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Strassenmagazin Nr. 505 30. Juli bis 12. August 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Schulden-Serie

Das grosse Geld Viele Staaten leben auf Pump, auch die reiche Schweiz. Kommt das gut? Seite 8

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

D N I S WIR F U A R WIEDE ! TOUR

ERLEBEN SIE ZÜRICH, BASEL UND BERN AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Zürich, Basel oder Bern. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang


TITELBILD: MARCEL BAMERT

Editorial

Komplexe Welt Als wir in der Redaktion darüber sprachen, dass wir dieses Jahr einen grossen Schwerpunkt auf das Thema Schulden setzen wollten, war klar: Es wird dabei vor allem um jene Themen gehen, die auch unsere Verkaufenden und ­Stadtführer*innen bewegen – Wege in die Über­ schuldung und Möglichkeiten, die Schulden­ spirale auch wieder zu durchbrechen. In den Medien aber begegnet uns das Thema häufig in Zusammenhang mit Staatsschulden, jüngst als es darum ging, wie die Schweiz mit der durch die Corona-Hilfen entstandenen Neuverschuldung umgeht. Immerhin war es möglich, mittels neuer Kredite die Folgen der Corona-Krise ­abzumildern. Nun ist aber auch der Schuldenberg höher. Was bedeutet das? Mir fielen die Erzählungen der griechischen ­Kolleg*innen vom Strassenmagazin Shedia ­wieder ein: War das Projekt in Athen und Thessaloniki nicht gegründet worden, um Menschen aufzufangen, die infolge der griechischen Staats­ schuldenkrise verarmt waren, ihre Jobs und ­Pensionen verloren hatten, aus ihren Wohnungen geworfen wurden? Wie kann es sein,

4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

Kindesschutz

5 Vor Gericht

Der Berserker

8 Schulden-Serie – Teil 3

Wohlstand dank Schulden

10 Damoklesschwert

Staatsschulden

14 Die Welt in Schulden

6 Verkäufer*innenkolumne 16 «Der Staat ist kein

Reaktionen

7 Moumouni …

… hat keine Zeit

Selbstzweck»

20 Grünes Wachstum –

ein Mythos?

dass Schulden einmal Wohlstand sichern und ein anderes Mal einen ganzen Staat in grosse Schwierigkeiten stürzen? Dies möchten wir gern verstehen. Jetzt, wo auch die Verschuldung der Schweiz sich signifikant erhöht hat. Leider ist es nicht einfach so, dass beispielsweise hohe Staatsschulden in der Folge steigende Armut bedeuten oder ihre ­Aufnahme immer Wohlstand sichert. Je weiter wir versucht haben zu verstehen, wie diese Dinge tatsächlich zusammenhängen, desto komplexer wurde es. Was von Zeit zu Zeit auch eine schöne Erkenntnis ist: Unsere Welt ist eben weder einfach zu ­begreifen noch einfach zu erklären. Das gilt natürlich, und vielleicht im besonderen Masse, für die ­global verflochtene ­Wirtschaftswelt. Aber ein paar Zusammenhänge haben wir wohl entdeckt – und versucht einzuordnen. SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

25 Kommentar 26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse

Pörtner in Pfäffikon SZ

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Plötzlich war nichts mehr wie vorher»

22 Schuldig durch

Schulden

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören. FOTO: DANIEL BOUD

Zu viel Zucker In Deutschland gelten laut Robert-­Koch-­ Institut 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen als übergewichtig, knapp 6 Prozent gar als fettleibig. Zwei Drittel aller Männer und die Hälfte der Frauen sind übergewichtig. Die WHO bezeichnet zuckerhaltige Getränke als «eine der wesentlichen Ursachen» für Übergewicht.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Schutzlose Feldarbeit Mehrere hundert Erntehelfer*innen haben sich auf deutschen Spargelfeldern mit Covid-19 angesteckt. Bisher wurden nur 140 Fälle der zuständigen Sozialversicherung gemeldet, kein einziger wurde als Arbeitsunfall anerkannt. Trotz Berichten über miserable Arbeitsbedingungen der Saisonniers hat der Deutsche Bundestag im Mai 2020 beschlossen, dass Erntehelfer*innen bis zu 102 Arbeitstage ohne Versicherung angestellt werden dürfen.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Tradition und Moderne Die Missachtung der Rechte der Ureinwohner*innen ist ein dunkles Kapitel der neueren Geschichte Australiens. Das Bangarra Dance Theatre setzt sich seit seiner Gründung 1989 gegen das Vergessen ein, indem es tänzerisch die Tradition, Geschichte und Kultur der Aborigines und Torres Strait Islanders mit der Moderne verbindet.

BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

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Blosse Lippenbekenntnisse? 79 Prozent der Österreicher*innen würden beim Autokauf auf den Treibstoffverbrauch achten. Das geht aus einer Studie der Uni Wien zum Umweltbewusstsein hervor. Zugleich sind SUVs seit Jahren die beliebtesten Neuwagen in Österreich. Der Wille zum Umweltschutz und das Konsumverhalten driften offenbar stark auseinander.

MEGAPHON, GRAZ

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Kindesschutz Lange Zeit war Kindesschutz Privatsache. Ab dem 19. Jahrhundert erklärte sich der Staat zunehmend für das Wohlergehen der Kinder zuständig. Er tat dies häufig missbräuchlich. Unter dem Vorwand der «Verwahrlosung» wurden armen Familien die Kinder weggenommen. Die staatlichen Übergriffe nahmen auch mit der Professionalisierung des Vormundschaftswesens Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ab. Mit «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» wurden Kinder aus armen Familien oder solche mit jenischem Hintergrund als «Verdingkinder» auf Bauernhöfe geschickt oder in Heime gesteckt. Dort mussten sie hart arbeiten und wurden teilweise misshandelt. Die Situation besserte sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch erst seit 1976 müssen sich staatliche Eingriffe stets am «Kindeswohl» orientieren. Die Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention 1997 stärkte die rechtliche Stellung der Kinder weiter. Gewalt als Erziehungsmethode gilt seit 2012 als verboten. Ein ausdrückliches Gesetz dazu gibt es allerdings nicht. Im Jahr 2013 wurden die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) eingeführt. Ausgebildete Fachkräfte lösten die von Laien geführten Vormundschaftsbehörden ab. Die KESB klärt Meldungen von Kindeswohlgefährdungen ab und greift, wenn nötig, ein. Jedoch stand die Behörde von Anfang an massiv in der Kritik. Problematisch ist, dass die KESB vor allem der Maxime «Hilfe durch Eingriff» folgt. Erstrebenswert wäre eher «Hilfe statt Eingriff»: Das hiesse, dass sie wie in vielen anderen Ländern üblich einvernehmliche Kinderund Jugendhilfe in den Vordergrund rückt statt Sanktionen. EBA

Quelle: Kay Biesel, Clarissa Schär: Kindesschutz. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf 2020. Surprise 505/21

Vor Gericht

Der Berserker Manche Typen scheinen straffällig zu werden, sobald sie morgens die Augen öffnen. So auch der 30-jährige Kraftprotz kürzlich vor dem Obergericht Zürich. Sein Vorstrafenregister ist vielfältig: unter anderem gewerbsmässiger Diebstahl, Pornografie, Waffenbesitz, Körperverletzung, Entwendung eines Motorfahrzeugs. Bereits laufen neue Verfahren wegen Erpressung und Begünstigung. Im vorliegenden Fall geht es um Körperverletzung. Einer Frau soll er mehrfach ins Gesicht geschlagen haben, weil sie ihre Handtasche auf seinem Töff abgestellt hatte. Ein anderes Mal habe er von seinem Motorrad aus einen Velofahrer zu Boden gestossen und dann verprügelt. Weil das Velo nach dem Vorfall ebenso verbeult war wie sein Fahrer, will die Staatsanwaltschaft zudem eine Verurteilung in Sachbeschädigung. Ausserdem heisst es in der Anklage, der Mann habe einem Taxifahrer seinen Toyota Prius geraubt. Und Misswirtschaft in seiner eigenen Taxifirma betrieben. Dass er dem Taxifahrer das Auto abgenommen habe, gibt er zu. Mit dem Rest habe er nichts zu tun. Mehr sagt er nicht, betont vor allem einen Wandel in seinem Leben: Älter sei er geworden, reifer. Auch sein Anwalt glaubt, man könne ihm eine gute Prognose stellen. Er fordert einen «totalen Freispruch». Bezüglich der Taten rund um den Töff sei er auf den Überwachungsvideos nicht klar zu identifizieren. Bei der Sache mit dem Taxi handle es sich höchstens um unerlaubte Selbsthilfe. Dessen Fahrer sei beim Vater des Beschuldigten verschuldet. Als Sohn habe sich dieser verpflichtet gefühlt, etwas zu tun, als er ihn zufällig sah. Deshalb habe er sich das

Fahrzeug als Pfand angeeignet. Den ermittelnden Behörden wirft der Strafverteidiger prozessrechtswidriges Vorgehen vor, der Vorinstanz ein falsches Verständnis des Strafrechts. Diese hatte den Beschuldigten zu einer Freiheitsstrafe von 65 Monaten verurteilt. Darin enthalten: 22 Monate für frühere Delikte, die er nun absitzen soll, weil er sich nicht bewährt hat. Zu alledem sagt der Staatsanwalt zusammengefasst: Also bitte sehr, wir haben es mit einem Berserker zu tun! Wir sind doch nicht im Wilden Westen! Grundsätzlich sehen die drei Oberrichter das Gebaren des Mannes genauso. Der Beschuldigte sei Mitglied in einem Motorrad-Club. Es stimme zwar, der Mann sei auf den Videos nicht glasklar zu erkennen. Aber Kennzeichen und Marke des Motorrads sehr wohl – und dessen eingetragener Halter sei der Beschuldigte. Für das Gericht bestehen deshalb keine Zweifel an der Täterschaft bei den rabiaten Wutausbrüchen auf der Strasse. Hingegen ist der Taxiraub für das Gericht nicht erwiesen. Aber: Der Prius bleibt verschwunden. Deshalb kommt es zu einem Schuldspruch wegen unrechtmässiger Aneignung. Auch die Misswirtschaft ist für die Oberrichter nicht erstellt und die Behörden seien in der Tat nicht korrekt vorgegangen. Viel nützt das dem Beschuldigten nicht: Das Gericht schickt ihn trotzdem für 49 Monate ins Gefängnis.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Reaktionen Als meine Kolumne über meine Erlebnisse in der Schweiz erschien, war ich zuerst unsicher, wie die Leute reagieren würden. Ich erwartete, dass es auch negative Reaktionen geben würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Ich habe nur Gutes gehört und erlebt. Am eindrücklichsten fand ich eine Frau, die vorher schon hin und wieder ein Heft gekauft hatte. Eine Zeitlang gingen unsere Söhne in die gleiche Klasse, aber wir haben nie miteinander geredet und uns kaum gegrüsst. Seit sie meinen Text über Rassismus gelesen hat, kommt sie immer bei mir vorbei, und sie muss immer weinen, wenn sie mich sieht, weil es sie dermassen berührt hat, was ich alles erlebt habe. Ich muss mich dann fast verstecken, weil ich nicht auch weinen will. Doch dann reden wir miteinander und ich erkläre ihr, dass diese schlimmen Erlebnisse in der Vergangenheit liegen und mich nicht mehr bedrücken. Inzwischen habe ich in der Schweiz sehr viele liebe Menschen kennengelernt. Ich bin hier angekommen und fühle mich wohl.

Überhaupt ist das etwas, das mir in der Schweiz immer wieder auffällt. Die Leute sind am Anfang sehr verschlossen. Es braucht viel, bis sie sich öffnen, aber wenn sie einen kennenlernen, haben sie ein grosses Herz. Das konnte ich immer wieder erfahren. Inzwischen hat mir die Frau, deren Kinder zusammen mit meinen zur Schule gehen und die immer weinen muss, sogar ihre Mutter vorgestellt. Früher wussten wir nur ungefähr, wer die andere ist. Heute kennen wir uns wirklich.

