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Strassenmagazin Nr. 482 21. Aug. bis 03. Sep. 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Sansibar

Algen für die Freiheit

Der Anbau von Seegras ist die Lebensgrundlage tausender Frauen. Jetzt ist sie bedroht. Seite 16 Surprise 000/20

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BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

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Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

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Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: SAM VOX

Editorial

Unmenschlich und kalt Menschen, die unter Depressionen oder an Traumata leiden, die deswegen nicht arbeiten können, vom sozialen Leben ausgeschlossen sind, ihren Selbstwert hinterfragen und sich zurückziehen: Oft werden sie dadurch nur noch abhängiger von einer Gesellschaft, in der sie sich nicht mehr heimisch fühlen – und vom Sozialstaat. Die Invalidenversicherung IV, seit 1960 als Bundesgesetz verankert, ist solch ein Mittel zum Schutz der Kranken. Doch immer wieder gerät sie in die Kritik: Von einer harten Sparpolitik ist die Rede, von Willkür, von Millionen, die für Gutachten bezahlt werden. Wir wollten wissen, was dahintersteckt, und ­haben eine aufwendige Recherche gestartet, die wir in unregelmässigen Abständen in vier ­Teilen veröffentlichen. Im ersten Teil (Surprise 477/20) ging es um eine psychisch erkrankte Frau, die jahrelang eine IV-Rente bezog. Bis jemand anonym behauptete, sie würde ihre Krankheit bloss vortäuschen. Ein Gutachter folgte dieser Einschätzung, obwohl

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Wahre Strafe 6 Verkäufer*innenkolumne

Im Alltag mehr ernten 7 Die Sozialzahl

Armut in der Corona-Krise 8 System IV – Teil 2

Bei der IV ist Krankheit eine juristische Angelegenheit

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16 Sansibar

Emanzipation in Gefahr

viele andere Arztberichte die Erkrankung der Betroffenen im Detail bestä­tigten. Die Frau verlor daraufhin ihre Rente und stürzte ab. Wie menschlich ist diese IV eigentlich? Das haben wir uns unweigerlich gefragt. Eng mit dieser Frage verknüpft ist eine andere: Wer sagt letztlich, ob jemand krank ist und wie sehr? Man möchte meinen, das sei eine rein medizinische Frage. Aber bei der IV ist dem nicht so. Dort sind es vermehrt Jurist*innen, die über Schicksale entscheiden. Man wirft ihnen vor, mit einem kalten, unmenschlichen Gesundheitsbegriff zu hantieren. Unser Reporter Andres Eberhard hat dazu umfangreich recherchiert – und er hat den obersten Bundes­ richter Ulrich Meyer, eine Instanz in Sachen IV, zu einem seiner seltenen Interviews getroffen und ihn gefragt: Wie fair ist eigentlich die IV? Lesen Sie ab Seite 8.

KL AUS PETRUS

Redaktor

22 Literatur

Auf der Strecki 24 Kunst

Connected Space 25 Film

Lotte mit den Scherenhänden 25 Buch

Kleinkunstwerk im Taschenformat

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Hittnau 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich habe schlimme Geschichten gehört»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Demonstrieren mit Gesichtsschutz gegen Präsident Jair Bolsonaro.

Ein Aktivist protestiert mit einer brasilianischen Flagge. Die Kreuze stehen für die Covid-19-Toten. FOTOS: (1) REUTERS/AMANDA PEROBELLI, (2+3) REUTERS/ADRIANO MACHADO, (4) AURORA DA RUA

Auf einem Friedhof in Sao Paulo werden die Toten mit Schutzanzügen beerdigt.

Angehörige einer Kirchgemeinde in Salvador de Bahia rufen zu schweigendem Protest in sozialen Medien auf.

Stiller Protest #SilêncioPelaDor – «Stille für Schmerz» heisst die Kampagne einer Kirchgemeinde in Salvador de Bahia in den Sozialen Medien, mit der sie auf den unzureichenden Umgang der brasilianischen Regierung mit der Covid-19-Pandemie hinweist. Auch die brasilianische Strassenzeitung Aurora da Rua beteiligt sich. Gemeinsam rufen die Unterstützer*innen zu Social-Media-Ein­ trägen auf, in denen schweigender Protest gegen das massive menschliche Leid und die politische Untätigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Brasilien ist mit rund 2,5 Millionen bestätigten Ansteckungen und über 100 000 Toten derzeit das Epizentrum des weltweiten Corona-Ausbruchs. «Jeden Tag sterben Menschen, 4

weil unsere Regierung sich weigert, sich an die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO zu halten oder Entscheidungen zu treffen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Eindämmung des Virus basieren», sagt Henrique Peregrino, Initiator der Kampagne in Bahia. Landesweit haben sich schon zahlreiche andere Organisationen wie Cáritas Nacional oder das Zentrum für Soziale Studien und Aktion (CEAS) der Kampagne angeschlossen.

AURORA DA RUA, SALVADOR DE BAHIA, BRASILIEN

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Verlorene Munition 60 000 Schuss Munition sind in den vergangenen zehn Jahren bei der deutschen Bundeswehr verschwunden. In mehr als hundert Fällen fehlt jeder Hinweis auf den Verbleib der Dienstwaffen. Dazu kommen 48 000 Schuss Munition und 62 Kilogramm Sprengstoff, die unauffindbar sind.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Keine Heimkehr in Sicht 200 000 Seeleute sitzen derzeit auf Schiffen oder in Häfen fest, weil sie infolge der Corona-Pandemie nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können. Manche sind bereits seit fünfzehn Monaten an Bord. Üblicherweise wechseln sich die Crews jeden Monat ab, damit die Seeleute ihre Familien daheim besuchen dürfen – was nun auf unbestimmte Zeit ausgesetzt ist. Weltweit arbeiten allein auf den rund 55 000 Handelsschiffen etwa 1,2 Millionen Seeleute, meist aus den Philippinen, Indien, Russland, der Ukraine und China.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Grosse Flucht 79,5 Millionen Menschen waren 2019 weltweit auf der Flucht. Dies ist die höchste Zahl an Geflüchteten, die jemals verzeichnet wurde, und entspricht rund einem Prozent der Weltbevölkerung. Etwa 40 Prozent der Geflüchteten sind jünger als 18 Jahre. Die Gründe für Flucht sind vielfältig: Krieg, Verfolgung, Terror, Klima, ­Armut. Weil die Zahl der Menschen auf der Flucht verglichen mit dem Vorjahr um rund neun Millionen ­anstieg und sich seit 2010 weltweit fast verdoppelt hat, spricht das Flüchtlingswerk UNHCR in seinem aktuellen Bericht auch von einem «Jahrzehnt der Flucht».

FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF

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Vor Gericht

Wahre Strafe Therapeutische Rechtsprechung. Auf dieses Stichwort folgt in der Schweiz meist das Schlagwort «Kuscheljustiz». Wenn die Täter*innen in den Augen der Öffentlichkeit nicht nur eine lasche Strafe erhalten, sondern auch noch therapiert werden. Ein Hohn für die Opfer, heisst es oft. Anders im angelsächsischen Rechtsverständnis. Dort ist die «therapeutic jurisprudence» die Prämisse, dass Recht, gerichtliche Prozesse und das Verhalten des juristischen Personals unweigerlich einen Einfluss haben auf das Wohlergehen der involvierten Menschen – und damit auch auf das Gemeinwohl. Ein Merkmal dieses Ansatzes ist das Victim Impact Statement: das Anrecht des Opfers, sich nach dem Schuldspruch im Rahmen der Strafzumessung zu äussern. Über das Geschehene zu sprechen soll die Opfer ermächtigen und ihren Heilungsprozess befördern. Bei den Täter*innen wiederum, die so mit den Auswirkungen ihrer Handlungen auf das Leben der Opfer direkt konfrontiert werden, können die Statements wahre Einsicht bewirken. Solche Gefühlsduselei ist hierzulande unüblich. Justiz soll nüchtern und sachlich sein – was aber auch ein Verlust ist. Denn es ist eindrücklich, wenn Gefühle nicht durch juristische Floskeln gefiltert werden. Ein Beispiel dafür, und vielleicht einer der stärksten Momente der #Metoo-Bewegung, war der Prozess um den früheren TeamArzt der US-Kunstturnerinnen, Larry Nassar, der sich an seinen Schützlingen sexuell verging. In seinem Fall äusserten sich im Januar 2018 über 150 Betroffene im Gerichtssaal von Ingham County, Michigan. Während sieben Tagen wurden ihre Be-

richte darüber, welch verheerende Auswirkungen der sexuelle Missbrauch auf ihr Leben hatte, live gesendet. Es sprachen junge Schülerinnen und Olympiagewinnerinnen. Manche schluchzend, manche schreiend. Aber alle entschlossen und quälend offen. Wie wund sich ihre kindlichen Vaginen angefühlt hatten. Und sie irgendwie wussten, dass nicht in Ordnung ist, was ihnen geschieht, aber eben auch nicht. Als Erste sprach Kyle Stephens: Nassar habe sie im Alter von sechs bis zwölf Jahren missbraucht – wenn er zu Besuch war, als Freund der Familie. Die glaubte der jungen Frau nicht, als sie sagte: Der Doktor massiere ihre Füsse mit seinem Penis. Als der Vater realisierte, was er seiner Tochter angetan hatte, brachte er sich um. Vor Gericht sagte Stephens: «Sexueller Missbrauch ist so viel mehr als nur ein verstörender physischer Akt. Er ändert die Fahrtrichtung deines Lebens.» Und an Nassar gewandt: «Kleine Mädchen wachsen zu starken Frauen heran – wir werden deine Welt zerstören.» Clasina Syrovy fragte: «Sag, Larry, wie viele von uns gibt es? Weisst du es überhaupt?» Und Olympiasiegerin Aly Raisman: «Larry, wir sind jetzt eine Macht. Und du bist ein Nichts». Nassar sass während der ganzen Zeit gekrümmt in seinem Stuhl. Die Zeugnisse setzten ihm zu. Die sieben Tage, an denen er seinen Opfern zuhören musste, waren die fast härtere Strafe, als die von Richterin Aquilina verhängten maximal 175 Jahre. Und Raisman sagte auch das: «Hätte nur ein einziger Erwachsener zugehört und den Mut und Charakter gehabt einzuschreiten, wäre diese Tragödie zu verhindern gewesen.» Die ganze Geschichte ist jetzt in der Netflix-Dok «Athlete A» zu sehen. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: DIMITRI GRÜNIG

