossem Erfolg im Londoner South bank Centre uraufgeführt, feiert das Orchesterwerk jetzt seine Schweiz-Premiere. «Das Stück ist um die Glasharmonika herum auf gebaut», erklärt Hillborg.

Die Ursprünge des ätherisch tönenden Ins truments reichen Jahrhunderte zurück. Benjamin Franklin, bekannt als einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, konstruierte 1761 ein Reibe-Idiofon, das aus unterschiedlich grossen, ineinandergescho benen Glasglocken bestand, die durch ein Pedal in Rotation gebracht wurden. Die Musiker*innen erzeugten Töne, indem sie mit angefeuchteten Fingern über die Glas ränder fuhren. Wolfgang Amadé Mozart schrieb für das neuartige Instrument ein Quintett und ein Solo-Adagio. Auch Dichter wie Johann Wolfgang von Goethe, Fried rich Schiller und Jean Paul zeigten sich beeindruckt. Gaetano Donizetti verwendete die Glasharmonika in der berühmten Wahn sinnsszene seiner Oper Lucia di Lammer moor. Im 20. Jahrhundert setzte sie Richard Strauss in Die Frau ohne Schatten ein.

Ein moderner Nachfahr ist das Verro fon, das 1983 von dem Glasmusiker Sascha Reckert erfunden wurde. Es besteht aus senkrecht in einem Holzkorpus stehenden Röhren, die oben offen sind und dort an den Rändern mit den Fingern gerieben oder mit einem Hammer angeschlagen werden. Die Tonhöhe ist abhängig von der Länge

«Dadurch entsteht eine ganz spezielle Klangland schaft.»
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ZUM WERK ANDERS HILLBORG
Mats Lundqvist
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der Gefässe, die meist in einer chromati schen Tonleiter angeordnet sind. Je nach Lage sind sogar sechs- bis achtstimmige Akkorde greifbar. Mit seinem weichen Klang erinnert das Verrofon an die historische Glasharmonika, unterscheidet sich von ihr aber durch eine grössere Lautstärke.

In Sound Atlas erlebt man, wie das feste Glas in andere Aggregatzustände über geht. Hillborg unterteilt das Stück in die fünf Abschnitte Crystalline, River of Glass, Vaporised Toy Pianos, Vortex und Hymn. Glasharmonika und Mikrotöne der Strei cher formen zunächst das kristalline Zen trum dieser Klangwelt. Wenn die Spiel zeug klaviere verdampfen, verflüchtigt sich die ser Kern. Es entstehen heftig wirbelnde Klangmassen, aus denen die Musik plötz lich kristallklar emporsteigt, um rasch wie der in den Abgrund gezogen zu werden. Am Ende löst sich der wilde Strudel in einer feierlichen, von den Streichern ge spielten Hymne auf.

Die Uraufführung von Sound Atlas mit dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung von Marin Alsop wurde von der britischen Presse enthusiastisch auf genommen. «Musik aus den Weiten des Universums, in denen der jenseitige Klang der Glasharmonika herumgeistert», schrieb Richard Fairman in der Financial Times. «Wenn Stanley Kubrick für ein Remake von 2001 zurückkehren würde und einen Soundtrack bräuchte? Hillborg wäre sein Mann.» In der Times sprach Rebecca Franks von einem «überirdischen Lichtkranz», den die Glasharmonika der Palette orchestraler Klangfarben verleihe. Etwas, das so hell, weichkantig und ungewöhnlich sei wie die Sonnenkorona. Auch das Publikum im Stadtcasino ist nun eingeladen, sich durch diese Musik in ungeahnte neue Dimensio nen katapultieren zu lassen.

Sound Atlas

BESETZUNG

Glasharmonika, 3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauke, Perkussion, Klavier, Streicher

ENTSTEHUNG

2018

URAUFFÜHRUNG

16. Januar 2019 in der Londoner Royal Festival Hall, Southbank Centre, mit dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Marin Alsop

DAUER

ca. 20 Minuten

8ANDERS HILLBORGZUM WERK

Zuhause in Basel.

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PEKKA KUUSISTO

Violine

EIN BEGNADETER

GESCHICHTENERZÄHLER

VON CHRISTA SIGG

Der Finne Pekka Kuusisto ist in der Saison 2022/23 ‹Artist in Residence›. Das ist ein Glücksfall fürs Sinfonieorchester Basel –und ohnehin fürs Publikum, das sich auf einen leiden schaft lichen wie experimen tierfreudigen Geiger voller Humor freuen darf.

Es gibt Musiker*innen, die spielen Zugaben, weil es eben dazugehört. Manche nutzen die Gelegenheit, um noch einmal ein vir tuoses Feuerwerk zu zünden. Andere über raschen lieber mit kompositorischen Raritä ten. Und dann sind da noch die Spassvögel, die nach einem hoch konzentrierten Abend humorvoll Dampf ablassen. Bei Pekka Kuusisto kommt all das zusammen und wird zum spontanen Show-Event. Um tro ckene Kommentare ist der Finne sowieso nie verlegen. Und wenn er voller Ironie von karelischen Dorfschönheiten und geklauten Schuhen erzählt, um sein Publikum zum Singen schräger Volkslieder zu bringen, möchte man in einer Tour auf die RepeatTaste drücken.

Zum einen ist da natürlich eine so melo diöse wie seltsame Sprache, die es erlaubt, die eigentümlichsten Vokale zu zerdehnen. Da ist aber auch eine grosse Freiheit, die sich nur einstellt, wenn einer keine techni schen Grenzen kennt und aus dem Augen blick heraus etwas Neues entwickeln oder einen Gedanken kunstvoll weiter spinnen kann. Man spricht dann vom ‹Improvisie ren›, dem Schreckgespenst des Klassik be triebs, in dem selbst die Kadenzen minutiös einstudiert sind.

Kuusisto feilt freilich am perfekten Klang, als Streicher und erst recht als Solo geiger seiner Klasse kann er gar nicht an ders. Doch das hatte bei ihm nie mit dem Drill eines Wunderkinds zu tun. Das Üben war für ihn immer etwas Selbstverständ liches, ja Alltägliches, schon weil Pekka den älteren Bruder Jaakko mit der Violine sah und unbedingt auch so ein «toll klin gendes Ding» haben wollte. Mit gerade drei Jahren war dieses erste Ziel erreicht – der Popsong Rasputin von Boney M. war in dieser Zeit sein Favorit. Und ein, zwei Jahre später begann Pekka auch schon zu improvisieren. Damit kam mehr und mehr das Musikverständnis des Vaters ins Spiel. Der Komponist und Gelegenheitssee mann Ilkka Taneli Kuusisto, der nächstes Jahr 90 Jahre alt wird, hatte in den New Yorker Jazzclubs der ‹Swinging Sixties› sofort Feuer gefangen. Ausschliesslich Bach, Beethoven und Sibelius gab es bei den

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PORTRÄT
11PEKKA KUUSISTOPORTRÄT © Maija Tammi

Kuusistos sowieso nie und schon gar keine Genregrenzen. Dabei wimmelt es in dieser Familie von ‹klassischen› Geiger*innen, Komponist*innen – auch Grossvater Taneli und Bruder Jaakko komponierten mit eini gem Erfolg –, Musikpädagog*innen, In tendant*innen und Dirigent*innen. Zwei Halbschwes tern Pekkas sind ausserdem Tänzerinnen.

«Es wäre extrem schwierig geworden, nicht Musiker zu werden», sagt er feixend. Den Beruf des Architekten hätte sich Pekka noch vorstellen können, als kleiner Junge gefiel ihm eher Rasantes wie Rennfahren. Doch bei diesen kurz aufblitzenden Ideen blieb es, und darüber sei er heute aus gesprochen froh, betont der 45-Jährige: «Mein Beruf ist mein schönstes Hobby, und von jedem einzelnen Konzert geht eine ganz besondere Energie aus.»