SEYNAB ALI ISSE, 49, ist Somalierin und hat in ihrer letzten Kolumne «Angst vor Fremden» (Heft 495) über Rassismus geschrieben. Sie beobachtet immer wieder, dass ihr Schweizer*innen anfangs ablehnend gegenübertreten. Sie selbst ist aber nicht nur ein herzlicher, sondern auch ein hartnäckiger Mensch – und schafft es tatsächlich immer wieder, dass die Leute im zweiten Anlauf plötzlich positiv auf sie reagieren.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: DINAH WERNLI

Die Corona-Krise hingegen war auch für mich nicht einfach. Ich verkaufe in einem Einkaufszentrum, das wie alle Läden lange Zeit geschlossen war. Als die Geschäfte endlich wieder geöffnet wurden, habe ich mich wieder hingestellt, aber viel weniger Hefte verkauft. Das Problem ist, dass die Leute kein Bargeld mehr dabeihaben, seit man aufgefordert wurde, überall mit Karte zu bezahlen. Eines Tages fragte mich eine Frau, die regelmässig das Heft kauft, wie es so gehe, und ich schilderte ihr meine Lage. Sie sagte mir, dass sie für die katholische Kirchenzeitung arbeite und mir helfen wolle. Tatsächlich hat sie in der nächsten Ausgabe auf mein Problem aufmerksam gemacht und die

Leute aufgefordert, daran zu denken, Bargeld mitzunehmen. Das hat geholfen, ich habe gemerkt, es kommen Leute, die genau die sechs Franken für das Heft dabeihaben. Es ist das einzige Bargeld, das sie mitnehmen. Das hat mich sehr gerührt. Sie ist Katholikin, ich bin Muslima, trotzdem setzt sie sich für mich ein.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

weiten Vergleich der über ein Leben ­verteilten Geldsorgen dekadent zu finden. Ich finde es dekadent, so mit seiner ­Lebenszeit umzugehen. Mein Grossvater sagt, wenn wir einen Kaffee trinken gehen: So, jetzt brauchen wir sieben Minuten für den Kaffee, zwei Minuten zahlen, in zehn Minuten geht es weiter. Er hat jahrelang auf dem Bau gearbeitet. Im Akkord, also Entlohnung nicht nach Zeitstunden, sondern nach ­geleisteter Arbeitsmenge. Batsch batsch, Mörtel, Spachtel, Ziegelstein, batsch, batsch. Die Akkordarbeit verfolgt ihn noch bis heute, denke ich mir manchmal, wenn wir nur deshalb nicht mehr durch die Stadt rennen, weil er heute arthrosebedingt kaum noch laufen kann.

Moumouni …

… hat keine Zeit Jetzt ist Sommer und ich möchte in diesem Text dazu aufrufen, mehr zu chillen! Denn der Sommer in diesem kalten und arbeitsamen Land ist so kurz, dass es wichtig ist, mal zu chillen. Wenn es denn geht! Mir ist bewusst, dass viele Menschen nicht in der Situation sind, sich eine Auszeit nehmen zu können. Weil sie kranke Familienmitglieder ­haben, die sie pflegen, weil sie alleinerziehend sind, weil sie zwischen ungesichertem Aufenthalt und prekärer fi ­ nanzieller Situation dem ausbeuterischen Arbeitsmarkt derart ausgeliefert sind, dass sie es sich nicht aussuchen können, ob und wie viel sie arbeiten. Oder weil sie während dieser oder einer anderen Krise ihre Existenz verloren haben, und und und. Mir scheint aber, als würden sich in der Schweiz einige Leute eher sehr selten Surprise 505/21

eine Auszeit nehmen, weil sie darauf getrimmt sind, immer und immer zu arbeiten und das mehr, als gesund ist, mehr, als ihren Kindern gut tut und mehr, als sie eigentlich zum Leben bräuchten. Vielleicht ist es die Angst vor dem Alter. Oder sagen wir: vor der Pension. Klar, in einer Gesellschaft, in der sich die Jungen oft nicht um ihre Alten kümmern, muss natürlich irgendwie sichergestellt werden, dass man genug Geld hat, um später die Freizeitaktivitäten, für die man vorher keine Zeit hatte, zu zahlen und dann noch später die Gebühren fürs Altersheim, denn das wird teuer. Die Schweizer Fixierung auf die AHV macht mich misstrauisch. Weil ich Angst habe, selbst in das Hamsterrad eines ­Lebens für die Altersvorsorge zu rutschen. Ich komme nicht umhin, das im welt­

Ich bin mal als Jugendliche aus dem Haus gerannt, um ein Tram zu erwischen, und meine Mama rief mir hinterher: «Nimm dir Zeit und nicht das Leben» – ein Spruch, den schon ihre Grossmutter ihr hinterhergerufen hatte. Ich rannte raus, da stand das Tram an der Haltestelle, eine Strassenüberquerung entfernt, doch die Ampel war rot. Ich rannte über die Strasse, um das Tram noch zu ­erwischen, und dabei plötzlich um mein Leben, denn die Autos fuhren gleich­ zeitig an. Ich musste am letzten Strassenabschnitt ziemlich weit springen, damit ich nicht von einer Stossstange ­erfasst wurde, ich spürte sogar ein bisschen Autohaube an meinem Fuss. Zum Glück kann ich fliegen, sonst wäre ich vielleicht gestorben. Es wäre wirklich ein aussergewöhnlich absurder Zufall gewesen, genau dann an zu wenig Zeit zu sterben, wenn Mama extra noch sagt, dass ich das doch bitte nicht tun solle. Aber auch sonst glaube ich, dass es Sinn macht, danach zu streben, sich die Zeit fürs und nicht vom Leben zu nehmen. Also los jetzt: Chill!

FATIMA MOUMOUNI  glaubt, Stress sei ungesund. Wen es interessiert, bitte selbst nachschlagen, die Deadline (zu deutsch: TODESLINIE) erlaubte es nicht, das für diesen Text noch schnell zu tun.

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Schulden-Serie: In der Schweiz gibt es immer mehr Arme – auch weil es immer mehr Schulden gibt. Wir wollen wissen, was das mit den Leuten macht, wer davon profitiert und was sich ändern lässt.

Teil 3: Wohlstand dank Schulden TEXT  ANDRES EBERHARD, SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATION  MARCEL BAMERT

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Schulden — Eine Serie in 4 Teilen Teil 1/Heft 500: Das Geschäft mit den Schulden Teil 2 /Heft 502: Rechnungen, die krank machen Teil 3/Heft 505: Wohlstand dank Schulden Teil 4/Heft 507: Weniger Schulden, weniger Armut

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Schulden sind nicht gleich Schulden – vor allem sind sie nicht für alle schlimm. Manche Menschen zerbrechen an ihnen, sie werden krank, sobald die Schuldenfalle zuschnappt. Einige rutschen gar in Armut ab. Wie viel es braucht, um aus dieser Negativspirale wieder herauszufinden und wie eng der Zusammenhang zwischen Verschuldung und Erkrankung ist, darüber haben wir in Teil 2 (Ausgabe 502) unserer Schulden-Serie ausführlich berichtet. Daneben gibt es solche, die von Schulden profitieren. Sie versprechen den Verschuldeten von heute auf morgen einen Ausweg aus deren Misere und zocken dabei ordentlich ab: private Schuldensanierer, eine entfesselte Inkassobranche, raffgierige Kreditunternehmen, Betreibungsämter und sogar die Krankenkassen. Wir haben all denen, die sich schamlos an den Verschuldeten bereichern, Teil 1 (Ausgabe 500) der Schulden-Serie gewidmet. Und dann gibt es Fälle, in denen es angeblich «ganz okay» ist, Schulden zu machen. Dabei reden wir nicht von Schulden in der Höhe von 10 000 oder vielleicht sogar 100 000 Franken, sondern von 103 600 000 000 Franken. So hoch – 103,6 Milliarden – ist die momentane Staatsverschuldung der Schweiz, wie sie im Rechnungsabschluss 2020 angegeben ist. Das ist eine kaum fassbare Zahl und eine erschreckende dazu – jedenfalls für all jene von uns, die glauben, ein Staat müsse doch ähnlich haushalten können wie eine Familie. Zumindest manche Ökonom*innen stellen jedoch eine andere Rechnung auf: Solange die Wirtschaft weiter angekurbelt wird und das Wachstum grösser ist als die Zinsen, die der Staat zurückzahlen muss (oder es wie derzeit Negativzinsen gibt), sind Staatsschulden hinnehmbar, ja sogar von Vorteil. Wachstum dank Schulden kann nämlich zum sozialen Frieden eines Landes beitragen. Und gesellschaftliche Stabilität ist eine Voraussetzung und nicht selten auch Garantin für weiteren Wohlstand. Doch weil wir in diesem Wirtschaftssystem offenbar immer weiter wachsen müssen, stellen sich einige mit Blick auf unseren Ressourcenverbrauch die Frage: Kann das ewig so weitergehen? Und auf wessen Kosten? Wie viel Wohlstand kann sich ein Staat mit Schulden eigentlich erkaufen, wann geht diese Rechnung nicht mehr auf? Und was sind die Folgekosten eines ungebremsten Wachstums – für Menschen unter prekären Arbeitsbedingungen, für die Tiere und für unseren Planeten? Müssen wir, wollen wir weiter im Wohlstand leben, umdenken und lernen, anders, nämlich nachhaltig, zu wachsen? Oder sollten wir einen radikaleren Weg einschlagen und ganz anders wirtschaften? Das sind Fragen, denen wir in diesem Teil 3 unserer Schulden-Serie nachgehen wollen. KP

Hintergründe im Podcast: Radiomacher Simon Berginz redet mit Sara Winter Sayilir über die Hintergründe der Recherche. surprise.ngo/talk 9


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Damoklesschwert Staatsschulden Für die Pandemie-Hilfen hat die Schweizer Regierung sich neu verschuldet. Auf Schulden folgt deren Abbau, so will es die traditionelle Wirtschaftslehre, die in Politik und Wirtschaft dominiert. Sie irrt womöglich. TEXT  SARA WINTER SAYILIR

Geht es um Staatsfinanzen, sprechen wir über Geldmengen, die wir uns nur schwer vorstellen können: Milliardensummen. Stapelt man 1000-Franken-Noten zu Stapeln im Wert von 100 000 Franken, werden sie 1 cm hoch. Eine Milliarde Franken ergäben 100 Meter. Nun haben die Pandemie-Hilfen die Staatsverschuldung der Schweiz laut Bundeshaushalt im Jahr 2020 um 15,3 Milliarden steigen lassen. Das wäre in unserem Stapelmodel also ein Tausend-Franken-Geldschein-Turm von 1,53 Kilometern, fast doppelt so hoch wie der Burj Khalifa, das höchste Gebäude der Welt. Allein diese unglaublichen Dimensionen machen die Diskussionen um den Staatshaushalt und die Frage, ob wir uns beispielsweise Extraausgaben wie die Pandemie-Hilfen eigentlich leisten können, so schwer zu verstehen. Zudem scheinen sich auch die Expert*innen in Wirtschaft und Politik nicht einig zu sein, wie mit dem Phänomen der steigenden Verschuldung umzugehen ist. Wir können doch nicht immer mehr Schulden machen. Oder doch? «Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen», wird Christoph Schaltegger, Ökonom an der Universität Luzern, in den Medien zitiert. Das klingt nicht gut. Schliesslich liegt die Verschuldung des Bundes, also die Summe aller aufgenommenen und noch nicht zurückgezahlten Schulden, momentan bei 103,6 Milliarden. Sie erinnern sich an den Stapel mit den Tausendernoten. Der wäre damit über 10 Kilometer hoch. Die klassische liberale Wirtschaftstheorie, von der Politiker wie Finanzdepartementsvorsteher Ueli Maurer geprägt sind, steht Staatsschulden grundsätzlich kritisch gegenüber. Sich als Regierung zu verschulden, sehen sie zwar als unvermeidlich an, denn wie sonst sollte man grosse Investitionen beispielsweise in die Infrastruktur tätigen? Aber Staatsschulden sind letztlich ein Übel. Und entsprechend wird auch darüber gesprochen. Es täte Ueli Maurer fast körperlich weh, weitere schuldenfinanzierte Hilfspakete zu sprechen, war beispielsweise in der Aargauer Zeitung zu lesen, und in der NZZ war vom «Schlamassel» die Rede, den die nächste Generation womöglich «ausbaden» müsse, und von Steuererhöhungen, die nun «drohen». Frank Marty von Economiesuisse forderte gar einen Abbau innerhalb der nächsten zehn Jahre. «Die Schweiz sollte den Ehrgeiz haben, spätestens nach zehn Jahren wieder auf den Pfad der finanzpolitischen Tugend zurückzukehren.» Der Reflex, das Schuldenmachen als verwerflich darzustellen, fusst auf dem Glauben daran, dass man auch als Staat wie in einem Familienhaushalt nur ausgeben könne, was man auch eingenommen habe. «Solides Haushalten» nennt man es, wenn sich Einnahmen und Ausgaben des Staates über einen KonjunkSurprise 505/21

