Strassenmagazin Nr. 477 12. bis 25. Juni 2020
CHF 6.–
davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden
Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass
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Invalidenversicherung
Plötzlich gesund
Harter Vorwurf: Wer Pech hat, fliegt raus. Wie fair ist die IV? Seite 12 Surprise 477/20
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BETEILIGTE CAFÉS
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT, Elsässerstr. 43 BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 Les Gareçons, Badischer Bahnhof | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 Café Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 IN BERN Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 Café MondiaL, Eymattstr. 2b | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartier gasse 17 | Rest. Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 Becanto, Bethlehemstr. 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG feines Kleines, Rathaus gasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Quai4Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschen graben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher und Musikbörse, EmilFreyStr. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Buuremärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OLTEN Bioland Olten, Tannwaldstr. 44 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN KammgarnBeiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
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Kultur Kultur
Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste
STRASSENSTRASSENCHOR CHOR
CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE
Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke
BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG
Unterstützung Unterstützung
Job Job
STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information
SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT
ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten
STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL
Erlebnis Erlebnis
Expertenrolle Expertenrolle
SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
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TITELILLUSTRATION: MARIA REHLI
Editorial
Grenzen der Autonomie Manchmal ist es das Geld, das fehlt, manchmal ist es eine Sucht, manchmal sind es die Mühlen der Behörden oder das Sozialamt: In unseren Beiträgen und Reportagen geht es immer wieder um Menschen, die in Abhängigkeiten geraten – oft ohne ihr eigenes Zutun – und sehr darunter leiden. Denn Abhängigkeit erzeugt Scham, man hat das Gefühl, der Willkür ausgesetzt zu sein, im schlimmsten Fall wird man sich selbst entfremdet, man weiss nicht mehr, wer man ist oder wo man hingehört. Das Gegenteil von Abhängigkeit ist Selbstbestimmung – ein wahrlich hohes Gut. Wer will sich schon immer dreinreden lassen, wer will immer fragen müssen, was er darf und was nicht, wer will schon, dass ihr jede Entscheidung abgenommen wird? Dabei hat Autonomie nichts mit Egotrip zu tun. Wir alle wissen, dass wir nicht ohne die anderen sein können (und wollen). Und dass wir immer wieder an Grenzen stossen, die unseren Wünschen und unserem Willen gesetzt 4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
Missglückte Firmenrettung
6 Verkäuferkolumne
Mittendrin
7 Auf Reisen
Basel
8 Alkohol
Sucht im Alter
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12 System IV – Teil 1
Wie willkürlich ist unsere IV?
18 Pressefreiheit
Ein ägyptisches Online-Magazin wehrt sich
22 Kunst
Touch Me, I’m Sick
werden. Dann machen wir eben Kompromisse und versuchen zu kooperieren. Doch genau hier liegt ein wichtiger Unterschied: zwischen Abhängigkeit und der Tatsache, dass wir uns aufeinander abstimmen müssen. Im ersten, aber nicht im zweiten Fall geben wir unsere Autonomie auf. In diesem Heft geht es um Grenzen der Selbstbestimmung: um ältere Männer und Frauen, die vereinsamen, die darob zur Flasche greifen und durch die Sucht ein Stück weit ihre Autonomie einbüssen; oder um Kranke, die ins Räderwerk der IV geraten und die Entscheide der Behörde als Willkür empfinden. Doch es geht auch darum, wie Menschen darum kämpfen, ihre Autonomie wiederzuerlangen – und wie andere ihnen dabei helfen, ohne sie abhängig zu machen. KL AUS PETRUS
Redaktor
24 Musik
Ghostpoet
25 Buch
Brief an die Menschheit
26 Veranstaltungen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt
«Ich habe mir alles von der Seele geschrieben»
27 Tour de Suisse
Pörtner in Horgen
28 SurPlus Positive Firmen
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Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Zurück auf die Strasse Nicht nur Surprise, auch andere Strassenzeitungen weltweit beschäftigte die Frage, wann und wie der Strassenverkauf wieder aufgenommen werden kann. The Big Issue aus Grossbritannien kann noch nicht wieder zurück auf die Strasse (Stand Ende Mai). Dafür hat Redaktor Liam Geraghty sich bei den Kolleginnen und Kollegen weltweit umgehört, wie es anderswo aussieht.
«Unsere grösste Angst war, dass die Verkaufenden ihre Unterkünfte wieder verlieren würden, die sie sich mit dem Verkauf der Zeitschrift erwirtschaftet hatten.» NotaBene, Slowakei
«Die meisten unserer Verkaufenden haben sich Sorgen über den Verlust ihrer Einkünfte gemacht. Sie sind durchaus bereit, Schutzkleidung zu tragen und wollen der Öffentlichkeit helfen, sich sicher fühlen zu können.» Street Speech, Ohio, USA
«Natürlich gibt es noch Bedenken, aber unsere Verkaufenden haben den Wunsch geäussert, mit der Zeitung wieder auf die Strasse zu gehen. Wir wollen ihr Recht auf Selbstbestimmung respektieren.»
«Wir gründeten einen Hilfsfonds, der rund 4500 Franken eingebracht hat; dieses Geld verteilen wir nun an unsere Verkaufenden.» The Big Issue, Südafrika
Asphalt, Hannover 4
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
«Die Verkaufenden bieten das Magazin mit einem kleinen Blumenstrauss an, um wieder eine Brücke zu den Kunden zu bauen.» The Big Issue Korea, Südkorea
Vor Gericht
Missglückte Firmenrettung
«Die Verkäufe sind stark zurückgegangen, dafür haben fast 10 000 Menschen unser ‹Corona-NotfallDreimonatsabonnement› abgeschlossen. Das entspricht fast der Hälfte unseres durchschnittlichen Jahresumsatzes.» The Big Issue Japan Surprise 477/20
Gross war die Euphorie 2016 über die Freigabe von CBD-Hanf, Cannabis mit einem THC-Gehalt von unter einem Prozent. Anders als Drogenhanf wirkt CBD nicht berauschend, sondern beruhigend. Klinisch bewiesen ist es nicht, aber die Substanz soll bei Depressionen, Epilepsie und gar Krebs helfen. Mit deren Legalisierung setzten nicht nur viele Kranke, sondern auch geschäftstüchtige Unternehmende auf das Rundum-Heilmittel: Ende 2017 hatten sich schon fast 500 Hersteller beim Bund registrieren lassen. Heute sind es 700. Einer von ihnen sitzt nun im Zürcher Bezirksgericht und wartet auf sein Urteil wegen Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz. Seine Geschichte steht für die weniger freudige Fortsetzung des CBD-Booms. Als der Beschuldigte vor vier Jahren seine Cannabis-Firma gegründet und eine mittelgrosse Indoor-Anlage aufgebaut hatte, bekam er noch 2500 Franken pro Kilo. Der Einzelrichterin hat er geschildert, wie in der allgemeinen Goldgräberstimmung der Markt bald übersättigt war: «Zu viele setzten auf dasselbe Ross.» Die Folge: ein dramatischer Preiszerfall. Ende 2018, sagt er, war der Kilopreis teilweise bis auf 800 Franken gesunken – bei Anbaukosten von durchschnittlich 1400 Franken je Kilo. Seine Firma geriet in ernsthafte Schieflage. Um einen Konkurs abzuwenden und die Anlage fit zu machen für den Verkauf – er wollte aussteigen –, tat er das Naheliegende: «Scharfes anbauen», wie er sich ausdrückt. Also den verbotenen Drogenhanf, mit dem
auf dem Schwarzmarkt noch immer viel Geld zu holen ist. Es tue ihm leid, hat er im Gerichtssaal gesagt. Er habe sich nicht bereichern wollen. Nur seine Firma retten. Es gibt, sinniert er im Wartezimmer, drei Gründe, warum illegale Grows auffliegen: Wasserschäden, der Geruch – oder man wird verpfiffen. In seinem Fall habe sein früherer CBD-Stecklingslieferant der Polizei den Tipp gegeben. Es könne kein Zufall sein, dass seine Anlage just vor der Ernte ausgehoben wurde. Exakt 1536 Pflanzen stellten die Beamtinnen sicher. In der Anklageschrift geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass der Beschuldigte rund 48 Kilo hätte ernten können. Was ihm bei einem durchschnittlichen Grosshandelspreis von 5000 Franken einen Umsatz von rund einer Viertelmillion beschert hätte. Womit seine finanziellen Probleme gelöst gewesen wären. Stattdessen hat er nun alles verloren. Das Geld, die Firma, die Anlage. Während der Verhandlung hat er die Richterin wehmütig um die Herausgabe der Polizeifotos gebeten. Die Beweise für seine Tat, aber auch für seine Anbaukunst. Das ginge leider nicht, meint sie, aber er könne sie gerne nochmals ansehen, und legt sie vor ihm auf den Tisch. Er blättert sie durch. Die Bilder der Pflanzen, die ihm nun eine bedingte Freiheitsstrafe von zehn Monaten einbringen. In der Urteilseröffnung spricht die Richterin von einer «hochprofessionellen, nicht mehr kleinen» Anlage. Sie mahnt, es hätte doch legale Mittel gegeben, die Firma zu sanieren. Aber sie hält dem ehemaligen CBD-Produzenten zugute, dass er die Untersuchung leicht gemacht habe. Sie sei sich sicher, sagt sie ihm zum Abschied, dass sie ihn hier nie wiedersehen werde.
Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich. 5
Verkäuferkolumne
Mittendrin
URS HABEGGER, 64, Schriftsetzer, Reprofotograf, Lehrlingsausbilderdiplom, Wirte-Fachschule absolviert, Bademeister. Lebt seit 12 Jahren ausschliesslich vom Surprise-Verkauf in der Bahnhofunterführung in Rapperswil (SG) und wurde hier herzlich aufgenommen.
Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
ILLUSTRATION: DIMITRI GRÜNIG
Christine schenkt mir wie jeden Morgen ihr volles Lachen. Dani, IT-Spezialist, multisportiv, kurzer Händedruck. Valentina, 4.-Klässlerin, Rudolf-Steiner-Schülerin, hat eine tolle Stimme, ich hoffe sehr, sie macht etwas aus ihrem Talent. Edith, Atelier-Chefin in Sachen Brautkleider, wie immer chic gekleidet und guter Laune. Franz, habe ich mal den Morelli, gibt er mir Zuspruch. Dario, Kantischüler, wie beinahe jeden Morgen erwischt er seinen Zug nach Wattwil in schier letzter Sekunde, keine Ahnung, wie er das macht, er muss über einen siebten Sinn verfügen, Gemütsmensch. Guido, pensionierter Zahnarzt, Golfer, Weinkenner, Kunstliebhaber, Hundehalter, ein herzensguter Mensch. Giles, Anlageberater, eisenhart, noch im fortgeschrittenen Alter hat er mehrmals den Swiss-Alpin-Marathon bestritten und jedes Mal beendet. Gabriela, bringt mir einen Kaffee, kämpft seit vielen Jahren gegen Krebs, beklagt sich nie. Lukas, 3.-Klässler, ein Träumer, ist wieder zu spät dran, ich mache ihm Dampf. Markus, sein Gesicht hat frappante Ähnlichkeit mit Emil. Myriel, Kleinkindbetreuerin, bastelt und arbeitet mit verschiedenen Ma-
terialien. Ruth, lacht, ist auf dem Weg zu ihren beiden Enkelinnen, hat Hütedienst. Astrid, nach einem unglücklichen Abstecher in die Selbständigkeit fasst sie wieder Fuss. Eli, Deutscher, er, seine Frau, seine beiden Töchter, die ganze Familie ein Musterbeispiel der Integration, sie haben hier ihr Glück gefunden. Dani, erfolgreicher Jungunternehmer in der grafischen Branche. Martin, schon oft haben wir herzhaft zusammen gelacht. Albert, hat seine allmorgendliche Runde beendet, ist auf dem Heimweg, geht mühsam am Rollator, irreparabler Rückenschaden, hat oft grosse Schmerzen, trotzdem immer mit einem Scherz auf den Lippen. Claudia, engagiert sich im Asylwesen, ist mit einer eritreischen Familie unterwegs. Menschen und das pulsierende Leben. So vielfältig und bunt wie ein Kaleidoskop. Ich bin privilegiert, denn ich stehe mittendrin.
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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT
heisst: Menschen, denen das Geld fehlt, können dort gratis einen Kaffee bestellen, den jemand anders zuvor gespendet hat. Die Betreiber sind tolle, soziale Leute.
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Ein kostenloser Ort in Basel Ich finde die Quartierflohmärkte schön. Die gibt es von Frühling bis Herbst jeweils samstags oder sonntags. Privatpersonen verkaufen in ihren Hinterhöfen Sachen aus ihrer eigenen Wohnung oder ihrem Keller. Hier kann man stundenlang stöbern und sieht dabei Hinterhöfe, die man sonst nie zu Gesicht bekommen würde. Die Flohmärkte findet man online: www.quartierflohmibasel.ch
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Was nur Einheimische kennen Der Andreasplatz ist ein kleiner Platz mitten in der Stadt mit dem Flair eines Hinterhofs, mit einem Café mitten in den Altstadt-Wohnhäusern. Schön ist auch ein anderer kleiner Platz mit Bäumen und Bänken beim Musikinstrumentenmuseum, auch mitten in der Altstadt. Dann gibt es das Bollwerk: bei der Heuwaage die Treppe hinauf, da gibt’s einen Getränke- und Glacéwagen und viele kleine Nischen der Stadtmauer entlang mit Tischen und Stühlen. Es ist dort sehr ruhig, und man kann trotzdem Leute beobachten.