Verkäufer*innenkolumne

Im Alltag mehr ernten Ein bisschen vorwärtsmachen. In aller Vorsicht – der Mutter der Porzellankiste zuliebe. Vorwärts: Endlich mal das Gefühl kriegen, dass jede Lebenssekunde Sinn macht. Vorwärts: Ich gehe davon aus, der Sinn unseres Lebens ist, dass wir in Jahr­ millionen das Paradies auf Erden schaf­ fen. In Jahrmillionen sage ich, um den Druck von uns zu nehmen. Wir müs­ sen vorwärtsmachen, aber wir haben noch viel, viel Zeit. Die moderne Technik erlaubt uns, für alle Nahrung, Kleider, Häuser und so wei­ ter bereitzustellen. Offenbar geht es aber nicht. Was kann frau / man tun? Vielleicht vermehrt Lebenserfahrungen austauschen, vom anderen lernen. Zum Beispiel: Der Tag ist zum Lernen da. Und das Lernen zum Nicht-verges­ sen-Werden. Schaffen wir’s, Momente zu finden, wo wir das Erlernte, tagtäglich, für alle Zeit verankern? Oder: Früher gab’s doch Volkslieder. Gibt’s die noch? Oder: Von einer 96-jährig Verstorbe6

nen übernommen: Gymnastik verhindert Unfälle. Und ein stressloses Leben auch. Arbeit macht das Leben süss. Stress bewirkt das Gegenteil. Ein weiterer Gedanke: Wir sind ja alle gleich klug. Und doch ziehe ich Claude Lévi-Strauss und sein «wildes Denken» bei. Ich verstehe es so: Hast du ein Problem, schau um dich, das reicht ­vielleicht. Brauchst du einen Hammer, zufällig liegt ein Stein in Griffweite, pack zu. In der Nähe liegt eine Kraft. Und noch was: alte Menschen ernst­ nehmen. Sie sind unsere Wegweiser. Auch die Toten (die für mein Verständnis noch leben). Ich zum Beispiel höre Stim­ men. Mein Vater fand das sehr bedenklich. Unrecht hat er nicht. Träumen, speziell auf der Strasse, kann ins Auge gehen. Und schliesslich eine Überzeugung von den «Streng-Reformierten» (meine Bezeichnung) in Zürich, erzgute Leute, Diskutieren aber sehr schwierig: Jeder hat seine Berufung (50 Prozent Mitsprache­ recht, Gottvater/Gottmutter übernimmt

den Rest). Wer perspektivlos ist, suche danach. Lernen ist alles. Was du jetzt lernst, ist für die Ewigkeit. Berufung, es müssen Leidenschaften sein / werden. Zum Beispiel Musik, Physik, Haushalt, Garten, Helikopter, Literatur, Putzteufel, egal was. Meine Grossmutter lernte in hohem Alter noch eine Sprache. Sinnvoll, nicht? So, genug, ich will nicht lehrmeisterlich klingen, aber hab die Schule eben im Blut: Vater Lehrer, Mutter Lehrerin, mami (= französische Grossmutter mütterli­ cherseits) Lehrerin, Oma (Vaters Seite) Lehrerin, papi (= le père de maman) ­Lehrer, Tante Lehrerin. Und damit es nicht einseitig ist: Senden Sie mir eine Ihrer Erfahrungen, gedanklich oder konkret: nicolas.gabriel@gmx.ch. Ich will’s behelligen, denn ohne Sie bin ich nichts. Danke.

NICOL AS GABRIEL  55, Jus-Studium abgeschlossen, verkauft Surprise in Zürich an der Uraniastrasse. Der Stadt verdankt er seit Neustem ein Zimmer. «Hut ab!», meint er und hirnt nach Gegenleistung: junggebliebenen Alten im Pflegeheim vorlesen und Kunstbücher zeigen.

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Darüber hinaus gibt es aber noch viele andere armutsbetroffene Menschen, die zwar Sozialhilfeleistungen beziehen könnten, dies aber aus unterschiedlichen Gründen nicht tun. In erster Linie sind es Personen mit ausländischem Pass, die aus Angst vor dem Verlust ihrer Aufenthaltsbewilligung auf den Gang zum Sozialamt verzichten, weil ihr Status von ihnen verlangt, dass sie wirtschaftlich selbständig sind.

Die Corona-Krise hat den Blick auf die Armut in der Schweiz geschärft. Die Schlangen vor den Abgabestellen für Lebens­ mittel bleiben in Erinnerung. Sie zeigen, dass die Sozialhilfe leider nicht für alle das letzte Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit der Schweiz ist. Nicht alle, die arm sind, können oder wollen ein Anrecht auf Sozialhilfe geltend machen. Damit ist die Zahl der armutsbetroffenen Menschen deutlich höher als die Zahl der Sozialhilfebeziehenden. 2018 bezogen 274 000 Menschen Sozialhilfe, 457 000 zählten zu den Armutsbetroffenen (ohne Rentner*innen).

Die Zahl der Sozialhilfebeziehenden ist noch nicht markant gestiegen. Die Massnahmen des Bundes zum Schutz der erwerbslosen Personen haben gegriffen. Trotzdem gibt es zahlreiche Gründe für einen baldigen Anstieg der Zahlen. Da sind zunächst die Selbständigerwerbenden, die keinen Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung haben und bei denen die Erwerbsersatzentschädigungen auslaufen. Sie werden eine neue soziale Gruppe in der Sozialhilfe werden. Dann all jene, die schon Sozialhilfe bezogen, wegen der Corona-Krise aber keine Aussicht haben, wieder eine Stelle zu finden. Die Zahl der Ablösungen von der Sozialhilfe wird sinken und die durchschnittliche Bezugsdauer steigen. Die Skos geht davon aus, dass je nach wirtschaftlicher Entwicklung die Zahl der zusätzlichen Sozialhilfebeziehenden bis 2022 zwischen 36 500 und 72 500 Personen liegen wird. Es wird sich zeigen, ob diese Entwicklung zu einem stärkeren Engagement des Bundes in der Sozialhilfe führen wird. Die zutage getretenen Lücken im sozialen Sicherungssystem müssen auf jeden Fall geschlos­ sen werden.

Armut in der Corona-Krise

Eine grosse Zahl von Menschen, die in der Schweiz leben, hat kein Anrecht auf Hilfe in Not. Die Rede ist von jenen Migrant*innen, die ohne geregelten Aufenthaltsstatus in unserem Land arbeiten, den sogenannten Sans-Papiers. Zwischen 90 000 und 250 000 Personen gehören zu dieser Gruppe, die sich «unsichtbar» durchschlagen muss. Sie taucht nicht mal in den Armutszahlen des Bundesamtes für Statistik auf. Normalerweise arbeiten die Sans-Papiers als Angestellte in privaten Haushalten, in der Gastronomie oder Landwirtschaft. Viele von ihnen haben in der Corona-Krise ihre Stelle verloren oder bekamen zumindest keinen Lohn ausbezahlt. Nur dank des Engagements vieler Freiwilliger und der Hilfswerke konnte das Schlimmste vermieden werden. Doch nicht alle konnten an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Damit wird auch Armut «exportiert», denn viele Sans-Papiers unterstützen trotz tiefem Verdienst ihre Familien in den Herkunftsländern. Diese Überweisungen sind nun ausgefallen.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Zahl der Armutsbetroffenen und der Sozialhilfebeziehenden, 2007–2018 600 000

Armutsbetroffene (0-64 Jährige)*

2010

2011

2012

2016

2017

274 000

457 000 278 000

2015

457 000

2014

408 000

2013

273 000

250 000

384 000 236 000

378 000

402 000

2009

380 000 266 000

2008

351 000 262 000

2007

270 000 257 000

0

231 000

100 000

230 000

200 000

378 000

300 000

221 000

400 000

425 000

500 000

502 000

Sozialhilfebeziehende

234 000

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: SILC UND SOZIALHILFEEMPFÄNGERSTATISTIK. NEUCHÂTEL.

Die Sozialzahl

2018

*Die armutsbetroffenen Rentner*innen werden hier nicht mitgezählt. Sie beziehen in der Regel keine Sozialhilfe, sondern Ergänzungsleistungen, wenn das Renteneinkommen zur Existenzsicherung nicht ausreicht.

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IV-Serie Eine harte Sparpolitik, willkürliche Entscheide, Millionen für die Gutachter: Die Invalidenversicherung steht in der Kritik. Wir wollen wissen, was dahinter steckt – Teil 2 einer vierteiligen Serie.

Das Leiden neu erfunden Teil 2 Bei der IV bestimmen vermehrt Jurist*innen darüber, wer

krank ist. Patientenvertreter*innen werfen ihnen vor, einen unmenschlichen Gesundheitsbegriff geschaffen zu haben. Stimmt das? TEXT  ANDRES EBERHARD ILLUSTRATION  MARIA REHLI

ADHS? Keine Invalidität. Borderline-Persönlichkeit? Auch nicht. Schmerzstörung? In der Regel nicht. Belastungsstörung? Nur, wenn das Trauma schwer war. Derart eindeutige Antworten auf diffizile medizinethische Fragen finden sich im Buch «Bundesgesetz über die Invalidenversicherung – Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht» von 2014. Die darin aufgeführte Liste mit ungefähr vierzig psychischen Krankheiten erzürnt Patientenvertreter*innen. Der Zürcher Psychotherapeut Werner A. Disler etwa sagt: «Das ist Pseudo-Medizin und nichts weiter als fachlicher Humbug.» Beim Autor handelt es sich um den derzeit höchsten Richter der Schweiz: SP-Mitglied Ulrich Meyer. Sein Buch, in Juristenkreisen ein Standardwerk, ist für Disler ein besonders krasses Beispiel dafür, wie sich die Justiz in den letzten Jahren bei der IV in Belange der Medizin eingemischt hat. «Die obersten Richter der Schweiz haben einen Krankheitsbegriff geschaffen, der es der IV erlaubt, kranke Menschen von Leistungen auszuschliessen», sagt Disler. Er beschwerte sich deswegen auch schon bei Bundesrat Alain Berset. Dieser antwortete, dass das Bundesgericht eben einen «leistungsorientierten Krankheitsbegriff» verwende. Disler steht mit seiner Kritik nicht alleine. Viele Betroffene und ihre Vertreter*innen werfen der Justiz ein veraltetes, geradezu unmenschliches Krankheitsbild vor. Die Bloggerin Marie Baumann, die über IV und Behinderung schreibt, spricht von «juristischen Taschenspielertricks», mit denen psychisch Kranke «wieder zum Verschwinden gebracht werden sollen». Und der Zürcher Anwalt Philip Stolkin, der immer wieder Betroffene vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertritt, macht das Bundesgericht für die «Erfindung eines juristischen Gesundheitsbegriffs» verantwortlich. Surprise 482/20

Was steckt hinter den Vorwürfen? Surprise hat mit Betroffenen, Anwält*innen, Ärzt*innen und Therapeut*innen gesprochen, aber auch mit Meyer selbst. Vorweg: Nicht einmal der Bundesrichter streitet ab, sich eingemischt zu haben. Weil: «Krankheit ist nicht Invalidität.» Per Gesetz hat Anspruch auf eine Rente, wer «voraussichtlich bleibend oder längere Zeit dauernd ganz oder teilweise erwerbsunfähig» ist, sagt Meyer. In anderen Worten: Unterstützt wird nicht, wer krank ist, sondern: wer nicht so schnell wieder arbeiten kann. Vielleicht liegt darin das grösste Missverständnis zwischen Jurist*innen und Patient*innen: Ob jemand eine IV-Rente erhält, ist heute nicht eine Frage der Medizin, sondern eine des Rechts. Der Zuger Anwalt Rainer Deecke drückt es so aus: «Heute gibt es Menschen, die zu krank sind für den Arbeitsmarkt, aber zu gesund für die IV.» Für Betroffene ist das schwer verständlich. Und entwürdigend, wie das Beispiel einer IV-Stelle zeigt, die vor einigen Jahren einen Rentenantrag mit den Worten abwies: «Die IV-rechtliche Beurteilung ist höher einzustufen als die medizinisch-theroretische. Es ist Ihnen zumutbar, unter einer Willensanstrengung die vorhandenen Diagnosen zu überwinden und die volle Arbeitsfähigkeit zu realisieren.» «Pädagogik, nicht Medizin» Wer gilt also im Gerichtssaal als krank, wer nur in der Arztpraxis? Die Antwort ist: Das ändert sich ständig. Seit die obersten Richter*innen der Schweiz vor gut fünfzehn Jahren den Krankheitsbegriff der IV für sich reklamiert haben, wurde dieser stets verfeinert, sodass heute anhand von komplexen, kaum durchschaubaren Kriterien darüber bestimmt wird, ob jemand invalid ist oder nicht. Nicht gewöhnliche Ärzt*innen prüfen die 9