Diese Energie war förmlich zu greifen, als Kuusisto vor gut fünf Jahren mit dem Sinfonieorchester Basel ein viel gespieltes musikalisches Kunstwerk zur Aufführung brachte: Jean Sibelius’ Violinkonzert, und damit einen Brocken der romantischen Literatur, der leicht zu schwüls tig gerät. Man muss das bei Kuusisto kaum befürch ten, dafür ist er zu sehr daran interessiert, die Musik in die Gegenwart zu holen und zugleich die traditionellen finnischen Be züge hörbar zu machen. Dass er 1995 mit 19 Jahren für die beste Interpretation just des Sibelius-Konzerts ausgezeichnet wurde, ist nicht wirklich überraschend. Übrigens im Rahmen des gleichnamigen Violinwett bewerbs in Helsinki, den er damals als erster Finne überhaupt gewonnen hat. Pekka Kuusistos Karriere verläuft seit her in erfreulichen Bahnen, er ist ein gerne gesehener Gast bei den grossen Or chestern und in gleichem Masse als Part ner in kammermusikalischen Formationen. Mit ihm könne man so ziemlich alles an stellen, sagen die Musiker*innen, er gehe voller Elan an Neues und genauso an die alten Schlachtrösser des Repertoires. Und er sorgt für ein lustvoll amüsiertes Mit ei nander, also ein ‹Concertare› im allerbes ten Sinne. Insofern ist es ein Glücksfall, dass dieser leidenschaftliche Kommunika tor und Geschichtenerzähler in der Saison 2022/23 als ‹Artist in Residence› nach Basel kommt.

Das regelmässige Zusammenspiel, die in tensiven Proben mit den Musiker*innen des Sinfonieorchesters bieten dann auch die Möglichkeit, ihm auf den Leib geschnei derte Programme zu erarbeiten. Das kann selbst zu theaterhaft performativen Auf tritten führen, so etwa, als sich der experi mentierfreudige Solist vor ein paar Jahren in das saalfüllende rote Kleid der südkore anischen Künstlerin Aamu Song hüllen liess. So entwickelte sich damals in Berlin ein ungewöhnlich direkter Kontakt zum Publikum, das quasi in die Rocksäume schlüpfen durfte.

Selbstverständlich sind mit dem Sin fonieorchester Basel auch Geigenklassiker wie Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Violinkon zert geplant, doch wohl kaum in der Zu ckergussvariante. Vielmehr sollte man sich auf Tänzerisches und rhythmische Poin ten gefasst machen, die aufregender sein können als der silberne Höhenrausch, der diesem Konzert beträchtlichen Reiz gibt. Und selbst in diesen Gipfelregionen bringt Pekka Kuusisto seine Guadagnini-Geige sinnlich-verführerisch zum Singen. Des halb ist er auch für Ralph Vaughan Williams anrührende Lerchenflug-Hymne The Lark Ascen ding im Musiksaal des Stadtcasinos Basel mit seiner famosen Akustik genau der Richtige.

Aber was passt schon besser oder schlechter? Wenn man Pekka Kuusisto nach seinen Lieblingskomponist*innen und Her zens-Partituren fragt, fällt niemals ein Name. Immer das, was er gerade spiele, sei das Wichtigste und das Schönste – und die jenigen, die das mit ihm tun, seien die ide alen Partner*innen. Vielleicht ist das ja neben der Freiheit das eigentliche Geheim nis seines Erfolgs.

Dieser Text entstand ursprünglich für das Saison programmheft 2022/23 des Sinfonieorchesters Basel.

12PEKKA KUUSISTOPORTRÄT
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PJOTR ILJITSCH

TSCHAIKOWSKI

Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35

KONZERTANTER

WOHLKLANG

Pjotr Iljitsch Tschaikowski komponierte in dem idyllischen Weindorf Clarens am Genfer See im Früh jahr 1878 innerhalb weniger Wochen das Violinkonzert D-Dur op. 35. Im Schweizer ‹Exil›, in das er nach einem psychischen Zusam menbruch als Folge der überstürzten Verehelichung mit Antonia Miljukowa geflüchtet war, fand er zu grosser schöpferischer Kraft zurück.

Grosse Teile der Oper Eugen Onegin wur den dort fertiggestellt, danach regte ihn der Besuch des jungen Geigers Iossif Kotek, eines Schülers des Brahms-Freundes Joseph Joachim, zur Komposition des Violinkon zerts an. Koteks Ratschläge zur Spieltech nik wirkten sich auf den höchst anspruchs vollen Solopart aus.

Der berühmte Geiger Leopold Auer, dem Tschaikowski das Werk widmen wollte,

lehnte es gar als unspielbar ab. Erst im Dezember 1881 fand in Wien die Urauffüh rung statt – mit dem jungen Geiger Adolph Dawidowitsch Brodsky, der in Wien studiert hatte und die Wiener Philharmoniker sowie den Dirigenten Hans Richter für das Werk gewinnen konnte. Die Kritiken fielen aller dings nicht rosig aus, so liess sich etwa der gefürchtete Eduard Hanslick zu folgendem Urteil hinreissen: «Tschaikowskis Violin konzert bringt uns zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht Musikstücke geben könnte, die man stinken hört.»

Doch der vermeintliche ‹Gestank› verbreitete sich bald als beliebter konzer tanter Wohlklang in der ganzen Musikwelt. Hanslicks Kritik erscheint auch insofern unverständlich, als Tschaikowski gerade im Violinkonzert äusserst subtil die thema tischen Einfälle umsetzte. Die slawischromantische Ausdruckssprache ist von Innigkeit und Tiefe erfüllt, wird nie ober flächlich und verbreitet nicht den Geruch des ungustiös Plakativen. In Form und Ge staltung behält Tschaikowski klassisches Ebenmass. So wie bei den Tonarten-Genos sen, den Violinkonzerten von Beethoven und Brahms, verschmelzen in Tschaikows kis D-Dur-Konzert lyrisch-gesangliche Eigenschaften, wie sie zum Charakter des Soloinstruments gehören, mit sinfonischen Konturen.

Der Kopfsatz (Allegro moderato) ent wickelt sich aus verhaltener Bewegung all

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ZUM WERK

mählich zu epischer Grösse, bis am Ende der Exposition erstmals das edle Haupt thema im ganzen Orchester auftrumpft. Tschaikowski verdichtet dann Schicht für Schicht das Geschehen. So verteilt er etwa das Hauptthema auf virtuoses Figurenwerk der Solovioline, die die zunächst kantabel geschwungene Thematik zunehmend dra matisch verdichtet, darin unterstützt vom Orchester. Auch in der Kadenz, die im Rahmen des thematischen Prozesses be reits am Ende der Durchführung platziert ist, setzt die Violine die motivische Entwick lung fort und gefällt sich nicht bloss in virtuoser Selbstdarstellung. In der Reprise verstärkt Tschaikowski durch wonnevolle Ausbreitungen die Bedeutung des Seiten themas. In der Coda zieht er das Tempo an und erzeugt die Wirkung einer Stretta . In der Canzonetta (Andante) folgt einem Holzbläservorspiel eine innige Hauptme lodie in der Violine, mit der Tschaikowski noch einmal in die Welt des melancholi schen Lenski in der Oper Eugen Onegin eintauchte. Das zweite Thema bringt freu dige Bewegung ins Spiel, bis die Kantilene, nun von typischen ‹Tschaikowski’schen› Tontupfern in den Holzbläsern begleitet, wiederkehrt.