turzyklus ausgleichen. Und weil die Angst so gross ist, die Regierung könnte sich dann irgendwie doch nicht daran halten, beschlossen Bundesversammlung und Volksabstimmung die sogenannte Schuldenbremse: ein finanzpolitischer Mechanismus, der die Ausgeglichenheit von Einnahmen und Ausgaben über einen Konjunkturzyklus seit 2003 in der Verfassung festschreibt. Zwar sind Ausnahmen im Falle unvorhergesehener Ereignisse zugelassen – worunter auch die Corona-Hilfen fallen –, die Grundrichtung ist aber klar vorgespurt. Schulden abbauen – aber wie? Wir erinnern uns: Finanzpolitische Tugend wird gefordert. Abbau innerhalb von zehn Jahren. Möglicherweise hat man sich in Bezug auf die Pandemie-Hilfen schon ein wenig davon überzeugen lassen, die Ausgaben dafür seien ok – denn auch die Liberalen sind nicht sicher, ob wir ohne die Hilfsgelder nicht noch viel schlechter dastünden. Ihre Überzeugung aber, ein Abbau der Staatsschulden sei unvermeidlich, bleibt bestehen. Es gibt verschiedene Mittel und Wege, Staatsschulden abzubauen. Im Idealfall werden sie weniger, ohne viel zu tun – ermöglicht durch ein entsprechendes Wirtschaftswachstum. Häufiger sind jedoch schmerzhaftere Optionen. Eine wurde schon angedeutet: Steuererhöhungen. Eine andere: Sparrunden. Bei dieser Art Massnahmen stellt sich unvermeidlich die Folgefrage: Wen wird die Hauptlast des Schuldenabbaus treffen? In der Regel schlagen die Vertreter*innen der klassischen Theorie des Marktes im Falle unpopulärer Massnahmen vor, «solidarisch» zu sein. Also über Mechanismen zu sparen, die alle treffen. Natürlich sitzt da auch die Vorstellung im Hinterkopf, wir hätten alle über unsere Verhältnisse gelebt, also müssten wir entsprechend den Gürtel enger schnallen. Im Falle der Pandemie sässen wir dieser Argumentation folgend alle im selben Boot. Nun sind die Menschen in den unteren Einkommensschichten nachweislich stärker von den Folgen der Pandemie betroffen. Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust können Existenzängste nach sich ziehen. Gesamtgesellschaftlich ansetzende Sparmassnahmen wie beispielsweise eine Erhöhung der Einkommenssteuer würde genau diese Menschen noch einmal empfindlich treffen. Das wäre so, als würde man nach der Rasenmäher-Methode bei allen Budgetposten des Haushaltes den Rotstift ansetzen: überall 5 Prozent weniger hiesse dann auch 5 Prozent weniger im Sozialen, bei der Bildung, im Gesundheitswesen. Warum denn nicht das Geld für den Schuldenabbau bei denen holen, die in Zeiten der Pandemie an den Finanzmärkten noch reicher geworden sind – trotz Wirtschaftskrise und Rezession? Die klassische Antwort: Weil die Reichen ihr Geld ja dafür brau11


chen, in die Wirtschaft zu investieren, womit dann wieder Einkommen und Arbeitsplätze entstünden – und das kommt allen zugute. Sofern sie denn investieren, in die Schweizer Wirtschaft, und nicht im Ausland. Oder ihr Geld gar im globalen Casino des Finanzmarktes einsetzen, nur um noch mehr daraus zu machen. Bei Menschen, die sehr wenig haben, kann diese Argumentation zu Unzufriedenheit und Resignation führen. Vor allem dann, wenn nicht nur die höchsten Einkommen ansteigen, sondern zeitgleich die unteren absinken (siehe Interview Seite 16). Eine solche Entwicklung kann bei einem Teil der Bevölkerung zu der Wahrnehmung führen, ihre Stimme und ihr Schicksal zählten nicht mehr. Das wiederum kann zur Radikalisierung und einem Rechtsrutsch führen, wie man in verschiedenen Ländern Europas beobachten kann, aber auch zum Rückzug ganzer Bevölkerungsteile aus der gesellschaftlich-politischen Teilhabe. Wer arm ist und womöglich auch noch Schulden hat, sieht sich schnell abgehängt (siehe Teil 2 der Schulden-Serie, Heft 502). Rückt man ab von der traditionell liberalen Denkart, gibt es durchaus Stimmen, die eine Verschuldung ohne direkte Abbaupläne für möglich halten. Zumindest in der derzeitigen Wirtschaftslage und bei der komfortablen Situation, in der sich die Schweiz befindet.

Schuldenquote

140%

in Prozent des Bruttoinlandproduktes

120%

USA Eurozone Schweiz

So rechnet Michael Graff von der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich vor, dass selbst bei einem starken Anstieg der Schweizer Schuldenquote – diese beschreibt das Verhältnis von Schulden zum Bruttoinlandsprodukt – die Schweiz im internationalen Vergleich immer noch sehr niedrig verschuldet wäre (siehe Grafik «Schuldenquote»). Es geht um Zinsen Die USA sind derzeit mit über 108 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung, die Länder der Eurozone mit rund 100 Prozent und Japan sogar mit fast 235 Prozent verschuldet. (Japan ist anders als viele andere Länder in erster Linie im Inland verschuldet. Das bedeutet, dass die Schulden lediglich auf die zukünftigen Generationen von Japaner*innen übertragen werden und das Land nur wenig von der Gunst ausländischer Gläubiger abhängt.) Für die Schweiz liegt der Wert in diesem Modell bei knapp 30 Prozent. Das bedeutet, dass wir von allen Einkommen, die innerhalb eines Jahres in der Schweiz generiert werden, ein Drittel für die Rückzahlung der Schulden aufwenden müssten, wenn man alles auf einmal zurückzahlen wollte. Und weil die Schweiz in den letzten 25 Jahren stetig Schulden abgebaut hat, wird die Bonität – so nennt man die Kreditwürdigkeit von Schuldner*innen – von Schweizer

100% 80% 60% 40% 20% 0%

1995

2000

2005

2010

2015

2020

1995

2000

2005

2010

2015

2020

8% 7%

Effektive Zinszahlungen in Prozent der Staatsschulden

6% 5% 4%

USA

3%

Eurozone Schweiz

2% 1% 0%

12 QUELLEN: ÖKONOMENSTIMME, DG ECFIN, EIDGENÖSSISCHE FINANZVERWALTUNG, KOF

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Staatsanleihen nicht unter der Neuverschuldung leiden. Ein Grundsatz für die Bestimmung, ob die Staatsverschuldung im problematischen Bereich liegt, ist die Fähigkeit, die Zinsen zu bezahlen. Sobald ein signifikanter Teil der Steuereinnahmen für Zinszahlungen draufgeht, kann es sogar dazu kommen, dass ein Staat sich neu verschulden muss, um seine laufenden Kosten decken und die Zinsen bezahlen zu können. Derzeit leben wir jedoch in einer Phase der Negativzinsen. Das bedeutet, dass den Schweizer Staat die neu aufgenommenen Schulden gar nichts kosten. Im Gegenteil, er verdient sogar noch daran. Können wir also doch immer mehr Schulden machen? Derzeit wird «umgeschuldet»: Dabei werden alte Schulden mit hohen Kreditzinsen mittels neuer Kredite zurückgezahlt, die tiefer verzinst werden. Stellen Sie sich einmal vor, Sie bitten Ihre Freundin darum, Ihnen 100 Franken zu leihen. Sie gibt Ihnen 105 Franken, Sie schulden ihr aber nur 100. So könnte man das darstellen. Es lohnt sich also, jetzt Schulden zu machen. Über den Mechanismus der Umschuldung, der Neuauflage ausstehender Staatsschulden zu aktuellen Konditionen, sinken auch die Zinszahlungen alter Schulden automatisch weiter (siehe Grafik «Effektive Zinszahlungen»). Und sollten die Zinsen mal wieder steigen, würde dieser Mechanismus auch bewirken, dass die Zinszahlungen sich nur allmählich verteuern. «Der vielfach geforderte schnelle Schuldenabbau ist damit schwer zu begründen, allzumal bereits eine Rückkehr zu einem zukünftig über den Zyklus ausgeglichenen Staatshaushalt die Schuldenquote dank tiefen Zinsen und zu erwartendem Wirtschaftswachstum schnell senken würde», schliesst Graff. Macht Schulden! Im Allgemeinen herrscht unter Ökonom*innen keine Einigkeit darüber, ab welcher Höhe Staatsschulden zum Problem werden. Im Euroraum legt der Maastricht-Vertrag eine Obergrenze von 60 Prozent fest, derzeit haben aber zahlreiche Länder diese wegen der Pandemie ausgesetzt. Aus der empirischen Forschung halten andere Forscher*innen einen Wert von 80 Prozent für noch tolerabel, wobei die Beispiele USA und Japan zeigen, dass es sich auch auf viel höheren Schuldenbergen leben lässt. Es gibt sogar Argumente, die gewissermassen für das Schuldenmachen sprechen: Die ausgegebenen Staatsanleihen oder Obligationen, wie sie auch genannt werden, bieten eine gute, sichere Anlagemöglichkeit für unsere Pensionskassen. Könnten diese unser eingezahltes Geld nicht dem Schweizer Staat überlassen, müssten sie sich andere, womöglich weit risikoreichere Anlagemöglichkeiten suchen – und damit unsere Pensionsgelder aufs Spiel setzen. Entscheidend ist auch, was mit dem Geld angefangen wird, das der Staat sich leiht. Bei den Pandemie-Hilfen ist wohl inzwischen einigermassen unstrittig, dass es Sinn gemacht hat, krisengebeutelten Unternehmer*innen unter die Arme zu greifen, Kurzarbeit zu finanzieren und selbständig erwerbende Menschen davor zu bewahren, in Existenznot zu geraten. Sicher wird noch zu analysieren sein, ob die finanziellen Mittel ausreichend waren und an den richtigen Orten eingesetzt wurden. Jedenfalls herrscht über die Tatsache ihrer Vergabe weitgehend Konsens. Doch auch jenseits von Pandemie-Hilfen ist die Frage nach dem richtigen Einsatz der Kredite von Bedeutung. Schulden zu machen ist nämlich auch nach klassischer Lesart akzeptiert, wenn mit dem Geld Investitionen getätigt werden, die sich in der Zukunft und über Surprise 505/21

lange Zeit auszahlen. Das kann eine neue S-Bahn sein, die in den nächsten Generationen Güter und Menschen von A nach B transportiert, aber auch ein neues Institut an der ETH, wo hochausgebildete Forscher*innen sinnvolle Erfindungen für die Zukunft tätigen. Bildung garantiert höhere Einkommen, das bedeutet auch mehr Steuern für den Staat in Zukunft, um es sehr vereinfacht zu sagen. Schulden sind also nicht nur als Kostenpunkt «die Steuern von morgen», sondern bedeuten auch eine Investition in künftige Einnahmen. Problematisch sehen Ökonom*innen Schulden dann, wenn davon laufende Kosten gedeckt werden, die keine Wertschöpfung in der Zukunft versprechen, wie Beamt*innen-Gehälter beispielsweise. In den Bereich der Ideologie hingegen gehört wohl die Überzeugung, private Investitionen in die Wirtschaft seien per se besser als staatliche. Das Wohl aller im Blick haben Schulden werden also immer dann als grundsätzlich tragbar angesehen, solange damit sinnvolle Investitionen in die Realwirtschaft getätigt werden und die Wirtschaft wächst. Und das Wirtschaftswachstum an sich brauchen wir, um Wohlstand zu generieren. Nicht nur für uns, sondern für alle Menschen. Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit steht dabei auf einem anderen Blatt und ist eine politische. Fakt aber ist, dass wir beispielsweise von 2000 bis 2015 die globale Armut halbieren konnten – auch wenn die Pandemie uns nun wieder ein grosses Stück zurückwirft. Auch die Frage der Qualität des Wachstums, zum Beispiel in Bezug auf Klimaschädlichkeit, ist im BIP nicht abgebildet (siehe auch Interview Seite 16). Gehen wir mal davon aus, wir wachsen klimafreundlich und sorgen dabei für mehr Verteilungsgerechtigkeit, dann wissen wir immer noch nicht, welche Wirtschaftspolitik eigentlich geeignet ist, Wachstum zu fördern. Amüsant dazu der Schlusssatz eines Berichts der Wachstumskommission der Weltbank von 2006: «Nach 2 Jahren Arbeit durch eine Kommission von 21 Vordenker*innen und Expert*innen, einer 11-köpfigen Arbeitsgruppe, 300 Forscher*innen, 12 Workshops, 13 beratenden Treffen und einem Budget von rund 4 Millionen US-Dollar ist unsere Antwort auf die Frage, wie man signifikantes Wirtschaftswachstum bewirkt: Wir wissen es nicht, aber vertrauen Sie den Expert*innen, wir werden es herausfinden.» Möglicherweise ist es tatsächlich so, dass viele derzeitige politische Entscheidungsträger*innen ihre wirtschaftspolitischen Ideen aus veralteten Theorien ausrichten – oder zumindest an solchen, die nur begrenzt anwendbar sind in der hochvernetzten Welt, in der wir leben und in der die Geschwindigkeit des Handels die des politischen Handelns längst um ein Vielfaches überholt hat. Bleibt zu hoffen, dass derzeit in den Wirtschaftswissenschaften auf Basis empirischer Forschung ganz neue Erkenntnisse gewonnen werden über das, was Wirtschaft ist und wie sie funktioniert – und dass mithilfe der immer schnelleren Verarbeitung grosser Datenmengen neue Modelle entwickelt werden. Und vielleicht finden wir darüber auch zu einem Umgang mit Staatsschulden, der auf mehr als Ideologien basiert und das Wohl der Allgemeinheit im Fokus hat.

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Die Welt in Schulden INFOGRAFIK  MARCEL BAMERT

Mit Blick auf die Verschuldung bietet sich ein irritierendes Bild der Welt – selbst wenn wir nur eine Auswahl Länder anschauen. Bei den Hochverschuldeten finden sich sowohl Staaten mit Hyperinflation als auch grosse Industrienationen mit niedriger Arbeitslosenquote. Zwar kann die Staatsverschuldung gemessen an der jeweiligen Wirtschaftsleistung verwirren, weil winzige und riesige Volkswirtschaften direkt einander gegenübergestellt werden; doch ist dies ein relevanter Indikator für einen Ländervergleich. Die Datenbank des Internationalen

100 Mrd.

Währungsfonds (IWF), auf der diese Grafik basiert und die einer anderen Berechnungsweise folgt als die Eidgenössische Finanzverwaltung, zeigt auch: Schulden muss man sich erst einmal leisten können. Mit Stand April 2021 waren demnach die hochentwickelten Mitglieder der G-20 im Schnitt mit 134 Prozent ihres BIP verschuldet. Die aufstrebenden Wirtschaftsnationen der G-20 kamen hingegen im selben Zeitraum auf nur rund die Hälfte (67 Prozent). WIN

Verschuldungsquote

Staatsverschuldung 400 Mrd.