vom Recht vorgegebenen «Indikatoren» – sie sind ja juristisch nicht geschult –, sondern eine relativ neue Gilde im weissen Kittel: sogenannte Versicherungsmediziner*innen. Diese werden von den kantonalen IV-Stellen mit der Prüfung beauftragt. Es ist also ziemlich kompliziert. Einfacher ist es, die Geschichte zu erzählen, wie es so weit gekommen ist: Anfang des neuen Jahrtausends befand sich die IV in finanzieller Schieflage. Grund waren immer mehr IV-Rentner*innen. Vor allem die Zahl psychisch kranker Menschen stieg an. Während das Volk eine zusätzliche Finanzierung über die Mehrwertsteuer ablehnte, leitete die Politik ein Sparprogramm ein. Schliesslich zog auch das Bundesgericht an den Zügeln und verschärfte seine Praxis bei Leiden, die sich nicht hinreichend organisch begründen liessen. Es erklärte, dass diese unklaren Krankheitsbilder in der Regel «mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar» seien. Wo die Beweise fehlten, galt also neu eine Vermutung. In der Folge gab es bei solchen Diagnosen de facto keine IV-Rente mehr. In die Blütezeit dieser «Zumutbarkeitsjustiz» fiel auch die Publikation des Buches von Bundesrichter Ulrich Meyer. Zahlreiche Rentenanträge wurden allein aufgrund einer Diagnose abgelehnt. Wie weit sich das rechtliche Verständnis von Krankheit von jenem der modernen Medizin entfernt hatte, zeigte sich in einem Kapitel, in dem es um die Handhabung von psychischen Krankheiten geht. So sei bei «charakterlich Minderwertigen» objektiv zu bestimmen, wie viel ihnen zugemutet werden könne. Gegenüber Surprise erklärt Meyer den sprachlichen Missgriff mit der Übernahme alter Rechtsprechung, einer üblichen Vorgehensweise. Eher unwahrscheinlich

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auf ein Missgeschick zurückzuführen ist dagegen die über mehrere Seiten geäusserte Vermutung, Betroffene könnten «von ihrer Neurose befreit» werden, wenn man ihren Rentenantrag ablehne. Diese Vorstellung von der heilenden Kraft der Rentenverweigerung sei medizinisch unsachgemäss, kritisierte ein Expertenteam in einem in der Ärztezeitung erschienenen Artikel. Psychische Probleme, die nur therapeutisch gelöst werden können, würden durch erzieherische Forderungen verstärkt, nicht gelöst. Michel Romanens, Präsident des Vereins Ethik und Medizin Schweiz und Hauptautor des besagten Artikels, stellt fest, dass in den Sozialversicherungen generell Methoden angewendet werden, die zur erzieherischen Pädagogik gehören und nicht zur Medizin. Wer mit dem Hund spaziert, kann auch arbeiten Die fraglichen Stellen im Buch waren nicht Meyers einzige Fehltritte. Auch als er sich 2009 in der Ärztezeitung direkt an die Ärzt*innen wandte, um ihnen den Krankheitsbegriff im Sozialversicherungsrecht zu erklären, machte er sich keine Freunde. Er schrieb: «Was ist nun Krankheit im medizinischen Sinne? Die Antwort drängt sich auf: Die Medizin weiss es selbst nicht.» Tatsächlich hatten die Bundesrichter*innen den Dachverband der Schweizer Ärzte FMH mehrmals dazu aufgefordert, Leitlinien zu erlassen, die den Jurist*innen als Kompass in fremdem Gebiet dienen sollten. Solche Leitlinien existierten jedoch lange nicht; und nachdem diese später erlassen wurden, erachtete sie das Bundesgericht als «nicht zwingend».


Zwölf Jahre hielt sich die These von der Überwindung, unzählige Rentenanträge wurden so abgelehnt – bis selbst das Bundesgericht einsehen musste, dass seine Vermutung falsch war. Verschiedene Untersuchungen zeigten, dass somatoforme Störungen weltweit zu den häufigsten Gründen gehören, weshalb Menschen bei ihrer Arbeit nicht die volle Leistung erbringen. Nach jahrelanger und immer schärfer werdender Kritik von Mediziner*innen gab das Bundesgericht 2015 die Praxis auf. Die Richter*innen schufen einen neuen Ansatz, das sogenannte «strukturierte Beweisverfahren». Nun schienen sie an alles gedacht zu haben, selbst die schärfsten Kritiker*innen waren verblüfft. Jörg Jeger, Chefarzt der Begutachtungsstelle Medas Zentralschweiz, schrieb in einer Reaktion von einem «grossen, wegweisenden Wurf», dem ein «modernes Medizinverständnis» zugrunde liege. Besonderen Wert legte das Bundesgericht auf die «Ergebnisoffenheit» des Verfahrens: Statt Menschen mit bestimmten Diagnosen zu diskriminieren, sollte die Beurteilung von Fall zu Fall fair sein. Bloss: In der Praxis änderte sich nichts. Eine Studie der Universität Zürich zeigte, dass die Chancen von Betroffenen vor Gericht noch immer minim waren. Auch die Hoffnungen, dass es zu weniger «Alles-oder-nichts-Entscheiden» und zu mehr Teilrenten kommen könnte, zerschlugen sich. Wie konnte das sein? Mögliche Antworten findet sich in den Akten zahlreicher Fälle, die vor Gericht landeten. Schadenanwalt David Husmann hat diese in einem Artikel für die Fachzeitschrift Plädoyer analysiert. Dabei stiess er auf ein neues Phänomen: IV-Stellen hatten nach der Kursänderung des Bundesgerichts

Auch wegen Gutachten in der Kritik Das Bundesgericht steht bei Patientenvertreter*innen nicht nur wegen der «Erfindung eines Krankheitsbegriffs» in der Kritik. Zentral ist seine Rolle auch bei den externen Gutachten, die in der Regel für den Renten­ bescheid ausschlaggebend sind. So war publik geworden, dass einzelne Ärzt*innen von der IV über Jahre mehrere Millionen Franken erhielten und mit zweifelhaften Methoden arbeiteten. Manche hatten die Patient*innen nie gesehen, ihre Gutachten mithilfe von «copy-paste» geschrieben oder praktisch niemanden als arbeitsunfähig eingestuft. Das Parlament beschloss daraufhin Massnahmen, die für mehr Transparenz bei den Gutachten sorgen sollen. Für Holger Hügel, Fachanwalt für Haftpflicht- und Versicherungsrecht, ist es «bedauerlich», dass es eine Medienkampagne gebraucht hat, um für ein faireres Verfahren zu sorgen. Dies sei eigentlich Aufgabe der Justiz. «Die Gerichte, denen wir Geschädigtenvertreter*innen seit Jahren die Fälle immer wieder vorlegen, haben zu wenig gegen das Gutachterunwesen getan», so Hügel. Wünschenswert wäre es, zumindest einmal bei einem der bekannten Gutachter*innen ein Zeichen zu setzen. Das Bundesgericht beharrt bis heute darauf, dass Gutachter*innen unabhängig urteilen, auch wenn sie praktisch von der IV leben. 482/20 Surprise 482/20

begonnen, die ärztlichen Abklärungen rechtlich abzuklopfen. Die Sachbearbeiter*innen nahmen dabei – unterstützt durch den hauseigenen Rechtsdienst – die richterliche Indikatorenliste als Instrument, um medizinische Gutachten zu entkräften. Selbst die Begründung, warum sie sich als medizinische Laien einmischten, entnahmen sie der Argumentation des Bundesgerichts: Die Klärung der Invalidität sei schliesslich eine Rechtsfrage. Die Argumente, mit denen Rentenanträge abgewiesen wurden, waren teilweise banal: Wer zu Kindern schauen kann, könne auch arbeiten, hiess es. Wer Freunde trifft oder mit dem Hund spaziert, könne sein Leiden kompensieren. Schliesslich ist in den Indikatoren von «mobilisierenden Ressourcen» und von «Aggravation» (Täuschung, Simulation) die Rede. Auch der Tod eines Elternteils, die Trennung vom Partner oder ein Jobverlust konnten als Begründung für die Ablehnung eines Rentenantrags herhalten. Denn «psychosoziale Belastungen» galten vor Gericht nach wie vor als «IV-fremd». Solche Ereignisse müssten differenzierter betrachtet werden, denn sie stünden am Ursprung fast aller psychischen Probleme, kritisierte die Psychiaterin Maria Cerletti in der Ärztezeitung: «Häufig trifft eine Belastung auf eine vorbestehende Krankheit oder macht diese erst sichtbar.» Wer sich gegen solch fragwürdige Entscheide wehrte, hatte kaum Chancen. Denn die Gerichte sehen in der Regel davon ab, die Indikatoren inhaltlich zu überprüfen. «Die meisten Gerichte trauen sich nicht einzugreifen. Ihnen mangelt es an medizinischem Wissen», kritisiert der St. Galler Anwalt Ronald Pedergnana, der zum Schluss kommt: «Die IV ist ein versichertenfeindliches Biotop.» Auch andere Vertreter*innen von Versicherten finden deutliche Worte. Der Solothurner Anwalt und SVP-Politiker Rémy Wyssmann sagt: «Die IV führt die Fälle zu Unrecht als Massengeschäft. So bleibt die Einzelfallgerechtigkeit zusehends auf der Strecke. Es wäre Aufgabe der Gerichte, besser für diese Menschen zu schauen.» Berufskollege Stolkin bilanziert, dass die Überwindbarkeitspraxis «durch die Hintertür» wieder eingeführt wurde. «Im Ergebnis besteht kein Unterschied.» Fünf Jahre nach ihrem vermeintlich «grossen Wurf» bekommen die höchsten Richter*innen für ihren Krankheitsbegriff also erneut Gegenwind. Wohl auch darum machte sich Meyers Kollegin Alexia Heine (SVP) vor zwei Jahren daran, die Wogen zu glätten. In einem Fachbeitrag schrieb die Bundesrichterin sinngemäss, dass sich Jurist*innen nicht in Bereiche der Medizin einmischen sollten. Was selbstkritisch und versöhnlich begann, endete mit dem nächsten Fiasko. Noch im selben Abschnitt leistete sie sich nämlich den nächsten Übergriff: «Der Mensch ist gesund, was gesamtheitlich betrachtet nicht nur der Realität entspricht, sondern auch einem positiven Weltbild.» Die Kritik von Mediziner*innen kam prompt und heftig. Der Tenor: Entweder sie können es nicht – oder sie können es nicht lassen.

Surprise Talk: Reporter Andres Eberhard spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk

«Das System IV» Teil 1: Sparen bei den Kranken (Surprise 477/20) Teil 2: Die neuen Mediziner*innen (Surprise 482/20) Teil 3: Das Geschäft mit den Gutachten (folgt im Herbst) Teil 4: Die IV unter Druck – wie weiter? (folgt im Herbst) 11


Ganz wohl ist ihm nicht: Bundes­richter Ulrich Meyer, 66, verteidigt zwar die IV-Praxis. Besser aber fände er es, wenn der Bund die Abklärungen übernimmt.