Wie ein Peitschenschlag saust ein Akkord dazwischen, mit dem das Orchester das Finale (Allegro vivacissimo) eröffnet und ein Thema in Gang setzt, das – in der Can zonetta schon in einer Vorgestalt leise an gekündigt – nun zur Triebfeder eines mit reissenden Rondos wird. Die Gestalt des Hauptmotivs hat durch und durch russische Wurzeln, die zu einem anderen Werk aus schlagen: Das Motiv ähnelt stark dem zwei ten Thema aus Michail Glinkas Fantasie Kamarinskaya, das wiederum auf ein russi sches Volkslied zurückgeht. Das Seiten thema des Tschaikowski-Finales lässt sich hingegen in seinen Ursprüngen der russi schen Musik der Roma zurechnen (wir ken nen eine solche volksmusikalische Note von Brahms, der gerne magyarische Anklänge ins Spiel brachte). Auch in dieses furiose Finale schiebt Tschaikowski noch lyrische Perioden mit einem sehnsuchtsvoll von der Oboe angestimmten und von Klarinette, Fagott und Solovioline aufgegriffenen drit ten Themengebilde ein und spannt damit einen Stimmungsbogen mit einem brillan ten Ausklang.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Ton künstler-Orchesters Niederösterreich

Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35

BESETZUNG

Violine solo, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, Pauke, Streicher

ENTSTEHUNG

Frühjahr 1878 in Clarens am Genfer See

URAUFFÜHRUNG 4. Dezember 1881 in Wien mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Hans Richter und mit Adolph Brodsky als Solist

DAUER ca. 35 Minuten

Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840–1893), Gemälde von Nikolai Dmitrijewitsch Kusnezow (1850–1929), 1893
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PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKIZUM WERK © Wikimedia Commons

Leitung

EIN INTERESSE FÜR

FARBENREICHE, PRÄZIS AUSGEARBEITETE

PARTITUREN

Musik hat Aziz Shokhakimov von Anfang an begleitet –die Eltern des 1988 gebore nen Usbeken waren beide musikalisch aktiv.

Shokhakimov begann seine Ausbildung am Uspenskij-Musikgymnasium in seiner Hei matstadt Taschkent , an derselben Schule, die der Pianist Yefim Bronfman in den 1960er-Jahren besucht hatte. Shokhakimov spielte Geige und Bratsche, er sang aber auch leidenschaftlich gerne, vor allem nea politanische Lieder wie O sole mio oder San ta Lucia . In einem Interview mit dem Bay erischen Rundfunk verriet Shokhakimov, dass seine Mutter den Dirigenten Vladimir Neymov ermunterte, sich Tonbandaufnah men vom Gesang ihres Sohnes anzuhören. Neymov war beeindruckt und lud den jun gen Aziz ein, mehrere Konzerte mit seinem Orchester zu singen. Als sich der Stimm bruch bemerkbar machte, schlug Neymov dem Elfjährigen vor, sich während der sän gerischen Zwangspause mit Ensemblelei tung zu beschäftigen. Offenbar stellte sich der junge Mann alles andere als ungeschickt an – bereits mit 13 Jahren durfte er ein Konzert des Usbekischen Nationalorches ters dirigieren. Im selben Jahr erfolgte die

Ernennung zum Assistenzdirigenten des Orchesters, und 2006 – Shokhakimov war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt – wurde er Chefdirigent des Klangkörpers. Im Jahr da rauf erfolgte sein Operndebüt an der Usbe kischen Nationaloper mit Bizets Carmen.

Nun ist es so, dass viele grossartige Musiker*innen im Verborgenen wirken, wenn sie in einem Land tätig sind, das west liche Musikliebhabende, aber auch Agent* innen nicht ‹auf dem Schirm› haben. Hier kann in aller Regel ein Erfolg bei einem internationalen Wettbewerb Wunder be wirken – und so bescherte der Gewinn des Mahler-Dirigentenwettbewerbs in Bamberg im Jahre 2010 Shokhakimov einen gerade zu explosiven Anstieg der Aufmerksam keit. Die Semperoper (und damit die Staats kapelle Dresden), die Deutsche Kammer philharmonie Bremen, die Düsseldorfer Symphoniker sowie das Verdi-Orchester aus Mailand luden den Wettbewerbsgewin ner für Vorstellungen und Konzerte ein, und der Grundstein für eine bemerkens werte Karriere war gelegt. 2015 nahm Shok hakimov die Position des Ersten Kapell meisters an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg an, neben einer Neu produk tion von Pique Dame dirigierte er dort Vor stellungen von Madama Butterfly, Salome und Tosca . Viel beachtet wurde auch sein Erfolg beim Young Conductors Award der Salzburger Festspiele im August 2016. Für das Preisträger*innenkonzert

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AZIZ SHOKHAKIMOV
PORTRÄT

mit dem RSO Wien kehrte er im Folgejahr an die Gestade der Salzach zurück und stand 2019 schliesslich bei der Festspiel eröffnung in der Felsen reitschule am Pult des Mozart eumorchesters, mit Patricia Kopatchinskaja als Solistin. Inzwischen hat Shokhakimov bei vielen wichtigen Orches tern in Europa sein Debüt gegeben. Im Juni 2021 sprang er kurz fristig für Sir John Eliot Gardiner beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein. In Nord amerika hat er bereits die Orchester in Houston, Toronto und Salt Lake City diri giert. Eine weitere Sprosse auf der Karrie releiter wird er im Februar 2023 erklimmen, wenn er an der Opéra National de Paris die musikalische Leitung einer Neuproduktion von Lucia di Lammer moor übernimmt. Seit 2017 ist Shokhakimov Chefdiri gent des Tekfen Filarmoni Orkestrası. Der in der Türkei beheimatete und privat finan zierte Klangkörper bemüht sich um den musikalischen Dialog von Orient und Okzi dent und bringt Musiker*innen aus den Anrainerstaaten des Schwarzen Meers und Zentralasiens zusammen. 2021 endete Sho

khakimovs Kapellmeisterzeit in Düsseldorf/ Duisburg, seit Beginn der Saison 2021/22 ist er nun Chefdirigent des Orches tre Phil harmonique de Strasbourg. Neben etlichen Konzerten übernimmt Shokha kimov je des Jahr die musikalische Leitung einer Neuproduktion an der dortigen Opéra Na tional du Rhin. In der ersten Spielzeit war dies Walter Braunfels’ Oper Die Vögel, in der aktuellen Saison wird es Rimski-Kor sakows Le coq d’or sein. Beide Werke zei gen, dass Shokhakimov ein besonderes Interesse für farbenreiche, präzis ausge arbeitete Partituren hegt. Und so ist es folgerichtig, dass bei seinem Basler Debüt neben Tschaikowskis Violinkonzert sowohl Debussys La Mer als auch Anders Hillborgs schillernder Sound Atlas auf dem Pult lie gen werden.

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AZIZ SHOKHAKIMOVPORTRÄT © Mischa Blank

CLAUDE

La Mer, trois esquisses symphoniques pour orchestre

EINE TÖNENDE REPRÄSENTATION DES MEERES

Claude Debussy hatte zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus finanzieller Notwen digkeit heraus begonnen, sich als Musikkritiker zu ver dingen, und zu diesem Zweck einen scharfzüngigen, Zigarre rauchenden Gesprächs partner namens Monsieur Croche erfunden. Doch auch später noch, als längst etablierter Komponist, war Debussy für seine spitze Feder bekannt, für seinen betonten französischen Nationalismus und für so manches gehässige Bonmot auf Kosten berühmter Kolleg*innen und Vorgän ger*innen.

