Grünes Wachstum – ein Mythos? Dank Schulden wächst die Weltwirtschaft und damit unser Wohlstand. Kann das ewig so weitergehen? Für Wachstumskritiker*innen spricht eines dagegen: unser Planet. TEXT ANDRES EBERHARD
Momentan haben wir keine Wahl: Die Wirtschaft muss wachsen. Andernfalls machen Unternehmen weniger Gewinn und müssen sparen. Sie kaufen weniger bei Lieferanten ein, worauf auch die seden Gürtel enger schnallen müssen. Beide entlassen Angestellte. Das stellt einerseits den Staat vor Probleme. Denn am Erwerb hängen die Renten und Sozialversicherungen. Andererseits trifft es die Menschen direkt: Sie haben weniger Geld, konsumieren weniger, die Gewinne sinken weiter. «Ohne Wachstum gerät die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale», sagt Ökonom Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er hat das Buch «Der Wachstumszwang» geschrieben. Es zeigt, dass wir uns zu immer mehr Konsum verpflichtet haben. Dabei seien unsere grundlegenden Bedürfnisse längst gedeckt, führt Binswanger im Gespräch aus. Über mehrere Jahrzehnte habe uns Wachstum glücklicher gemacht, weil es uns mehr Wohlstand und Wohlbefinden gebracht habe. Doch in den westlichen Ländern sei das vorbei, wie die Glücksforschung zeige. «Wir brauchen heute nicht noch mehr Konsum, weil uns das glücklicher machen würde. Sondern damit die Wirtschaft nicht einbricht.» Wachstum gilt als Garant für Wohlstand und sozialen Frieden. Doch das könne nicht ewig so weitergehen, argumentieren Wachstumskritiker*innen. «Unendliches Wachstum auf der Basis von endlichen Ressourcen ist eine Illusion», sagt Thomas Schneeberger von Décroissance Bern, einem Vertreter der Degrowth- oder Postwachstumsbewegung (siehe Box). «Wir betreiben einen rücksichtslosen Missbrauch an unserem Planeten.» Und einer der Vordenker der Bewegung, der britische Ökonom Tim Jackson, schreibt in seinem Buch «Wohlstand ohne Wachstum»: «Unsere gesamte Wirtschaftsordnung baut auf ewigem Wachstum auf – aber nun brauchen wir einen anderen Motor.» Müssen wir wirklich unser ganzes System umkrempeln, um den Klimakollaps abzuwenden? Oder wäre es auch möglich, lediglich die Stellschrauben auf ein nachhaltigeres, «grünes» Wachstum umzustellen? In dieser Frage sind die Kritiker*innen des jetzigen Systems uneins: Schneeberger von Décroissance Bern ist überzeugt, dass es einen umfassenden System- und Kulturwandel braucht. Wir müssten grundsätzlich wegkommen vom «Immer mehr»: «Konsum wird mit Lust verbunden. Dabei kann auch Verzicht lustvoll sein.» Als Beispiel nennt er Reparieren und Teilen statt Wegwerfen und Neukaufen. «Elektronikgeräte sind heute darauf ausgelegt, dass sie nach einer Weile kaputtgehen – damit wir wieder neue kaufen müssen.» Das sei mit Blick auf den Umgang mit den Ressourcen unserer Erde «Schwachsinn». Dass es auch anders gehe, wolle man im Kleinen zeigen. Er selbst helfe beispielsweise in einem Repair-Café aus. Ökonom Binswanger hingegen glaubt nicht, dass solche Projekte das System grundlegend verändern könnten. «Das ist reine Utopie.» Überhaupt gebe es keinerlei Anzeichen für einen Wandel. «Nichts wächst beständiger als der Konsum.» Binswanger führt 20
aus, dass selbst Nischen wie zum Beispiel genossenschaftlicher Gemüseanbau nur funktionierten, weil sie aus der Wirtschaft quersubventioniert würden. Das heisst, dass dort Menschen einkaufen, die ihr Geld auf traditionelle Art und Weise verdienen. «Die Degrowth-Bewegung vernachlässigt die Dynamik der Wirtschaft, die vom Wachstum abhängig ist», so Binswanger. Das ist indes auch Schneeberger bewusst. Neben persönlichem Verzicht brauche es auch grosse politische und gesellschaftliche Reformen, sagt er. «Wir haben kein pfannenfertiges Rezept, wie eine Postwachstumsgesellschaft aussehen soll. Wir sehen unsere Aufgabe zuerst darin aufzuzeigen, dass es mit dem Wachstum nicht ewig weitergehen kann. Solange der Patient die Diagnose nicht akzeptiert, wird er auch das Medikament nicht akzeptieren.» Reparatur-Cafés oder gemeinsamer Gemüseanbau sind für ihn eher Leuchtturm-Projekte, an denen man sich orientieren kann, wie Alternativen zur Konsumwirtschaft aussehen könnten. «Die Natur ist zu günstig» Tatsächlich sind Konsum und Wachstum heute grundlegende Teile unseres Wirtschaftssystems. Das macht es schwierig, sich ein anderes Wirtschaften überhaupt vorzustellen. Genau das aber hat Irmi Seidl getan. Die Ökonomin der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) sagt: «Wir haben unsere Systeme so gebaut, dass sie vom Wachstum abhängig sind.» Nun würden diese an ihre Grenzen stossen. Neue Technologien ermöglichen zwar eine höhere Produktivität und machen damit Wirtschaftswachstum möglich. Sie ersetzen aber auch Angestellte, beispielsweise die Kassierer*innen im Supermarkt. Damit in der Folge die Arbeitslosigkeit nicht steigt, braucht es wiederum Wachstum. Die Wachstumsspirale dreht sich also permanent. Die Herausforderung bestehe darin, die Wirtschaft so umzugestalten, dass wir nicht mehr vom Wachstum abhängig sind, sagt Seidl. In ihrem Buch «Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft» macht die Ökonomin konkrete Vorschläge. Einer der wichtigsten: die Erwerbsarbeit reduzieren und stattdessen andere Tätigkeiten wie Freiwilligenarbeit fördern. «Menschen sind vielfältige Wesen, die sich durch verschiedenes Tätigsein entfalten, nicht nur durch Erwerbsarbeit», sagt Seidl. Und das liebe Geld? Damit auch Menschen mit tiefen Einkommen über die Runden kommen, brauche es einen Lohnausgleich. Und da auch der Staat heute von den Löhnen lebt, müssten für die Steuern andere Quellen angezapft werden. Seidl nennt Umwelt-, Erbschafts-, Vermögens- Finanztransaktions- oder Unternehmenssteuern. In Bezug auf die Frage, ob wir nicht auch nachhaltiger, grüner wachsen könnten, ist Seidl pessimistisch. Solange die Preise für Konsumgüter die ökologischen Kosten nicht widerspiegeln, sei es kein Wunder, dass wir nicht nachhaltig konsumieren. «Die Natur ist zu günstig. Energie und Rohstoffe haben als solche keinen Preis. Wir bezahlen lediglich für die Förderung, den Transport Surprise 505/21