8182 Mrd. 57,0 %

Grösse der Länder entspricht der Bruttoverschuldung in US-Dollar im Jahr 2019.

0%

20%

40%

60%

2666 Mrd. 98,0 %

Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt im Jahr 2019.

80% 100%

Frankreich

23 188 Mrd. 108,1%

USA

522 Mrd. 98,0 %

12 091 Mrd. 234,9 %

2415 Mrd. 85,2 %

Belgien

Grossbritannien

91 Mrd. 174,3 %

Japan

Libanon 675 Mrd. 53,3 %

1512 Mrd. 86,8 % Kanada

14

Israel

236 Mrd. 60,0 %

Mexiko

400 Mrd. 90,2 % Argentinien

180 Mrd. 22,8 %

Saudi Arabien

23 Mrd. 56,5 % Bolivien Surprise 505/21


2698 Mrd. 134,6 %

2120 Mrd. 73,8 %

Brasilien

1645 Mrd. 87,7 %

Indien

Italien 380 Mrd. 185,0 %

431 Mrd. 47,6 %

China

Niederlande Griechenland

2303 Mrd. 59,6 %

1330 Mrd. 95,5 %

236.1 Mrd. 85,5 %

222 Mrd. 41,0 %

Pakistan

Spanien

Thailand

Deutschland 314 Mrd. 71,5 % 695 Mrd. 42,2 % 660 Mrd. 47,5 %

Südkorea

291 Mrd. 39,8 %

Australien 272 Mrd. 45,6 % 342 Mrd. 30,6 %

Rumänien

Taiwan

15 Mrd. 32,9 %

195 Mrd. 59,3 %

218 Mrd. 62,2 %

Dänemark

186 Mrd. 35,1 %

Surprise 505/21

107 Mrd. 65,3 % Ungarn

Ghana

Kenia 15 Mrd. 64,8 % Senegal

2 Mrd. 189,3 % Eritrea

62 Mrd. 27,1 %

79 Mrd. 28,2 %

Norwegen

Chile

42 Mrd. 63,9 %

59 Mrd. 62,1 %

Jordanien

Turkmenistan

166 Mrd. 40,9 %

Schweden

34 Mrd. 78,0 %

115 Mrd. 30,0 %

Finnland

Südafrika

169 Mrd. 52,3 %

76 Mrd. 30,0 %

Malaysia

Tschechien

Irland

Kolumbien

208 Mrd. 57,2 %

Iran

200 Mrd. 32,7 %

254 Mrd. 84,2 %

Türkei 92 Mrd. 35,8 %

278 Mrd. 47,8 %

Portugal

Ägypten

Russland

Polen

236 Mrd. 60,0 %

248 Mrd. 32,6 %

Schweiz

Indonesien 272 Mrd. 45,7 %

233 Mrd. 13,8 %

Österreich

12 Mrd. 18,4 % Bulgarien

Peru

0.9 Mrd. 0,3 %

28 Mrd. 71,8 % Tunesien

27 Mrd. 52,8 % Serbien

10 Mrd. 67,8 %

Hong Kong Albanien

QUELLE: IWF, WORLD ECONOMIC OUTLOOK DATABASE, APRIL 2021 EDITION

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«Der Staat ist kein Selbstzweck» Die Ökonomin Isabel Martínez forscht zu sozialer Ungleichheit. Die Schweizer Staatsschulden sieht sie eher nüchtern, solange das Wirtschaftswachstum stimmt. INTERVIEW  SARA WINTER SAYILIR

Isabel Martínez, warum machen Staaten Schulden? Der Hauptgrund dafür, dass Staaten Schulden machen, sind Investitionen in die Infrastruktur, bei denen es keinen Sinn macht, nur die Steuereinnahmen dafür zu verwenden. Warum sollten nur wir, die wir heute hier sind, den Neubau einer Strasse finanzieren, die in den nächsten hundert Jahren benutzt wird? Dann kann ein Staat ruhig mal mehr ausgeben, als er einnimmt? Ja, wenn er darüber die zukünftige Wirtschaftsleistung sichert. Denn warum baut der Staat Schulen? Weil diese das Humankapital von morgen ausbilden und sicherstellen, dass auch in Zukunft noch Güter erfunden werden, dass Firmen innovativ sein können. Schulen sind eine Investition in die Zukunft, die der Staat finanziert.

«Wohlstand muss man sich erwirtschaften, und das funktioniert nur über Wachstum.»

Und wie sieht es mit der NeuverISABEL MARTÍNEZ schuldung der Schweiz aufgrund der Pandemie-Hilfen aus? Solche ausserordentlichen Ausgaben sind vorgesehen und in der momentanen Lage vollkommen unproblematisch. Denn was wären die Optionen? Hätten wir die Leute, die Firmen und die Selbstständigen sich selbst überlassen sollen? Der Staat ist ja kein Selbstzweck. Der Staat ist – und das hat man in der Krise sehr schön gesehen – so etwas wie die Superversicherung, mit einem langfristigen Horizont. Und die Staatsschulden, die jetzt aufgenommen werden, müssen nicht zwingend innerhalb unserer Lebenszeit zurückgezahlt werden. 16

Aber schreibt denn nicht die Schuldenbremse vor, dass Schulden innerhalb einer bestimmten Frist zurückgezahlt werden müssen? Ob und wie das in Bezug auf die Corona-Hilfen gilt, ist jetzt genau die Diskussion. Die Schuldenbremse hat man sich als eine Art Korsett angelegt. Denn es gibt auch Schulden, die problematisch sind, sogenannte strukturelle Schulden. Wenn der Staat sich verschuldet, um laufende Ausgaben zu tätigen, die mit der Sicherung der Zukunft nichts zu tun haben. Wie jeden Monat den Rentner*innen im Land ihre Pension zu überweisen. Das ist keine Investition in zukünftige Produktivität. Im Extremfall müssen sich Staaten neuverschulden, um die Zinsen bereits angehäufter Schulden zu bedienen. Auch das wäre ein strukturelles Problem. Die Schuldenbremse sagt: Die Finanzen müssen über den Konjunkturzyklus hinweg ausgeglichen sein. Wobei niemand sagen kann, wie lange dieser genau dauert. Gibt es eine Gesamthöhe an Schulden, bei der es problematisch wird? Man kann nicht genau sagen, ab wann eine Verschuldung problematisch ist. Japan ist zum Beispiel seit Jahrzehnten sehr hoch verschuldet, allerdings vor allem im Inland. Das bedeutet, dass die Schulden einfach auf die zukünftigen Generationen übertragen werden. Bei Ländern hingegen, die sehr stark im Ausland verschuldet sind, kann es sein, dass ein Gläubiger sagt, Surprise 505/21


ich habe investiert, um Profit zu machen, und möchte diesen jetzt auch haben. Darüber hinaus gibt es noch Währungsrisiken, und viele Länder sind stark mit Instabilität im Innern konfrontiert. In solchen Fällen ist es viel schwieriger, Schulden zu tragen, als für ein Land, das eine gut entwickelte Wirtschaft hat und funktioniert. In der politischen wie auch medialen Debatte entsteht oft der Eindruck, dass auf Schulden automatisch Sparmassnahmen folgen – im extremen Fall von Griechenland die sogenannte Austeritätspolitik, welche ganze Bevölkerungsteile verarmen liess. Hätte man denn auch anders handeln können? Möglicherweise. Es wurde ja hinterher auch kritisiert, dass Griechenland kaputtgespart wurde. Wie man Staatsverschuldung abbaut, über welchen Zeitraum und mit welchen Massnahmen – das sind politische Entscheide. Dass man Schulden abbauen muss, ist aber unstrittig? Staatsschulden sind dann unproblematisch und können auch stehengelassen werden, solange das Wirtschaftswachstum grösser ist als die Zinsen, die der Staat bedienen muss. Die Situation in Griechenland aber war nicht mehr haltbar. Wenn der Staat nicht mehr eine funktionierende Grund- und Infrastruktur bereitstellen kann, kann er auch keine Grundlage dafür bieten, dass Wachstum generiert wird. Dann kommt man nicht darum herum, den Gürtel enger zu schnallen. Können wir denn ewig weiterwachsen? Warum nicht? Natürlich gibt es Wirtschaftsbereiche, in denen wir so wirtschaften, dass wir die Kosten nicht internalisieren. Unser CO2-Ausstoss beispielsweise produziert sogenannte soziale Kosten, das sind Kosten, welche die Gesamtheit trägt – aber diejenigen, die die Kosten verursachen, zahlen nichts dafür. Das ist ein Problem, auch aus ökonomischer Sicht.

Das BIP, an dem wir momentan den Erfolg unserer Wirtschaftsleistung messen, bildet diese Art Kosten aber nicht ab – ist das so gesehen nicht ein gefährlicher blinder Fleck? Das BIP misst die Einkommen, die wir generieren. Was das BIP ähnlich schlecht abbildet wie ökologische Kosten ist die Tatsache, dass wir heute viel weniger Ressourcen verbrauchen, um einen Franken Einkommen zu generieren, als noch vor 50 Jahren. Qualität ist schwierig zu messen und monetär zu fassen. Dies spricht aber nicht gegen Wachstum, sondern gerade dafür, dass es Innovationen braucht, um ressourcenschonender zu wirtschaften. Auch wir Ökonom*innen sagen, dass es kein langfristiges Ziel sein kann, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Das Klimaziel muss netto Null sein. Geht das nicht viel zu langsam für das, was wir tatsächlich verursachen? Wissenschaftler*innen haben schon lange vor dem Klimawandel gewarnt. Wie wir bei Corona sehr schön gesehen haben, hat der Mensch offensichtlich Schwierigkeiten, exponentielles Wachstum zu verstehen. Auch Risikokalkulationen bereiten uns Mühe: Wir haben vor einer Atomkatastrophe verhältnismässig viel mehr Angst als vor viel wahrscheinlicheren Risiken wie einem Verkehrsunfall. Zudem haben wir ein Problem mit kollektiven Ängsten, wie die CO2-Abstimmung gerade deutlich gezeigt hat. Sobald man erwartet, dass ein Individuum oder ein einzelner Staat sich quasi selbstlos höheren Zielen unterwirft, sinkt die Bereitschaft zum Mitmachen. Obwohl es vernünftig wäre. Das nennen wir ein Externalitätenproblem: Die Kosten meines verantwortungsbewussten Handelns trage ich allein. Profitieren tun alle anderen. Auch diejenigen, die sich vollkommen unsolidarisch verhalten und mir damit neue Kosten aufbürden.

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Ein Angebot der Berner Frauenhäuser für gewaltbetroffene Frauen und Kinder im Kanton Bern Gewalt in der Familie? Violences en sein de la famille?


Sie forschen zu Ungleichheit. Ist es aus ökonomischer Sicht ein Problem, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht? Es ist dann ein Problem, wenn die Bewohner*innen eines Landes das Gefühl haben, abgehängt zu werden, während eine Elite da oben immer reicher und mächtiger wird. Und wenn die Ungleichheit zunimmt, nicht nur weil die oberen Einkommen steigen, sondern weil die unteren Einkommen absinken. In der Schweiz nimmt die Ungleichheit auch zu, aber nicht, weil es immer mehr Arme gibt, sondern weil die höchsten Einkommen schneller steigen als der Durchschnitt.

zial entwickeln konnten. Von dieser Art Stabilität profitiert auch die Firma: Sie stellt Leute ein und hat ein Interesse daran, dass die Menschen auch längerfristig für sie als Arbeitnehmer*innen zur Verfügung stehen. Und nur dann tätigen sie auch Investitionen.

«Der Staat ist so etwas wie die Superversicherung, mit einem langfristigen Horizont.»

Ist es nicht trotzdem problematisch, wenn die einen jeden Rappen umdrehen müssen, während die anderen immer reicher werden? Ich sehe die Hauptproblematik für die gesellschaftliche Stabilität tatsächlich darin, wie die Menschen ihre eigene Lage wahrnehmen. Ob sie das Gefühl haben, noch repräsentiert zu sein in ihrer Demokratie. Und ob sie den Eindruck haben, die Elite trage genug zum Gemeinwohl bei. Das ist besonders problematisch in den Ländern, in denen die tiefen Einkommen real sinken. In den USA zum Beispiel hat die untere Mittelklasse heute real gesehen weniger als vor zwanzig oder dreissig Jahren. Deshalb wohl auch die hitzige Debatte um AmazonGründer und CEO Jeff Bezos. Warum nimmt man Personen wie ihn nicht etwas mehr in die Pflicht? Das sind politische Entscheidungen, die wir als Gesellschaft treffen müssen. Auch hierzulande. Immer und immer wieder. Wie wollen wir Leute besteuern, wie soll unser Steuersystem aussehen, und was bedeutet es aus unserer Sicht, einen gerechten Beitrag zur Gesamtheit zu leisten? Da können wir Ökonom*innen nur beratend zur Seite stehen. Ich glaube nicht, dass wir das einmal festlegen können und es dann für immer so funktioniert. Es ist wichtig in einer Demokratie, dass man sich ständig wieder darauf einigt: Was finden wir fair? Zu den moralischen Komponenten dieser Fragen kann die Ökonomie als Wissenschaft wenig beitragen.