«Kein Mensch ist verpflichtet, nur Meister werke zu schreiben, und wenn man die Pastoral-Symphonie als solches behandelte, würde diese Bezeichnung an Kraft einbüs sen», ätzte er einmal in Richtung Ludwig van Beethoven. – Eine derart rigorose Ab lehnung also ausgerechnet jenes sin foni schen Werks, in dem Beethoven das Leben auf dem Lande in Töne übersetzte, wo doch Debussy selbst die musikalische Schilde rung der Natur keinesfalls verschmäht hat, gerade etwa in La Mer ? Um den offensicht lichen Widerspruch aufzulösen, muss man bedenken, dass Debussy, obwohl anfangs auch er der in Frankreich grassierenden Begeisterung für Richard Wagner erlegen war, sich später mit Vehemenz von dieser gelöst und seine Vorbilder anderswo gefun den hat: weit abseits der sich selbst allzu wichtig nehmenden deutsch-österreichi schen Musikgeschichte, beim urwüchsigungezügelten Russen Modest Mussorgski, bei der javanischen Gamelan-Musik und ihrer Pentatonik, in der Klarheit der fran zösischen Clavecinisten des Barock, in den Synkopen des aufkommenden Ragtime. Das jeweilige Verhältnis sowohl zu Beethoven als auch zu Wagner war zwar für die nach folgenden Komponistengenerationen in Deutschland und Österreich die zentrale Frage, an der sich alle messen lassen muss ten – für Frankreich hingegen leugnete Debussy deren Bedeutung, weil dies für ihn die Fixierung auf einen überholten ästhe

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DEBUSSY
ZUM WERK

tischen Standpunkt darstellte: «Es schien mir bewiesen, dass die Symphonie seit Beethoven überflüssig geworden war. Bei Schumann und Mendelssohn ist sie ohne hin nur eine respektvolle Wiederholung der gleichen Formen, mit bereits geringerer schöpferischer Kraft. Die Neunte war aller dings ein genialer Fingerzeig, ein gross artiges Verlangen nach Erweiterung der Formen», schrieb Claude Debussy in einem Aufsatz zur Sinfonie, um sodann den Schluss zu ziehen: «Beethovens wirkliche Lehre bedeutete also nicht die Bewahrung der alten Form, noch weniger die Verpflich tung, in die Fussstapfen seiner ersten Ver suche zu treten.»

Debussy wollte jedoch sowohl das Erbe Beethovens als auch jenes Wagners überwinden: Hatte er in seiner Oper Pel léas et Mélisande (1893–1898) noch unwei gerlich Wagner bis zu einem gewissen Grad seine Reverenz erweisen müssen, so liess er das frühere Vorbild nun ebenso hinter sich wie die Gebote der konservativen In s trumentalmusik: Schliesslich mochte er sich seine musikalische Erfindung genau so wenig von der in der Wiener Klassik entwickelten und von Brahms noch weiter getriebenen Durchführungstechnik mit ihrer motivisch-thematischen Arbeit ein schränken lassen. Mit Bedacht nannte der Komponist La Mer im Untertitel «trois esquisses symphoniques», also «drei sinfo nische Skizzen»: Skizzen, weil in dieser Musik die formalen Kriterien ebenso wie die inhaltlichen Prinzipien althergebrach ter Orchestersprache suspendiert sind; sinfonisch, weil sich die Themen dieses gross angelegten Werks doch entwickeln, in den Ecksätzen am Ende gar zu hymni scher Apotheose vereinigen. Aber ebenso wenig, wie man La Mer im technischen Sinn eine für Debussy überkommene traditio nelle Durchführungstechnik ablauschen kann, erschöpft sich das Werk klanglich in konkret deskriptiver, sozusagen natura listischer Tonmalerei: Höchst selten, am ehesten noch im scherzoartigen Mittel satz, in dem man etwa sich kräuselnde Gischt vernehmen mag, liessen sich kon krete programmmusikalische Ausdeutun gen dingfest machen.

Das reale Meer platterdings abzubil den, war jedoch gar nicht Debussys Absicht,

Claude Debussy (1862–1918) um 1905

selbst wenn dieses ihn zeitlebens gefesselt hatte. Seinem Freund André Messager, der 1902 die Uraufführung des Pelléas dirigiert hatte, vertraute er im September des da rauffolgenden Jah res brieflich an: «Sie wis sen vielleicht nicht, dass ich für die schöne Laufbahn eines Seemanns bestimmt war und nur die Zufälle des Lebens mich davon abgebracht haben. Trotzdem habe ich [dem Meer] eine wahre Leidenschaft bewahrt.» Eine Leidenschaft freilich, die keine ört liche Nähe brauchte, um inspirierend zu wirken: Ausgerechnet auf dem Land be gann er die Komposition, «in der dörfli chen Abgeschieden heit Burgunds im Som mer 1903, den er mit seiner Frau in Bichain (Département Yonne), dem Sommersitz sei ner Schwiegereltern, verbrachte» (Peter Jost). Und im erwähnten Brief an Messager gibt Debussy nicht nur die erste Fassung der Satztitel preis, sondern betont auch gewissermassen die Autonomie seiner in neren Vorstellungen und ihre Dominanz über jede blosse Deskription: «Ich arbeite an drei symphonischen Skizzen mit den

© akg-images
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CLAUDE DEBUSSYZUM WERK

Überschriften:

1. Mer belle aux îles san guinaires [Ruhige See vor den Îles Sangui naires].

2. Jeu de vagues [Spiel der Wellen].

3. Le vent fait danser la mer [Der Wind lässt das Meer tanzen] unter dem Gesamt titel La Mer. […] Nun werden Sie sagen, dass die Weinberge Burgunds nicht gerade vom Ozean umspült werden! Und dass das Ganze wohl den im Atelier gemalten Landschaf ten gleichen könnte! Aber ich habe unzäh lige Erinnerungen; das ist meiner Meinung nach besser als eine Realität, deren Charme im Allgemeinen die Gedanken zu sehr be lastet.»

Stattdessen gelang ihm in diesem Werk mit den musikalischen Äquivalenten von Farbwert und Pinselstrich eine tönende Repräsentation des Meeres – in «geheim nisvoller Übereinstimmung von Natur und Imagination», wie der Komponist den Sach verhalt selbst beschrieben hat. Diesen Un terschied zu begreifen und La Mer eben nicht daran zu messen, wie deutlich es seinen Titel als vermeintliche Programm musik einlösen könne, war freilich viel verlangt vom Publikum der nicht sonder lich erfolgreichen Uraufführung, die am 15. Oktober 1905 in Paris mit dem Orchestre Lamoureux unter Camille Chevillard statt fand. (Neben einer ungünstigen Proben situation war auch noch die öffentliche Meinung gegen Debussy eingestellt, weil er sich kurz zuvor wegen der Bankiersgattin und Sängerin Emma Bardac von seiner Frau getrennt hatte; während eines Ur laubs des neuen Paars Ende Juli 1905 in Eastbourne an der englischen Kanalküste, bald nach Emmas Scheidung, war La Mer vollendet worden.)

Es bedurfte eines feinfühligen Kolle gen wie Paul Dukas, ein zentrales Charak te ris tikum des Werks zu benennen, das längst zu den beliebtesten Kompositionen Debussys und des 20. Jahrhunderts über haupt zählt: Hier wird nicht etwa eine Geschichte erzählt, sondern eine sozusa gen nüchtern-naturwissenschaftliche, ‹ano nyme› Bestandsaufnahme der Elemente vollzogen, die «alles Anthropomorphe, alle Beziehung zu einem Sujet ausschliesst». Anders als in unzähligen See- und Sturm musiken vor und nach La Mer bleibt also der Mensch hier als bedrohtes oder die Gefah ren doch meisterndes Subjekt konsequent

ausgespart: Nicht die Auswirkungen des Meers auf uns stehen im Zentrum, sondern dessen gleichsam objektive Charakteristik.

