Surprise 505/21

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Kommentar

Den Fokus verschieben Gesellschaftliche und politische Stabilität ist ein hohes Gut. Nur weil wir in einem sicheren Land wie der Schweiz leben, in dem wir uns ein gut ausgebautes Bildungsund Gesundheitssystem leisten, kann die Mehrheit der Menschen bei uns ihre Potenziale entdecken und ­nutzen. Sie können mit ihren Fähigkeiten etwas Spannendes und Produktives anfangen, was – grob ver­ einfacht – über ihre Arbeit auch zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt. Diese bestimmt das Steueraufkommen, mit dem der Staat wiederum Infrastruktur und Dienstleistungen bereitstellt, von denen wir alle profitieren und die unsere Wohlfahrt sichern. Nun wissen wir, dass diese Bedingungen zwar vielen in der Schweiz, aber nicht allen die besten Chancen b ­ ieten. Gerade weil wir so viel Stabilität haben und als Gesamtgesellschaft so vermögend sind, könnten wir noch viel mehr tun, um auch denen ein würdevolles und selbst­ bestimmtes Leben zu ermöglichen, die es aufgrund verschiedener Umstände schwer haben. Wir verwenden global gesehen viel Energie und Forschung d ­ arauf, wie wir in den Industrienationen von 2 Prozent Wirtschaftswachstum auf 2,1 oder 2,2 Prozent kommen. Stattdessen sollte man lieber den ärmsten Ländern zu einem ­Niveau an Grundversorgung verhelfen, das menschliches Leid lindert, schreiben die Wirtschaftswissenschaftler*innen Esther Duflo und Abhijit Banerjee in ihrem Buch «Gute Ökonomie für harte Zeiten» sinngemäss. Was für die globale Wirtschaft gilt, zählt auch im nationalen Rahmen: Es lohnt sich, auch mal den Fokus von den Wohlhabenden weg auf die am wenigsten Vermögenden zu richten. Anstatt in der Diskussion

um die staatliche Neuverschuldung über Sparrunden zu diskutieren, die dann auch noch ­«solidarisch» von allen gemeinsam zu tragen sind, sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass eine solche Politik für das untere Fünftel der Einkommensklassen nicht nur etwas weniger ökonomische Bewegungsfreiheit bedeutet, sondern zu menschlichen Tragödien führen kann. Oft genug aber schieben wir die Verantwortung für die Lage der ökonomisch Schwächsten ihnen selbst zu, ­indem wir den latenten Glauben pflegen, dass doch ­jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. Damit vermeiden wir grundlegende Debatten über Fehler im ­System, die eben diese Bevölkerungsgruppe strukturell benachteiligen. Oder wir schieben etwas Abstraktes, ­Unpersönliches wie wirtschaftliche Gesetzmässigkeiten vor, die uns angeblich Zwänge auferlegen, auf die wir keinen oder wenig Einfluss haben. Wie zum B ­ eispiel, dass auf die Aufnahme von Schulden ihr Abbau folgen müsse. Dabei steckt hier manchmal fehlender politischer Wille hinter etwas, das als ­Wirtschaftswissenschaft verkauft wird. Wie oft wir uns in diesen Debatten im ideologischen Bereich befinden und uns nicht eingestehen, dass wir uns bewusst oder unbewusst politisch dafür entscheiden, das Leid der armen Bevölkerungsteile eben doch nur bedingt aufzufangen, auszusitzen oder zu ignorieren, ­darüber sollten wir dringend häufiger sprechen. So wie wir uns vielleicht auch fragen müssten, ob wir eigentlich die richtigen Dinge moralisieren: wie zum Beispiel die Unfähigkeit, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen oder verschuldet zu sein. WIN


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