«Nicht ohne Herz» Invalidenversicherung Bundesrichter Ulrich Meyer wehrt sich gegen den

Vorwurf, ein unmenschliches Krankheitsbild anzuwenden. Gutachter*innen, die Millionen von der IV verdienen, hält er aber für unparteiisch. INTERVIEW  ANDRES EBERHARD FOTOS  KLAUS PETRUS

Herr Meyer, ist das heutige Verfahren der IV fair? Ja, es ist fair. Aber darf ich ausholen, eine persönliche Geschichte erzählen? Sicher. Meine drei Jahre ältere Schwester sass wegen einer Kinderlähmung im Rollstuhl. Bevor die IV ins Leben gerufen wurde, ging sie normal zur Schule, musste aber oft getragen werden. Einmal sagte der Lehrer zur Klasse: «Hüt göh’ mer uf e Maibummel.» Daraufhin stürmten alle Kinder hinaus, meine Schwester ging im Zimmer vergessen. Erst meine Mutter, die auf dem Weg zum Einkauf zu12

fällig vorbeikam, hörte durchs offene Fenster ihre Stimme. Mit der Einführung der IV kam meine Schwester ins Rossfeld, eine Behinderteninstitution in Bern. Was ich damit sagen möchte: Die Schaffung einer obligatorischen Invalidenversicherung trug für Betroffene viel zur Eingliederung bei. Das war ein grosser, epochaler Wurf. Heute wird gespart. Die Zahl der Neurenten hat sich seit 2003 in etwa halbiert. Sie müssen auch die andere Seite sehen. Die IV war 1960 vor allem für eine überschaubare Anzahl Geburtsgebrechlicher geschaffen worden. Man konnte damals nicht ahnen, dass vierzig Surprise 482/20


Jahre später jedes Jahr rund 28 000 Betroffene dazukommen würden. Man stelle sich das vor: Das ist eine kleine Stadt von Neuinvaliden, jedes Jahr.

eingliederungsmassnahmen beispielsweise oder mit zeitlich begrenzten Renten, etwa in Form einer Vorruhestandsleistung bis zum Erreichen des AHV-Alters.

Fakt ist, dass sich die IV verschuldete und die Politik zu sparen begann. Fast gleichzeitig erhöhte das Bundesgericht die Hürden für eine IV-Rente. Verstiess es damit gegen die Gewaltentrennung? Nein. Invalidität ist im Bundesgesetz als «andauernde gesundheitlich bedingte Erwerbsunfähigkeit» definiert. Das Bundesgericht wirkte als Hüter des Gesetzes. Denn wäre es so weitergegangen mit der Zunahme an Invaliden, hätte die IV zu einem allgemeinen existenzsichernden Mindesteinkommen mutiert. Und ein solches hat das Volk mehrfach abgelehnt.

Wir sprechen ja nicht nur von arbeitslosen 57-Jährigen, sondern beispielsweise auch von Opfern sexueller Gewalt. Warum ist jemand, der an einem Trauma leidet, weniger krank als jemand im Rollstuhl? Krankheit ist nicht Invalidität. Ob jemand invalid ist, hängt davon ab, ob die Krankheit behandelt und die betroffene Person eingegliedert werden kann. Das muss in jedem einzelnen Fall genau abgeklärt werden.

Wie meinen Sie das? Seit der Einführung der IV haben sich zwei Dinge grundlegend verändert. Anfang der 1960er-Jahre definierte die Schulmedizin, wer objektiv krank war und wer nicht. Damit ist seit Langem Schluss. Dazu kam die Anerkennung des subjektiven Leidens: Man ist nicht nur dann krank, wenn es einem körperlich, seelisch und geistig nicht gut geht, sondern auch dann, wenn man sich in den Umständen, in denen man lebt – also in der konkreten persönlichen, familiären, Ausbildungs- oder beruflichen Situation – nicht wohl fühlt. Auf gut Deutsch: «Wenn ich mich krank fühle, dann bin ich krank.» Das ist eine unerhörte Erweiterung des Krankheitsbegriffs. Ist das nicht einfach Fortschritt? Ihre Kritiker*innen werfen Ihnen vor, ein veraltetes Verständnis von Krankheit zu haben. Diese Kritik ist überholt. Heute versuchen wir, die versicherte Person in ihrer Ganzheit zu erfassen. Unser Bundesgerichtsentscheid von 2015 ist der Beweis dafür. Bis dahin waren Sie davon ausgegangen, dass sich viele psychische Krankheiten in der Regel «überwinden» liessen – aus heutiger Sicht ein Fehler? Nichts ist sakrosankt und für immer und ewig gemacht, nicht in der Medizin und auch nicht in der Justiz. Bevor wir die damals neue Praxis im Jahr 2004 beschlossen, führte zum Beispiel ein Schleudertrauma automatisch zu einer IV-Rente. Das fanden damals auch Schadenanwälte seltsam. Wir mussten also einen Umgang mit solchen unbestimmten Krankheitsbildern finden, zumal das letzte Leiturteil über zwanzig Jahre zurücklag – damals war noch von «Neurosen» die Rede. Uns war immer klar, dass dies keine definitive Lösung bleiben würde. Wir warteten sehnsüchtig darauf, dass Medizin und Psychiatrie sich einig werden, wie man diesem Phänomen begegnet. Auch heute noch gelten psychosoziale Faktoren vor Gericht als «IV-fremd». Natürlich ist eine Entlassung für einen 57-Jährigen eine Katastrophe. Wenn er nicht wirklich schwer depressiv wird und nicht mehr behandelt werden kann, bedeutet sein sozialer Belastungszustand an sich aber keine Invalidität. Das ist hart. Auch wir Richter empfinden Empathie für diese Menschen. Wir urteilen nicht ohne Herz, aber wir sind an rechtliche Konzepte gebunden. Diesen Menschen muss anders geholfen werden: mit WiederSurprise 482/20

Der Punkt ist ja, dass Jurist*innen weit in die Arbeit von Mediziner*innen und Therapeut*innen vordringen, indem sie entscheiden, wer krank ist und wer nicht. Die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit kann nicht einem einzigen Arzt überlassen werden. Das ist keine genügende Beweisgrundlage, um jährlich Zehntausende von Rentenansprüchen zu prüfen. Das muss breiter, interdisziplinär abgestützt sein. Auch Mediziner*innen bezweifeln das nicht. Wenn Sie einen Arzt bitten, Stellung zur Arbeitsunfähigkeit zu beziehen, dann müsste dessen ehrliche Antwort in vielen Fällen sein: «Ich weiss es nicht.» Das Problem ist, dass die externen Gutachten oft das einzige Beweismittel sind. Sie werden kaum je hinterfragt. Ist es nicht problematisch, dass viele Gutachter*innen­ ­wirtschaftlich von der IV abhängig sind? Wir am Bundesgericht sehen praktisch nur jene Fälle, die bereits mehrfach abgelehnt worden sind. Darum hören wir diese Klagen oft. Mir scheint, die Kritik sei vor allem darauf zurückzuführen, dass die Gutachter*innen nicht immer das von den Versicherten gewünschte Resultat erbringen, dauernd und voll arbeitsunfähig zu sein, im Sinne von: «Eine Expertise, die keine Arbeitsunfähigkeit attestiert, ist eine schlechte Expertise.» Nun wollten Sie wissen, ob es ein Problem ist, wenn die Gutachten aus Mitteln der IV bezahlt werden ... Genau. Es gäbe natürlich andere Möglichkeiten. Vor Jahren habe ich die Idee einer versicherungsunabhängigen gesamtschweizerischen Abklärungsinstitution propagiert, mit einem Hauptsitz und Zweigstellen in den Kantonen oder Landesteilen, finanziert aus dem Bundeshaushalt. Diese Organisation würde die Begutachtung nicht nur für alle Sozialversicherungen vornehmen, sondern auch für Haftpflichtprozesse und Privatversicherungen. Das würden Sie befürworten? Ja. Denn das wäre eine für die Betroffenen weit besser akzeptable Lösung. Es gibt ein Aber ... Dafür bräuchte es ein Bundesgesetz. Der politische Wille dafür ist schlicht nicht vorhanden. Auch die Versicherungen wollen das nicht; sie befürchten, dass ihnen die Abklärung des medizinischen Sachverhalts weggenommen würde. Kurz: Dass es keine solche Institution gibt, liegt nicht am Bundesgericht. Wir sehen unsere Aufgabe darin, unter den geltenden Rahmenbedingungen Gerechtigkeit durch ein faires Verfahren herzustellen. 13


Und da spielen die Gutachten eine zentrale Rolle. Es wurden Fälle publik, bei denen Gutachter Patient*innen nie gesehen hatten, mit Copy-Paste arbeiteten oder praktisch niemanden als arbeitsunfähig einstuften. Kann ein Gutachter, der von der IV jährlich eine halbe Million Franken erhält, wirklich neutral urteilen? Man darf das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren. Gestützt auf genau dieselben Gutachten werden jedes Jahr 14 000 Neurenten gesprochen, der grösste Teil davon an psychisch und psychosomatisch Erkrankte. Dass die Gutachten aus Mitteln der IV entschädigt werden, ist für die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit nicht relevant. Die Zahl der Neurenten ist in der Tat stabil bei rund 14 000. Aber die Bevölkerung wächst, in den letzten zehn Jahren um rund eine Million. Was ist der Zusammenhang? Mehr Menschen gleich mehr Kranke gleich mehr Invalide. Der Rentenprozess ist härter geworden, ohne Frage. Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Im Gesetz steht: Nur die «objektive» Erwerbsunfähigkeit kann zu einer IV-Rente führen. Das heisst, auch das Bundesgericht kann für Krankheitsbilder, die sich nicht beweisen lassen, keine Rente sprechen. Wenn es etwa gleich wahrscheinlich ist, dass jemand dauerhaft arbeitsunfähig ist, wie dass er es nicht ist, kann es keine Rente geben. Das war übrigens nicht immer so. Darf ich ein prägendes Berufserlebnis erzählen?

Seit 2015 gilt vor Gericht die sogenannte Indikatorenpraxis. Am neuen Verfahren wird kritisiert, dass die IV-Stellen ein Instrument erhalten haben, mit dem sie Gutachten nach Belieben interpretieren können. Der etwas steifbeinige Begriff «Indikatoren» bedeutet ja nichts anderes als Beweisthemen. Diese sollen dazu dienen, die versicherte Person ganzheitlich anzuschauen. Nach unserem Leitentscheid gab es in der Tat das Problem, dass IV-Stellen die gutachterlich attestierte Arbeitsunfähigkeit sehr oft nicht befolgten. Dann kamen die Fälle vor die kantonalen Gerichte, wo die Gutachten mit der juristischen Brille gewürdigt wurden. Ich verstehe hier die Schadenanwält*innen. Mit dem jüngsten Leitentscheid (BGE 145 V 361) zeigt das Bundesgericht auf, wann es angebracht ist, auf ein Gutachten abzustellen und wann nicht. Nun muss man schauen, wie das in der Praxis umgesetzt wird. Die Versicherungen, die Anwälte, die kantonalen Gerichte müssen sich jetzt erst einmal darauf einstellen. So etwas braucht Zeit. Das Bundesgericht ist ja nicht an der Front, wir können nicht alles reglementieren. Was denken Sie, wie viele Fälle wir gesehen haben, wo wir uns gedacht haben: Hätte ich als IV-Beamter ausgerechnet diesem Mann oder dieser Frau die Rente weggenommen?