Der 1. Satz von La Mer, «Von der Mor gendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer», beginnt «sozusagen als die Geburt der Mu sik aus dem Geiste des Klangs, ge nauer: ihrer einzelnen, nacheinander ein tretenden Elemente und Dimensionen (Ein zelton, Klangfarbe, Taktart, Motiv, Tona lität, Thema, Entwicklung, Form), und das alles ohne ‹symphonische› Kompositions technik. Die Apotheose, die als ‹springen der Punkt› in der Coda eintritt, ist eine der Musik selber.» (Dietmar Holland) Nach den leicht und locker gefügten giocosen Elementen des Mittelsatzes, «Spiel der Wel len», schlägt der letzte, «Zwiegespräch von Wind und Meer», dramatisch-ernste Töne an: Der Dialog zwischen chromatischen Wind-The men und aus dem 1. Satz über nommenen diatonischen Meeres-Themen gipfelt in einer grandiosen, geradezu mys tisch wirkenden Vereinigung der beiden Sphären.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich

La Mer, trois esquisses symphoniques pour orchestre

Flöten,

Fagotte,

Oboen, 2 Klarinetten,

Hörner,

Trompeten,

Posaunen, Tuba, Pauke, Perkussion,

Harfen, Streicher

in Bichain (Burgund)

Oktober 1905 in Paris mit dem Orchestre Lamoureux unter der Leitung von Camille Chevillard

ca. 25 Minuten

20CLAUDE DEBUSSYZUM WERK
BESETZUNG 3
3
4
4
5
3
2
ENTSTEHUNG 1903–1905
URAUFFÜHRUNG 15.
DAUER

RÜCKBLICK

Daniel Nussbaumer © Benno Hunziker 160 Schüler*innen der Gymnasien Muttenz und Liestal stellten sich mit dem Sinfonieorchester Basel am 26. August 2022 der Herausforderung, Giuseppe Verdis Requiem im Stadtcasino Basel aufzuführen. Aufführung einer Basler Rarität: Hans Hubers Oratorium Weissagung und Erfüllung im Stadtcasino Basel am 20. August 2022.
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MUSIKLAND FINNLAND

VON SIGFRIED SCHIBLI

In einem Mitschnitt aus der Londoner Royal Albert Hall von 2016 erlebt man den Solisten des heutigen Konzertabends mit einer bizarren Zugabe. Der finni sche Geiger Pekka Kuusisto kündigt ein karelisches Volkslied an. Schon das ist ungewöhnlich für einen Musiker, der im internatio nalen Konzertleben als Interpret der Meisterwerke von Beethoven, Brahms, Tschaikowski und Sibelius bekannt ist.

Kuusisto verpackt seine Zugabe in eine lau nig-lustige Moderation, in welcher er unter dem Gelächter des Publikums behauptet, Russland sei einst ein Teil Finnlands gewe sen (umgekehrt würde ein Schuh draus). Dann fasst er den Inhalt des Volksliedtextes zusammen, und der ist alles andere als po litisch korrekt, grenzt hart an Machismo

und Frauenfeindlichkeit. Dies alles aus dem Mund des Bürgers eines Staates, der den Frauenrechten und der Emanzipation schon viel früher zugeneigt war als andere Länder! Dann spielt Kuusisto endlich die Zu gabe, besser gesagt: Er singt sie, sich selbst auf der Geige begleitend, und fordert am Ende das Publikum zum Mitsingen auf. Der Saal tobt vor Begeisterung. Vielleicht ist dieser satirische, kabarettistische Zug eine persön liche Eigenart des Meistergeigers Kuusisto. Ich habe mir eine andere Erklä rung zurechtgelegt. Viele Finnen haben zur Musik aus ihrem Heimatland ein geradezu sentimentales Verhältnis – Musikliebe mit einem kräftigen Schuss Patriotismus. Und dieses Pathos könnte bei einem wachen Geist wie Pekka Kuusisto leicht zu einer demonstrativen Gegenreaktion führen. Da ich mit einer finnischen Frau verheiratet bin und schon öfter in diesem schönen Land war, habe ich die finnische Musikbegeiste rung mit eigenen Augen und Ohren erlebt. Im Sommer gibt es in vielen Kirchen und Gemeindesälen Konzerte und Musikfesti vals. Das Opernfestival in Savonlinna ist nur das berühmteste, daneben wären noch viele andere Städte und Dörfer zu nennen, die zur Sommerzeit hoch- und höchst ka rätige Musiker als Gäste haben. Dirigenten wie Vladimir Ashkenazy und Valery Ger giev hatten oder haben hier ihre eigenen Festivals, und neben der beträchtlichen Zahl heimischer Talente treten hier zahl

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ORTSGESCHICHTEN

reiche Musikstars aus Russland, aus Kon tinentaleuropa und aus Amerika auf. Es gibt Bücher über finnische Dirigenten und über das «finnische Opernwunder» (Olem me oopperamaa, Finnland – Land der Oper). Darin schreibt unter vielen anderen Ilkka Kuusisto, der Vater des Geigers, über seine ‹Mumin-Oper› und seine Oper über die le gendäre finnische Sopranistin Aino Ackté.

Chauvinismus ist nicht gerade ein schönes Wort für das, was ich dem finni schen Volk in brutaler Vereinfachung gerne zuschreiben möchte. Nennen wir es besser Enthusiasmus. Vielen Finnen ist es nicht egal, was sich in ihren Konzerten abspielt. Ganz im Gegenteil, viele nehmen regen Anteil an den Festivals mit ihrem hohen Anteil an zeitgenössischer finnischer Musik. Wenn in Savonlinna oder Helsinki eine neue finnische Oper uraufgeführt wird, ist das ein nationales Ereignis. Dann kann es gut sein, dass man von Taxifahrern oder Beerenverkäuferinnen gefragt wird, wie man die Oper fand, denn ein Teil des fin

nischen Nationalstolzes hängt an der so genannten Hochkultur.

Ich erinnere mich an meine erste Be gegnung mit meiner Schwiegermutter, einer gebildeten, aber nicht unbedingt musika lisch geschulten Frau. Kaum hatten wir uns begrüsst, überfiel sie mich mit der Frage: «Magst Du die Musik von Jean Sibelius?» Ich kam ein wenig in Verlegenheit, denn ich war damals stark von Theodor W. Adorno geprägt, und dieser hatte in einem bitter bösen Aufsatz die Musik des finnischen Nationalkomponisten Sibelius wirkungsvoll in der Luft zerrissen. Ich stotterte deshalb ein wenig herum, denn ich wollte meine Schwiegermutter in spe nicht kränken. Aber es war schon typisch, dass ich mit dieser Frage konfrontiert wurde. Können Sie sich vorstellen, dass eine Schweizer Schwieger mutter ihrem finnischen Schwiegersohn als erstes die Frage stellt, ob er Schoeck, Sutermeister oder Kelterborn mag?!

Opernfestspiele in Savonlinna, Finnland
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MUSIKLAND FINNLANDORTSGESCHICHTEN © Wikimedia Commons

DOROTHEE

im Gespräch

«DIE MUSIK IST

DAS GROSSE GANZE»

VON LEA VATERLAUS

Die bezaubernde kleine Viertelvioline ihrer Schwester bewog sie zur Ausbildung als Geigerin, und die klare Sprache der klassischen Epoche begeistert sie: Seit 1998 ist Dorothee Kappus Register-Mitglied bei den ersten Geigen im Sinfonie orchester Basel. Ein Gespräch über die Empfindlichkeit ihrer alten italienischen Geige, das Besondere am Musiker*innen-Beruf und ihre akribische Auseinan dersetzung mit Notentexten.