Dann sehen Sie die gesellschaftliche Stabilität der Schweiz nicht gefährdet. Warum ist sie überhaupt ISABEL MARTÍNEZ, 35, IST ÖKONOMIN AN wichtig? In einem Land wie der Schweiz, wo DER E TH UND SPEZIALISIERT ich als Firma nicht damit rechnen AUF UNGLEICHHEITSFORSCHUNG. muss, dass beispielsweise mein Privateigentum verstaatlicht wird, ein Krieg ausbricht, grössere Unruhen ausbrechen oder das Land von einer Grossmacht angegriffen wird, bin ich eher bereit, beispielsweise ein Pharmaunternehmen zu gründen und aufzubauen, von dem ich weiss, dass ich vielleicht zwanzig, dreissig, vierzig Jahre Vielleicht ist die Zurückhaltung vieler Ökonom*innen in an einem Produkt forschen muss, bevor ich irgendetwas ethischen Fragen auch ein Grund dafür, dass man den damit verdiene. Auch wird gern vergessen, wie unglaublich Eindruck bekommt, Ökonomie an sich sei unmenschlich. wichtig Humankapital ist. In Ländern, die nicht von Kriegen Es stört mich, dass uns Ökonom*innen unterstellt wird, erschüttert sind, finde ich leichter Leute, die nicht traumawir würden glauben, jeder Mensch, der hier herumläuft, tisiert aufwuchsen, die in die Schule gehen und ihr Potenfunktioniere nach einem mathematisch berechenbaren 18

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FOTO: FLORIAN BACHMANN

Nun gibt es auch Leute, die dem Wachstum kritisch gegenüberstehen. Wenn wir jetzt aufhören wollten zu wachsen und gleichzeitig Verteilungsgerechtigkeit anstreben, dann müssten wir alle unseren Lebensstandard auf 11 000 US-Dollar pro Jahr beschränken, so hoch ist das globale Durchschnittseinkommen pro Kopf derzeit. Dann könnten wir aber nicht mehr in Zürich wohnen und auswärts Kaffee trinken. Wohlstand muss man sich erwirtschaften, und das funktioniert nur über Wachstum. Nicht mehr zu wachsen, würde unheimlich viele Menschen in Armut belassen und zu einem riesigen Verteilungskampf führen.


Modell. In Wirklichkeit ist es doch anders herum: Wir haben Modelle entworfen, die als Stütze dienen können, die Realität zu erklären und konkrete Probleme zu beantworten. Keines unserer Modelle ist dafür da, alle Fragen zu beantworten. Wie kommt es denn, dass der Eindruck entsteht, Wirtschaft würde nach klaren Gesetzmässigkeiten verlaufen – obwohl dies offenbar gar nicht der Fall ist? Möglicherweise ist dies das Resultat einer gewissen Arroganz, die sich die Ökonomie in der Vergangenheit geleistet hat, indem sie behauptete, genaue Messungen anstellen zu können. Zudem ist es ein Problem, dass in den Einführungsvorlesungen lange Zeit die Standardmodelle gepredigt wurden, die teilweise aus Zeiten stammen, in denen noch argumentiert wurde, als handle es sich um eine Naturwissenschaft. Viele, und damit meine ich auch Politiker*innen und andere Entscheidungsträger*innen, haben also irgendwann mal etwas VWL an der Uni gelernt und reproduzieren diese Kenntnisse im öffentlichen Diskurs bis heute so. Es wird veraltetes Wissen weitergetragen, ohne die jüngere Forschung zu berücksichtigen. Haben Sie den Eindruck, Politiker*innen würden sich immer genau dann auf die Ökonomie berufen, wenn es um die Durchsetzung unpopulärer Massnahmen geht? Ich habe zumindest manchmal den Eindruck, Entscheidungsträger*innen bedienen sich ökonomischer Argumente, wie es für sie gerade passt. Sie betreiben Rosinenpickerei und tun so, als wäre ihre Argumentation wirtschaftswissenschaftlich abgesichert – dabei lassen sie die Hälfte aussen vor. Ein Mindestlohn zum Beispiel führt auch im Modell nur dann zu Arbeitslosigkeit, wenn der Arbeitsmarkt davor effizient war, wenn es also beispielsweise keine Marktmacht der Arbeitgeberseite gibt. In der Realität gibt es aber durchaus Konstellationen, in denen Arbeitgeber*innen marktmächtig sind und die Löhne auf Kosten der Arbeitnehmenden zu tief ansetzen. Es sind nicht die Ökonom*innen, die festlegen, wie beispielsweise die Regeln zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt laufen oder welche Höhe der Spitzensteuersatz hat. Ich wehre mich auch dagegen, den Wirtschaftswissenschaften die Schuld an sozialen Missständen zuzuschreiben. Damit entliesse man die Politik aus der Verantwortung.

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Grünes Wachstum – ein Mythos? Dank Schulden wächst die Weltwirtschaft und damit unser Wohlstand. Kann das ewig so ­weitergehen? Für Wachstumskritiker*innen spricht eines dagegen: unser Planet. TEXT  ANDRES EBERHARD

Momentan haben wir keine Wahl: Die Wirtschaft muss wachsen. Andernfalls machen Unternehmen weniger Gewinn und müssen sparen. Sie kaufen weniger bei Lieferanten ein, worauf auch die seden Gürtel enger schnallen müssen. Beide entlassen Angestellte. Das stellt einerseits den Staat vor Probleme. Denn am Erwerb hängen die Renten und Sozialversicherungen. Andererseits trifft es die Menschen direkt: Sie haben weniger Geld, konsumieren weniger, die Gewinne sinken weiter. «Ohne Wachstum gerät die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale», sagt Ökonom Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er hat das Buch «Der Wachstumszwang» geschrieben. Es zeigt, dass wir uns zu immer mehr Konsum verpflichtet haben. Dabei seien unsere grundlegenden Bedürfnisse längst gedeckt, führt Binswanger im Gespräch aus. Über mehrere Jahrzehnte habe uns Wachstum glücklicher gemacht, weil es uns mehr Wohlstand und Wohlbefinden gebracht habe. Doch in den westlichen Ländern sei das vorbei, wie die Glücksforschung zeige. «Wir brauchen heute nicht noch mehr Konsum, weil uns das glücklicher machen würde. Sondern damit die Wirtschaft nicht einbricht.» Wachstum gilt als Garant für Wohlstand und sozialen Frieden. Doch das könne nicht ewig so weitergehen, argumentieren Wachstumskritiker*innen. «Unendliches Wachstum auf der Basis von endlichen Ressourcen ist eine Illusion», sagt Thomas Schneeberger von Décroissance Bern, einem Vertreter der Degrowth- oder Postwachstumsbewegung (siehe Box). «Wir betreiben einen rücksichtslosen Missbrauch an unserem Planeten.» Und einer der Vordenker der Bewegung, der britische Ökonom Tim Jackson, schreibt in seinem Buch «Wohlstand ohne Wachstum»: «Unsere gesamte Wirtschaftsordnung baut auf ewigem Wachstum auf – aber nun brauchen wir einen anderen Motor.» Müssen wir wirklich unser ganzes System umkrempeln, um den Klimakollaps abzuwenden? Oder wäre es auch möglich, lediglich die Stellschrauben auf ein nachhaltigeres, «grünes» Wachstum umzustellen? In dieser Frage sind die Kritiker*innen des jetzigen Systems uneins: Schneeberger von Décroissance Bern ist überzeugt, dass es einen umfassenden System- und Kulturwandel braucht. Wir müssten grundsätzlich wegkommen vom «Immer mehr»: «Konsum wird mit Lust verbunden. Dabei kann auch Verzicht lustvoll sein.» Als Beispiel nennt er Reparieren und Teilen statt Wegwerfen und Neukaufen. «Elektronikgeräte sind heute darauf ausgelegt, dass sie nach einer Weile kaputtgehen – damit wir wieder neue kaufen müssen.» Das sei mit Blick auf den Umgang mit den Ressourcen unserer Erde «Schwachsinn». Dass es auch anders gehe, wolle man im Kleinen zeigen. Er selbst helfe beispielsweise in einem Repair-Café aus. Ökonom Binswanger hingegen glaubt nicht, dass solche Projekte das System grundlegend verändern könnten. «Das ist reine Utopie.» Überhaupt gebe es keinerlei Anzeichen für einen Wandel. «Nichts wächst beständiger als der Konsum.» Binswanger führt 20

aus, dass selbst Nischen wie zum Beispiel genossenschaftlicher Gemüseanbau nur funktionierten, weil sie aus der Wirtschaft quersubventioniert würden. Das heisst, dass dort Menschen einkaufen, die ihr Geld auf traditionelle Art und Weise verdienen. «Die Degrowth-Bewegung vernachlässigt die Dynamik der Wirtschaft, die vom Wachstum abhängig ist», so Binswanger. Das ist indes auch Schneeberger bewusst. Neben persönlichem Verzicht brauche es auch grosse politische und gesellschaftliche Reformen, sagt er. «Wir haben kein pfannenfertiges Rezept, wie eine Postwachstumsgesellschaft aussehen soll. Wir sehen unsere Aufgabe zuerst darin aufzuzeigen, dass es mit dem Wachstum nicht ewig weitergehen kann. Solange der Patient die Diagnose nicht akzeptiert, wird er auch das Medikament nicht akzeptieren.» Reparatur-Cafés oder gemeinsamer Gemüseanbau sind für ihn eher Leuchtturm-Projekte, an denen man sich orientieren kann, wie Alternativen zur Konsumwirtschaft aussehen könnten. «Die Natur ist zu günstig» Tatsächlich sind Konsum und Wachstum heute grundlegende Teile unseres Wirtschaftssystems. Das macht es schwierig, sich ein anderes Wirtschaften überhaupt vorzustellen. Genau das aber hat Irmi Seidl getan. Die Ökonomin der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) sagt: «Wir haben unsere Systeme so gebaut, dass sie vom Wachstum abhängig sind.» Nun würden diese an ihre Grenzen stossen. Neue Technologien ermöglichen zwar eine höhere Produktivität und machen damit Wirtschaftswachstum möglich. Sie ersetzen aber auch Angestellte, beispielsweise die Kassierer*innen im Supermarkt. Damit in der Folge die Arbeitslosigkeit nicht steigt, braucht es wiederum Wachstum. Die Wachstumsspirale dreht sich also permanent. Die Herausforderung bestehe darin, die Wirtschaft so umzugestalten, dass wir nicht mehr vom Wachstum abhängig sind, sagt Seidl. In ihrem Buch «Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft» macht die Ökonomin konkrete Vorschläge. Einer der wichtigsten: die Erwerbsarbeit reduzieren und stattdessen andere Tätigkeiten wie Freiwilligenarbeit fördern. «Menschen sind vielfältige Wesen, die sich durch verschiedenes Tätigsein entfalten, nicht nur durch Erwerbsarbeit», sagt Seidl. Und das liebe Geld? Damit auch Menschen mit tiefen Einkommen über die Runden kommen, brauche es einen Lohnausgleich. Und da auch der Staat heute von den Löhnen lebt, müssten für die Steuern andere Quellen angezapft werden. Seidl nennt Umwelt-, Erbschafts-, Vermögens- Finanztransaktions- oder Unternehmenssteuern. In Bezug auf die Frage, ob wir nicht auch nachhaltiger, grüner wachsen könnten, ist Seidl pessimistisch. Solange die Preise für Konsumgüter die ökologischen Kosten nicht widerspiegeln, sei es kein Wunder, dass wir nicht nachhaltig konsumieren. «Die Natur ist zu günstig. Energie und Rohstoffe haben als solche keinen Preis. Wir bezahlen lediglich für die Förderung, den Transport Surprise 505/21