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Auf Reisen
FOTO: KLAUS PETRUS
Basel, Schweiz Unsere Reiseleiterin Danica Graf lebt in Basel. Sie arbeitet als Stadtführerin bei Surprise und verkauft das Strassenmagazin. Sie hat eine Weiterbildung als sogenannte Peer gemacht, um Menschen in der Krise ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen Erschütterungen weiterzugeben. Als sie keine Stelle fand, begann sie mit dem Heftverkauf.
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An Basel finde ich toll … dass hier sehr viele verschiedene Kulturen zusammenleben, vor allem im Kleinbasel. Ich finde das auch deshalb so spannend, weil ich als Stadtführerin mit vielen Leuten ins Gespräch komme, ich lerne andere Leute kennen, die in Armut leben, Sexarbeiterinnen und obdachlose Surprise 477/20
Menschen. Früher ging ich zu vielen dieser Menschen auf Abstand. Heute freue ich mich, wenn ich mehr über ihr Leben erfahre: Wie rutscht man in die Sexarbeit? Weshalb kommt jemand ins Gefängnis? Ich erlebe die Stadt als Sammlung von sehr vielfältigen persönlichen Geschichten.
Wann Basel am schönsten ist Im Frühling. Dann blüht alles, und es sind nicht so viele Touristen hier wie im Sommer. Man spürt im Frühling das Stadtleben am besten.
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Mein Lieblingsstadtteil Das St. Alban-Tal mit dem St. AlbanTor, das ein ehemaliges Stadttor ist, und der Papiermühle, die ein kleines Museum hat. Ich gehe da oft von der Nachbargemeinde Birsfelden her zu Fuss durch, alles dem Rhein entlang. Es gibt da eine schöne Allee.
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Mein Lieblingscafé Ich habe zwei: die Oetlinger Buvette am Rhein, die von April bis Oktober geöffnet ist, und das Café Flore im Kleinbasel. Beide sind «Café Surprise», das
Aufgezeichnet von Diana Frei Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel surprise.ngo
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Ein Gläschen in Ehren Alkohol Seit der Rentner Hans-Peter Koller zur Flasche greift, führt er ein Leben, in dem er sich immer fremder fühlt. TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS
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Das Leben von Hans-Peter Koller* ist in einem Abschnitt erzählt. Geboren 1951 in Toffen im Berner Mittelland, Schule in Thun, bis Mitte zwanzig auf dem elterlichen Bauernhof, dann neun Jahre als Fahrer in einem Transportunternehmen, die nächsten drei Jahrzehnte Lagerist bei der Post, ehemals PTT. 2015 in den Ruhestand. Seit 1973 verheiratet mit Hildegard Koller, geborene Schmitz, aus Augsburg. Zwei Töchter, ein Sohn (Jahrgang 1989, ein Nachzügler), zwei Enkel, der eine ein ganz Wilder. War früher im Schiessverein und bei den Wandervögeln. Fuhr sein Leben lang VW, hat heute ein GA, das er selten braucht. War nie in einer Partei, findet den Blocher einen Löli, ist reformiert und geht manchmal in den Gottesdienst. Macht den Rasen und schneidet die Hecke der Iselis von gegenüber. Isst gern Fleischiges. Trägt fast immer einen Anzug. Hat zwei gute Freunde, Roland Z., Jahrgänger, und Alfred M., ein Kumpel von früher. Frauenbekanntschaften? Was denken Sie denn! Legt Wert auf Ordnung, jedenfalls war das früher so. Hat mit 53 aufgehört zu rauchen. Und zehn Jahre später zu trinken begonnen. Aber richtig. Sagt von sich: «Mich wird keiner vermissen, wenn ich nicht mehr bin.» Und auch: «Ich habe schon immer so gelebt: zurückgezogen, ruhig, bescheiden.» So, das sei alles, sagt Herr Koller. Keine Tragödie, keine Scheidung, keine Krankheit, nicht einmal Angst vor dem Tod. «Niemand hat Schuld. Ausser mir.» Koller, der Trinker, der nur in kurzen Sätzen spricht, steht bei sich in der Küche eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand von Bern, es ist ein matschiger, lebensmüder Samstagnachmittag im Mai, wir sind allein. Er setzt eine Kanne Wasser auf, zupft abwechselnd am Hemd, am Gilet, an den Hosen, er holt eine Flasche Grappa aus dem Schrank, richtet zwei Gläser fein ordentlich vor uns auf dem Tisch aus und fragt: «Oder doch direkt in den Kaffee?» «Soll ich zum Arzt, werde ich komisch?» Morgens um halb zehn und nach zwei Kaffee Lutz kehre langsam Ruhe ein in seinem Schädel, sagt Koller. Eine Stunde später sei alles wie in Watte und gut. Dann ist Mittag, ein Glas Rotwein und noch ein Schnaps, die Nachrichten, ein Schläfchen, später raus zum Einkaufen. Montag und Donnerstag trifft er den Roland, einen Schwätzer vor dem Herrn, der nimmt ein Bier oder zwei und Koller trinkt derweil Rotwein, aber zügig. Zum Znacht gibt es Mineral mit Gas, doch später, wenn seine Frau zu Bett geht, holt Koller noch eine Flasche heraus, Hauptsache Rotwein und schwer. So sei das plus minus, rechnet Koller zusammen: pro Tag 3 Schnapskaffee, 1 Ballon Weissen, ½ Gutter Rotwein. «Bon, manchmal trinke ich das Doppelte plus Gin.» Begonnen hat es nicht an einem bestimmten Tag und auch nicht in einem bestimmten Monat oder Jahr. Es sei, sagt Koller, wie von selbst gekommen: schleichend, sanft, wohlig. Sicher habe er schon früher hier und da einen über den Durst gehabt, wer auch nicht. Damals im Militär. Oder mit Arbeitskollegen, nach den YB-Matches und so. Aber ein Trinker? Surprise 477/20
Bereits vor der Pension überkam Koller manchmal eine Unruhe, einfach so. Dann hatte es geklopft in seiner Brust und rumort in seinem Kopf. «Soll ich zum Arzt, werde ich komisch?», habe er seine Frau gefragt. «Ach was jetzt, Hampi, das ist doch normal. Das ist die Angst vor dem Loch, das wird schon», habe Hildegard zu ihm gesagt. Als Koller dann in Rente ging, bekam er Mühe mit Einschlafen, er drehte sich ewig im Bett, machte sich Gedanken und Sorgen, er atmete kurz, spürte dieses vermaledeite Klopfen in seiner Brust und eine dumpfe Angst breitete sich aus. Der Arzt verschrieb ihm eine Packung Temesta, das half. Zusammen mit einem Glas Wein schlief er fortan wie ein Stein. «Vielleicht war das der Anfang.» Koller schenkt Kaffee ein und runzelt die Stirn. «Sind Sie einsam?» «Wie man’s nimmt.» «Heisst?» «Ich habe Familie, Freunde, Bekannte. Ich komme unter die Leute.» «Und wissen die Bescheid?» «Der Rolä sagt immer, jetzt hör auf zu sinnieren und proscht! Meine Frau schaut weg. Die eine Tochter, die jüngere, macht mir Vorwürfe. Ich glaube, sie sorgt sich.» Betrunken und betrübt Im ersten Jahr nach der Pension hatte Koller vor allem auswärts getrunken, das ging ins Geld. Heute kennt er jede Denner-Filiale in Bern und Umkreis, er wechselt ab, will nicht auffallen, wenn er den Einkaufskorb füllt: ein Franzose für 4,20, zwei Merlot à 2,90, eine Flasche Gin für 9,90, dazu Mineralwasser, Pelati und Gurken im Glas. Manchmal nimmt er einen Rioja aus dem Regal, wenn Aktion ist für 12,95 statt 19,50, «schon wegen der Flasche». Ist sie ausgetrunken, legt Koller sie samt Zapfen auf die Seite, dann füllt er sie immer wieder mit billigem Fusel auf, stellt sie zum Mittagessen auf den Tisch. So hält eine Flasche Rioja fast eine Woche und Hans-Peter Koller wahrt den Schein. Als er zum ersten Mal, das war vor drei Jahren, mit einem roten Plastiktrichter einen billigen Dôle so umfüllte und anderntags schon wieder einen, dachte er bei sich: «Nun bist du ein Säufer.» In dieser Zeit begann er sich zu verändern, erzählt Koller: Die tägliche Rasur legte er von morgens auf den frühen Nachmittag, er verschob Termine, verlegte Rechnungen, verlor den Schlüssel und verpasste den Coiffeur, er vergass, was er gestern gegessen hatte, er machte Grimassen vor dem Spiegel, rief sich selbst wütende Worte zu und mochte sich schon bald nicht mehr sehen. Einmal sei er abends vom Sofa direkt ins Bett neben Hildegard gefallen, in Hose und Hemd mitsamt Pantoffeln, betrunken und betrübt sei er gewesen, da habe seine Frau anderntags nur den Kopf geschüttelt, «Ach Hampi, was wirst du alt!», und Koller dachte sich: ist mir auch recht. Seither spielt er vor seiner Frau immer öfter den Dummen und Tattrigen. Natürlich weiss Hildegard, wie es um ihn steht, sagt Koller. Doch wahrhaben wolle sie es nicht. Daheim bemuttere sie ihn – «Hampi, mach dies, lass das» –, in Ge9
sellschaft rede sie für ihn, sie verharmlose seine Vergess lichkeit, belächele sein Grübeln. Und wenn die Kinder am Wochenende auf Besuch kommen, wenn Koller in der Küche steht und das Essen zubereitet (gemischter Salat, Pommes und Wiener Schnitzel, bei Kollers Tradition), dann hört er sie im Wohnzimmer tuscheln, «Der Vater gibt ab» und «Lasst ihm doch sein Weinchen». An einem dieser Sonntage habe er die Contenance verloren, er habe geschrien «Hier nimmt mich doch keiner ernst!» und die Tür zugeknallt. «Pass ja auf, Hans-Peter», habe seine Frau gezischt, als er zurück in die Wohnung schlurfte. Da war er angetrunken, hatte ein schlechtes Gewissen, war kribbelig und mürrisch und ein Wort gab das andere. Es war Kollers erster richtiger Ehestreit in über vierzig Jahren. Die dunklen Gedanken verscheuchen Seit Koller trinkt – seit er so viel trinkt, dass er am Morgen zittert und abends lallt –, wechselt das Heitere mit dem Düsteren in rasantem Tempo ab. In dem einen Moment fühlt sich der Alkohol so warm an in seinem Innern, dann ist Koller zuversichtlich, unbeschwert, witzig gar, er fühlt sich kräftig und es kommt ihm vor, als könne er alles und jeden bezwingen, wenn er denn müsste. In anderen Momenten, die mehr und mehr werden, verdunkelt sich alles vor ihm, die Menschen im Bus, die Zeitung in seiner Hand, die Frau an seiner Seite, dann spürt Koller einen grossen, einen Riesenkummer, und er verstummt, ein Schweigen ohne Ende. Oft ist es dann schon spät am Abend und es folgen die langen Nächte, in denen er sich fragt: «Kam es in diesem Leben je auf mich an?» Er war immer pünktlich bei der Arbeit, er war stets ein zuverlässiger Ehemann und Vater, ruhig, zurückgezogen, bescheiden, ein angenehmer
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Zeitgenosse. «Hätte je jemand bemerkt, wenn ich ein anderer gewesen wäre?» Koller weiss, er klingt weinerlich, doch diese Frage treibt den Rentner um, und auch seine Gedanken an all die Kriege, an den Klimawandel, die Pandemie und die Kinder, die sterben, nur weil sie hungern müssen. Mit Roland, dem Trinkkumpanen, mag Koller über derlei nicht reden, er kennt dessen Antwort: «Mier wey nid grüble, proscht Hampi!» Und seine Frau Hildegard, sechs Jahre jünger als er und sowieso die Macherin im Haus, sie schickt ihn in solchen Augenblicken zum Einkaufen und ruft ihm ein «Du alter Wirrkopf» hinterher. «Vielleicht leide ich ja an einer Altersdepression.» Sein Arzt habe unlängst dieses Wort gebraucht, das kam ihm seltsam fremd vor. An Abstinenz hat er bloss ein einziges Mal gedacht, als Elio, sein jüngster Enkel, zu ihm sagte: «Grossvater, du stinkst.» Da habe er sich geschämt. Aber eben, murmelt Koller, irgendwie müsse er doch diese dunklen Gedanken verscheuchen, die ohne Wein kommen und mit dem Wein bleiben. Wie alles weitergehen soll, das weiss Koller nicht. Er mag niemandem die Schuld geben. An den Tod denkt Koller jedenfalls oft. Und stellt sich vor, es werde dann einfach dunkel sein und still. Er fürchtet sich nicht, er mag den Gedanken. Wie er das Wetter an diesem matschigen Samstagnachmittag mag. Lange genug schien in den vergangenen Wochen die Sonne, grell und aufdringlich. Jetzt hängen die Wolken tief und der Wind kriecht der Strasse entlang. In Kollers Bart liegt ein Lächeln.
* alle Namen geändert
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Sucht als Herausforderung
«Zwischen Autonomie und Fürsorge»
Massnahmen Sucht macht vor Alter keinen Halt,
Suchthilfe Oft werde der Alkohol bagatellisiert,
zeigen Studien mit teils alarmierenden Zahlen.