LV Dorothee Kappus, Du bist seit 24 Jah ren beim Sinfonieorchester Basel. Worauf kommt es im Orchester an, damit gute Musik entsteht?

DK Die Voraussetzung ist natürlich, dass alle ihr Instrument beherrschen. Während des Studiums werden Musiker*innen dazu erzogen, sich solistisch und persönlich

individuell zu entwickeln. Im Orchester kommt man plötzlich in eine neue Situa tion: Man muss sich einerseits einfügen und zurücknehmen, andererseits aber auch emotional einbringen. Die Aufgabe der Diri gent*innen ist es dann schliesslich, diese Energien so zu bündeln, dass letztlich wie aus einem Körper Musik zum Klin gen ge bracht wird. Die Musik ist das grosse Ganze und wir stehen in ihrem Dienst.

LV Weshalb bist Du Geigerin geworden? DK Ich wuchs in einem musikalischen Haushalt auf, mein Vater ist ein äusserst begabter Amateur-Bratschist, meine Mut ter unterrichtete Flöte, Geige und Klavier. Meine drei älteren Schwestern sind alle auch Berufsmusikerinnen geworden. Bei uns war den ganzen Tag lang ein unheim licher Krach zu Hause. (lacht) Irgendwann sah ich die kleine, entzückende Viertelgeige meiner älteren Schwester, und da blieb mir fast nichts anderes übrig, als auch Geige zu lernen. Ich studierte erst in Basel, und machte dann mein Konzertexamen in Frei burg im Breisgau. Nach ein paar Jahren als freischaffende Musikerin bekam ich in

«Bei uns war den ganzen Tag lang ein un heimlicher Krach zu Hause.»
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KAPPUS
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© Pia Clodi Peaches & Mint
25DOROTHEE KAPPUSVORGESTELLT
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einem Nachstudium in Bern den ‹letzten Schliff›, bevor ich zum Sinfonieorchester Basel kam. Im nächsten Leben würde ich mich sehr wahrscheinlich für die Panto mime entscheiden – vielleicht, weil ich immer von (zu) viel Lärm umgeben war und je älter ich werde den Ausdruck in der Stille suche.

LV Was zeichnet Deinen Beruf aus?

DK Ich finde, wir Musiker haben einen sehr speziellen Beruf. Ein Notentext ist eigentlich tote Materie. Nur der Musiker kann diese zum Leben erwecken, indem er den Text in seiner momentanen Verfas sung interpretiert. Dieses Einmalige und Flüchtige fasziniert mich immer aufs Neue. Ich fühle mich manchmal durchaus ‹aus serirdisch›, auch in Gesprächen mit mei nem Freund, der in einem ganz anderen Arbeitsfeld, der Sicherheitspolitik, tätig ist: Knall harte Realität und meist schwer fällige Prozesse. Wir haben aber auch schon herausgefunden, dass ein Orchester und eine Armee durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen. (lacht)

LV Deine Schwester Annemarie spielt auch beim Sinfonieorchester Basel. Gibt es da manchmal Schwierigkei ten?

DK Bei Geschwistern, die im selben Or chester im gleichen Register dasselbe Ins trument spielen, bleibt es nicht ganz kon fliktfrei und man wünscht sich die andere manchmal weit weg. Es gibt aber auch die tollen Aspekte: Bei der Beurteilung von Solist*innen oder Dirigent*innen fühlen wir beispielsweise meistens genau dasselbe. Und wenn wir Kammermusik machen, müs sen wir über viele Dinge gar nicht disku tieren, wir verstehen uns blind. Wir sind sehr unterschiedlich und uns trotzdem nahe. Wir kommen aus demselben ‹Stall›.

LV Gibt es ein Werk, das Dich besonders berührt?

DK Beim Saisonabschlusskonzert ‹Auf bruch› im vergangenen Juni stand Gustav Mahlers 1. Sinfonie auf dem Programm. Das Werk ist eine meiner absoluten Lieb lingssinfonien, und ich sagte unserem Dis ponenten bereits Anfang Saison, dass ich dieses Konzert spielen möchte, auch um sonst. Die Sinfonie liegt sowohl technisch als auch musikalisch einfach gut, und man hat die Möglichkeit, sich im Orchester um zuhören und sich auf andere Stimmen ein zulassen. Diese Sinfonie beschreibt das Leben in allen Facetten – vom Triumph zum totalen Absturz. Man muss kein Mu sik-Experte sein, um dieses unmittelbare und riesige Gefühlsspektrum zu verstehen. Nach dem Konzert traf ich Leute, die Trä nen in den Augen hatten. Das war ein wun derschönes ganzheitliches Ereignis.

LV In welcher Musikepoche fühlst Du Dich zu Hause?

DK Ich liebe Mahler, Brahms, Puccini und Verdi, würde mich aber gar nicht als Roman tikerin bezeichnen. Im Studium habe ich mich stark mit den Klassikern wie Mozart und Beethoven beschäftigt und so gemerkt, dass diese klare Sprache meinem Wesen am meisten entspricht. Obwohl Beethoven durchaus romantische Ansätze hatte und ihr Wegbereiter war.

© Pia Clodi / Peaches & Mint
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LV Wie bereitest Du Dich auf Proben und Konzerte vor?

DK Ich bin sehr streng mit mir, wenn ich einen Notentext lerne. Ich möchte wirklich verstehen, was der Komponist oder die Komponistin will. Nebst den Noten gibt es ja auch immer viele Anmerkungen. Diese genaustmöglich umzusetzen, ist mir wich tig. Man möchte dem Werk ja so gut es geht gerecht werden. Daneben übe ich fast täg lich. Ich bereite mich zu Hause gut vor, so dass es in den Proben nur noch um den Feinschliff geht.

LV Was für ein Instrument besitzt Du?

DK Ich besitze eine alte italienische Vio line, die zwischen 1790 und 1800 gebaut wurde und aus der neapolitanischen Geigen bauerfamilie Vinacci stammt. Diese Instru mente sind sehr sensibel und reagieren stark auf Klimaveränderungen, vor allem was die Luftfeuchtigkeit anbelangt. Ich habe für den Stimmstock meines Instru ments – ein Holzstück, das die Schwingun gen von der Decke auf den Boden der Geige überträgt – eine Winter- und eine Som mereinstellung. Wenn die Heizperiode be ginnt, verschiebt meine Geigenbauerin den Stimmstock um einen halben Millimeter. Wenn das Instrument nicht gut klingt, sollte man sich aber auch hinterfragen, ob man es nicht selbst ist, der unzufrieden mit sich und seinem Spiel ist.

Links und rechts auf der Seite gab es ver schiedene Notensysteme, Zeichen für Fla geoletts und die Verwendung von Dämp fern und alle möglichen weiteren Angaben. Für mich war es damals eine riesige organi satorische Herausforderung, diese Partitur zu erfassen und zu wissen, wann ich zu blät tern hatte und wo ich spielen musste. Da realisierte ich: Das ist mein Einstieg in die Orchestermusik. (lacht)

Ich finde es notwendig und gut, dass zeitgenössische Musik in den Konzertsälen dieser Welt einen festen Platz hat. Herr Hillborg ist ja diese Saison ‹Composer in Residence› beim Sinfonieorchester Basel.

Somit hat man die Möglichkeit, mehrere seiner Werke zu spielen oder zu hören. Dies finde ich spannend und begrüssenswert.

LV Dorothee Kappus, vielen Dank für das Gespräch!