und Handel sowie die Profite.» Statt der Arbeit sollten wir die Ressourcen besteuern, fordert Seidl. Doch die Politik verhindere eine (unter Ökonom*innen unbestrittene) ökologische Steuerreform seit vierzig Jahren. «Mit dem Argument, dass zusätzliche Steuern das Wirtschaftswachstum schmälern.» Weniger Ressourcen, mehr Wohlstand? Dass in ihrem Konzept einer nachhaltigeren Wirtschaft ein gewisser Verzicht dazugehört, daraus macht Seidl keinen Hehl. Sie sagt aber auch: «Neue Konsummuster werden uns bereichern.» Man kann zum Beispiel einen Kühlschrank reparieren statt ihn ersetzen, wenn die Tür kaputt ist; Kleidung mehr als fünfmal waschen, ohne dass sie die Form verliert; die Batterien an einem Bergbach aufladen statt übers Wochenende nach Mallorca hetzen. Seidl stört sich am Wort Verzicht, sie spricht lieber von veränderten Konsummustern. Solche würden sich durch veränderte Preise automatisch einstellen und uns nicht unglücklicher machen. Sie erklärt dies am Beispiel des Smartphones: Sobald wir für die zur Herstellung notwendigen seltenen Erden bezahlen müssten, würde der Preis der Geräte in die Höhe schnellen. Womöglich würden wir unser Geld dann eher für anderes ausgeben, das relativ gesehen günstiger sei, uns aber ebenfalls gut täte (z.B. Coiffeur, Massage, Kultur). Falls wir uns das Gadget doch leisten möchten, könnten wir das, da wir weniger von unserem Einkommen abgeben müssten (da die Steuern auf Arbeit sinken würden, dafür z.B. jene auf Kapital steigen). Und quasi als schöner Nebeneffekt würden Reparaturen von Smartphones plötzlich wieder attraktiv. Ob es auch ohne einen derart drastischen Konsumwandel ginge, hängt stark an einer Frage: Ist es möglich, dass die Wirtschaft wächst und der Ressourcenverbrauch gleichzeitig sinkt? Im besten Fall auf netto null? In Fachkreisen wird auch von einer «Entkopplung» von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch gesprochen. Ob das möglich ist, darüber wird heftig gestritten. Tatsächlich gibt es zwar zahlreiche Beispiele dafür, dass die Wirtschaft aus weniger Ressourcen mehr Wohlstand generieren kann. Beispielsweise verbrauchen Autos mit Verbrennungsmotor etwas weniger Benzin als früher. Allerdings sind immer mehr Autos unterwegs, weswegen wir zunehmend mehr Treibstoff verbrauchen. Ähnliche «Rebound-Effekte», wie man sie in der Fachsprache nennt, werden auch in anderen Bereichen beobachtet. «Weil der Konsum der Menschen steigt, ja gemäss Wachstumslogik steigen muss, werden die Effizienzgewinne überkompensiert», sagt Seidl. Anders gesagt: Zwar werden Technologien tatsächlich nachhaltiger, jedoch wiegt dies unseren Mehrkonsum nicht auf. Einige internationale, gross angelegte Studien kommen darum zu einem ernüchternden Schluss: Nur eine relative Entkopplung ist möglich, nie aber eine absolute. Das heisst: Zwar kann es sein, dass der Ressourcenverbrauch weniger stark wächst als die Wirtschaft. Um den Klimakollaps abzuwenden, sagen Expert*innen, müssten wir aber unseren Verbrauch deutlich reduzieren. Dass dies möglich ist, während die Wirtschaft weiterwächst, dafür gibt es wenige Indizien. Es gibt aber Ausnahmen, die etwas Hoffnung machen: Im Schweizer Wohnungswesen beispielsweise verbrauchen wir jedes Jahr wegen isolierter und effizienterer Heizungen rund ein Prozent weniger Energie – und dies trotz Zunahme der Wohnfläche. Für Seidl ist klar: «Wenn wir die Umwelt nicht an die Wand fahren wollen, müssen wir den Ressourcenverbrauch deutlich reduzieren.» Sie plädiert für gesetzlich verankerte feste Grenzen Surprise 505/21

in Bereichen wie CO2, bebaute Fläche oder Metalle – wie sie es in der Schweiz etwa für Wald- oder Fruchtfolgeflächen bereits gibt. Ökonom Binswanger sieht zwar «erhebliches Potenzial» in der grünen Wirtschaft, also in den Versuchen zur Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch. Aber auch er glaubt nicht, dass grünes Wachstum die einzige Antwort auf das Umweltproblem sein kann. «Wenn wir beispielsweise komplett auf Elektromobilität umstellen, haben wir zwar keine CO2-Emissionen mehr, müssen uns aber fragen, woher wir den ganzen Strom nehmen, das Material, die Panels, die Windkraftanlagen.» Auch er ist darum überzeugt: «Wir müssen die Wirtschaft anders ausrichten. Wir brauchen eine Mässigung des Wachstums.» Statt zwei bis vier Prozent könnte das vielleicht ein Prozent sein. Wir müssten uns also aus der Schlinge befreien, die wir uns selbst um den Hals gelegt haben: den Zwang zum Wachstum. In seinem Buch skizziert Binswanger dafür Vorschläge. Beispielsweise plädiert er für eine andere Organisation von Unternehmen. «Solange Unternehmen an der Börse kotiert sind, stehen sie unter Druck, höhere Gewinne zu erzielen.» Eine alternative Rechtsform wäre die Genossenschaft, die auch andere, nicht-monetäre Zwecke verfolgen kann. Sie eigne sich eher für kleine und mittelgrosse Firmen, so Binswanger. Bei grösseren Unternehmen sieht Binswanger ein Potenzial in Aktiengesellschaften, die Aktien nur mit bestimmten Laufzeiten ausgeben. Dies würde verhindern, dass permanent auf kurzfristige Kursgewinne spekuliert wird. Der Staat könnte das Wachstum aber auch sehr direkt eindämmen: etwa indem die Notenbank die Zinsen erhöht. Abwegig ist das nicht: Schliesslich tut sie genau das heute schon, falls das Risiko einer Inflation besteht. «Es wurde also erkannt, dass es sich bei gewissen Risiken lohnt, notfalls auf Wachstum zu verzichten», so Binswanger. «Diese Überlegung lässt sich auch auf Umweltrisiken übertragen.» Man kann sich auch fragen: Wenn wir auf Konsum und ein gewisses Mass an Wohlstand verzichten müssen, um unseren Planeten zu retten: Ist das denn schlimm? Auch dazu gehen die Meinungen auseinander. Die Pandemie wird dabei als Praxisbeispiel herangezogen. Eine NZZ-Kolumnistin sah in der «Corona-­ Müdigkeit» just den Beweis dafür, dass Verzicht auf Arbeit und Konsum ungewollt und «gegen die menschliche Natur» sei. Schneeberger von Décroissance Bern wiederum sagt: «Die Corona-­Zeit hat auch gezeigt: Niemand ist gestorben an einem Mangel an Konsum. Es war aushaltbar.»

Soziale Bewegung im Aufwind Degrowth oder Décroissance («Entwachstum») ist die Bezeichnung für eine soziale Bewegung, die das Wirtschaftswachstum kritisiert. Sie entstand in den 1970er-Jahren in Frankreich. Als erste hatte die gemeinnützige Organisation Club of Rome mit ihrem Bericht «Die Grenzen des Wachstums» vor den katastrophalen Folgen eines unbeschränkten Wirtschaftswachstums für Ökologie und Gesellschaft gewarnt. Im deutschsprachigen Raum ist die wachstumskritische Bewegung seit einigen Jahren im Aufwind. Eines ihrer prominentesten Aushängeschilder ist der deutsche Wirtschaftsprofessor Niko Paech. Auch in der Schweiz entstanden vereinzelte Gruppen, etwa in Bern und Basel. EBA

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Schuldig durch Schulden Wer Schulden hat, ist selbst daran schuld, heisst es immer wieder. Dabei gibt es Schulden, die offenbar ganz okay sind oder gar erwünscht. Gedanken über unseren ambivalenten Umgang mit einem heiklen Thema. TEXT  SARA WINTER SAYILIR

Menschen, die in der Schuldenfalle gelandet sind, müssen sich nicht selten anhören, sie seien selbst schuld an ihrer Misere. Oft genug sind es aber strukturelle Fehler im System, die jemanden beispielsweise nach einer Trennung oder dem Jobverlust, einem Todesfall oder der plötzlichen Alleinverantwortung als junge Erwachsene in Zahlungsschwierigkeiten geraten lassen. Wie Samuel Berger, dessen Geschichte wir im Surprise 502 erzählt haben, bei dem ein gesundheitliches Leiden von der IV zunächst nicht anerkannt wurde, aber zu Arbeitsunfähigkeit führte. Die Kosten für eine Umschulung und ein Umzug an einen neuen Arbeitsort lenkten ihn in eine Schuldenspirale, die ihn noch kränker machte und aus der er nur mit Mühe und Hilfe wieder herausfand. Gleichzeitig gibt es auch Schulden, die wir gesellschaftlich als wünschenswert und normal ansehen – wie der Hauskauf auf Kredit oder das Leasen eines Autos. Unsere Wirtschaft und damit unser Wohlstand basiert auf Konsum und Wachstum. Auch Staaten machen Schulden, und ähnlich wie bei individuellen Schulden gibt es auch da unproblematische und problematische Fälle – allerdings sind sich die Wirtschaftswissenschaftler*innen uneins, was die Analyse angeht. Muss man Staatsschulden nun abtragen oder kann man sie auch stehenlassen? Ab wann wird es problematisch? Und was bedeutet dies für die Politik: Welche Entscheidungen basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, und ab wann bewegen wir uns im Bereich ideologischer Entscheide? Es ist nicht einfach zu entscheiden, wann Schuldenmachen in Ordnung ist, wer welche machen darf (und aus wirtschaftlicher Perspektive sogar soll) und wer im Gegenzug dafür verurteilt wird. Dieser ambivalente Umgang mit Schulden begegnet einem im Grossen und im Kleinen, oft bekommt das Thema einen moralischen Unterton. So war beispielsweise in Bezug auf die griechische Staatsschuldenkrise von Surprise 505/21

«Zahlungsmoral», «Schuldensündern» und «Entschuldung» sowie «Spardiktaten» die Rede, immer wieder werden «Schuldige» in Krisen gesucht. «Im Deutschen suggeriert bereits der Begriff Schuld, die Betroffenen seien selbst verantwortlich oder eben schuldig», sagt Joanna Herzig von der Schuldenpräventionsstelle der Stadt Zürich. Wie kommt es zu dieser engen Verflechtung von Schuld und Schulden, liegt es an der Nähe der Begriffe oder haben diese beiden tatsächlich in der Sache miteinander zu tun? Schuld und Scham Über die Genealogie der beiden Worte sei sich die anthropologische Forschung uneins, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel in einem Essay von 2014. Allerdings findet man schon früh in der Menschheitsgeschichte Traditionen, die in der Forschung als «Ökonomisierung von Schuld» bezeichnet werden: beispielsweise das Blutgeld, das in manchen Gemeinschaften gezahlt wird oder wurde, um die Ermordung eines Familienmitgliedes zu entschädigen, oder auch der Brautpreis, durch den die Familie der Braut für die Herausgabe eines reproduktionsfähigen Familienmitgliedes entschädigt wird. Natürlich sind sich bei solchen Traditionen alle Beteiligten darüber im Klaren, dass der eigentliche Wert des verlorenen Familienmitglieds nicht messbar ist und mit Geld nicht aufgewogen werden kann. Heutzutage wird in den westlichen Kulturen der Ausdruck «Schuld» gleichgesetzt mit «persönlicher (moralischer oder rechtlicher) Vorwerfbarkeit». Dabei hat sich der Fokus von der Entschädigung der Opfer zur Bestrafung der Täter verschoben. Dieses Verständnis prägt auch unser Strafrecht, das «nicht die Wiedergutmachung von Verletzungen und Schädigungen für die Opfer regelt, sondern schuldhafte Verstösse gegen die Rechtsordnung bestraft», schreibt die deutsche Philosophin Maria-Sibylla Lotter in ihrem

Essay «Verantwortung und Schuld». Und doch fühlen wir uns nicht nur in Zusammenhängen schuldig, für die wir direkt selbst etwas können, sondern auch in solchen, in denen wir uns befinden, die aber gesellschaftlich unerwünscht sind wie Arbeitslosigkeit oder eben Überschuldung. Hier liegen Scham und Schuld eng beieinander. Lotter beschreibt, wie unser modernes Verständnis von Schuld im Sinne der Vorwerfbarkeit längst nicht ausreicht, um zu erklären, warum beispielsweise die nachfolgenden Generationen in Deutschland sich noch schuldig an den Verbrechen der Nazis fühlen, obwohl sie diese selbst weder hätten verhindern können noch daran mitgewirkt haben. Sie erklärt dies mit einem Blick in die Geschichte, wo allein das Dasein des Menschen in der Welt schon eine Form von Schuld bedeutete, die man durch bestimmte Verhaltensweisen versuchen konnte abzutragen. Auch Weigel bezieht sich in ihren Untersuchungen zum Zusammenhang von Geld und Gedächtnis vor allem auf die Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs: «Die Formel ‹Schuld und Schulden› ist inzwischen zu einem Topos der historischen Forschung zur Wiedergutmachung geworden ... und in die öffentliche Debatte eingedrungen». Die Aufspaltung von moralischer und finanzieller Schuld sei ein Produkt der Moderne. Dabei folge das System von Schulden, Kredit und Zins der Logik der Schuld im Sinne einer Zahlungsverpflichtung, wie wir sie vom Blut- oder Brautgeld kennen. Die moralische Schuld hingegen werde beim demjenigen verortet, der Schulden mache, während die Perspektive des Geschädigten ausfalle. Weigel erklärt am Beispiel der Debatte über die Schuld der Deutschen, wie diese nach 1945 vor allem im Diskurs von Schulden, Bilanz und Bezahlen geführt wurde. «Phänomene wie Schuld und Leid, Opfer und Verbrechen wurden dabei im Medium einer Rhetorik des Vergleichs und der Gegenrechnung in mess- und quantifizier23