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Jonas Wenger, sieben Prozent der älteren Menschen trinken zu viel. Müsste man ihnen den Alkohol verbieten? Nein, Verbote bringen nichts, das wissen wir aus der Suchtpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte. Wir müssen anerkennen, dass Leute den Rausch suchen. Auch ältere Menschen können aus Genuss konsumieren. Wenn eine Person trinkt, um seelische Verletzungen zu betäuben, sollten wir ihr Unterstützung anbieten. Es ist in diesem Zusammenhang oft von der Autonomie des Menschen die Rede, die es zu respektieren gelte. Es gibt immer wieder eine Spannung zwischen der Anerkennung der Selbstbestimmung eines Menschen und dessen Anrecht auf Fürsorge. Ein Widerspruch muss dies aber nicht sein. Fürsorgliche Betreuung kann bei einem Menschen mit Abhängigkeit nämlich auch bedeuten, dass man ihn als Fachperson in einem selbstbestimmten Leben unterstützt. Was heisst das? Es geht darum, die Selbstbestimmung dort zu respektieren, wo sie möglich ist. Das kann von Mensch zu Mensch variieren und hängt von der Schwere der Sucht oder der Alkoholabhängigkeit ab sowie den Ressourcen, über welche die Betroffenen verfügen, um Veränderungen anzustossen. Wichtig ist, dass die Menschen in diesem Prozess begleitet werden, dass man mit ihnen offen über den Konsum redet und sie in ihren Entscheidungen unterstützt. Das ist sehr anspruchsvoll für das Umfeld und die Fachpersonen. Das frühzeitige Erkennen eines womöglich risikoreichen Konsums spielt hier eine zentrale Rolle. Oft wird der Konsum bagatellisiert. Kommt hinzu, dass das Thema nach wie vor tabuisiert wird, weshalb selbst das professionelle Pflegepersonal es häufig vermeidet, das Problem anzusprechen. Wo sehen Sie die Lösung? Ältere Menschen haben viele Ressourcen und auch viel Lebenserfahrung, die sie vor einer Abhängigkeit schützen. Man sollte sie darin unterstützen. Ein lebendiges Alterszentrum, das Raum lässt für Hobbys und Gemeinschaft, stärkt die Menschen. Darüber hinaus muss man für das Thema sensibilisieren und das Pflegepersonal im Umgang mit suchtgefährdeten Menschen weiterbilden. Nicht zuletzt braucht es mehr Zeit und Ressourcen, damit das Pflegepersonal auch wirklich auf die Betroffenen eingehen, sie ernstnehmen und entsprechend reagieren kann.
FOTO: ZVG
Laut Bundesamt für Gesundheit BAG konsumiert ein Viertel der über 65-Jährigen täglich Alkohol, das ist mehr als jedes andere Alterssegment der Durchschnittsbevölkerung. Rund sieben Prozent der Rentner und Rentnerinnen weisen einen chronisch-risikoreichen Alkoholkonsum auf, d. h. sie trinken mehr als drei Gläser pro Tag. Etwa ein Drittel von ihnen tut dies erst seit der Pensionierung. Vereinsamung, Depressionen, Schlaflosigkeit, finanzielle Nöte, der Tod des Lebenspartners oder das Gefühl, von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden, sind die häufigsten Ursachen für den Konsum. Trotz dieser Zahlen wird das Thema nach wie vor tabuisiert oder verharmlost. Dahinter steht oft die Idee, man müsse ältere Menschen in ihrer Selbstbestimmung und Autonomie respektieren und dürfe ihnen ein «Gläschen in Ehren» nicht verwehren. Allerdings kann der erhöhte Alkoholkonsum die Selbstbestimmung teils massiv einschränken, was dazu führt, dass die Betroffenen umso abhängiger werden von ihrem Umfeld oder vom professionellen Pflegepersonal. In Fachkreisen redet man von einem ethischen Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Recht auf Fürsorge. Dabei ist Alkoholsucht nicht immer offensichtlich. Ein Problem besteht darin, dass Symptome wie Apathie, Vergesslichkeit oder Stürze gängigen Alterserscheinungen ähneln. Der Fachverband Sucht setzt auf Sensibilisierung sowie auf Strategien der Früherkennung. Ein zentraler Punkt ist die «konsumakzeptierende Haltung»: Es gehe nicht darum, den Alkoholkonsum zu verurteilen, den Betroffenen mit Anschuldigungen zu begegnen oder ihnen eine Abstinenztherapie aufzuzwingen. Vielmehr gelte es grundsätzlich anzuerkennen, dass Menschen Alkohol konsumieren wollen, dass offen über deren Sucht geredet wird und man gemeinsam nach Lösungen sucht. Das Ziel besteht letztlich darin, dass die Betroffenen den Alkohol in den Griff bekommen und so ihre Autonomie – so weit wie möglich – wiedergewinnen. Inwieweit dies gelingt, hängt auch vom Vertrauensverhältnis zwischen den direkt Betroffenen und ihrem Umfeld oder dem Pflegepersonal ab. Seitens Spitex, Spitäler und Altersheime gibt es offenbar grossen Bedarf an Fortbildung und Kooperation. Im vergangenen Jahr wurden entsprechende Initiativen gestartet, so etwa eine vom BAG lancierte Studie zur Früherkennung und Frühintervention, ein Pilotprojekt im Kanton Thurgau zur Optimierung der Versorgung von älteren Menschen mit Suchtproblemen sowie ein Musterkonzept des Fachverbands Sucht in Zusammenarbeit mit dem Basler Alterszentrum Gustav Benz Haus, das die Vernetzung von Suchthilfe und Alterspflege fördern soll. KP
sagt Suchtexperte Jonas Wenger.
KL AUS PETRUS (INTERVIEW)
Jonas Wenger, 37, hat in Zürich Politik- und Kommunikationswissenschaft studiert und arbeitet als stellvertretender Generalsekretär beim Fachverband Sucht.
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IV-Serie Eine harte Sparpolitik, willkürliche Entscheide, Millionen für die Gutachter: Die Invalidenversicherung steht in der Kritik. Wir wollen wissen, was dahinter steckt – Auftakt zu einer vierteiligen Serie.
«Guten Tag, Sie sind gesund» Teil 1 Alle sind sich einig, dass Tanja Domić psychisch
krank ist – bis jemand anonym das Gegenteil behauptet. Die Frau verliert ihre IV-Rente und stürzt ab. TEXT ANDRES EBERHARD ILLUSTRATION MARIA REHLI
Tanja Domić* wartet im schmucklosen Bahnhofsbuffet eines Zürcher Vororts, die Tasse Kaffee vor sich hat sie bereits leer getrunken. «Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen», sagt sie. «Aus Angst vor dem Gespräch.» Das war noch vor der Corona-Krise, vor dem Bleiben-Sie-zuhause-Aufruf des Bundes, doch für Domić spielt das keine Rolle. Sie verlässt das Haus praktisch nie, und wenn sie es doch tut, kann es gut sein, dass sie den Einkaufskorb im Coop stehen lässt und Hals über Kopf zurück in die Wohnung stürmt. Hat sie den Vorhang richtig zugezogen? Wirft er gleichmässige Falten? Befindet sich der Abschluss auf gleicher Höhe mit dem Fenster? «Solche Dinge beschäftigen mich den halben Tag lang», sagt sie. Sonst sei sie eigentlich ganz normal. «Das Problem ist, dass ich meine Aussetzer nicht kontrollieren kann.» Die Zwangsstörung ist die Folge einer psychischen Erkrankung. Die Psychiaterin von Domić spricht von einer Persönlichkeitsstörung mit wiederkehrenden schweren Depressionen. Ihre Spitex-Betreuerin, die sie wöchentlich sieht, sagt: «Während wir sprechen, putzt sie oft wie im Wahn. Es gibt ihr Sicherheit, die Kontrolle über gewisse Dinge zu behalten, wo sie doch sonst im Leben oft machtlos war.» Surprise 477/20
Die Ursprünge der Krankheit von Domić gehen weit zurück. Die heute 58-Jährige wurde mehrfach Opfer häuslicher Gewalt. Ihr Ex-Mann war gewalttätig und misshandelte sie – einmal drohte er ihr vor der gemeinsamen zweijährigen Tochter mit dem Tod, worauf Domić barfuss über eine Feuerleiter elf Stockwerke ins Freie flüchtete. Zudem verlor sie dreimal ein ungeborenes Kind. Aufgrund solcher Ereignisse attestieren die Ärzte ihr verschiedene Traumata. Happige Vorwürfe Vierzehn Jahre lang waren sich alle einig, dass Domić psychisch schwer krank ist. Sieben umfassende medizinische Gutachten und dreizehn Arztberichte wurden in dieser Zeit angefertigt. Im Januar 2010 bestätigen die Behörden letztmals die volle IV-Rente. Weniger als ein Jahr später erhält Domić erneut Post von der IV: Schon wieder soll ihr Gesundheitszustand überprüft werden. Was sie nicht weiss: Grund für die neuerliche Rentenrevision ist ein anonymer Hinweis, der bei der IV-Stelle Zürich eingegangen ist. Dieser wird einen Stein ins Rollen bringen, der Domić am Ende die IV-Rente kostet. Die in der anonymen Meldung gemachten Vorwürfe sind happig: Domić mache mit dem Geld von der IV Ferien in Thailand.
Sie habe sich eine Schönheitsoperation geleistet und ermögliche ihrem Lebenspartner ein schönes Leben. Ausserdem verdiene sie gutes Geld als Domina. Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter bei der IV sind alarmiert, denn das passt nicht ins Bild, das sie aufgrund der Akten von Domić haben: eine Frau mit sozialen Ängsten, die meist zuhause ist und aufgrund ihrer Vergangenheit ein gestörtes Männerbild hat. In einem internen Feststellungsblatt heisst es, dass die Angaben in der anonymen Meldung «zwar nicht gesichert» seien, aber «Zweifel an der Stimmigkeit des Dossiers» bestehen blieben. Daraufhin studiert der Vertrauensarzt der IV die Akten. Dieser kommt zum Schluss, dass verfügbare Arztberichte zwar mit den Angaben von Domić (die über einen Fragebogen zu ihrem allgemeinen Gesundheitszustand befragt wurde) übereinstimmten. Im Widerspruch dazu stehe allerdings die anonyme Meldung. Statt diese zu prüfen oder mit Domić das Gespräch zu suchen, empfiehlt er zur «Klärung des Sachverhalts» ein externes Gutachten. Ein solches gibt die IV sodann in Auftrag. «Bitte berücksichtigen Sie die in der anonymen Meldung gegebene Information», heisst es darin. Zuständiger Gutachter ist ein in Hamburg praktizierender Psychiater, 13
der zu diesem Zeitpunkt erst seit kurzer Zeit in der Schweiz tätig ist. Jeweils auf Auftrag des Swiss Medical Assessment and Businesscenter (SMAB) fliegt er in die Schweiz. Dieses auf IV-Gutachten spezialisierte Unternehmen wurde von der IV mit den Abklärungen beauftragt. Weil Domić auch über Rücken- und Kopfschmerzen klagt, soll sie dort zusätzlich von einem Neurologen sowie einem Orthopäden untersucht werden. «Das war ein Verhör» Der Psychiater erfüllt die Vorgabe der IV und macht die anonymen Informationen zum Hauptbestandteil seiner Untersuchung. Das legen die Akten nahe, die Surprise vorliegen. Domić habe erst «bei insistierendem Nachfragen und Konfrontation mit Akteninhalten» relevante Sachverhalte eingeräumt, steht darin. Domić erinnert sich noch gut an das Gespräch, das dem Psychiater als Grundlage für das schriftliche Gutachten diente. Nach Fragen zu ihrer Kindheit habe der Arzt umgeschwenkt. «Er fragte mich: ‹Wollten Sie sich verschönern lassen?›» Später habe er wissen wollen, wie es in Thailand gewesen sei. Zudem verlangte er ihren Reisepass und holte während des Gesprächs eine Zeugin hinzu. «Zur Verifizierung der Angaben», wie der Psychiater später im Gutachten begründete. Domić sagt, sie sei völlig überrumpelt gewesen und habe sich wegen diesem Misstrauen zurückgezogen. «Das war kein Gutachten, sondern ein Verhör.» Für das Gespräch mit Surprise im Bahnhofsbuffet hat Domić ihre Spitex-Betreuerin mitgenommen. «Nicht persönlich nehmen, aber Sie sind nun mal ein Mann.» Sie spricht viel und schnell – und verheddert sich zunächst, es entstehen Widersprüche, die sich aber erklären lassen, wenn man sich die Zeit nimmt, sich die teilweise intimen Hintergründe erklären zu lassen – von ihrer Betreuerin, ihrer Psychiaterin, ihrer Anwältin. Bei der angeblichen Schönheits-OP handelte es sich um eine Wiederherstellungs-Operation nach der Geburt ihrer Tochter – unter der asymmetrischen Brust habe sie psychisch stark gelitten. Für die Kosten kam die Krankenkasse auf. Als Domina betätigte sich Domić ein einziges Mal und verdiente damit 120 Franken. Ihre Psychiaterin hatte ihr wegen dem gestörten Männerbild dazu geraten. Mit ihrem Partner lebt sie platonisch zusammen. Von all ihren Reisen ins Ausland 14
wussten die Behörden. Von solchen Hintergründen erfährt der Psychiater nichts – auch weil Domić sich dem Gespräch wegen dessen forscher Vorgehensweise zunehmend verweigert. Im Gutachten benutzt der Psychiater die «eingeräumten Lebensumstände» als Hauptbeweis dafür, dass Domić nicht schwer depressiv sein kann. Auch eine posttraumatische Belastungsstörung stellt er in Abrede. Beide Schlüsse zieht er allein aufgrund des rund einstündigen, offensichtlich harzig verlaufenden Gesprächs. Tests führt er keine durch, auch Auskünfte holt er keine ein. Obwohl sein Befund in diametralem Widerspruch zur langjährigen Krankheitsgeschichte steht, schreibt der Gutachter Domić gesund. Sie leide lediglich an einer leichten Depression und sei zu 80 Prozent arbeitsfähig. Nach dem Termin beim Psychiater ahnt Domić Schlimmes – tags darauf nimmt sie sich eine Anwältin. Diese verlangt von der IV die vollständigen Akten. Erst jetzt erfährt Domić von der anonymen Meldung. Ihr ist schnell klar, dass diese von einem abgewiesenen Verehrer stammen muss, mit dem sie einst befreundet war. Diesem hatte sie sich zunächst in langen Gesprächen anvertraut. Später, als er Avancen
machte, habe sie ihn zurückgewiesen und den Kontakt abgebrochen. Keine Chance vor Gericht Vier Monate später hat Domić wieder ein Schreiben der IV im Briefkasten. «Guten Tag», beginnt die Verfügung zur Einstellung der Invalidenrente. «Aus unseren Abklärungen geht hervor, dass sich der Gesundheitszustand von Frau Domić verbessert hat.» Gegen diesen Entscheid wehrt sich Domić. Doch sie scheitert vor dem Zürcher Sozialverwaltungs- und später auch vor Bundesgericht. Den Einwand, der Gutachter habe eher wie ein Detektiv ermittelt, als dass er den Gesundheitszustand von Domić abgeklärt hätte, weisen die Gerichte zurück. Die Aufgabe des Gutachters sei es durchaus, die Aussagen der Versicherten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, gerade weil die Betroffene psychisch krank sei. Dass ihm dies gelungen ist, stellen sie nicht in Zweifel. Genauso wenig stört sie der Widerspruch zwischen dem Befund des Psychiaters und der jahrelangen Krankheitsgeschichte. Es liege im Ermessen des Gutachters, ob er für die Diagnose behandelnde Ärzte kontaktiere oder Tests Surprise 477/20
Millionen für falsche Gutachten «Dank IV: Ärzte scheffeln Millionen»: Diese Schlagzeile machte vor einem halben Jahr die Runde. Der Sonntagsblick hatte aufgedeckt, dass einzelne Gutachter von der IV jährlich bis zu drei Millionen Franken kassieren. Manche hatten Patienten nie gesehen, arbeiteten mit Copy-Paste oder stuften praktisch niemanden als arbeitsunfähig ein. Daraufhin beschloss das nationale Parlament Verbesserungen bei der Transparenz: In Zukunft müssen Gespräche bei Gutachterinnen aufgezeichnet werden. Zudem werden von der IV Statistiken verlangt, welche Gutachter beauftragt werden und wie die Resultate ausfielen. Ob das reicht, ist umstritten, denn viele Gutachterinnen sind nach wie vor wirtschaftlich von der IV abhängig. Weil sie pauschal pro Fall bezahlt werden, bestehe zudem der Anreiz für ein «psychiatrisches Speed-Dating».