LV In diesem Konzert werden neben Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Romantik Ti tan, seinem Violinkonzert, auch Wer ke von Claude Debussy und Anders Hillborg gespielt. Ein Programm, das Dir gefällt?

DK Debussys La Mer spielte ich im Alter von 17 Jahren zum ersten Mal mit der Basler Sinfonietta. Ich weiss noch, dass ich diese Partitur so unfassbar kompliziert fand:

«Ich finde es notwendig und gut, dass zeitge nössische Musik in den Konzertsälen dieser Welt einen festen Platz hat.»
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CWIE CHORAL

VON BENJAMIN HERZOG

Für gewöhnlich vermag der Mensch zu un terscheiden zwischen Wichtigem und Un wichtigem. Es wäre ja auch unpraktisch, wenn uns alles, was uns in unserer Umwelt begegnet, völlig gleich bedeutend vorkäme. Wir sähen bloss, dass die Dinge einander glichen wie ein Ei dem anderen. In der Zei tung müssten wir jeden Artikel lesen. Auch die Anzeigen, die Lösung vom Kreuzwort rätsel der Vorwoche und den Sport.

Auch aus musikalischer Perspektive ist das mit dem Wichtigen und Unwichti gen von Bedeutung. Melodie und Begleit stimme, Solo und Tutti, Thematisches und Überleitungen. Das sind (wichtige) Katego rien. Eine Lehrerin am Konservatorium be hauptete einmal, Mozarts Musik sei wie ein perfektes Mobile. Alle Teile schwebten da rin in völliger Ausgeglichenheit. Würde man hier nur eine Note wegnehmen, so die se Mozart-Verehrerin, käme das Ganze in musikalische Schräglage. Vielleicht hatte sie recht. Aber gilt das für jede Musik? Wie viel Graue Energie steckt zum Beispiel in einem spätromantischen Sinfoniebrocken? Ist da jedes Teilchen tatsächlich gleich wich tig? Hören Sie nur mal die Fünfte von Bruck ner. Das hundertköpfige Orchester spielt. Wir biegen in die Schlusskurve des letzten Satzes ein. Hinten bringen sich die Blech bläser in Stellung, Hörner, Posaunen, Trom peten, und setzen zum alles überstrahlen den Choral an. Da ist dann klar, wo Gott

hockt. Mögen die Streicher, Flöten, Klari netten noch so sehr figurale Fülle dazu geben, sie und viele andere sind kaum mehr als auratischer Glanz. Ein Hintergrundflim mern in Sechzehntel noten.

Und genau darauf liess es Bruckner, auch in anderen Sinfonien, ankommen. Auf diesen Fokus, dieses Scheinwerferlicht auf ein paar wenige Noten, die mit vollem Ge wicht einer Sinfonie den Stempel aufdrü cken. Der Musikwissenschaftler Dietmar Holland hörte in Bruckners Fünften eine «Steigerung der Gesamtentwicklung bis zum absoluten Höhepunkt am Schluss des Finales, wo sich gleichsam der Himmel öffnet». Wo man ja bekanntlich die letzten Dinge sieht.

Allerdings: Einen Choral im ursprüng lichen Sinne zeigt uns Bruckner hier gar nicht. Choral leitet sich ab von Lateinisch ‹choralis›, also chorisch, zum Chordienst gehörend. So weiss es das Lexikon und ver weist auf die seit dem Mittelalter geläufige Praxis, in der Kirche ein- oder mehrstim mig im Chor zu singen. War diese ehren volle Aufgabe anfänglich nur ausgebildeten Sängern vorbehalten, so durften nach der Reformation auch Krethi und Plethi aus der Kirchbank mitsingen. Die Melodien des reformierten Gottesdienstes waren eingän gig und allbekannt durch Sammlungen wie Martin Luthers Wittenberger Gemeinde gesangbuch. «Die Musik vertreibt den Teufel und macht die Leute fröhlich», sagte Luther.

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LEXIKON DES ORCHESTERS

Er meinte damit jedoch nicht die Instrumen talmusik, sondern den Gesang.

In Bachs Passionen hat sich für uns, das Konzertpublikum, diese Choralpraxis erhalten. Meine Tante zerknüllte regelmäs sig Taschentücher, wenn sie in der Mat thäus-Passion «Wenn ich einmal soll schei den» sangen. Über Bachs Passionen ist dieser ‹Choral-Effekt› in die Sinfonik gewan dert. Felix Mendelssohn Bartholdy machte – in seiner 2. Sinfonie etwa – Gebrauch davon. Sie ist eine ‹Choral-Sinfonie› gleich im doppelten Sinne. Erst intonieren die Posaunen zu Beginn mottoartig die Psalm melodie «Alles, was Odem hat, lobet den Herrn». Am Schluss singt dann ein Chor denselben Psalm. Der Bogen zum Sinfo niebeginn ist geschlagen, die Aussage fest genagelt. Den Typus Sinfonie mit Chor hat Mendelssohn natürlich bei Beethoven ab gekupfert. Und er ist damit nicht alleine. Erhalten hat er sich über Mahler hinaus bis zu Komponisten wie Ralph Vaughan Williams (A Sea Symphony) oder Dmitri Schostakowitsch (13. Sinfonie, Babi Jar ).

Das Deutsche verwendet für solche Sinfonien mit Chor den Begriff Chorsin fonie . Die Engländer sprechen von einer ‹choral symphony›, was aber nicht bedeutet, dass ein Choral, ob erfunden oder zitiert, darin vorkommen muss. Oft finden wir Misch formen. In Gustav Mahlers Auferste hungssinfonie steht auch der Chor zum Schluss wieder auf, das Blech legt choral

artig nach, und die Glocken bimmeln über dies dazu. Das ist eine Predigt, sapperlot, und dem lauschenden Volk schallert die Melodie noch lange nach. Auch Brahms und natürlich Beethoven griffen auf das Modell ‹Gemeindegesang› zurück, um ihren Sinfonien den erwünschten Nachdruck zu verleihen.

Böse Zungen behaupten, solche Cho ralschlüsse dienten einzig dazu, dem Publi kum nach einer Stunde sinfonischer Kraft anstrengung die Gewissheit zu geben, dass nun endlich alles gut sei. Und das im Wort sinne: alles. So schreibt ein Bernhard Scheyrer in seiner Nutzlichen Underwei sung 1663: «Dahero wird das Choralgesang genennet ein stetes Gesang, weil in dem Choral ain Noten soviel giltet als die an der». Alles ist also gleich wichtig, so ein fach ist das.

→ Das nächste Mal: D wie Dienst
29
C WIE CHORALLEXIKON DES ORCHESTERS

BROKEN MARRIAGES

The two main compositions on our musi cians’ stands this month both belong to the canon of western classical music, but stem from different cultural backgrounds. What they have in common is that they were conceived while the marriages of their composers, Tchaikovsky and Debussy, were under a great deal of pressure. Does this shine through in the music?

When he started composing his violin concerto in 1878, Pyotr Ilyich Tchaikovsky (1840–1893) was staying in Clarens, Switzer land, on the shores of Lake Geneva, to re cover from a depression. His nervous break down was caused by the sheer hopelessness of his marriage to Antonina Miliukova, one of his students, whom he had wedded only a year before as a barely disguised coverup for his homosexuality. While in Clarens, Tchaikovsky developed a relationship with the violinist Iosif Kotek, a student of the famous Joseph Joachim and of Tchai kovsky himself. The question is whether the tur bulence in his life, leaving behind his wife (never to return to her) and spending time with his beau, found its way into his violin concerto. There is no written source that either confirms or rejects the idea unequi vocally, but it is tempting to hear all the associated emotions in the concerto, from the profound depths of depression to the elated joy of love, to the calm resignation to one’s fate. The more straightforward the ory is that the concerto was inspired by Lalo’s Symphonie Espagnole (most audible in the first movement), a version for violin and piano of which the lovers had appar ently been playing during Kotek’s visit. Either way, after a difficult reception it went on to become one of the icons of the violin repertoire.