bare Grössen umgeformt.» Weigel nennt dies die «Monetarisierung von Schuld», nicht unähnlich der obengenannten «Ökonomisierung von Schuld». Auch hier geht es darum, eigentlich Unquantifizierbares in finanzielle Beträge umzurechnen. Über die sogenannten Wiedergutmachungszahlungen habe man die nicht-messbaren Grössen (Kriegs-)Schuld und Leiden in finanzielle Schulden umgeformt und damit nicht nur die Auseinandersetzung mit dem vermieden, was nicht wiedergutzumachen ist, sondern auch auf die Perspektive eines Schlussstriches, einer Bilanz gehofft. Schuld und Unterdrückung Weigel erklärt, wie sich die Verbindung von Schuld und Schulden auch im internationalen Rechtsverständnis und den dort verwendeten Begriffen niederschlägt. Während im rechtlichen Bereich von «Restitution» gesprochen wird, was eine Wiederherstellung des Zustandes vor/ohne den Schaden meint, spricht man im internationalen Zusammenhang häufig von «Reparationszahlungen». Diese stellen einen finanziellen Ausgleich für nicht revidierbare Schäden in Aussicht. «Wiedergutmachung» hingegen beinhaltet schon als Begriff eine moralische Komponente. «Die Rhetorik der Wiedergutmachung macht deutlich, wie sehr der Politik der Entschädigung der Wunsch nach Entschuldung zugrunde liegt.» Der Anthropologe David Graeber behandelt in seinem umfangreichen Werk «Schulden – die ersten 5000 Jahre» einen anderen Aspekt der unguten Verknüpfung von Schuld und Schulden. Der inzwischen

verstorbene Vordenker der Occupy-Bewegung betrachtet Schulden als weltumspannenden Unterdrückungsmechanismus zwischen Besitzenden und Armen, die sich in einem Verhältnis von Gläubiger*innen und Schuldner*innen befinden. Bei Graeber steht nicht wie bei Weigel die Transformation von Schuld in Schulden im Mittelpunkt, sondern das Gegenteil: Schulden werden hier in Schuld umgewandelt: «Eine Schuld ist die Verpflichtung, eine bestimmte Geldsumme zu zahlen. Folglich lässt sich eine Schuld anders als jede andere Form der Verpflichtung genau quantifizieren. Dadurch werden Schulden einfach, kalt und unpersönlich – und das macht sie wiederum übertragbar.» Graeber kritisiert, dass Menschen über das Kreditwesen in Abhängigkeit gehalten und unterdrückt werden, ohne dass dies als moralisch verwerflich bewertet wird. Entscheidend ist dafür die Fähigkeit des Geldes, «Moral in eine Sache unpersönlicher Arithmetik verwandeln – und dabei Dinge zu rechtfertigen, die ansonsten empörend oder obszön erscheinen würden». Gläubiger*innen haben durch das System der Kreditvergabe und die damit verbundenen Zahlungsverpflichtungen das Recht, (tatsächliche oder indirekte) Gewalt gegenüber Schuldnern anzuwenden (siehe Surprise #500). Graeber führt zahlreiche Beispiele an, wie Menschen seit Jahrtausenden durch das System der Kreditvergabe und die folgenden Schuldenspiralen in die Armut bis hin zur Sklaverei getrieben wurden. Um Rebellionen zu verhindern, habe es in vielen Gesellschaften regelmässige Schulden-

schnitte gegeben – wie das sogenannte Sabbatjahr in der Bibel oder auch das in der Schweiz noch nicht eingeführte Restschuldbefreiungsverfahren. So schreibt Graeber denn auch: «Ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden. Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil er menschliches Leid lindern könnte. Er riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld nichts Geheimnisvoll-Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht.

Eine Frage nach Huhn oder Ei In einer bekannten Passage von Friedrich Nietzsches «Genealogie der Moral» (1887) heisst es, Schuld sei aus Schulden entstanden. Etymologisch ist dies im Deutschen jedoch so nicht nachweisbar. Während der Begriff «Schuld» sich laut Grimms Deutschem Wörterbuch vom germanischen Verb «skulan» herleitet – im Sinne von «sollen, schulden, in Schuld geraten» –, ist das Substantiv «Schulden» im Plural erst im Neuhochdeutschen belegt. Sprachhistorisch geht die Schuld offenbar den Schulden voraus. Nun kann aber ein linguistischer Hinweis für das Deutsche und verwandte Sprachen nicht als Nachweis einer kulturgeschichtlichen Entstehungsgeschichte, ohnt sich aber zusätzlich zu betrachten. WIN


Kommentar

Den Fokus verschieben Gesellschaftliche und politische Stabilität ist ein hohes Gut. Nur weil wir in einem sicheren Land wie der Schweiz leben, in dem wir uns ein gut ausgebautes Bildungsund Gesundheitssystem leisten, kann die Mehrheit der Menschen bei uns ihre Potenziale entdecken und ­nutzen. Sie können mit ihren Fähigkeiten etwas Spannendes und Produktives anfangen, was – grob ver­ einfacht – über ihre Arbeit auch zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt. Diese bestimmt das Steueraufkommen, mit dem der Staat wiederum Infrastruktur und Dienstleistungen bereitstellt, von denen wir alle profitieren und die unsere Wohlfahrt sichern. Nun wissen wir, dass diese Bedingungen zwar vielen in der Schweiz, aber nicht allen die besten Chancen b ­ ieten. Gerade weil wir so viel Stabilität haben und als Gesamtgesellschaft so vermögend sind, könnten wir noch viel mehr tun, um auch denen ein würdevolles und selbst­ bestimmtes Leben zu ermöglichen, die es aufgrund verschiedener Umstände schwer haben. Wir verwenden global gesehen viel Energie und Forschung d ­ arauf, wie wir in den Industrienationen von 2 Prozent Wirtschaftswachstum auf 2,1 oder 2,2 Prozent kommen. Stattdessen sollte man lieber den ärmsten Ländern zu einem ­Niveau an Grundversorgung verhelfen, das menschliches Leid lindert, schreiben die Wirtschaftswissenschaftler*innen Esther Duflo und Abhijit Banerjee in ihrem Buch «Gute Ökonomie für harte Zeiten» sinngemäss. Was für die globale Wirtschaft gilt, zählt auch im nationalen Rahmen: Es lohnt sich, auch mal den Fokus von den Wohlhabenden weg auf die am wenigsten Vermögenden zu richten. Anstatt in der Diskussion

um die staatliche Neuverschuldung über Sparrunden zu diskutieren, die dann auch noch ­«solidarisch» von allen gemeinsam zu tragen sind, sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass eine solche Politik für das untere Fünftel der Einkommensklassen nicht nur etwas weniger ökonomische Bewegungsfreiheit bedeutet, sondern zu menschlichen Tragödien führen kann. Oft genug aber schieben wir die Verantwortung für die Lage der ökonomisch Schwächsten ihnen selbst zu, ­indem wir den latenten Glauben pflegen, dass doch ­jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. Damit vermeiden wir grundlegende Debatten über Fehler im ­System, die eben diese Bevölkerungsgruppe strukturell benachteiligen. Oder wir schieben etwas Abstraktes, ­Unpersönliches wie wirtschaftliche Gesetzmässigkeiten vor, die uns angeblich Zwänge auferlegen, auf die wir keinen oder wenig Einfluss haben. Wie zum B ­ eispiel, dass auf die Aufnahme von Schulden ihr Abbau folgen müsse. Dabei steckt hier manchmal fehlender politischer Wille hinter etwas, das als ­Wirtschaftswissenschaft verkauft wird. Wie oft wir uns in diesen Debatten im ideologischen Bereich befinden und uns nicht eingestehen, dass wir uns bewusst oder unbewusst politisch dafür entscheiden, das Leid der armen Bevölkerungsteile eben doch nur bedingt aufzufangen, auszusitzen oder zu ignorieren, ­darüber sollten wir dringend häufiger sprechen. So wie wir uns vielleicht auch fragen müssten, ob wir eigentlich die richtigen Dinge moralisieren: wie zum Beispiel die Unfähigkeit, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen oder verschuldet zu sein. WIN


BILD(1): ADOLF-WÖLFLI-STIFTUNG, KUNSTMUSEUM BERN, BILD(2): CONNER FAMILY TRUST, BILD(3): ELIAS VETTER

Veranstaltungen Bern «Riesen=Schöpfung. Die Welt von Adolf Wölfli», Ausstellung, bis So, 15. August, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland. zpk.org

Zum Zeichner, Komponisten und Schriftsteller wurde Adolf Wölfli, als er mit 31 Jahren und der Diagnose Schizophrenie in die psychiatrische Heilanstalt Waldau in Bern überwiesen wurde. Bis zu seinem Tod 1930 erschuf er dort ein ausuferndes Œuvre, ein Universum auf über 25 000 Seiten, das er selber als «Skt. Adolf Riesen=Schöpfung» bezeichnete. Es beinhaltet eine idealisierte Lebensgeschichte, die ihn und seine Getreuen durch Länder und Kontinente imaginierter Welten reisen lässt. Es sind fantastische Kopfreisen, die bis in den Weltraum reichen – und so in einem bemerkenswerten Kontrast zu seiner Verwahrung in der Waldau stehen. Der Autodidakt stammte aus armen Verhältnissen, wurde als Bub verdingt und arbeitete später als Taglöhner in unterschiedlichen Tätigkeiten. Die Ausstellung setzt «ein Statement für das Unangepasste und Aussergewöhnliche, das in einer immer stärker normierten Welt kaum mehr Platz findet», sagt Hilar Stadler, der Kurator der Ausstellung. DIF

Basel «Bruce Conner. Light out of Darkness», Ausstellung, bis So, 28. November, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 1. tinguely.ch

Bruce Conner zählte neben Stan Brakhage, Ken Jacobs, Jonas Mekas und Andy Warhol zu den Stars der US-Underground-Filmszene der späten 1950er- und 1960er-Jahre

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und gilt als Vater des Videoclips: Mit seiner Verwendung von Techniken wie Jump Cuts, Flash Frames und Flickering und seinem Umgang mit Found Footage beeinflusste er auch die frühe Phase der MTV-Musikvideos. Seine Haltung zur Kunstwelt war kritisch, sein filmisches Werk experimentell, radikal, vielseitig. Von beeindruckender Schönheit und erschreckender Düsterheit. Politisch, subversiv und mit einer unmittelbaren sinnlichen Kraft. «Bruce Conner. Light out of Darkness» zeigt neun Filme, darunter die Arbeit CROSSROADS (1976), die Filmmaterial des ersten US-Unterwasser-Atombombentests von 1946 beim Bikini-Atoll zu einer 36-minütigen Studie über Horror und Sublimität des apokalyptischen Ereignisses zusammenfügt. DIF

Solothurn «Gipfelstürmer und Schlafmützen – Tiere und Pflanzen im Gebirge», So, 24. Oktober, Di bis Sa, 14 bis 17 Uhr, So 10 bis 17 Uhr, Naturmuseum, Klosterplatz 2. naturmuseum-so.ch Ein Ausflug ins Gebirge ist mit einer Wanderung zum Polarkreis vergleichbar, denn mit der Höhe ändert sich auch das Klima. 100 Höhenmeter entsprechen etwa 150 Kilometern in der Horizontalen. In der Höhe sinken nicht nur die Temperaturen – pro 100 Höhenmeter um die 0,5 Grad Celsius –, sondern auch Wind und Niederschlagsmenge nehmen zu, die Sonneneinstrahlung ist verstärkt und die Luft ist trockener. Um in den höheren Lagen zu überleben, braucht es also gewisse Anpassungen. Murmeltiere verschlafen die ganz harten Monate. Die Alpen-Keulenschrecke dagegen reduziert die Gefahr des Erfrierens, indem sie die Menge an Körperflüssigkeit klein hält und mittels Veränderungen im eigenen Körper den Gefrierpunkt herabsetzt. Auch einige Pflanzen wachsen trotz der kurzen

Vegetationsperiode, ernähren sich trotz Wassermangel und vermehren sich trotz Insektenmangel. Der Frühlingskrokus, die Kraut-Weide oder der Gegenblättrige Steinbrech etwa, der noch auf einer Höhe von 4505 Metern über Meer zu blühen vermag. Spannend auch, weil die Alpen eine Art Vergrösserungsglas für Klimaschwankungen und ihre Folgen sind, da geringe Veränderungen hier grosse Auswirkungen auf Flora und Fauna haben. DIF

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Fahrschule, einer Personalagentur und einer Praxis für Chinesische Medizin. Eine Frau um die vierzig wird zur Fahr­ stunde abgeholt. Ein Mann parkiert seine Limousine auf dem Taxifeld, offen­ bar darf er das, er winkt dem Postautochauffeur und setzt sich zu zwei Kollegen auf die Terrasse. Ein Polizist schlendert in einer leuchtgelben Signaljacke über den Platz, trifft einen Mann, der die orange Leuchtweste der Gemeinde trägt, und schliesslich noch einen jungen Mann mit gelber Weste. Sie beraten sich lange vor einer leicht schiefen Verkehrstafel. Die Jugend trotzt rauchenderweise der bahnhöflichen Maskenpflicht. Zahlreiche Wander- und Velowege sind ausgeschil­ dert, Mountainbiker, Tourenfahrerinnen mit Satteltaschen im Partnerlook und Rennvelofahrer beginnen oder beenden ihre Ausfahrt. Auch ein Bienenlehrpfad ist ausgeschildert, gleich dahinter wirbt eine einheimische Glace-Marke mit dem Slogan «Save the Bees».