durchführe, heisst es. Dem Gutachten wird «volle Beweiskraft» attestiert. Nach dem Bescheid der IV verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Tanja Domić: Zwei Monate verbringt sie stationär in einer psychiatrischen Klinik. Gegen die schwere Depression nimmt sie zusätzlich zu ihren Antidepressiva starke Medikamente. Wieder zuhause, kommt einmal wöchentlich die Spitex, die sie bis heute beansprucht. Auch körperliche Beschwerden häufen sich, ausserdem geht Domić öfter zur Psychiaterin. «Ihre Gesundheitskosten sind nach der Ausmusterung durch die IV ungefähr um den Faktor 20 gestiegen», sagt diese. Gesund ist Tanja Domić auch heute einzig in den Akten der IV. Domić lebt von der Sozialhilfe, ihre Psychiaterin schreibt sie regelmässig krank. In besseren Phasen trinkt sie mit einer Freundin Kaffee, besucht den Flohmarkt oder spaziert auf einen nahegelegenen Hof, wo sie die Pferde streichelt. «Als Kind wollte ich Berufsreiterin werden», sagt sie. In schlechteren Phasen verschanzt sie sich zuhause. Eine solche hat sie, als der Lockdown vorbei ist und alle anderen wieder nach draussen strömen. Surprise würde die verantwortSurprise 477/20
liche IV-Stelle gerne mit dem Fall konfrontieren. Doch Domić, welche die Öffentlichkeit nicht selber gesucht hat, zweifelt. Und unterschreibt die dazu nötige Vollmacht nicht. Sie lässt ausrichten, dass es keinen Sinn mache. Nichts mache Sinn. Domić will einen Schlussstrich unter den jahrelangen, erfolglosen Kampf für die Anerkennung ihrer Krankheit ziehen. Andere wehren sich. Bei der Organisation Inclusion Handicap melden sich zahlreiche Menschen, die angeben, Opfer von Gutachter-Willkür geworden zu sein. Nachdem der Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen kürzlich eine entsprechende Meldestelle eingerichtet hat, waren es innerhalb von 24 Stunden deren 80. «Wir vermuten, dass die bisher bekannt gewordenen Fälle nur die Spitze des Eisbergs sind», sagt Sprecher Marc Moser. Fachleute sind sich sicher, dass das Unrecht bei der IV System hat. Einerseits häuft sich die Kritik an den medizinischen Gutachten, die für die Rentenvergabe zentral sind. So wurde vor Kurzem publik, dass einzelne Ärzte alleine mit IV-Gutachten mehrere Millionen Franken pro Jahr verdienen (siehe Box). Ausserdem wird es vor allem für psychisch Kranke immer schwie-
riger, sich gegen falsche Gutachten zu wehren. «Gerichte korrigieren IV-Entscheide praktisch nie», kritisiert der Zürcher Anwalt Philip Stolkin, «es kommt höchstens zu Rückweisungen an die Vorinstanz.» (siehe Seite 17). Während nun mehrere Politikerinnen und Politiker für unabhängigere Gutachten sorgen wollen, fordern Ärztinnen und Therapeuten Wiedergutmachung für Betroffene wie Tanja Domić. «Das ganze Ausmass der Falschbegutachtungen in den letzten rund zehn Jahren ist unbekannt. Das muss nun aufgearbeitet werden, Fall für Fall», sagt der Kardiologe Michel Romanens, Präsident des Vereins Ethik und Medizin Schweiz (VEMS). * Name der Redaktion bekannt
Meldestelle für Opfer der IV-Willkür von Inclusion Handicap: umfrageonline.ch/s/IV_AI. Auf Anfrage ist der Fragebogen auch als PDF oder Ausdruck erhältlich. 15
Auf dem Weg ins soziale Elend? Rente Der Sparkurs der Invalidenversicherung hat massive soziale Folgen. In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl IV-Renten um rund 40 000 zurückgegangen. Und dies, obwohl die Bevölkerung im selben Zeitraum um fast eine Million gewachsen ist. Grund ist ein politisch verordneter Sparkurs: Bis 2007 hatte sich die Invalidenversicherung mit über neun Milliarden Franken verschuldet. Seither erfüllt die IV regelmässig die politischen Sparziele – auch wenn es voraussichtlich noch bis 2030 dauern wird, bis die Schulden bei der AHV ganz getilgt sind. Wie aber spart man bei kranken Menschen? Die IV sieht die Einsparungen als Erfolg. So rühmt sie sich immer wieder als Eingliederungsversicherung. Dass Integration allerdings relativ selten gelingt, zeigte vor einem Jahr eine gross angelegte Studie des Bundes, in der die Betroffenen selbst befragt wurden. 45 Prozent der körperlich Kranken und nur 25 Prozent der psychisch Kranken, die eine berufliche IV-Massnahme abgeschlossen hatten, erzielten im Jahr darauf ein Einkommen von über 1000 Franken im Monat. Kritikerinnen und Kritiker werfen der IV darum vor, dass ihre Rentenentscheide auf realitätsfernen Annahmen über den Arbeitsmarkt beruhen. Rainer Deecke, Anwalt und Präsident des Schmerzverbandes touché.ch, sagt: «In den Entscheiden der IV-Gutachter wird oft darauf verwiesen, dass eine Arbeit in einer leichten, wechselbelastenden Tätigkeit möglich ist. Die Gerichte stützen sich dann auf solche Aussagen. Das Problem ist, dass es solche Jobs auf dem realen Arbeitsmarkt insbesondere für Niedrigqualifizierte kaum noch gibt.» Womöglich hilft eine IV-Rente sogar bei der Eingliederung. Diese Auffassung vertritt die Zürcher Psychiaterin Doris Brühlmeier. In einer Umfrage unter Berufskolleginnen stellte sie fest, dass von 200 Fällen 48 Prozent der Teilrentner und 36 Prozent der Vollrentnerinnen nebenher arbeiteten (Arbeit ist für IV-Rentner bis zu 30 Prozent erlaubt). Unklar ist, was mit den Menschen passiert, deren Rente gestoppt wird oder die von der IV abgelehnt wurden. In Brühlmeiers Untersuchung waren 93 Prozent aller abgelehnten und 60 Prozent der von der IV zurückgewiesenen Patienten vom Sozialamt abhängig: «Die Ausmusterung durch die IV stürzt viele Betroffene ins soziale Elend.» Der Bund hat dazu keine aktuellen Zahlen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verweist auf eine laufende Studie, die den Vorwurf klären soll, dass die IV auf Kosten der Sozialhilfe spart. Eine umfassende Nachuntersuchung über die von der IV «ausgemusterten» Patienten ist allerdings nicht in Sicht. EBA
Surprise Talk: Reporter Andres Eberhard spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk 16
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Willkür mit System? Gutachten Wer krank ist, muss das beweisen.
So einfach ist das aber nicht. Nicht nur die Praxis bei der Vergabe von IV-Renten, auch die Rechtsprechung hat sich in den letzten rund fünfzehn Jahren verschärft – vor allem für Menschen mit psychischen Krankheiten. Lange galt vor Gericht die Vermutung, dass sich somatoforme Schmerzen – Beschwerden, die nicht mit einer körperlichen Störung erklärt werden können – in der Regel «mit einer zumutbaren Willensanstrengung» überwinden liessen. Zwar änderte das Bundesgericht 2015 seine Praxis. Seither soll mit einem ergebnisoffenen Beweisverfahren der Einzelfall geprüft werden. Trotzdem hat sich die Situation für Betroffene nicht entscheidend verbessert. Studien der Uni Zürich zeigen, dass das oberste Gericht in den ersten zwei Jahren der neuen Rechtspraxis von 290 Beschwerden deren 260 ablehnte und nur in einem Fall eine IV-Rente zusprach. Vor allem Depressiven und Schmerzkranken fällt es schwer, ihre Krankheit anhand objektiver Kriterien zu beweisen. Denn «psychosoziale Gründe» – also beispielsweise psychische Probleme, die nach einem Schicksalsschlag auftreten – gelten heute vor Gericht als «IV-fremd». Schadenanwälte, behandelnde Ärztinnen und Therapeuten kritisieren dies scharf. Der Zürcher Psychoanalytiker Werner A. Disler sagt: «Dieses Denken entspricht einem Krankheitsbild aus dem 17. Jahrhundert.» Chronische Krankheiten liessen sich nicht in körperliche oder psychische Beschwerden unterteilen. Rainer Deecke, Schadenanwalt in Zug und Präsident des Schmerzverbandes touché.ch, kritisiert zudem die Haltung des Bundesgerichts gegenüber den externen Gutachterinnen. «Seit Jahren hält es an der Auffassung fest, dass Gutachter neutral urteilen können, obwohl sie wirtschaftlich von der IV abhängig sind. Das zu glauben, ist naiv.» Gutachten seien im IV-Prozess das zentrale Beweismittel. «Darum ist es wichtig, dass sie unabhängig sind.» Dass Gutachterinnen vor allem bei Menschen mit psychischen Störungen häufig unterschiedlicher Meinung sind und so die Gefahr von Willkür besteht, zeigen Studien der Uni Basel. Weil auch die Gerichte kaum je auf der Seite der Betroffenen stehen, ist sich der Zürcher Anwalt Philip Stolkin sicher: «Willkür hat bei der Vergabe von IV-Renten System. Die Versicherten haben keine Chance.» EBA
«Das System IV» Die Zahl der Renten ist in den letzten zehn Jahren zurückgegangen, die Schulden der IV bei der AHV werden abgebaut. Ein Erfolg? Manche sprechen von einem «unmenschlichen System», das auf Kosten kranker Menschen spare. In einer vierteiligen Serie beleuchten wir die Hintergründe. Hinweise zur Recherche: andres.eberhard@strassenmagazin.ch Teil 1: Sparen bei den Kranken Teil 2: Richter als neue Mediziner Teil 3: Das Geschäft mit den Gutachten Teil 4: Die IV unter Druck – wie weiter?
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Kampf gegen Gleichschaltung Pressefreiheit Beim Online-Magazin Mada Masr in Kairo setzen junge
Journalisten und Journalistinnen täglich ihre Freiheit aufs Spiel. Aus Idealismus und weil ihnen wenig anderes bleibt, was Hoffnung macht.