Gerne. Als ich 1981 mit 28 Jahren als Gerichtssekretär begann, hatte ich es mit vielen Fällen von Gastarbeiter*innen aus Italien, Spanien, Portugal und Ex-Jugoslawien zu tun. Wegen der grossen Wirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre wurden etwa 100 000 Arbeitnehmende und Stellenlose nach Hause geschickt, weil es noch kein Freizügigkeitsabkommen gab. Viele von ihnen hatten vorher in der Schweiz eine IV-Rente erhalten. Die Italiener*innen schickte die neu zuständige IV-Kommission für Versicherte im Ausland zu einem Vertrauensarzt nach Rom. Dieser kam fast bei allen zum Schluss: dem Patienten geht es besser, die Rente wird aufgehoben. Diese Fälle kamen dann zu mir. Vielen ging es natürlich nicht besser. Es blieb mir also zu prüfen, ob die IV-Rente am Anfang «zweifellos unrichtig» zugesprochen worden war. Ich fand Anhaltspunkte dafür und solche dagegen. Aber es war kaum je «zweifellos unrichtig» – mit dem Resultat: Die Rente lief weiter. Und die Richter lobten mich für die gute Arbeit. Heute müssen Versicherte ihre Krankheit beweisen. Das ist vor allem für psychisch Kranke schwierig. Würden wir darauf verzichten, könnten wir mit der administrativen und justizmässigen Anspruchsprüfung aufhören. Für einen behandelnden Arzt ist die Beweisbarkeit nun einmal kein Thema. Der Patient ist da, vor ihm, mit seinen Klagen, in seiner Subjektivität. Die Ärztin kann ihn nicht einfach aus der Praxis schicken. Für einen Juristen aber ist die Beweisbarkeit das A und O. Derjenige, der einen Anspruch stellt, trägt die materielle Beweislast. Das ist eines der Grundprinzipien des Rechts. Immerhin braucht es im Sozialversicherungsrecht nicht wie im Ziviloder Strafrecht den Vollbeweis. Es genügt «die überwiegende Wahrscheinlichkeit». 14

«Für einen behandelnden Arzt ist die Beweisbarkeit nun einmal kein Thema», sagt Ulrich Meyer. Für Jurist*innen sei diese das A und O. Surprise 482/20


Und? Man prüft alle juristischen Möglichkeiten, um solches zu verhindern. Wenn aber alles rechtlich einwandfrei ist, dann ist nichts zu machen. Da ist sehr viel Verwaltungsermessen dabei. Es gibt aber eben auch viele Fälle, wo die Rentenzusprache seinerzeit à la légère erfolgte und wo jahrzehntelang eine Rente zu Unrecht ausgezahlt wurde, das muss man auch sehen. Ob jemand wieder arbeiten kann, hängt nicht nur an ihm selbst. Oft werden IV-Renten mit dem Verweis abgewiesen, dass «angepasste Tätigkeiten» möglich seien. Solche Jobs gibt es aber oft gar nicht, vor allem nicht für Niedrigqualifizierte wie einen Bauarbeiter oder eine Putzfrau. Was ist mit seriellen Tätigkeiten in der Produktion, die Überwachung von Maschinen, von automatisierten Abläufen? Die Rechtsprechung geht davon aus, dass es solche Jobs gibt. Der Arbeitsmarkt ist in den vergangenen Jahren härter ­geworden. Von einem «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» kann doch keine Rede mehr sein. Das ist so im Gesetz festgeschrieben und für das Bundesgericht verbindlich. Es ist daher für uns rechtlich ausgeschlossen, die konjunkturelle Beschäftigungslage zu berücksichtigen. Hingegen trägt das Bundesgericht strukturellen Änderungen wie zum Beispiel dem Verschwinden eines Berufes oder der fehlenden Verwertbarkeit früher erworbener Kenntnisse durchaus Rechnung, wie zahlreiche Urteile zeigen. Die von Gutachter*innen in ein bis zwei Stunden attestierten Arbeitsfähigkeiten sind meistens abstrakt und theoretisch. Müsste die Festlegung der Arbeitsfähigkeit nicht besser anhand von beruflichen Abklärungen erfolgen? Dazu muss ich etwas sagen, was Ihnen vielleicht nicht so gefällt. Berufliche Abklärungen können zwar durchaus wichtig sein, um das Gesamtbild abzurunden. Aber: Sie hängen stark von der Einstellung der Person ab. Neutrale Untersuchungen zeigen, dass es in der medizinischen Praxis einen erheblichen Unterschied macht, ob bei der Patientin ein Rentenantrag hängig ist oder nicht. Sie haben die Rechtsprechung zur IV in den letzten zwanzig Jahren geprägt. Macht Sie das stolz? Diese Frage zielt auf eine Personifizierung der Justiz. Das lehne ich entschieden ab. Die Frage sollte das Interview persönlich abschliessen. Zweiter Versuch: Nächstes Jahr gehen Sie in Pension. Haben Sie Pläne für die Zeit danach? Definitiv nichts, was mit Juristerei zu tun hat. Total 41 Jahre seit 1979 sind genug. Ich habe viele Interessen schöngeistiger Art. Denen möchte ich vermehrt nachgehen. Und vielleicht mache ich daneben etwas Soziales.

ULRICH MEYER, 66, ist seit 1987 Bundesrichter. Er gehört der SP an und hat die Rechtsprechung zur IV in den letzten rund 20 Jahren massgeblich geprägt. Ende 2020 geht er in Pension. Surprise 482/20

Reaktionen auf das Interview

«Verkennt die harten Realitäten» Das Bundesgericht steht bezüglich seiner Haltung zum Abklärungsverfahren der IV in der Kritik (siehe Haupttext ab Seite 8). Im Interview mit Surprise ­äussert sich Bundesrichter Ulrich Meyer erstmals ausführlich zu den Vorwürfen. Recht unverhohlen räumt er ein, dass er die Ausdehnung des Krankheitsbegriffs der Medizin «unerhört» finde. Die Indikatorenpraxis verteidigt er mit Verweis auf ein kürzlich veröffentlichtes Leiturteil. Und in Richtung von Betroffenen sagt er: «Auch wir Richter empfinden Empathie für diese Menschen. Wir urteilen nicht ohne Herz, aber wir sind an rechtliche Konzepte gebunden. Diesen Menschen muss anders geholfen werden.» Juristische Vertreter*innen von Betroffenen widersprechen ihm. Dass der Bundesrichter das Gefühl habe, den Menschen gerecht zu werden, mache ihn sprachlos, sagt Anwalt Philip Stolkin. «Offenbar ist ihm nicht bewusst, was diese Rechtsprechung bei den Menschen bewirkt, die Verzweiflung, in die er und seine Richterkolleg*innen die Menschen mit einem Handicap treiben, wenn sie ihnen die Subsistenzgrundlagen absprechen.» Stolkin fordert das Bundesgericht dazu auf, diese Menschen als Subjekte des Rechts wahrzunehmen, «statt ihre Leiden mit einer angeblichen wissenschaftswidrigen Objektivierung schön zu reden». Rainer Deecke, Präsident des Schmerzverbands touché.ch, begrüsst es zwar, dass sich Meyer der Kritik stellt und die dringend notwendige Debatte möglich macht. Er widerspricht aber seiner Aussage, wonach die Leiden vieler Betroffener bloss subjektiv seien. «Damit wären sicherlich viele Schulmediziner nicht einverstanden.» Zudem verkenne das Bundesgericht die harten Realitäten des Arbeitsmarkts, der sich in den vergangenen sechzig Jahren grundlegend ­verändert habe. «Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Bauarbeiter mit kaputtem Rücken eine Stelle in der Produktion oder Überwachung finden konnte.» Dieser trete heute in Konkurrenz mit Hunderten ­gesunder, voll leistungsfähiger Mitbewerber. «In unserer Dienstleistungsgesellschaft sind solche ein­ fachen, wechselbelastenden Tätigkeiten sehr rar und äusserst gefragt», so Deecke. Aufgrund des Struk­ turwandels erstaune es auch nicht, dass Menschen heute eher aus psychischen denn aus körperlichen Gründen krank werden. 15


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«Ein Geschenk des Ozeans» Sansibar Der Algenanbau auf der Insel ist Frauensache. Jetzt droht die Erderwärmung

die Felder zu vernichten – und damit die hart erkämpfte Freiheit der Frauen. TEXT  MARTIN THEIS  FOTOS  SAM VOX

Sansibar

UNGUJA

Paje

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2 1 Dreissig Rappen für ein Kilo der Rotalge Spinosum verschafft den Frauen finanziellen Freiraum. 2–3 Mwanaisha Makame mit den Pfählen auf dem Weg zur Ernte im flachen Wasser, wo Freundinnen ihr helfen. 4 Zakia Abdallah knüpft Ableger an ein Seil nach alter Art. 1

Morgens um neun geht Mwanaisha Makame ins Meer. Sie tritt aus ihrer Steinhütte auf die sandige Dorfstrasse, wo Wellblechdächer und Kokospalmen noch Schatten spenden. «Geh, bring mir die Leinen», ruft sie einem Mädchen zu. Makame knotet ihr rotes Kopftuch vor der Stirn zusammen, hebt ein Bündel spitzer Holzpfähle darauf und balanciert es auf dem Kopf zum Strand. Hinter ihr kommen bald auch die anderen Frauen aus Paje, ihrem Dorf an der Ostküste Sansibars. In bunten Gewändern waten sie einen halben Kilometer in die türkise Lagune, wo sie die Spinosum-Alge züchten. Ein Business gegen jede Wahrscheinlichkeit. «Die Algen sind ein Geschenk des Ozeans an die Frauen», sagt Makame. «Sie haben uns stark gemacht.» Im flachen Wasser treibt sie die Pfähle in den Sand, dazwischen spannt sie Leinen mit fingerlangen Ablegern der glitschigen Pflanze. Die 48-Jährige erlernte schon als Mädchen die Arbeit auf den Wasserfeldern von ihrer Grossmutter – zu einer Zeit, als Frauen ei18

So mancher raunte, dies sei das Ende der guten Sitten. Doch alle profitierten.

gentlich zuhause bleiben sollten. Sansibar, 1,3 Millionen Einwohner, besteht aus zwei halbautonomen, vorwiegend muslimischen Inseln vor der Küste Tansanias. Geldverdienen war hier immer Männersache. In den 1980er-Jahren kam Algenanbau von Südostasien nach Tansania. Die Rotalgenarten Eucheuma denticulatum und Kappaphycus alvarezii, die kommerziell «Spinosum» und «Cottonii» genannt werden, enthalten besonders viel Carrageen. Das Bindemittel wird weltweit zur Her-

stellung von Lebensmitteln, Medikamenten und Kosmetika genutzt. Es hält Eiscrème und Zahnpasta geschmeidig. Jährlich macht die Industrie mit verarbeiteten Algen über sieben Milliarden Schweizer Franken Umsatz. «Am Anfang gingen die Frauen auf die Algenfelder, um ihren Männern zu helfen», erinnert sich Makame. Doch der Lohn der harten Arbeit war wenig mehr als ein Taschengeld. Die Männer gingen bald wieder fischen oder verdienten am Tourismus. Makames Grossmutter und deren Freundinnen jedoch machten weiter. Sie brachten den Mädchen den Anbau der Rotalgen bei. Heute bestreiten 21 000 Frauen in Sansibar damit ihren Lebensunterhalt – vier Mal so viele wie Männer. Der Wirtschaftszweig macht ein Viertel des sansibarischen Bruttosozialprodukts aus. Dreissig Rappen für ein Kilo Spinosum und fünfundsechzig für ein Kilo Cottonii: Die Frauen von Paje mussten bald nicht mehr ihre Ehemänner fragen, wenn sie Geld für ein Stück Seife oder ein Kleid Surprise 482/20


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brauchten. Zwar raunte so mancher, dies sei das Ende der guten Sitten. Doch alle profitierten: Die Frauen gaben ihr Geld für Schulgebühren und Arztbesuche aus oder konnten die Blätterdächer ihrer Hütten durch Wellblech ersetzen. Ihr kleines Einkommen schien sicher wie der Wechsel der Gezeiten – bis ihnen das Meer allmählich unheimlich wurde. Die Angst vor dem Klima Über die Jahre waren die Fluten immer näher an das Dorf herangekommen. Das Wasser war wärmer geworden, die Wellen stärker. Und als Folge der Überdüngung des Ozeans durch ungeklärte Abwässer aus der Landwirtschaft war die Oberfläche manchmal so übersät von der giftigen Grünen Spanalge, dass die Frauen mit rotem Ausschlag und geschwollenen Augen von den Algenfeldern kamen. «Vor zehn Jahren bemerkten wir, dass unsere Pflanzen langsamer wuchsen oder abstarben», sagt Makame. In der Nähe des Strandes schöpft sie eine dahintreibende Spinosum aus dem Surprise 482/20