Tour de Suisse

Pörtner in Pfäffikon SZ Surprise-Standorte: Bahnhof Einwohner*innen: 7461 Sozialhilfequote in Prozent: 1,5 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 21,8 Platz im weltweiten Ranking von Hedge-Fonds-Zentren: 3 (nach New York und Shanghai)

Das Aufhängen von Fahnen an Balkonen und Fenstern hat sich allgemein durch­ gesetzt. In dieser Gegend dominieren die «Hopp Schwyz»-Fahnen, nur im Unter­ stand beim Bahnhof steht ein Velo, das mit einer für die Trinkwasserinitiative ausgestattet ist. Eine Gruppe Jugendlicher fährt auf ­ihren Velos vorbei, französische Lieder klingen aus einem nicht sichtbaren Laut­ sprecher. Von der anderen Seite dringt basslastige Musik aus den offenen Fens­ tern eines Maserati. Die Autos, die um den Bahnhof kurven, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: praktisch und ­protzig. Hier trifft das Ländliche auf das Steuergünstige. Auf der Infotafel steht der Name der Gemeinde Freienbach, zu der Pfäffikon gehört. Freienbach wurde zum Synonym für die Landgemeinden, Surprise 505/21

in die ein Teil der Z ­ ürcher Finanzelite ­ihren Wohnsitz verlegte, um Steuern zu sparen. Das Modell hat sich in der ­ganzen Region durchgesetzt. Auf dem Weg nach Pfäffikon fährt man an ­Wiesen, Feldern und Bauernhäusern vorbei, wähnt sich weitab vom Trubel und findet sich mit einem Mal in Einfamilienhaus-, Eigentumswohnungs- und ­Villenvierteln wieder. Riesige Baustellen zeugen vom ungebrochenen Boom. Der Bahnhof Pfäffikon ist der Hub dieser Gegend, es halten Züge und Busse, Postautos und S-Bahnen. Passagiere werden mit dem Auto gebracht oder ab­ geholt. Es sind Autonummern im tiefen zweistelligen Bereich zu sehen. Die Taxi-Stellplätze sind bis auf einen leer. Die Zentrale befindet sich gleich ­nebenan, sie teilt das Gebäude mit einer

Das Kulturzentrum, nach einem hier ­gegründeten Textilunternehmen benannt, das einst überall im Land Filialen hatte und irgendwann den Launen des Mode­ betriebs zum Opfer fiel, wirbt für eine verlängerte Ausstellung zum Thema Er­ nährung. Daneben verkauft ein drei­ rädriges Vehikel Bratwüste und Getränke. Die Mittagszeit ist vorbei, es bleibt Zeit für einen lebhaften Schwatz auf Spanisch. «Lust auf Neues. Jetzt als Auto.» Zwei El­ lipsen und das Bild eines giftgrünen, unförmigen Wagens, der wahrscheinlich nicht zwei Generationen später bei ­jungen Individualist*innen als ikonisches Fahrzeug gelten wird. Ein Güterzug mit Tankwagen fährt langsam und scheppernd durch den Bahnhof. Eine Fahr­ schülerin biegt vorsichtig um die Ecke.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Wir alle sind Surprise #503: Literaturausgabe

#502: Ertrinken in Schulden

Was für ein tolles Heft ist euch gelungen! Für so einen verregneten Freitagabend absolut erhellend. Und auch darüber hinaus. Wunderbare Literatur, witzige und schöne Illustrationen, und alles geht direkt ins Herz. So guet, gitts eu und min Lieblingsverchäufer, dä Tesfamichael bim Coop Lochergut. B. ROTH, Zürich

#499: Schnellzug ins Gefängnis

«Gemeinnützige Arbeit sinnvoller» Danke für Ihren wichtigen Beitrag! Mit grossem zeitlichem Aufwand und vielen Briefwechseln zwischen dem ZVV und mir habe ich für einen problembeladenen Menschen nach seinem wiederholten Fahren ohne Fahrausweis erreichen können, dass er die ihm auferlegte Gebühr in entgegenkommender Weise in kleinsten Raten von monatlich Fr. 20.– abstottern durfte, was er in der Folge auch getan hat. Ein Gesuch um ersatzweise Leistung von gemeinnütziger Arbeit wurde ab-

gelehnt. Wichtig in diesem Zusammenhang bleibt festzustellen, dass seit dem 1. Januar 2018 Geldstrafen oder Bussen gemäss Art. 79a StGB laut Mitteilung des ZVV nicht mehr als gemeinnützige Arbeit vollzogen werden könen. Die Möglichkeit des ersatzweisen Abarbeitens von Strafen in Form gemeinnütziger Arbeit ist unzweifelhaft eine viel klügere und auch sinnvolle und zugleich erzieherisch wirksame Massnahme. Nicht zuletzt werden damit unter dem Strich auf allen Seiten (wenn man weiss, wie viel jeder Tag im Gefängnis kostet) erhebliche Kosten gespart. Ein entsprechender Vorstoss in den Räten ist wohl fällig. E. GUGGENHEIM, Zürich

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Ständige Mitarbeit
 Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Seynab Ali Isse, Marcel Bamert,

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo

abgelehnt.

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C. CARDOSO, Basel

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Dinah Wehrli Wiedergabe von Artikeln und Bildern,

Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win), Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Anders als gewisse Leserbrief-Schreibende sehe ich bei den Surprise-Artikeln keine ideologisch-einseitige Beleuchtung. Wer das behauptet, ignoriert entweder bewusst sozialwissenschaftliche Fakten oder fühlt sich von diesen persönlich angegriffen. Diese Strategie kann man haben, sie scheint mir jedoch äusserst bedenklich. In diesem Sinne: vielen Dank für das Teilen dieser empirischen Erkenntnisse! Wie mit ver- oder überschuldeten Menschen umgegangen wird, liegt weder im Interesse der bzw. des Einzelnen noch im Interesse unserer Gesellschaft: Es führt zu körperlichen und psychischen Erkrankungen, das unser (ohnehin schon am Limit laufendes) Gesundheitswesen wiederum zusätzlich belastet, und zu hohen Administrativkosten. Wegen dieser Erkenntnisse braucht es dringend einen Ausbau von (präventiven) Schuldenberatungsangeboten und ein gesetzlich verankertes Restschuldbefreiungsverfahren mit entsprechender Rechtsbegleitung.

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat),

Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02

Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo

«Nicht im Interesse der Gesellschaft»

auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Plötzlich war nichts mehr wie vorher» «Als junger Student mit eigener Meinung bin ich in meinem Heimatland Eritrea im Gefängnis gelandet. Ich wusste, wenn ich ein Leben in Freiheit führen will, muss ich mein Land verlassen. Ich war 19 Jahre alt, als ich in den Sudan flüchtete und einige Monate später weiter nach Äthiopien. Das war ein Fehler, denn dort wurde ich in einem abgelegenen Flüchtlingslager fast vier Jahre lang festgehalten. Nach einer gefährlichen Flucht durch die Wüste auf der Sinai-Halbinsel, die drei Wochen dauerte, erreichte ich 2008 Israel. Die ersten Jahre liefen gut. Ich fand bereits wenige Wochen nach der Ankunft Arbeit. Das war so leicht in Israel. Du gehst hin, fragst und kannst gleich anfangen, auch ohne Ausbildung oder Sprachkenntnisse. Hebräisch habe ich sehr schnell gelernt, weil es wie meine Muttersprache Tigrinya eine semitische Sprache ist. Ich hatte unterschiedliche Jobs, vom Coiffeur über Küchenhilfe bis zum Verkäufer. Mehr als zwei Jahre habe ich für eine Supermarktkette einen Spirituosenladen geführt. Ebenfalls kurz nach meiner Ankunft in Israel habe ich meine Frau Jordanos kennengelernt, sie stammt wie ich aus Eritrea. Mit unseren beiden Töchtern, die 2011 und 2012 zur Welt ­kamen, wohnten wir in Tel Aviv. Viele unserer Landsleute leben in dieser Stadt, es hat dort auch eine eritreisch-orthodoxe ­Kirche, die wir regelmässig besuchten. Wir führten ein glückliches Leben, bis Anfang 2014 ein rassistischer und offensichtlich geisteskranker Israeli im grossen B ­ usbahnhof von Tel Aviv aus dem Nichts heraus mehrere Male mit einer Schere auf unsere eineinhalbjährige Tochter einstach. Meine Frau war damals mit den Mädchen unterwegs zu einer Verwandten. Kurz nach der Tat wurde der Mann gefasst. Er sagte aus, er habe von Gott den Befehl bekommen, ein schwarzes Baby zu töten. Unsere kleine Tochter wurde mit lebensgefähr­ lichen Verletzungen ins Spital gebracht, sie lag zwei Monate im Koma und wurde dreimal operiert. Bis heute, sie ist jetzt neunjährig, hinkt sie und muss Spezialschuhe tragen. Dieser Vorfall hat die ganze Familie traumatisiert. Plötzlich war nichts mehr wie vorher. Wir lebten in ständiger Angst und wollten nur noch weg. Zurück nach Eritrea konnten wir aus politischen Gründen nicht. Und so wandten wir uns an die Schweizer Botschaft in Tel Aviv und baten um Asyl. Die Behörden reagierten sehr schnell; bereits nach einer Woche erhielten wir Bescheid und konnten wenig später in ein Flugzeug nach Zürich steigen. Wir waren sehr erleichtert und dankbar, dass wir die Chance bekamen, in der Schweiz ein neues Leben anzufangen. Für mich war die erste Zeit jedoch sehr schwierig. Ich dachte, meine Frau und ich würden wie in Israel gleich wieder Arbeit finden und unseren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Doch 30

Mulue Kidane, 37, lebte glücklich in Tel Aviv, als ein schlimmes Ereignis ihn zwang, mit seiner Familie in die Schweiz zu flüchten. Jetzt will er schnell wieder Fuss fassen.

während des Asylverfahrens war es uns in den ersten zwei Jahren nicht erlaubt zu arbeiten. Nur herumsitzen und warten, das war für mich wirklich schlimm. Die Situation änderte sich, als ich mit der Aufenthaltsbewilligung F arbeiten durfte. Eine Stelle zu finden war aber nicht einfach, weil es bei den Arbeitgebern oft heisst, sie stellen nur Leute mit einer B-Bewilligung ein – diese bekommt man in der Regel aber nur, wenn man selbst für die Familie sorgen kann. Wie sollte ich also von der Sozialhilfe wegkommen, wenn ich mit der F-Bewilligung kaum Arbeit finde? Ich hatte Glück und fand trotzdem Jobs, unter anderem als Lieferwagenchauffeur oder befristet im Postverteilzentrum Egerkingen. Im Moment bin ich wieder auf Arbeitssuche und verkaufe ­vorübergehend Surprise am Bubenbergplatz, wo meine Frau bereits seit Januar ebenfalls Hefte verkauft. Ich hoffe, dass wir so schnell wie möglich finanziell unabhängig werden und für unsere mittlerweile fünfköpfige Familie – wir haben vor zwei Jahren noch eine Tochter bekommen – selbst sorgen können und somit in der Schweiz bleiben dürfen.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 505/21


Helfen tut gut. BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | L‘Ultimo Bacio | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 | Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth‘s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Marktgasse Zeit, | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA | Café Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. zu helfen. MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena | All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung,Brasserie die Surprise seinenDreigänger drei Standorten in Basel, Bern und Lorrainean | Restaurant | Berner Generationenhaus | Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | Zentrum 44 | Zürich anbietet. Die Verkäufer*innen des Strassenmagazins sowie die Stadtführer*innen, die Spieler*innen des Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF IN DIETIKON MisKaffee Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café Strassenfussballs und die Chormitglieder erhalten hier nicht nurSpecht ihre Hefte, gratis oder Internetzugang, IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LUZERN Jazzkantine zum sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen anGraben die Surprise-Mitarbeiter*innen. | Meyer Kulturbeiz | Blend Teehaus | Bistro Quai4 | Quai4-Markt, Baselstrasse & Alpenquai | Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café INUmgang MÜNCHENSTEIN Bücher- und und Musikbörse IN NIEDERDORF Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim mit Behörden administrativer Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN RAPPERSWIL Café good Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rundKammgarn-Beiz 450 armutsbetroffene ist diese IN SCHAFFHAUSEN IN STEIN AM Menschen RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione | umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche im Bistro Sein IN ZUG Stütze Podium 41 INAlltag. ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Quartiertreff Enge | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro

Café Surprise eine Surprise hilft individuell und – niederschwellig. Spenden Sie heute. Tasse Solidarität Spendenkonto: PC 12-551455-3 eine | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Zwei bezahlen, surprise.ngo/spenden spendieren.

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BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

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STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

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Expertenrolle Expertenrolle SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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Halten Sie Abstand.

Wo nötig tragen wir Masken.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desinfek­ tionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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