FOTO: GETTY IMAGES
TEXT JÖRG ARMBRUSTER
Mada Masr: Die Zeitung erreicht ihr Publikum vor allem über Social Media.
Dass Journalisten mitten im Interview verhaftet werden, gehört in Ägypten zum Berufsrisiko, besonders dann, wenn sie dafür bekannt sind, die Regierung zu kritisieren. Das wusste auch Lina Attalah, als sie sich vor dem für Folter berüchtigten Tora-Gefängnis mit der Mutter des dort inhaftierten Menschenrechtsaktivisten Alaa Abd el-Fattah traf. Das war am 18. Mai dieses Jahres. Während des Gesprächs tauchten plötzlich Beamte der ägyptischen Staatssicherheit auf, nahmen Attalah das Mobiltelefon ab und zwangen sie, mit auf die nächste Polizeiwache zu kommen, ohne dass sie ihren Anwalt benachrichtigen durfte. Lina Attalah ist die vielleicht bekannteste unter den wenigen unabhängigen Journalistinnen des Landes. Aber auch die am meisten gehasste, zumindest von ägyptischen Politikern, Polizisten und Offizieren, weil sie als Chefredaktorin des Online-Magazins Mada Masr immer wieder handfeste Skandale bei Polizei, Armee und in der Politik aufdeckt. Mada Masr gehört zum Feinsten und Tapfersten, was an Medien gegenwärtig in Ägypten publiziert wird. Der Name der Zeitung heisst «Leuchtturm» auf Deutsch: ein Licht in der dunklen Zeit, durch die das Land im Augenblick geht. Allerdings im Augenblick auch ein Licht, das die Sicherheitsbehörden des Landes auszutreten versuchen. Ich lerne Lina Attalah im Oktober 2019 kennen. Es ist einfach, sie 18
und ihr Redaktionsteam zu finden. Mada Masr ist kein heimlich im Keller eines Hochhauses produziertes Untergrundmedium, das sich vor dem Staat und seiner Polizei versteckt. Per Textnachricht hat sie mir die Adresse geschickt, im sechsten Stock eines Wohnhauses im Kairoer Stadtteil Dokki. Neben der Eingangstür ist ein grosses Schild mit der Aufschrift «Mada Masr» angeschraubt. Klingeln. Ein junger Mann öffnet: «Bist du Jörg? Willkommen! Komm rein!» Lina käme ein bisschen später, ich solle mich schon mal umschauen. Einen Kaffee bekomme ich auch. Drei grosse Räume in der einst herrschaftlichen Wohnung sind belegt. In einem arbeitet eine Gruppe von Redaktoren vor ihren Bildschirmen an der nächsten Ausgabe. Die Tagesschicht. Überall Willkür Wie kann es sein, dass eine solche Zeitung im Ägypten von Abd el-Fatah as-Sisi erscheint, produziert von jungen, fröhlichen Menschen, die gelassen und offensichtlich ohne Furcht über all das berichten, was Militär und Polizei zu unterdrücken versuchen? Die Antwort kommt stürmisch durch die Eingangstür gestürzt: «Entschuldige die Verspätung, Jörg. Gib mir eine Minute!» Es ist eben jene Lina Attalah, die Chefredaktorin, die sich da entschuldigt. Dann setzt sie sich zu mir. «Was kann ich für dich tun?» Na, Surprise 477/20
was schon? Zunächst wohl die Frage beantworten: Warum lässt das Regime diese Zeitung zu? Sie antwortet mit einem Schulterzucken. Wisse sie auch nicht so richtig. Seit Juni 2017 wird ihre Webseite in Ägypten zwar geblockt, soll also im Land nicht mehr erreichbar sein, kann aber trotzdem über Umwege von den ägyptischen Leserinnen im Internet gefunden werden. «Diese Sperre ist illegal», erklärt Lina selbstbewusst, schliesslich sei Mada Masr bei den Behörden registriert, darf also erscheinen. Eigentlich. «Nicht wir sind illegal, sondern das, was die Behörden mit uns machen, ist illegal. Auch nach ägyptischen Gesetzen.» Wenn die Gesetze des Landes den ägyptischen Machthabern im Weg stehen, formen sie diese nach ihrem Gutdünken um. Deshalb sind seit 2018 solche Online-Blockaden nun legalisiert. Weit über 34 000 verdächtige Seiten sind inzwischen gesperrt, darunter die der Deutschen Welle und des Online-Magazins Qantara. Wäre es da für die Regierung nicht einfacher, Mada Masr gleich ganz zu verbieten, so wie sie alles verboten haben, was nicht auf Regimekurs eingeschwenkt ist? «Diese Frage stellen wir uns natürlich auch ständig. Besonders wenn wir über Folter oder die Armee berichten, rechnen wir mit dem Schlimmsten. Was sie machen, ist eine Art weiche Zensur, indem sie die Webseite blockieren.» «Treibt es nicht zu weit» Und dennoch. Die Verhaftung am 18. Mai war die zweite innerhalb kurzer Zeit, immer nur für ein paar Tage, immer aber mit der gleichen Botschaft: «Treibt es nicht zu weit. Wir können auch anders.» Der Menschenrechtler und Blogger Alaa Abd el-Fattah ist dafür ein Beispiel. Seit September 2019 sitzt er wieder im Hochsicherheitstrakt des Tora-Gefängnisses, nahezu in Isolation. Erst Ende März 2019 war er nach fünf Jahren Gefängnis entlassen worden. Mada Masr hatte immer wieder berichtet. Zuletzt im Mai. «Alaa Abd el-Fatah beendet seinen Hungerstreik nach 36 Tagen», lautete die Schlagzeile. Doch auch andere Themen wie die Corona-Pandemie sind bei Mada Masr ein grosses Thema – wichtig, weil ohnehin kaum jemand der Regierung glaubt. Die Reporterinnen gehen vor Ort, in die engen Gassen der Armenviertel, in denen sich das Virus besonders schnell ausbreitet. Sie besuchen verzweifelte Ärzte in schon zu normalen Zeiten miserabel ausgerüsteten Krankenhäusern. Ausserdem ist auf der Webseite eine lange Reportage über den Krieg auf dem Sinai zu finden, zwischen ägyptischer Armee und Daesch-Terroristen. Sogar vertrauliche Quellen aus Armeeeinheiten kann der Reporter zitieren. Alles Nachrichten, die Leser anderer ägyptischer Medien vergeblich suchen. Die namentlich gekennzeichneten Artikel zitieren unter anderem Quellen, die im inneren Machtbereich des Militärs oder des Regimes angesiedelt sein müssen. Denn, so Lina Attalah, as-Sisis System sei kein geschlossener Block. Mada Masr habe Zugang zu Unzufriedenen innerhalb des Regimes, die natürlich Surprise 477/20
lieber im Verborgenen bleiben wollen. «Uns informieren Parlamentsabgeordnete, die dem Regime nahestehen. Wir haben Quellen im Aussenministerium, alles Informanten, die aus irgendwelchen Gründen verärgert sind. Die riskieren natürlich einiges. Aber es gibt viele Risse und Fraktionen innerhalb des Regimes. Aus solchen Kreisen kommen unsere Informationen.» Vermutlich auch die, die im November 2019 zur Festnahme von Lina und einiger ihrer Kollegen und fast zur Schliessung von Mada geführt hatten. Sie hatten über den Sohn des Präsidenten recherchiert, Mahmoud al-Sisi, der bislang ein hohes Amt im ägyptischen Geheimdienst bekleidet hatte. Der Artikel zitiert Informanten, denen zufolge der Präsidentensprössling mit den Protesten aus der Bevölkerung im September und Oktober völlig überfordert gewesen sei. Er solle daher nun als Militärattaché in die ägyptische Botschaft nach Moskau abgeschoben werden, so der Bericht. Auch wenn diese Informationen mehrfach abgesichert waren, wie Lina in einem Brief an die Leserinnen versicherte, eine solche Majestätsbeleidigung blieb nicht ungesühnt. Drei Tage nach der Veröffentlichung klopfte es morgens gegen halb fünf bei dem verantwortlichen Redaktor Shady Zalat an der Wohnungstür. Bewaffnete Sicherheitsbeamte holten ihn aus dem Bett, ohne einen Haftbefehl vorzulegen, und führten sie ihn ab wie einen Schwerverbrecher. Lange wusste seine Frau nicht, in welchem der vielen Gefängnisse er einsass. Ein Monat zuvor sagt er mir bei meinem Besuch in der Redaktion: «Die Angst vor Verhaftung ist der Preis, den wir zahlen müssen für die Möglichkeit, hier arbeiten zu dürfen. Im Herbst, als es diese Massenverhaftungen gab, da hatte ich wirklich Angst. Aber wenn ich bei einer anderen Zeitung arbeiten würde, verlöre ich den Respekt vor mir selber.» In Handschellen Einen Tag nach seiner Verhaftung durchsuchten zehn Polizeibeamte mehrere Stunden lang die Redaktion von Mada Masr. Niemand durfte die Räume verlassen, niemand telefonieren. Am Ende nahmen sie Lina Attalah und zwei weitere Redaktoren fest und verschleppten auch sie, mit Handschellen aneinandergefesselt. Sie alle wurden am nächsten Tag zwar wieder freigelassen, doch die Botschaft war klar: Für Mada Masr gelten die gleichen Zensurbestimmungen wie für alle anderen Publikationen – und wer zu viel riskiert, dem droht Gefängnis. Laut Reporter ohne Grenzen sollen zurzeit fast dreissig Medienschaffende wegen ihrer journalistischen Arbeit im Gefängnis sitzen. Allein acht Journalisten wurden während der Verhaftungswelle im Oktober und November 2019 festgenommen und warten im Gefängnis auf ihre Prozesse – wenn es überhaupt welche geben wird. Auf der Rangliste der Pressefreiheit liegt Ägypten inzwischen auf Platz 166 zwischen Libyen und Jemen, nur noch 14 Plätze von Schlusslicht Nordkorea entfernt. Insgesamt 60 000 politische Gefangene sitzen hier ein. 19
Gegründet hat Lina Attalah Mada Masr im Frühjahr 2013, nachdem die Kairoer Tageszeitung Egypt Independent auf Druck der Regierung die von ihr geleitete Onlineausgabe eingestellt hatte. Da beschlossen Lina und ihre Freunde, sich mit einem eigenen Medium unabhängig zu machen. Die klare Linie gegen das Militär wird belohnt. Bis zur Internetsperre im Juni 2017 hatte die Zeitung durchschnittlich eine halbe Million Leserinnen im Monat. Alle Artikel sind kostenfrei. Wie viele Menschen aktuell die Beiträge lesen, kann die Redaktion wegen der Sperre nicht feststellen. Davon lassen sich die Macher aber nicht beirren. Ihr Mut zahlt sich zumindest finanziell aus: Die 35 jungen Mitarbeiterinnen von Mada Masr werden besser bezahlt als ihre Kollegen bei anderen ägyptischen Zeitungen. «Selbst der Bürohelfer bekommt bei uns mehr als bei anderen Verlagen», betont Lina Attalah. Finanziert wird die Truppe aus dem Ausland, hauptsächlich skandinavische Geldgeber unterstützen sie. «Wir haben keine einzige Auflage bekommen, ausser eine gute Zeitung zu machen!» Als ich sie besuche, sitzen die Redaktoren um einen grossen ovalen Tisch, die Laptops vor sich aufgeklappt. Sie bereiten die nächsten Beiträge vor. «Wart ihr damals alle auf dem Tahrir Platz?», frage ich. Welch eine Frage! Einige verdrehen die Augen. Wie kann man nur! «Natürlich. Sonst wären wir nicht hier.» Lohnt es sich denn, sich tagtäglich diesem Risiko auszusetzen, dieser Angst, dass jederzeit wieder Polizisten kommen und sich rächen für die vielen veröffentlichten Enthüllungen und Berichte über Folter? Redaktor Hatham Gabr sagt: «Die Arbeit hier schützt mich vor Depressionen, vor dem Gefühl, diesem System hilflos ausgeliefert zu sein nach dem Arabischen Frühling. Sie schützt mich vor der Verzweiflung, dass alles vergebens war.» Dass sie trotz der Verhaftungen auf jeden Fall weitermachen wollen, erklärt Kollege Sharif Abdel Kouddous kurz darauf im November gegenüber der Deutschen Welle: «Dieser Vorfall war ohne Zweifel eine beispiellose Eskalation des Drucks auf Mada Masr. Aber wir werden unsere Arbeit fortführen – diese grosse Solidarität bestärkt uns darin. Auch wenn wir nicht wissen, was die Zukunft bringen wird: Wir sind eine Gruppe von Menschen, die zusammenarbeiten, und wir müssen entscheiden, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Aber wir werden sicher nicht dichtmachen und aufhören.»
«Mangelnde Gerechtigkeit»
Anfang Mai starb der 24-jährige Filmemacher Shady Habash im Toga-Gefängnis in Kairo. Er wurde 2018 verhaftet, weil er angeblich einer terroristischen Organisation angehörte und falsche Informationen über die Regierung verbreitete. Kurz zuvor hatte Habash bei einem Video des Musikers Ramy Essam Regie geführt, der sich darin kritisch mit Ägyptens Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi auseinandersetzt. Die genaue Todesursache war zunächst unbekannt. Offenbar hatte sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert, weswegen Mitgefangene die Gefängnisbeamten um Hilfe baten – vergeblich. Inzwischen haben ägyptische Staatsanwälte erklärt, Habash habe versehentlich Desinfektionsmittel getrunken. Für das Arabische Netzwerk für Menschenrechte ist dies eine unglaubwürdige Erklärung, zumal in Habashs Zellenblock in den vergangenen Monaten drei weitere politische Gefangene umkamen. Vielmehr sei der Filmemacher infolge «Fahrlässigkeit und mangelnder Gerechtigkeit» zu Tode gekommen. KP
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«Die Angst vor Verhaftung ist der Preis, den wir dafür zahlen müssen, um hier arbeiten zu dürfen.» Ein Redaktionsmitglied von Mada Masr.