Claude Debussy (1862–1918) had de camped to his family-in-law in Burgundy

in 1903, when he started work on La Mer, three symphonic sketches for orchestra . Less than a year later, in 1904, while still working on the piece, his marriage to Marie-Rose Texier started to unravel. In the sum mer of that year he left her for good, immedi ately after which he travelled with his new ‘ amante’, Emma Bardac, to the island of Jer sey and the Normandian seaside resort of Pourville. On 30 October 1905, fif teen days after La Mer’s premiere in Paris, their daughter Claude-Emma was born out of wedlock.

Just like Tchaikovsky’s violin concerto, La Mer was conceived against an emotional backdrop as choppy and tempestuous as the sea itself. Although one might expect this to be reflected in the composition, re ceived opinion is that the composition is more indebted to the visual arts, in par ticular works by the sea painters William Turner and James Whistler and the Japa nese painter and illustrator Hokusai. Whilst the form and harmonic lan guage of Tchaikovsky’s composition are still rather conventional, Debussy’s La Mer is ahead of its time. “Changes of meter and tempo, the elliptical way in which motives are presented, the constant ambiguity, the unexpected dynamic explosions and the new ways of using the orchestra,” as a French musicologist described the piece, left the audience disoriented. But over time, pro fessionals and amateurs alike came to ap preciate the work for what it is: a master piece full of colour, elasticity and energy.

As diverse as the two works are, pair ing La Mer with Tchaikovsky’s violin con certo makes for a happy marriage, at least for one evening.

IN ENGLISH 30

MUSIK VERBINDET –FREUNDSCHAFT AUCH

Der Freundeskreis ist eine engagierte Gemein schaft, die Freude an klassischer Musik sowie eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Sinfonie orchester Basel verbindet.

Wir unterstützen die Arbeit der Musiker* innen des Sinfonieorchesters Basel mit konkreten Projekten und finanziellen Bei trägen. Darüber hinaus tragen wir dazu bei, in der Stadt und der Region Basel eine positive Atmosphäre und Grundgestimmt heit für das Sinfonieorchester Basel und das kulturelle Leben zu schaffen. Unser Verein bietet seinen Mitgliedern ein reich haltiges Programm an exklusiven Anlässen mit dem Sinfonieorchester Basel sowie über ausgewählte Veranstaltungsformate exklusive Möglich keiten des direkten Kon takts zu Musiker*innen. Wir fördern das gemeinschaftliche musikalische Erleben sowie den Austausch unter unseren Mit gliedern.

Nehmen Sie direkt Kontakt mit uns auf: freundeskreis@sinfonieorchesterbasel.ch oder besuchen Sie unsere Website www.sinfonieorchesterbasel.ch/freundeskreis

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VEREIN ‹ FREUNDESKREIS SINFONIEORCHESTER BASEL ›
31 © Benno Hunziker

KLASSIK MEETS POP & ROCK

CONCERT LOUNGE

Freitag, 21. Oktober 2022, 20 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal

Werke von Anders Hillborg, Claude Debussy, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Joaquín Rodrigo, Sam Himself, Michael Künstle und Hauschka

Im ‹Concert Lounge›-Konzert dieser Saison trifft das Sinfonieorchester Basel auf den Schweizer Musiker Sam Koechlin. Der Bas ler, der unter dem Namen Sam Himself seit über zehn Jahren in seiner Wahlheimat New York lebt, beschreibt seinen Musikstil schmunzelnd als «Fondue-Western», da er einerseits seine Liebe zur amerikanischen Musik wie der von Bruce Springsteen und andererseits seine schweizerische Seite, von der sein Sound ebenfalls geprägt ist, vereint. Ebenfalls zu Gast ist der deutsche Komponist und Pianist Volker Bertelmann, der unter seinem Künstlernamen Hausch ka bereits Kompositionen für Solist*innen wie den Mandolinisten Avi Avital und den Cellisten Nicolas Altstaedt sowie für En sembles und Orchester geschrieben hat. Seine Filmmusik zu Garth Davis’ Oscarnominierten Film Lion, die er gemeinsam mit Dustin O’ Halloran komponiert hatte, wurde mit einem AACTA Award ausgezeich net und 2017 für einen Academy Award, Golden Globe und BAFTA nominiert.

Ausserdem in der ‹Concert Lounge› dabei: der finnische Geiger Pekka Kuusisto, ‹Artist in Residence› beim Sinfonieor chester Basel, und der Gitarrist Stephan Schmidt, Direktor der Hochschule für Mu sik FHNW. Die Leitung haben Michael Künstle (für Sam Himself) und Aziz Shok ha kimov, der bereits in der letzten Saison beim Sinfonieorchester Basel zu erleben war und in dieser Saison das Sinfoniekon zert ‹La Mer› dirigieren wird.

Sinfonieorchester Basel Sam Himself, Gesang & Band Hauschka, Präpariertes Klavier Pekka Kuusisto, Violine Stephan Schmidt, Gitarre Michael Künstle, Leitung Sam Himself Aziz Shokhakimov, Leitung

33IM FOKUS
INFORMATIONEN UND TICKETS www.sinfonieorchesterbasel.ch

CONCERT LOUNGE

KLASSIK MEETS POP & ROCK

Sinfonieorchester Basel, Sam Himself, Stadtcasino Basel, Musiksaal Hauschka, Pekka Kuusisto, Stephan Schmidt, Michael Künstle, Aziz Shokhakimov

Fr, 21. Oktober 2022, 20 Uhr

GASTSPIEL IN LÖRRACH

So, 23. Oktober 2022, 18 Uhr

Sinfonieorchester Basel, Burghof Lörrach Stephan Schmidt, Aziz Shokhakimov

OPERNPREMIERE

LADY IN THE DARK

Sinfonieorchester Basel, Martin G. Berger, Theater Basel Sänger*innen und Chor des Theater Basel, Thomas Wise

Sa, 29. Oktober 2022, 19.30 Uhr

BALLETTPREMIERE

GISELLE

Sinfonieorchester Basel, Pontus Lindberg, Theater Basel Tänzer*innen des Theater Basel, Benjamin Pope / Thomas Herzog

Fr, 4. November 2022, 19.30 Uhr

KAMMERMUSIK

ATRIUMKONZERT

Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel Probezentrum Picassoplatz

Sa, 5. November 2022, 16 Uhr

VORVERKAUF (falls nicht anders angegeben): Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel Aeschenvorstadt 2, 4051 Basel

+41 (0)61 206 99 96

ticket@biderundtanner.ch www.biderundtanner.ch

IMPRESSUM

Sinfonieorchester Basel

Picassoplatz 2 4052 Basel

+41 (0)61 205 00 95

info@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch

Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 60

info@stadtcasino-basel.ch

Detaillierte Informationen und Online-Verkauf: www.sinfonieorchesterbasel.ch

Orchesterdirektor: Franziskus Theurillat Künstlerischer Direktor: Hans-Georg Hofmann Redaktion Programm-Magazin: Lea Vaterlaus & Elisa Bonomi

Korrektorat: Ulrich Hechtfischer Gestaltung: Atelier Nord, Basel Druck: Steudler Press AG Auflage: 4900 Exemplare

34DEMNÄCHST

auch.

Beispiel ins Kleinbasel.

SPALENBERG 26 ST.JOHANNS-VORSTADT 47 BASLERLECKERLY.CH Wir exportieren
Zum

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