Wasser. Die sonst grünen, knubbeligen Zweige sind nach innen hin weiss angelaufen, wie schockgefrostet. In Trockenzeiten, nach besonders heissen Tagen, kommt diese Krankheit über die Pflanzen, lässt sie brüchig werden und faulen. Lange konnten sich die Frauen das nicht erklären. Dann kam Flower Ezekiel Msuya in ihr Dorf und erzählte vom Klimawandel. Die Meeresbiologin von der Universität Daressalam, die sie Dr. Flower nennen, hat die Rotalgen an den Küsten Sansibars über zwei Jahrzehnte lang erforscht. Während ihrer Studien lebte sie mit den Algenfarmerinnen zusammen, arbeitete in ihren Feldern. «In den Neunzigern haben wir dort Wassertemperaturen von höchstens 31 Grad Celsius gemessen», erklärt sie. «Heute sind es schon bis zu 37 Grad.» Die Rotalgen stünden durch die Erwärmung unter Stress und produzierten eine feuchte organische Substanz, die Bakterien anziehe. Daher die weissen Verfärbungen und die faulen Stellen. «Ice Ice» nennen sie die Plage hier. Hinzu kommt die zunehmende Erosion der Küste, durch

die Schad- und Nährstoffe vom Land in den Ozean gelangen. Das Ökosystem sei aus dem Gleichgewicht geraten, sagt Flower Msuya. «Damit ist auch der soziale Status der Frauen in Gefahr.» 2012 exportierte Sansibar 15 000 Tonnen getrocknete Algen. 2013 brach die Produktion auf rund 11 000 Tonnen ein. Das höherwertige Cottonii reagiert besonders empfindlich auf Hitzestress, weshalb die Bäuerinnen immer häufiger auf das weniger lukrative Spinosum angewiesen waren. Viele Frauen gaben den Anbau auf – und waren finanziell wieder von ihren Männern abhängig. Flower Msuya ist seit Jahren in verschiedenen Zeitzonen unterwegs, um der Welt von den Algenfrauen Sansibars zu erzählen. Die Geschichte scheint wie ein Lehrstück dafür, welch schwerwiegende soziale Folgen oft bereits geringe lokale Klimaveränderungen haben können. Bereits 2006 gründete sie das Netzwerk Seaweed Cluster, um die Bäuerinnen mit Wissenschaftler*innen, NGOs und Regie19


1 Eine Frau befestigt im flachen Wasser Ableger nach traditioneller Art. 2 Manchmal wenden die Frauen auch andere Methoden an, bei denen der Ableger von oben durch ein Rohr in einen Netzschlauch geworfen werden. Darin bleiben sie hängen und wachsen durch die Maschen nach aussen. 3 Mwanaisha Makame und Sihaba Mustafa tragen die heutige Ernte zurück ins Dorf.

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rungsvertreter*innen zu verbinden. Ihre Studien zeigen, dass die Algen bei niedrigeren Temperaturen besser wachsen, etwa in der Regensaison oder im Schatten von Mangrovenwäldern. Also riet Msuya den Frauen in Paje und anderswo, mit ihren Pflanzen etwas weiter hinaus zu ziehen, dorthin, wo das Wasser tiefer und kühler wird. Und sie ermutigte Kooperativen der Farmerinnen, einen Teil der Ernte selbst zu verarbeiten. So steigt allein durch das Mahlen der Spinosum zu Pulver der Kilopreis je nach Marktlage um das bis zu Zwanzigfache auf rund fast sieben Franken. Mwanaisha Makame und die anderen Farmerinnen ziehen Leinen mit kopfkissengrossen Algen aus dem Wasser. Jetzt, nach sechs Wochen, ist der Carrageengehalt am höchsten. Die Frauen kappen die Pflanzen von den Leinen und stopfen sie in Säcke, die sie auf dem Kopf zurück ins Dorf tragen. Dort legen sie die Ernte vor ihrer ersten kleinen Fabrik zum Trocknen aus. Makame tritt in den Produktionsraum, in dem drei grosse blaue Maschinen aus ei20

nem vergangenen Zeitalter stehen – zum Mahlen in zwei Feinheitsgraden und zum Verrühren grosser Massen. «Nach drei Tagen waschen wir die Algen mit Süsswasser aus und lassen sie noch einmal zwei Tage trocknen», sagt sie. «Dann machen wir Pulver daraus.» Mittlerweile stellen die Frauen aus Spinosum und verschiedenen Gewürzen auch Seife, Lotionen und Shampoos her, in der Produktionshütte liegt ein Duft von Nelke, Limette und Eukalyptus. Was sie von Dr. Flowers Seaweed Cluster gelernt haben, bringen sie Farmerinnen aus anderen Dörfern bei. Als Nächstes wollen die Frauen aus Paje schwimmen lernen. Denn sie wissen: Die Zukunft ihrer Algenfelder liegt in zwei bis sechs Metern Tiefe. Dort wollen sie das hochwertige Cottonii anbauen. In Muungoni, einem Dorf an der Westküste der sansibarischen Südinsel, hat Seaweed Cluster bereits begonnen, Farmerinnen für den Anbau im tiefen, kühleren Wasser auszubilden. Am Ende einer staubigen Landstrasse geben Bäume dort den Blick auf die Pete

Inlet Bucht frei: Fischerboote liegen vor Anker, Frauen stehen hüfthoch im flachen Wasser, richten Pfähle und binden nach alter Methode Algenableger an Leinen. Auch hier war die Ernte bedroht. Sieben Frauen aus dem Dorf besteigen das weisse Motorboot, das ihnen Seaweed Cluster für den Modellversuch übergab. Am Bug steht in Suaheli: WATAPATA TABU SANA. Frei übersetzt: Sie werden grossen Ärger kriegen. «Das ist ein Signal an alle, die jetzt neidisch sind auf uns», sagt die Farmerin Zakia Abdallah und lacht. «Wir werden uns durch nichts und niemanden aufhalten lassen!» Mit an Bord nehmen sie Netze, ein stabiles Plastikrohr – und den Fischer Mohammed, den sie den Bullen nennen, weil er wie einer arbeitet. Er wirft den Motor an, gemeinsam fahren sie hinaus aufs Meer. Mit oder ohne Männer? Im tiefen Wasser kommen Sansibars Algenfarmerinnen noch nicht ohne die Männer aus. Alle Fischer sind Männer, sie besitzen die Boote und können sie steuern. Surprise 482/20


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Wenn Algenanbau auf Sansibar auch in Zukunft der Job der Frauen sein soll, müssen sie einmal mehr über sich hinauswachsen. Die Regierung und NGOs haben bereits mit ersten Trainings begonnen. Eine gigantische Herausforderung: Im Schnitt sind die Schwimmschülerinnen immerhin 46 Jahre alt. Dort, wo Plastikflaschen als Bojen auf dem Wasser treiben, stoppt Mohammed das Boot. Zakia wirft den Anker. Mit Taucherbrille springt der Mann ins Wasser und holt einen grossen Busch Cottonii heraus. Die Frauen brechen daraus kleine Äste als Ableger und bereiten sie für den Anbau vor: Nach einer Minute haben sie mithilfe eines Plastikrohrs ein gutes Dutzend kleiner Cottonii in einem Schlauch aus grobmaschigem Fischernetz aufgereiht und werfen sie ihm über Bord wieder zu. Die Netzschläuche werden zwischen schweren Steinen am Meeresgrund und an der Oberfläche treibenden Flaschenbojen befestigt. Diese sogenannte Tubular Net Method hat Dr. Flower, die wissenschaftliche SchutzSurprise 482/20

«Wir werden uns durch nichts und niemanden aufhalten lassen.» Z AKIA ABDALL AH, FARMERIN

patronin der Frauen, in Brasilien gelernt und mit einer indonesischen Professorin an die hiesigen Gegebenheiten angepasst. Eine ihrer Studien ergab, dass dank dieser Methode vierzig Prozent der Farmerinnen bereits die Hälfte oder mehr zum Einkommen ihrer Familie beitragen. «Mit dem Boot zu arbeiten ist grossartig», berichtet Zakia Abdallah. «Die Algen werden hier draussen etwa doppelt so gross.» Allerdings brüte der Kaninchenfisch allzu gerne in den Netzen und ernähre sich

auch von den Pflanzen. Immerhin, bei der Algenernte fangen die Farmerinnen jetzt auch Fische. Und tatsächlich, das könnte die nächste grosse Innovation auf den Algenfarmen sein: Die Nutzung verschiedener Arten am selben Ort. Die Mittagssonne brennt auf das kleine Dorf Paje herunter. Die Algenfarmerinnen versammeln sich in ihrer Produktionshütte und schneiden Bananenblätter zurecht, in die sie später die Seifenstücke wickeln. Makabe und ihre Freundin Sihaba Mustafa schütten Zutaten in den Bauch der Rührmaschine. Jetzt, wo das Business mit den Algen höhere Gewinne abwerfe, erzählen sie, werde es natürlich auch für Männer wieder attraktiver. Dass die mit einsteigen, wollen die beiden aber nicht. «Schliesslich mussten wir lange kämpfen, bis wir uns das alles hier aufgebaut haben.» Dafür kommen ihre Enkeltöchter jetzt immer öfter mit auf die Unterwasserfelder.

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«Es kann nicht sein, dass Menschen so leben müssen» Literatur Roland Reichen schreibt über Menschen am Rande der Gesellschaft, indem er an die Grenzen der Sprache geht. Und manchmal auch darüber hinaus. INTERVIEW  KLAUS PETRUS

Ronald Reichen, die Figuren in Ihrem neuen Roman «Auf der Strecki» haben es schwer: Sie sind depressiv, traumatisiert oder drogenabhängig. Woher kommt Ihre Nähe zu Menschen am Rande unserer Gesellschaft? Es gibt einige Leute in meinem Umfeld, die sind nicht sonderlich privilegiert. Sie erzählen mir ihre teils krassen Lebensgeschichten, und jedes Mal denke ich mir: Das kann doch nicht sein, dass Menschen so leben müssen – in der reichen Schweiz, mit diesem Sozialstaat. So habe ich begonnen, ihre Geschichten aufzuschreiben.

was Irritierendes oder Verfremdetes, das einen zum Schmunzeln bringen kann. Zugleich kann diese Irritation dazu führen, dass sich die Leute fragen, ob die geschilderten Szenen wirklich etwas sind, worüber man lachen kann – oder nicht vielleicht etwas, wogegen man in unserer Gesellschaft angehen sollte. Das erlebe ich auch bei meinen Lesungen. Zu Beginn lachen die Menschen recht oft, doch je länger die Lesung geht, umso nachdenklicher werden sie. Vielleicht geht es mir bei dieser Sprache letztlich tatsächlich um das: die Menschen zum Nachdenken zu bringen.

Sie tun das in einer Sprache, die sich selbst am Rande des «Normalen» bewegt: Eine Mischung zwischen Hochsprache und berndeutschem Dialekt, die nahezu keinen Regeln folgt. Wieso? Mit dem stark mundartlich geprägten Deutsch, das immer etwas falsch klingt, geht es mir in erster Linie darum, den Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen, in dem meine Figuren stehen, auf der sprachlichen Ebene zum Ausdruck zu bringen. Die Sprache im Roman ist eine Kunstsprache, keine Nachbildung realen Sprechens. Wenn man über Sätze stolpert oder sich darüber wundert, wieso die Figuren eigentlich so seltsam reden, kommt man vielleicht zur Frage, was in den gesellschaftlichen Beziehungen nicht stimmt.