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«Facebook ist freiheitssichernd» Regimekritik In Ägypten verschärft die Corona-Pandemie autoritäre
Reflexe, sagt Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen. INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR
Wie können die Leute Mada Masr lesen? Die Webseite ist meist blockiert. Der arabischsprachige Kanal von Mada Masr, aber auch der englischsprachige, erreichen ihr Publikum vor allem über Social Media. Deshalb ist Mada Masr auch immer mein Lieblingsbeispiel für die freiheitsstiftenden Funktionen und Effekte von Social Media, weil Mada Masr ohne Facebook nichts wäre. Diese Seite von Social Media ist hierzulande wohl nur wenigen bewusst. Deshalb betrachten die Mitarbeitenden von Mada Masr auch alle Debatten mit Sorgen, in denen es um die Regulierung von Social Media geht, wie zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich. Diese hätten auch massive Auswirkungen auf autoritäre Länder. Die Mitarbeitenden von Mada Masr betonen, wie wichtig diese Plattformen für ihre Freiheit sind, dass gerade Facebook am Ende freiheitssichernd ist, weil es in Ägypten besonders weit verbreitet ist. Nutzt der ägyptische Staat Facebook nicht für seine eigenen Zwecke? Doch, natürlich gibt es dort auch Repression: Es gibt Fake-Profile, Konten werden gehackt. Der Vorteil aber ist, dass es schwer zu zensieren ist, weil man dann ganz blockieren müsste. Da aber Facebook nicht nur für politische Inhalte genutzt wird, sondern auch ganz viel für Privates, passiert dies in Ägypten bisher nicht. Reporter ohne Grenzen haben während der CoronaPandemie vor weiteren Einschränkungen der Pressefreiheit gewarnt. Wie sieht das in Ägypten aus? Ägypten ist ein Paradebeispiel dafür, dass die Corona-Pandemie wie ein Brennglas bestimmte totalitäre Reflexe verschärft. Es kommt zu mehr Repressalien gegen Auslandskorrespondentinnen und -Korrespondenten, die das Land verlassen mussten, zu Inhaftierungen von Journalistinnen und Journalisten, die die Corona-Politik der Regierung kritisiert haben, und zu direkten Zensuranweisungen. All das gab es auch schon vorher, aber die Pandemie wird missbraucht, um noch härter durchzugreifen. Wie kommt es dann, dass die Mitarbeitenden von Mada Masr wieder frei herumlaufen? Gute Frage. Das ist natürlich etwas spekulativ, könnte aber damit zusammenhängen, dass Mada Masr auch eine geSurprise 477/20
wisse Bedeutung im Land hat. Anders als zum Beispiel die Nowaja Gaseta in Russland, von der Putin irgendwann mal leider zu Recht gesagt hat: Wer kennt die schon in Russland? Vielleicht besteht in Ägypten aus Regimesicht ein gewisses Interesse, zu zeigen: Schaut mal, was wir uns erhalten. Wie erklären Sie sich, dass so viele westliche Regierungen weiterhin mit dem Regime von Abd el-Fatah as-Sisi kooperieren? Dahinter stecken klare sicherheitspolitische Interessen. Ägypten wird als ein Stabilitätsanker wahrgenommen in einer Region, die ansonsten konfliktgeladen ist. Sogar im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung wird Ägypten namentlich genannt. Man hofft, dass Ägypten als Stabilitätsfaktor nicht auch noch wegbricht. Gleichzeitig beisst man damit in den sauren Apfel einer Diktatur und macht sich aus unserer Sicht auch etwas vor. Ich vermute, das ist in anderen Ländern genauso. Welche Prognose sehen Sie kurz und mittelfristig für Ägypten? Ägypten ist schon vor Corona in eine Wirtschaftskrise hineingeschlittert. Ob diese Auswirkungen hat auf die Stabilität, wird sich noch zeigen. Man könnte nun die Zunahme von Repressionen schon als Reaktion auf eine sich abzeichnende wirtschaftliche Instabilität lesen, das könnte bedeuten, dass das Regime geschwächt wird. Kurzfristig wird es sicher nicht zu einem Sturz des Regimes führen, aber Wirtschaftskrisen haben oft auch Umstürze gebracht. Insofern ist das zumindest eine Wahrscheinlichkeit, die besteht.
FOTO: ZVG
Was würde Ägypten ohne Mada Masr fehlen? Mada Masr ist das letzte unabhängige Online-Medium mit einer relevanten Reichweite in Ägypten. Bräche Mada Masr weg, würde eine der letzten einflussreichen unabhängigen Stimmen des Journalismus verschwinden.
Christian Mihr ist Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Deutschland. Die NGO mit Sitz in Paris dokumentiert Verstösse gegen Presse- und Informationsfreiheit weltweit und kämpft online wie offline gegen Zensur, gegen den Einsatz sowie den Export von Überwachungstechnik und gegen restriktive Mediengesetze. reporter-ohne-grenzen.de 21
«Eine Krankheit berührt unser gesamtes Wertesystem» Kunst Die aktuelle Ausstellung im Kunstraum Baden erzählt vom Umgang
der Kunst mit Krankheit. Die Werke zeigen auch den Schmerz – für den wir keine eigentliche Sprache haben, sagt die Leiterin Claudia Spinelli. INTERVIEW DIANA FREI
Claudia Spinelli, die Ausstellung «Touch Me I’m Sick» wurde noch vor der Corona-Krise konzipiert. Wovon gingen Sie aus? Die Motivation war eine persönliche. Ich war selbst schwer krank. Ich begann mich dafür zu interessieren, wie das Thema in der Kunst vorkommt und merkte in Gesprächen, dass auch andere Leute das Bedürfnis hatten, sich damit zu beschäftigen. Weil es sehr direkt mit dem Leben zu tun hat. In den meisten Werken der Künstlerinnen und Künstler geht es um eine eigene Krankheit. Ist das Absicht oder Zufall? Ich habe auf Werke verzichtet, die Krankheit sehr allgemein angehen. Die Arbeiten von Menschen, die von einer persönlichen Betroffenheit ausgehen, sind authentischer. Gerade psychische Krankheiten liessen sich auch leicht hochstilisieren und überinterpretieren. Man könnte über Krankheiten die Kaputtheit der Gesellschaft thematisieren. Ich wollte die Krankheit aber genau nicht zur Metapher für etwas Politisches machen. Sondern Formen der Betroffenheit und des Umgangs mit dem Schmerz finden. Ich wollte Krankheit Krankheit sein lassen, auch in ihrer ganzen Banalität. Es geht um Erfahrungen, nicht um Botschaften. Ja, ausser bei Artur Zmijewski. In seinem Video leiht ein Gesunder einem Einbeinigen quasi sein Bein aus, indem er sich zusammen mit ihm bewegt, fast verschmolzen zu einem gemeinsamen Körper. Zmijewski macht nicht eine eigene Krankheit zum Thema, sondern schafft ein Bild. Ein Wunschbild davon, wie die Gesellschaft funktionieren könnte. Davon, dass die Starken den Schwachen helfen. «Happy Pills» von Gianluca Trifilò spielt mit Apotheken-Leuchtschriften. Es fällt auch in der realen Welt auf, dass die Werbung in Apotheken oft sehr plakativ ist. Medikamente muss man in bestimmten Situationen einfach nehmen. Wenn einem nun aber Lust darauf gemacht werden soll, dann gelangen wir bei der Sucht an. Das ist paradox. Trifilò beschäftigt sich aus einer familiären Betroffenheit heraus immer wieder mit Themen rund um die Sucht. Die Glücksversprechen von «Big Pharma» gehören dazu. Kranke fallen leicht aus dem normal funktionierenden Leben heraus und sind auf sich selbst zurückgeworfen. Kunstschaffende haben eigentlich eine ähnliche Position in der Gesellschaft. Künstler sind immer randständig. Sie haben keinen Bürojob und sind nicht in dem Mass in die Gesellschaft eingebunden wie die 22
meisten anderen. Sie gehen am Morgen ins Atelier und stellen sich selbst eine Aufgabe. Dadurch beobachten sie die Gesellschaft von aussen. Von hier aus sieht man die Absurditäten oder die Widersprüche oft besser, als wenn man drinsteckt. Warum stellt Maya Bringolf kaputte Bürostühle aus? Sie litt an Stresszuständen, die sie mit dieser Arbeit thematisiert. Natürlich können auch Künstler unter Leistungsdruck kommen. Es ist der Druck, immer wieder etwas Grossartiges präsentieren zu können. Das Bild mit den Löchern im Stuhl ist aus ihrer eigenen sehr körperlichen Erfahrung heraus entstanden und doch allgemeingültig. In «Inhale – Exhale» bohrt sich ein in sich geschlossenes Röhrensystem durch einen Stuhl. Es geht um die Erfahrung, in sich und den eigenen Zuständen gefangen zu sein. Es ist auch ein Bild des Nicht-mehr-kommunizieren-Könnens. Nicht mehr kommunizieren zu können macht krank. Auf Ihrer Homepage erwähnen Sie Virginia Woolfs Essay «On Being Ill». Woolf sagt, Krankheit und Schmerz seien Erfahrungen, die nicht durch Sprache vermittelbar seien. Die Sprache ist aber in Nicole Schmids Arbeit zentral. Es ist eine Toninstallation aus Gesprächsfragmenten von dementen Menschen. Der Verlust der Sprache ist in Schmids Arbeit das Symptom, nicht die Krankheit an sich. Die Sprache zu verlieren macht einsam. Menschen, die dement sind, wollen sich mitteilen, können es aber nicht. Sie wollen etwas sagen, aber sie verlieren immer den Faden. Für mich ist die Vorstellung schrecklich. Es sind Sätze ohne Inhalt, ohne Kern, ohne Gehalt. Die Arbeit macht auf etwas aufmerksam, was uns beschäftigen muss, weil es immer mehr demente Menschen gibt. Die Ausstellung heisst «Touch Me I’m Sick». Wie kam der Titel zustande? Der Satz steht auf einem Ausstellungs-T-Shirt des schottischen Künstlers Ross Sinclair. Es stammt aus einem anderen Kontext, es ging da um einen Rockmusiker. Um eine Lebenshaltung: Touch me I’m sick, ich bin kaputt, mein Leben ist zerstört. Mir gefällt der Widerspruch: Berühr mich, ich bin krank. Es berührt die Pole zwischen Empathie oder Mitleid und Abstossung. Sie bestimmen den Umgang mit Krankheit. Ross Sinclair ist hier auch vertreten. Seine Arbeit wirkt wild und lebensfroh. Interessant ist, dass ihr Thema der Alkoholismus ist. Sie definieren damit auch die Sucht als Krankheit. Sucht ist eine Krankheit. Ross Sinclair hat irgendwann gemerkt, dass er zu viel trinkt und dass er damit sich und seiner Familie Surprise 477/20
1 Ross Sinclair, «Touch Me I’m Sick», T-Shirt Painting, 1998 2 Maya Bringolf «Inhale – Exhale» 2019, abgefackelter Bürostuhl, Lüftungsrohre 3 Anna Jermolaewa «Mediceische Venus» Lightbox, 2018
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schadet. Also ging er zu den Anonymen Alkoholikern. Die haben aber immer – jedenfalls in seiner Gruppe – von Gott geredet. Er glaubte aber nicht an Gott. Deshalb hat er Gott durch die Gitarre ersetzt. Jedes Mal, wenn er genügend zusammengespart hatte, weil er kein Bier gekauft hatte, kaufte er sich eine neue Gitarre und komponierte neue Lieder: ein Lied über seine Tochter, ein Lied über die Orkney-Inseln, wo sein Vater lebt. Er hat sich damit motiviert, den Entzug durchzustehen. Man spricht unterdessen offen davon, dass Kranksein und Tod ihren Platz in unserem Denken haben sollen. Was hat sich im Umgang mit Krankheit in den letzten Jahrzehnten verändert? Ich weiss, dass man früher den Patienten verheimlichte, dass sie Krebs haben. Die Ärzte haben Auskunft gegeben, und man traute sich nicht, Fragen zu stellen. Heute sind die Menschen informierter und lassen sich keinen Bären mehr aufbinden. Zudem gibt es mehr Behandlungsmöglichkeiten, was auch zu einer grösseren Offenheit führt. Mit allen negativen Aspekten natürlich – etwa dem, dass damit auch die Technik dominierender wird. Man weiss: Das kann man reparieren. Sind medizinische Probleme deshalb akzeptierter? In unserer auf Wellness getrimmten Gesellschaft ist Krankheit immer mit einem Makel behaftet. Krankheit kostet, Krankheit ist lästig. Wenn diese Hemmschwelle überschritten und die KrankSurprise 477/20
heit zum Thema werden kann, entsteht aber auch viel Empathie und Solidarität. Letztlich wissen die Menschen, dass Krankheit und Sterben zum Leben gehören und auch sie davon betroffen sind. Die Ausstellung ist nun nach dem Corona-Lockdown wiedereröffnet worden. Hat sie eine neue Aktualität gewonnen? Am Anfang des Lockdowns dachte ich tatsächlich: Toll, Treffer! Man darf sich nicht mehr nahekommen, und wir sagen hier: «Touch Me I’m Sick». Plötzlich stellt der Satz automatisch zusätzliche Fragen. Unterdessen denke ich, der Lockdown war nicht ein gesundheitliches Ereignis, sondern eine gesellschaftliche, eine politische Erfahrung. Aber das gilt für jede andere Krankheit auch. Die Fragen, denen wir uns – ob nun mit oder ohne Corona – stellen müssen, berühren unser gesamtes Wertsystem. Wieviel darf die Solidarität mit den Schwachen, also den Risikogruppen, kosten? Und wie gross ist die Bereitschaft der Gesunden, für die Kranken einzustehen?
«Touch Me I’m Sick – Kunst blickt auf Krankheit», bis So, 5. Juli, Kunstraum Baden, Mi bis Fr 14 bis 17 Uhr, Sa/So 12 bis 17 Uhr, Haselstrasse 15, Bahnhof West, Baden; Eintritt frei. kunstraum.baden.ch 23
FOTO: EMMA DUDLYKE
Narkotisierend dichte Klangwelt Musik Er sei ein «shit singer», behauptet Ghostpoet.
Seine unverwechselbare Stimme hat ihn in einen Stil weit abseits der bekannten Wege geführt. TEXT HANSPETER KÜNZLER
Seine Twitter-Depeschen aus dem Lockdown-Exil bestehen häufig aus dem Geständnis, er habe wieder einmal etwas zu tief in die Flasche geguckt. Ausgelöst werden solche Ausflüge in den Alkohol gewöhnlich mit der unbeantwortbaren Frage, wie es nach dem Lockdown weitergehen soll mit dem Brotjob «Musiker». Als der Entscheid gefasst wurde, am Erscheinungsdatum seines neuen, fünften Albums im Mai festzuhalten, war das Ausmass der Corona-Krise noch nicht abzusehen gewesen. Nun muss Obaro Ejimiwe, wie Ghostpoet bürgerlich heisst, untätig daheimsitzen, statt das Erscheinen von «I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep» mit einer Tournee live zu feiern. «Wer weiss, vielleicht ist dies ja mein letztes Album überhaupt», twitterte er unlängst. Obaro war der letzte Interviewpartner, dem ich vor dem Lockdown noch in körperlicher Erscheinung gegenübersass. Weil ich ihn für einen ausserordentlich span24
nenden Künstler halte, sind wir uns nicht zum ersten Mal begegnet. Er zeigt aufs Aufnahmegerät und stellt fest: «Das gleiche Gerät wie vor drei Jahren. An sowas erinnere ich mich eben …» Am Vorabend war sein geliebter FC Liverpool von Atletico Madrid aus der Champions League geworfen worden. «Dank meinen Twitter-Posts wollen nun alle mit mir über Fussball reden», lacht er: «Twitter ist ein guter Weg, mit den Fans in Kontakt zu bleiben.» Zu dem Zeitpunkt rechneten weder er noch ich damit, dass es bald der einzige Weg sein würde. Der inzwischen 37 Jahre alte Obaro Ejimiwe wuchs im Südlondoner Stadtteil Tooting auf. Der kulturelle Hintergrund seiner Eltern – der Vater kommt aus Nigeria, die Mutter wuchs in London auf, aber ihre Familie stammt von der Karibikinsel Dominica – habe wenig Einfluss auf seinen musikalischen Werdegang gehabt, sagt er. Aber er schätze die Haltung des nigerianischen Volkshelden Fela Surprise 477/20
Kuti, der einmal sagte, das Geschenk eines musikalischen Talentes müsse mit Respekt angenommen werden: «Ich gebe mir Mühe, eine ähnliche Haltung zu pflegen. Alle Künstler, die ich liebe, Nick Cave, PJ Harvey, Leonard Cohen, Dr. John, sie zeigen eine unerklärbare Verbindung zur Musik, die viel mehr umfasst als die richtigen Akkorde und die rechten Worte.» Als Teenager schätzte Obaro den lauten Rock von Sepultura und Korn, aber auch sanftere Kost wie Badly Drawn Boy. An der Uni in Coventry entdeckte er dann die elektronische Musik von Aphex Twin.
FOTOS: ZVG
Weder Rapper noch urban In seiner eigenen Musik zehrte er von den vielen Einflüssen, denen ein junger Mensch im britischen Alltag begegnen konnte. So begann sein noch immer nicht ganz beendeter Kampf gegen Schubladendenken und Vorurteile. Weil seine Beats am Anfang notgedrungen aus dem Computer kamen, weil ausserdem sein Gesangstil eher dem eines Geschichtenerzählers gleicht als dem eines konventionellen Sängers und nicht zuletzt wegen seiner Hautfarbe wurde er gern als «Rapper» dargestellt oder in die Kategorie «urban» gesteckt. «Ich bin nichts dergleichen», protestierte Obaro immer wieder. «Ich mache keinen Sprechgesang. Ich passe nicht in die urbane Schublade. Dass ich so singe, wie ich singe, ist bloss darauf zurückzuführen, dass ich als Sänger eben shit bin.» Der Lockdown ist umso frustrierender, als Ghostpoet mit dem neuen Album allerhand musikalische Risiken eingegangen ist und nur allzu gern erlebt hätte, wie ein Live-Publikum das Ergebnis aufnehmen würde. Zum ersten Mal zeichnete er allein für die Produktion verantwortlich. Es bedeutet, dass seine klangliche Vision nicht mehr durch eine fremde Linse gefiltert wird, ehe sie an unser Ohr dringt. «Die beiden letzten Alben von Talk Talk haben mir als Wegweiser gedient», erklärt er. Er habe sogar die Memoiren von Phill Brown gelesen, dem Produzenten dieser Werke, um herauszufinden, wie sie entstanden seien. Er lud die Musiker einzeln ins Studio ein – das Spektrum reichte von Viola über Bassgeige, Sax und Perkussion bis Mellotron –, erklärte ihnen, was er sich von ihnen wünschte, und liess sie walten. Danach suchte er aus den verschiedenen Beiträgen die Segmente heraus, die ihm am besten gefielen, fügte ihnen seine eigenen Geräusche und Gesänge bei und setzte alles zu einer narkotisierend dichten, detailreichen Klangwelt zusammen, die mit jedem neuerlichen Genuss reichhaltiger wirkt. Zuvorderst steht immer die sonore Bassstimme. Sie rückt kaum je von der geisterhaften, winzigen Tonlage ab, in der es ihr wohl ist. In diesem virtuosen Minimalismus steckt viel hypnotische Kraft.
Ghostpoet: «I Grow Tired And Dare Not Fall Asleep» (PIAS/MV)
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Brief an die Menschheit Buch Georges Saunders’ «Fuchs 8» ist
ein witziges und zugleich himmeltrauriges Märchen für Gross und Klein. Fuchs 8 war schon immer neugierig. So neugierig, dass er sich jeden Abend zu den Menschen schleicht. Vor allem, seit er diese schöne Musik aus Wörtern gehört hat. «Fast ziniert von disen Musikwörtern» will er sie «tot tal versteen». Schon bald spricht er fliessend und im besten Jugendslang («Korrekk, Alter!») «Mänschisch». Und auch wenn ihn manches an den Zweibeinern stutzig macht – sie reden viel Unsinn über «Fükse, Hüner, Beren und Oilen» –, gibt er bei den anderen Füchsen mächtig mit seinen Kenntnissen an. Fuchs 28, der «Krose Fürer», beschliesst, dieses Können «zum Nuzzen der Kruppe» einzusetzen und führt Fuchs 8, der auch das «Alfa-Bett» gelernt hat, zu einem grossen Schild mit der Aufschrift «Fuksblikk Zenter». Was das bedeutet, wird den Füchsen auf erschreckende Weise klar, als «Elkawes» kommen, die alle Bäume ausreissen und den Fluss verdrecken. Bald gibt es kein Futter mehr, die Füchse werden mager und viele verhungern. Doch Fuchs 8 ist auch ein «Tagtroimer». Als er spitzkriegt, dass es im Shoppingcenter eine «Fressmaile» gibt, schlägt er beim nächsten «Kruppenmiting» vor, sich das Futter dort zu holen. Die Menschen seien «nett und kul» und würden sicher was abgeben. Doch nur sein bester Freund, Fuchs 7, wagt es, ihn zu begleiten. Zuerst geht auch alles gut, und sie machen reiche Beute. Aber dann geraten sie beim «Paar King» an zwei Bauarbeiter, die Fuchs 7 mit Steinen und Fusstritten töten. Entsetzt flieht Fuchs 8 vor der erbarmungslosen «Grau Sarmkeit» und schreibt im Exil einen Brief an die Menschheit. Der amerikanische Autor Georges Saunders hat mit «Fuchs 8» ein modernes Märchen für Gross und Klein geschrieben, das – begleitet von den federleichten Illustrationen von Chelsea Cardinal – zugleich witzig und himmel traurig ist. Ein Märchen, in dessen Zentrum die Frage seines tierischen Protagonisten steht, warum «die Kruppe, die so vil kann, so böse ist». Wie konnte der Schöpfer einen so «krosen Feler» machen? Der Blick, der dabei aus Fuchsaugen auf das rücksichtslose Treiben der Menschen geworfen wird, ist entlarvend. Und dass Fuchs 8 so spricht und schreibt, wie ihm der Schnabel bzw. die Schnauze gewachsen ist, stellt unsere «Musikwörter» auf spielerische Weise auf den Prüfstand. Für Fuchs 8 geht das Märchen gut aus. Er findet sein «Heppi Ent». Wir Menschen müssen uns unser Happy End CHRISTOPHER ZIMMER erst noch verdienen.
George Saunders: «Fuchs 8» Luchterhand 2019. CHF 18.90
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Winterthur Material-Archiv, interaktives Labor für Materialrecherchen, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Gewerbemuseum Winterthur, Kirchplatz 14. gewerbemuseum.ch Das Material-Archiv im Gewerbemuseum Winterthur ist permanent eingerichtet. Was uns aber genau jetzt – ganz aktuell! – daran gefällt: der Gedanke, dass all die Schülerinnen und Schüler, die sich in den letzten zwei, drei Monaten das selbständige Erforschen der Welt (oder halt einfach des Schulstoffs) beigebracht haben, hier ihre neue Selbständigkeit gleich weiter ausleben könn(t)en. Das Material-Archiv ist ein Labor für Materialrecherchen mit etlichen Materialmustern, Glas, Metall, Holz, Papier, Kunststoff, Gesteine, Keramik, Farbpigmenten oder auch Textilien und Leder. An Experimentiertischen lässt es sich herumpröbeln: Welche Metalle leiten Strom oder Wärme gut oder schlecht? Man kann Lichtbrechungen beobachten, durch Prismen gucken oder mit der eigenen Farbwahrnehmung experimentieren. Ein Ort für technisch-wissenschaftlich oder gestalterisch Interessierte und andere haptisch Veranlagte, Erwachsene und Kinder. DIF
Riehen bei Basel «Fast täglich kamen Flüchtlinge», Theaterspaziergang, Fr bis So, 12. bis 14. Juni, Sa/So, 20./21. Juni, je 18 Uhr (Fr, 12. Juni auch 14.30 Uhr; Fr, 19. und 16. Juni nur 14.30 Uhr), weitere Vorstellungen August bis November, Start Inzlinger Zoll. exex.ch Es muss schon ein spezielles Gefühl gewesen sein, wenn man während des Zweiten Weltkriegs in Riehen lebte und wusste: Bei einem Angriff auf die Schweiz wäre die Gemeinde, direkt an der Grenze
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zu Deutschland, sofort aufgegeben worden. Die Bedrohung war allgegenwärtig, und wer es sich leisten konnte, zog weg. Wer blieb, war mit Flüchtlingen konfrontiert, die hier über die Grenze kamen. Und damit mit ungemütlichen Gewissensfragen. Entschied man sich für den Verrat oder für das selbstverständliche Helfen? Verrat gegenüber wem? Gegenüber dem Staat oder gegenüber Menschen, die Hilfe benötigten? Was war grösser – der Altruismus oder die Angst vor der Gefahr für einen selbst? Das ex/ ex-Theater lässt die Kriegssituation mit all ihren Dilemmata und menschlichen Dramen spürbar werden. Das Publikum begegnet Menschen auf der Flucht. Einer jüdischen Frau, die Basel erreichen will. Einem französischen Soldaten, der nicht weiss, ob er noch in Deutschland ist oder schon in der Schweiz. Einem Grenzwächter zwischen blindem Gehorsam und Menschlichkeit. Die Vergangenheit ist plötzlich ganz nah. Und die Themen leider aufs Neue immer wieder aktuell. DIF
St. Gallen «Geta Brătescu – L’art c’est un jeu sérieux», Ausstellung, bis So, 15. November, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 20 Uhr, Kunstmuseum St. Gallen, Museumstrasse 32. kunstmuseumsg.ch Geta Brătescu (1926–2018) gilt als eine der bedeutendsten rumänischen Avantgardistinnen des 20. Jahrhunderts. Sie nutzt das Prinzip der Serie, des Aneinanderreihens und des Überlagerns und stellt damit nicht nur Fragen der Abstraktion, sondern interessiert sich auch für das politische Potenzial des Bildes und die subjektive Erfahrung von Erinnerung und Geschichte. In den 1970er- und 80er-Jahren kommt Brătescu den internationalen Avantgarden immer näher. Gegenstand ihrer Performances wird die Erforschung des Ichs, es entstehen filmisch festgehaltene Happenings und Serien von Selbstporträts. Collagen und Installationen aus fragilen Materialien gehen in Richtung Postminimalismus. Brătescu setzt sich bewusst mit dem Projekt der Moderne auseinander und wird so zu Scharnierfigur zwischen moderner und postmoderner Kunst aus dem osteuropäischen Kontext. DIF
Zürich 7/11-Performance-Supermarket, bis Fr, 19. Juni, 19 bis 23 Uhr, Theater Neumarkt, Neumarkt 5, Eintritt: Münzeinwurf (Kleingeld mitbringen) theaterneumarkt.ch Gegen Münzeinwurf öffnet sich der Vorhang zu einer behaglichen Kabine, die für 15 Minuten den Blick auf das Bühnengeschehen hinter einer verglasten Wand freigibt. Die Slots sind mit Künstlerinnen und Künstlern aus der freien Szene besetzt – ob es Tanz ist oder Performance, eine Lesung oder ein Konzert, ein DJ-Set oder eine Rede, wird sich erst im Kabinchen zeigen. Einzelne Performances werden zusätzlich ins Netz gestreamt: analog und digital, nah und fern zur gleichen Zeit. Der Supermarket ist das erste grosse Performance-Projekt in der Schweiz während der Corona-Pandemie und wagt zaghafte Versuche, sich wieder gemeinsam in einem Raum zu versammeln. Das Konzept spielt mit der Idee der Grundversorgung: An die Stelle von Mitteln des täglichen Bedarfs treten Mittel des kulturellen Bedarfs. DIF
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BILD(1): MICHAEL LIO/ALEXANDRA NOTH, BILD(2): EX/EX THEATER, BILD(3): MIHAI BRĂTESCU, COURTESY OF THE ESTATE OF GETA BRĂTESCU, HAUSER & WIRTH AND IVAN GALLERY BUCHAREST, BILD(4): THEATER NEUMARKT
Veranstaltungen
sammlung vor ein paar Tagen waren auffällig viele Velokartons zu sehen. Sie sind auch schwer zu übersehen, da noch grösser als Fernsehkartons. Im Internet bestellt, in der Wohnung zusammengeschraubt. Es herrscht denn auch ideales Velowetter. Die Lenkerin eines Elektrovelos klappt beim Parkieren ihre orangefarbige Distanzkelle ein. Auch die gibt es noch. Eine Zeitlang waren sie an fast jedem Velo zu sehen, bis sie abbrachen, zerbröselten und schliesslich wieder verschwanden, aber eben nur fast. Oder sie erleben ein Revival.