Denkt man an Literatur in Mischsprache, kommt einem Jeremias Gotthelf mit seiner hochdeutschen Sprache in den Sinn, die er mit berndeutschen Ausdrücken durchsetzt hat. Im Grunde aber sind es bei ihm immer noch zwei Sprachen, die sich klar voneinander unterscheiden lassen. Bei Ihnen ist sogar diese Grenze aufgehoben. Ja, in meinem Buch sind weder das Hochdeutsche noch das Berndeutsche «rein». Ich habe versucht, auch dann keinen Regeln zu folgen, wenn ich von der Norm abweiche. Schliesslich können auch Normabweichungen etwas Standardisiertes haben, selbst im Dialekt. Deshalb gebrauche ich für dasselbe Wort oder dieselbe Endung mal die hochdeutsche, mal die dialektale Form, wie zum Beispiel «Sunne» oder «Rechnig». Oder ich verwende als dialektale Form für «hinunter» einmal «achen», ein anderes Mal «aben». Auch folge ich keinem festen Muster, welche Passagen in Hochdeutsch verfasst sind und welche im Dialekt. Vieles läuft recht intuitiv ab, oft spielt der Klang die entscheidende Rolle.

Viele Szenen im Buch sind happig, es geht ums Elend, die Auswirkungen des Drogenkonsums, um Gewalt in Beziehungen. Ihre Mischsprache macht die Lektüre erträg­ licher, denn sie klingt oft komisch. Wären gewisse Passagen in klassischem Hochdeutsch geschrieben, bliebe bei den Leser*innen wohl vor allem die Schwere zurück. So aber haben diese Textstellen et22

Der Verstoss gegen Normen setzt sich sogar auf der Ebene des Genres fort:

Sie nennen Ihr Buch zwar «Roman», im klassischen Sinne trifft das aber kaum zu. Hinter dem Etikett «Roman» steckt ja oft so eine traditionelle, bürgerliche Vorstellung davon, wie das Leben eines Menschen zu verlaufen hat: Geburt, Lehrjahre, Bewährung, Familiengründung, Meisterschaft, Weitergabe des Erbes, Tod. Mein Buch besteht dagegen aus losen Episoden. Auch gibt es keinen Erzähler, der die Szenen zusammenhält oder die Geschehnisse in einen Zusammenhang stellt und den Leser*innen erklärt, wie es läuft. Stattdessen kommen bei mir Biografien vor, die nicht vorhersehbar, planend und selbstbestimmt sind, sondern aus einer Abfolge von mehr oder weniger schlimmen Notlagen bestehen, in die diese Menschen geraten – oft ohne ihr eigenes Zutun. Ihr Buch hat ein Glossar, wo spezielle Ausdrücke ins Hochdeutsche übersetzt sind. Widerspricht das nicht Ihrem künstlerischen Anliegen? Sagen wir es so, es ist ein Kompromiss. Natürlich sehe ich das Problem, denn dadurch werden einzelne Begriffe in eine standardisierte Form gebracht und der Norm angepasst. Auf der anderen Seite sind die Themen, über die ich schreibe, ja keine regionalen, man findet sie überall. Von da her möchte ich schon, dass der Text von möglichst allen verstanden werden kann, die Deutsch reden. Und wenn ein Glossar dazu beiträgt, finde ich das gut. Der konsequente Bruch mit Regeln und Normen kann auch etwas Ästhetisierendes, vielleicht sogar Aufgesetztes haben. Was ist Ihnen am Ende wichtiger, der Inhalt oder die Form? Ich möchte das so nicht trennen. Mir geht es darum, dass die Form den Inhalt aufSurprise 482/20


nimmt. Ich glaube, dass eine «unreine» Sprache, die weder einem genormten Hochdeutsch noch einem standardisierten Dialekt angehört, die Position der von mir beschriebenen Menschen innerhalb unserer Gesellschaft recht gut abbilden kann. Man könnte diesen Versuch als Bestätigung des Vorurteils lesen, dass sich Menschen am Rande der Gesellschaft nicht «richtig» ausdrücken können. Das wäre eine zu oberflächliche Lesart meines Buches. Denn es sind schwer traumatisierte Figuren, die bei mir von ihren Traumata erzählen, und man muss geradezu damit rechnen, dass dies Auswirkungen auf ihre Sprache hat. Meine Hoffnung ist: Die kaum je so vorkommende Mischung von Dialekt und Hochsprache macht das Individuelle am Leid meiner Figuren nicht vergessen – auch wenn real Tausende jeden Tag in der Schweiz in ähnlichen Notsituationen stecken.

FOTO: KLAUS PETRUS

Eine Viertelstunde später ist Vättu das Sprüchmachen gründlich vergangen. Die Sunne bränntet. Auf einem geteereten Strässli trappen wir unter Tschuppelen von Fän über topf­ ebenes, verdorrtes Grasland; das Wäldli, am Horizont, wo dann dahinter die Strecki kommen soll, das ist noch keinen Meter näher, seit wir vom Car losgegangen sind. «Eh, das Müeti, das hat mir da einfach komplett die falschen Hosi herausgelegt!», schnauft Vättu zwischen kurzen Schrittli wie ein Walross. «Manchmal, da überlegt meine sogenannt bessere Hälfti also schon überhaupt nüüt!» Er schwitzt in seinem beeschen ­Übergrössen-Leibli. Sein Ranzen, gross wie drei Kopfküssi, schlenkert ihm bei jedem Schritt zwischen den Oberschenkeln herum und ist ihm dort im Weg. Alle paar Meter muss er sich zudem die dicken Jeans neu richten, weil sein Büder sie vornen herunterdrückt, sie ihm hinten in den Füdlispalt rütschen. – Eigentlich versuchen wir ja, mit dem Wisu Schritt zu halten. Wo uns aber schon so weit voraus ist; klein wie ein Ameisi sehe ich ihn nur noch, weiter vornen zwischen den Fänreihen. Eben dreht er sich um, winkt uns mit seinem ferrari-Tschäppu zu und ruft zurück: «Los hopphopp! Wenn wir ein bisschen machen, dann kommen wir noch grad rechtzeitig zum Start vom Porsche-Cöp, dem ersten Rahmenrennen.»

Roland Reichen, 46, ist in Spiez aufgewachsen und arbeitet an der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf der Universität Bern. Bereits seine bisherigen Bücher «aufgrochsen» (2006), «Sundergrund» (2014) und «Druffä» (2019) sind alle in stark dialektgefärbtem Deutsch verfasst. Reichens neuer Roman «Auf der Strecki» ist 2020 im Verlag Der gesunde Menschenverstand erschienen.

Auszug aus Roland Reichens neuem Roman «Auf der Strecki» Surprise 482/20

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FOTOS: PIUS BACHER

Mitten unter uns Kunst Das Kollektiv Connected Space veranstaltet Staffelläufe durch die freie

Kunstszene Bern. Es will damit Kunst an Orte bringen, an denen sie vorher nicht war. TEXT  ANICIA KOHLER

«Wir möchten Kunst abseits von abgetrampelten Kulturpfaden ermöglichen», sagt Virginie Halter. Für die Projektleiterin von Connected Space ist klar, dass Kunst nicht nur ins Museum gehört. Sondern auch an Orte, wo sie eigentlich nicht erwartet wird, wo man sich nach ihr umdreht und sich plötzlich Fragen stellt. Halter lancierte Connected Space im Herbst 2019 gemeinsam mit der Studienfreundin und Künstlerin Myriam Gallo. Seither sorgen sie und ihr Team dafür, dass die Arbeit von selbstorganisierten Kulturräumen und -initiativen aus der zeitgenössischen Kunstszene in Bern sichtbar wird. Für das Projekt der Staffelläufe ziehen die Mitglieder aus ihrem künstlerischen Zuhause aus und zeigen Kunst im Park, in der Brockenstube oder in der Kita, während ihre dadurch freiwerdenden Ateliers von Kunstschaffenden aus anderen Schweizer Städten mit Leben gefüllt werden. «So passiert beides – Austausch in der Szene und Kunst an neuen Orten, für neue Zielgruppen», sagt Halter. Sie möchte Schwellen abbauen – sodass Kunst zum Beispiel auch näher an Menschen gelangt, die sich den Eintritt ins Kunstmuseum nicht leisten können. Der bislang dritte Staffellauf von Connected Space führt von August bis Oktober 2020 unter anderem in die Kram24

gasse der Berner Altstadt. Dort bekommt der Kreuzgassbrunnen Konkurrenz – von einem temporären Nachbarbrunnen namens «Hygieia», nach der Göttin der Gesundheit benannt. Die Installation ist ein Projekt von Atelier Rohling. Für die Ausstellung «Leben in der Nasszelle» setzt sich die Appenzeller Künstlerin Pascale Osterwalder mit Seifenspendern auseinander, die als Dienstleister der Leistungsgesellschaft zunehmend überarbeitet sind. Mehrere Interventionen und Ausstellungen sind Zusammenhängen von Arbeit, Dienstleistung und Kunst gewidmet. Dazu gehören Ausstellungen in der Bibliothèque de Nyon sowie in den Räumlichkeiten der Interessengemeinschaft Kaufmännische Grundbildung. Zeit zu reden Ursprünglich war der Staffellauf für den Frühling 2020 geplant. Stattdessen lancierte eine Arbeitsgruppe von Connected Space während des Lockdowns das digitale Gesprächsformat «Time To Talk». Jeweils am Donnerstagabend diskutierten zwei bis vier Kunstschaffende via Livestream und Website über Themen, die sie beschäftigten. «Der Bedarf zum Reden und zum Austausch war sehr gross», sagt Virginie Halter. «Es war schön zu spüren, dass man nicht allein ist.»

«Selbstorganisierte Kunsträume haben zwar eine maximale künstlerische Freiheit, doch dafür fehlt es ihnen oft an Geld», sagt Adrian Demleitner, Projektmitglied von «Time To Talk». Sowohl die Organisation als auch die Kuration sowie die Arbeit an und mit Kunstwerken laufen häufig auf freiwilliger Basis ab. Eine Tatsache, welche durch Coronakrise und Lockdown noch deutlicher wurde. Connected Space beschloss, in den nächsten Monaten ein gemeinsames Manifest zu verfassen, das sich mit dem Stellenwert unbezahlter Arbeit auseinandersetzt – und zwar mit unbezahlter Arbeit nicht nur im Kunstbereich, sondern auch im Zusammenhang mit der Pflege- und Sorgearbeit. Demleitner ist davon überzeugt, dass Kunst, die jenseits von Museum und Galerie stattfindet, eine wichtige Funktion erfüllt. Nicht nur deshalb, weil Projekte wie die Staffelläufe womöglich näher am Publikum stattfinden, sondern auch, weil sie bisher ungehörten Kunstschaffenden eine Stimme geben. «Dazu gehören junge, aufstrebende Künstler*innen genauso wie diejenigen, denen im etablierten Kunstbetrieb kein Platz eingeräumt wird.»

www.connected-space.ch Surprise 482/20


Lotte mit den Scherenhänden

Kleinkunstwerk im Taschenformat

Film Das Animationsfilmfestival Fantoche widmet

Buch Ursus Wehrlis Tagebuch liest sich wie die Nieder-

schrift der Denkkapriolen seiner eigenen Bühnenfigur.

Lotte Reiniger einen Themenschwerpunkt.