Tour de Suisse
Pörtner in Horgen Surprise-Standort: Migros Einwohnerinnen und Einwohner: 22 897 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 28,7 Sozialhilfequote in Prozent: 3,9 Berühmte Persönlichkeiten: Pfarrer Ernst Sieber (1927 – 2018), Gotthard-Sänger Steve Lee (1963 – 2010)
Hier wird das Abstandhalten grossgeschrieben, auf grosse Plakate geschrieben. Eingang und Ausgang des Ladens und des dazugehörigen Restaurants sind getrennt. Absperrgitter leiten das Publikum. Es ist ein bisschen wie am Flughafen, und das ist eigentlich etwas Schönes, wenn Reisen schon nicht möglich sind, kommt so immerhin ein wenig Ferienstimmung auf. Trotz der gross angeschriebenen Ein- und Ausgänge kommt es immer wieder zu Irrungen und Wirrungen, weil aus Versehen zum Eingang Restaurant anstatt zum Eingang Laden eingefädelt wird. Menschen kehren schwungvoll um, nach zwei Schritten ihren Irrtum bemerkend. Es sieht aus, als würden sie gegen eine unsichtbare, weiche Wand prallen. Im Restaurant wurde das Mobiliar, das aufgrund der Abstandsregeln überzählig ist, in die Kinderecke gestellt, die zurzeit auch nicht benutzt werden kann. Surprise 477/20
Für die neben dem Gratiszeitungskasten gestapelten Säcke mit Gartenerde interessiert sich niemand. Erscheinen eigentlich noch Gratiszeitungen? Oder wieder? Eine Frau scheint es auch nicht so genau zu wissen, schaut stirnrunzelnd in den Kasten und entfernt sich wieder. Einige Zeit später kommt eine andere, greift beherzt hinein und zieht ein Exemplar hervor. Es gibt sie also noch, die Gratiszeitung, nun aber ist der Kasten wirklich leer. Wer den Labyrinthweg zum Restaurant erfolgreich gemeistert hat, wird unvermittelt von einer bockigen, automatischen Türöffnung aufgehalten, die verstockt reagiert, dabei hat es im ausgedünnten Lokal noch genug Platz. Ein Gruppetto Rennvelofahrer zieht vorbei, fünf Mann, so viel wie erlaubt. Velofahren erlebt einen Boom, bei der Karton
Zum ersten Mal bildet sich vor dem Ladeneingang eine Schlange. Die Kundschaft ist diszipliniert und rückt von einem gelben Streifen zum nächsten vor. Offenbar gibt es Zeiten, zu denen noch viel mehr Leute anstehen, die gelben Streifen sind das ganze Trottoir entlang zu sehen, bis sie hinter der Strassenecke verschwinden. Einige halten auch den doppelten Abstand ein, sicher ist sicher. Im Restaurant wissen die Leute nicht wohin, werden angewiesen, den Parcours in der vorgeschriebenen Richtung zu absolvieren, verlieren das Interesse und kehren wieder um, gehen zum Eingang hinaus. Lieber hungrig oder unterkoffeiniert bleiben als den Individualismus aufgeben und den vorgeschriebenen Weg einschlagen. Für eingefleischte Individualisten, die in Massenverpflegungsgaststätten einkehren wollen, bleiben die Zeiten schwer. So lange, bis das letzte Absperrgitter verräumt ist.
STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Wir alle sind Surprise Überleben im Niemandsland
#476: Endlich legal
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«So lange eingesperrt»
Wie schön, dass Surprise wieder zurück ist! Und dann noch mit einer so gehaltvollen Ausgabe. Der Artikel über die Ostukraine ist sehr empfehlenswert. Das Buch «Graue Bienen» vom interviewten Autor Andrej Kurkow ist übrigens wunderschön, berührend, informativ. Ich hoffe auf baldigen Frieden in der Ostukraine und wünsche Surprise viel Erfolg.
Es freut mich, dass ihr wieder da seid. Im Strassenmagazin vom 29. Mai bis 11. Juni hat mich der Artikel ab Seite 16 sehr berührt. Es ist nicht die erste Geschichte, die mich beeindruckte. Deshalb danke ich für eure Zeitschrift. Trotzdem würde es mich natürlich interessieren, unter welchen genauen Umständen R. Rouabhi so lange eingesperrt wurde. Wie würde der Kanton die Sachlage darstellen? Sehr beeindruckt bin ich von Lukas Siegfried. Sein offenes Herz tut vielen Menschen gut.
M. SCHEURING, ohne Ort
D. OBERSON, Böckten
#474: «Und schon zeigen sie wieder mit dem Finger auf uns»
Kampagne «Durehebe»
«Schlicht grandios»
«Aus Erfahrung»
Ich kenne die Reportagen von Klaus Petrus aus anderen Magazinen und bewundere, wie er mit Stift und Kamera gleichermassen in aller Härte Leid dokumentiert und dabei doch immer menschlich bleibt. Dass er jetzt auch für Surprise Reportagen macht, finde ich schlicht grandios! Sie haben ab sofort einen neuen Leser und ich freue mich auf viele weitere spannende und berührende Beiträge.
Noch hilfreicher (als die Kampagne zum Durchhalten, Anm. d. Red.) wäre es, wenn man diesen Menschen (den Surprise-Verkaufenden, Anm. d. Red.) bei der Suche nach einem richtigen Job helfen würde. Das bringt mehr als herumstehen und warten, bis jemand kommt. Das geht auch auf die Psyche. Ich rede aus Erfahrung. Ich habe früher in Winterthur in der Marktgasse Hefte verkauft, fast vier Jahre lang. Bitte mal ein schönes Thema bringen, nicht nur immer über Armut, das ist echt kein verkaufsförderndes Mittel.
M. SALIN, Fribourg
M. WEILENMANN, Facebook
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Sybille Arendt, Jörg Armbruster, Maurizio Bustamante, Dimitri Grünig, Urs Habegger, Hanspeter Künzler, Maria Rehli
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FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE
Internationales Verkäufer-Porträt
«Ich habe mir alles von der Seele geschrieben» Jörg Petersen ist eigentlich immer bester Laune. Die blauen Augen des Verkäufers der Hamburger Strassenzeitung Hinz&Kunzt sind von fröhlichen Fältchen umrahmt, meist umspielt ein Lächeln seine Lippen. Trotz seiner Lebensgeschichte strahlt der 49-Jährige einen erstaunlichen Optimismus aus. Das schätzen auch seine Kunden in Hittfeld südlich von Hamburg, für die Jörg quasi zur Familie gehört. Seit acht Jahren verkauft er dort regelmässig das Strassenmagazin. Durch eine Kundin hat der Verkäufer vor einigen Jahren auch ein Zimmer gefunden. Und mit einer anderen Kundin, Karin Brose, hat er jetzt sogar ein Buch veröffentlicht. Mehrere Monate haben der Hinz&Kunzt- Verkäufer und die Autorin und ehemalige Studienrätin an «Ich seh den Himmel …, aber die Strasse bleibt im Kopf» gearbeitet. Der schmale Band enthält Texte von beiden: über das Leben auf der Strasse, über Scham, das Überleben – und über Hoffnung und Hilfe. Karin Brose fand die intensive Zusammenarbeit mit Jörg bereichernd. «Ich habe einen sehr ungewöhnlichen Menschen kennengelernt», sagt die 69-Jährige. «Und ich habe viel gelernt. Normalerweise bin ich ein bisschen wie eine Dampfwalze: Ich nehme mir etwas vor und ziehe das durch. Mit Jörg Petersen ging das nicht. Er hatte sein eigenes Tempo.» – «Es war eine verdammte Herausforderung», fasst Petersen zusammen. Ein ungewohnt krasser Ausdruck für den immer so sanft auf tretenden Mann. Aber zwischendurch geriet sein Schreib fluss ins Stocken. «Als das Persönliche kam, war mein Papierkorb ziemlich voll: Ich habe viele Seiten weggeworfen. Manchmal kamen mir dabei die Tränen.» Mit «das Persönliche» meint Petersen vor allem seine Kindheit. Der Vater war heimlicher Alkoholiker und gewalttätig, «Gürtel und Zollstock kamen regelmässig zum Einsatz». Petersen stand unter Druck, auch in der Schule, und hatte ständig Angst zu versagen. Zweimal hatte er einen Fahrradunfall, war bewusstlos, musste lange im Krankenhaus liegen. «Zum Glück hatte ich einen tollen Klassenlehrer und eine Oma, der ich mein Herz ausschütten konnte.» Als er volljährig wurde, zog er aus. «Ich musste da weg», erzählt Petersen. Sein Lächeln ist beim Erzählen erloschen. Es folgen viele Stationen: «Zuerst habe ich auf Sylt in einem Eiscafé gejobbt. Da habe ich zuerst im Strandkorb geschlafen.» Später landete er in einer Drücker 30
Jörg Petersen, 49, verkauft das Hamburger Strassenmagazin Hinz&Kunzt und hat nun selber ein Buch geschrieben.
kolonne. Es folgten Jobs in Berlin in einer Kneipe, als Klomann, als Pförtner und als Vertreter für Schallplatten. Die Wohnverhältnisse waren meist prekär: Petersen bewohnte oft nur ein Zimmer oder war Untermieter in einer Wohnung. «Nach ein paar Jahren wurde mir Berlin zu stressig», sagt Petersen. Er kam nach Hamburg, lebte kurze Zeit auf der Strasse, fand dann ein Zimmer und einen Job als Briefträger. Den machte er zehn Jahre lang. «Das war am Anfang toll: frische Luft und freie Zeiteinteilung.» Aber Petersen wurde oft als Springer eingesetzt, hatte immer neue Touren, für die er lange brauchte. «Ich fühlte mich überfordert – und fing irgendwann an zu spielen. Heute bereue ich das.» Er verschuldete sich und verlor die Wohnung, er lebte auf der Strasse und schaffte es aber trotzdem noch, zur Arbeit zu gehen. «Zwei, drei Kollegen wussten davon, aber das war an strengend.» Irgendwann konnte er nicht mehr, meldete sich krank – «und dann habe ich nie mehr etwas von mir hören lassen». Stabilisiert hat sich Jörg erst wieder durch den Verkauf des Strassenmagazins Hinz&Kunzt. «Dadurch bin ich sesshaft geworden, und ich habe ein Umfeld, das mich unterstützt.» Mit seiner Vergangenheit hat Jörg seinen Frieden gemacht. «Ich bin dankbar für jeden Schritt, das hat meinen Charakter gestärkt.» Auch das Buch hat ihm dabei geholfen. «Ich habe mir alles von der Seele geschrieben.»
Aufgezeichnet von SYBILLE ARENDT Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von HINZ&KUNZT Surprise 477/20
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