Ursus Wehrli ist seit über 33 Jahren Mitglied des Kabarett-Duos Ursus & Nadeschkin, als schlaksige, linkisch-gelenkige Gestalt neben der kanariengelb-frechen Nadeschkin, jedes Programm ein Feuerwerk an absurd-komischen, mal überbordend lauten, mal poetisch leisen Ein- und Ausfällen. Doch was macht Ursus, wenn der Vorhang fällt? Hat seine Bühnengestalt ein Leben danach? Offensichtlich ja. Das jedenfalls legt das Tagebuch «Heute habe ich beinahe was erlebt» des Autors Ursus Wehrli nahe, ein über Jahre entstandenes Sammelsurium von «vermutlich fiktiven Ereignissen» (Quelle: Wikipedia), die sich wie die Niederschrift der Denkkapriolen seiner Bühnenfigur lesen. Genauso absurd, fantasievoll, versponnen, poetisch, philosophisch – und süchtig machend. Man kann gar nicht mit dem Lesen aufhören, blättert sich von Einfall zu Einfall, möchte sich und andere am liebsten auf das Nächste und Übernächste hinweisen. Und so blättert man sich durch diese mit leichter Hand mit Tiefgang gewürzten Schreib­farbtupfer zwischen Notiz, Gedicht und Kürzestprosa. Ursus erzählt von Pedalofahrten mit der amerikanischen Aussenministerin, von einem Fussball­ spiel mit Karajan oder einem Gesprächsabend mit seiner

Das Spiel mit Licht und Schatten: Die Animationsfilmpionierin Lotte Reiniger beherrschte es geradezu virtuos. Die 1899 in Berlin geborene Künstlerin fertigte Scherenschnitte von Märchenfiguren und Tieren an und produzierte mit diesen an die fünfzig Silhouetten-Filme. Zum Beispiel 1926 «Die Abenteuer des Prinzen Achmed» mit Themen aus 1001 Nacht. Er ist mit 66 Minuten einer der ersten animierten Langfilme und der älteste, der heute noch erhalten ist. Walt Disneys «Schneewittchen» kam erst elf Jahre später in die Kinos. Inspiriert vom chinesischen Schattentheater, von Georges Méliès‘ Spezialeffekten und vom Filmemacher Paul Wegener begann Reiniger schon früh, sich die erforderlichen Techniken anzueignen, um die Einzelbilder für ihre Filme aufzunehmen. Allein für den Film «Die Abenteuer des Prinzen Achmed», der am Festival Fantoche gezeigt und live vertont wird, erstellte sie über 100 000 Einzelbilder. Lotte Reiniger entwickelte einen mehrstufigen Tricktisch, über dem eine Multiplankamera hing. Ihre für sie charakteristischen Scherenschnitte legte sie auf ein transparentes Papier über einer Glasplatte und beleuchtete sie von unten. Indem sie mehrere Glasplatten übereinanderlegte, konnte sie Tiefe erzeugen und Bewegungen inszenieren. Mit dieser Innovation schrieb Reiniger Filmgeschichte. Original Scherenschnitt-Figuren sind im Kunstraum Baden zu sehen und ihre Kurzfilme sind zu einem Retrospektiv-Programm zusammengestellt. «Lotte Reiniger ist eine wichtige Orientierungsfigur für Filmschaffende, denn ihr Werdegang zeigt, wie man bestehende Techniken weiterentwickeln kann», sagt Festivalleiterin Annette Schindler. «So spannte Reiniger einen ­Bogen zwischen dem traditionell chinesischen Schattentheater und der Filmkunst und erschuf daraus etwas völlig Neues. Fantoche zeigt Filme, die über bestehende Standards hinausgehen. Etwa den Puppentrickfilm ‹Something to Remember› von der Schwedin Niki Lindroth von Bahr, in dem Tierwesen mit dem Weltuntergang konfrontiert werden. Oder ‹Average Happiness›, in dem die Schweizer Filmemacherin Maja Gehrig Statistiken und Diagrammen eine lustvolle Form verpasst.» Beide Filme sind in den Wettbewerbsprogrammen zu sehen. MONIK A BET TSCHEN

Fantoche – 18. Internationales Festival für Animationsfilm, Baden, 1. bis 6. September, Programm und weitere Informationen unter www.fantoche.ch

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FOTO: ZVG

Katze bei Wein und Kaminfeuer. Er ist Teilnehmer beim Reimverein «Dichtungsring», an einer Kundgebung für unschlüssige Demonstranten oder einer Selbsthilfegruppe für unbekannte Weltstars. Er übt wegen Schlechtwetter Waldlauf in der Tiefgarage, begleitet einen Maulwurf unter Tage oder macht eine praktische und umweltfreundliche Erfindung, die nur einen Nachteil hat: Sie funktioniert nicht. Dazwischengestreut finden sich Sentenzen wie «Die Lösung: Von nun an tue ich einfach so, als ob es mir gutginge.» und «Heute hatte ich kein Glück. Gegen Abend kam auch noch Pech dazu.» oder « … ich ging Richtung Horizont. Der ist immer eine Reise wert.» Und klopft der Tod an die Tür, heisst es freundlich und bestimmt: Wir brauchen nichts. Weil Ursus Wehrli zudem auch ein wunderbarer Grafiker ist, ist dieses Tagebuch auf eine verspielte, kunstvoll-schlichte Weise gestaltet: liniert, handgeschrieben, mit «vermutlich fiktiven» Flecken und Kritzeleien. Ein Kleinkunstwerk im Taschenformat. Fazit: Unbedingt lesen. Lieblingsstelle: «Heute wurde ich beim Warten auf den Bus von der Muse geküsst, dabei kenne ich sie gar nicht.»

CHRISTOPHER ZIMMER

Ursus Wehrli: Heute habe ich beinahe was erlebt, Ein Tagebuch, Kein & Aber 2020, CHF 20.00

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BILD(1): DAJANA LOTHERT, BILD(2): MALTE SCHLÖSSER, BILD(3): FRANZISKA ROTHENBÜHLER

Veranstaltungen Basel «Theaterfestival Basel», Fr, 28. August bis So, 6. September, verschiedene Spielorte in und um Basel. www.theaterfestival.ch

Das Theaterfestival Basel bietet mit Theater- und Tanzensembles aus verschiedensten Ländern ein breites Spektrum an theatralen Formen und Genres. So zeigt der Theaterregisseur und Videokünstler Ho Tzu Nyen aus Singapur seine bildgewaltige Langzeitarbeit «The Critical Dictionary of Southeast Asia» in einer Dauerinstallation: als Virtual-Reality-Erfahrung lässt sich Ho Tzu Nyens Bild- und Konzeptwelt auch physisch erleben. Die aus Nordirland stammende Choreografin Oona Doherty präsentiert ihre preisgekrönte Arbeit «Hope Hunt & the Ascension into Lazarus», die in ihrer eigenen Bewegungssprache Geschlechterstereotypen auf den Kopf stellt. Die belgischen Multimediakünstler BERLIN lassen in ihrer neusten Arbeit «True Copy» den niederländischen Meisterfälscher Geert Jan Jansen zu Wort kommen und über die Frage von Fälschung und Echtheit laut nachdenken. Und in «Chinchilla Arschloch, waswas» des Performancekollektivs Rimini Protokoll stellen drei Menschen mit Tourette-Syndrom gemeinsam mit einer Musikerin die Konventionen des Theaters und letztlich auch unser aller Wahrnehmung von Normalität infrage. DIF

Basel «Teppichsound ­Unplugged»,», Konzert­ anlass, Sa, 29. August, 11 bis 16 Uhr, rund um den Rümelinsplatz; Surprise Chor um 11 Uhr in der Schnabel­ gasse und um 12 Uhr im Gerbergässlein, www.vibr.ch Der Verein Instandbelebung Rümelinsplatz tut, wozu er da ist: Er

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belebt die Gegend um den Rümelinsplatz in Basel, und zwar mit Musik – von Rock (mit Elves Attack) über Chansons/Folk-Pop (Leanna oder Chantjsa) bis hin zum deutschen Krautrock (Fragnicht). Weil die Geschäftsstelle von Surprise sich geografisch mittendrin befindet – in der lauschigen Altstadt –, ist natürlich auch der Surprise Strassenchor mit dabei. DIF

Zürich «Kurhotel Bella Norma – Nach der Sonne scheint der Regen», Di, 25. bis Fr, 28. August, jeweils 19 Uhr, Sa, 29. August, 17 Uhr, Di und Mi, 1. und 2. September, jeweils 19 Uhr, Kulturmarkt, Aemtlerstrasse 23. kulturmarkt.ch

Das Schalktheater richtet eine Klinik der Normalität ein – als Theater-Installation mit begehbaren Räumen, in denen verschiedene Inszenierungen gleichzeitig stattfinden. Hier ist alles verkehrt. Weil die Zuschauer*innen an Normalität erkrankt sind, werden sie zu Gästen des «Kurhotel Bella Norma». Die Besucher*innen durchlaufen somit als Patient*innen verschiedene therapeutische und psychohygienische Behandlungen. In der Rolle der Therapeut*innen: das Schalkensemble. Dabei können die Zuschauer*innen selber entscheiden, wie viel Zeit sie in einem Raum verbringen möchten (dies vielleicht im Gegensatz zu manchen Patient*innen im echten Leben). DIF

Zürich «Theater Rigiblick im Park», Musiktheater, Open Air Festival, Sa, 22. August bis Fr, 25. September. theater-rigiblick.ch Es fetzt im Rigiblick: Das Theater stellt im Spätsommer musikalische Programme unter freiem Himmel auf die Bühne und hat sich speziell auf «Tributes» gleich an mehrere Musiker*innen-Legenden eingeschossen: Tribute to John Lennon, Leonard Cohen, Greatest Soul Divas, Bruce Springsteen, Queen, The Dark Side of the Moon und weitere. Theaterleiter Daniel Rohr bestreitet als Schauspieler und Sänger beachtliche Teile des Programms selber, hat aber auch die unterschiedlichsten lokalen Künstler*innen engagiert: Da sind Namen wie Tanja Dankner, Nyssina Swerissen und Rislane El Harat, Pepe Lienhard, Lukas Langenegger und Anna Kaenzig. Auch Geschichten gibt es im Park unter den Pla-

tanen, «Der Lachs der Weisheit» etwa von Brian Cleeve. Hier blickt der Erzähler auf seine erste Liebe zurück, begleitet von viel irischer Livemusik. Und der Musiktheaterabend «Ds Lied vo de Bahnhöf» wiederum erinnert daran, wie liebe- und humorvoll Mani Matter die Menschen besungen hat. DIF

Bern 8. Berner Literaturfest, Di, 25. bis So, 30. August, diverse Orte. berner-literaturfest.ch An einem Literaturfest wird viel vorgelesen, es wird aber auch viel gefragt, geantwortet und diskutiert. Hier ist Lesen alles andere als eine einsame Sache. Der Autor Peter Schneider, der auch Drehbücher schreibt und als Gastdozent unter anderem an der Stanford University lehrte, stellt seinen Roman «Vivaldi und seine Töchter» in einem moderierten Gespräch vor. Das Buch erzählt die Geschichte von Antonio Vivaldi als musikalischer Visionär. In weiteren Runden diskutieren: Lukas Bärfuss mit Géraldine Schwarz über die Erinnerungskultur Europas, Franziska Schutzbach und Klaus Theweleit über Gewalt gegen Frauen (die häufigste Menschenrechtsverletzung weltweit). Stefan Zweifel unterhält sich mit dem Kulturwissenschaftler Zoran Terzić über dessen Buch «Idiocracy» und damit über die These, dass wir im «Zeitalter des Idioten» leben. Zu Gast ist dieses Jahr auch das Magazin Reportagen: So besprechen der Journalist Marzio G. Mian und der Reportagen-Herausgeber Daniel Puntas den Kampf um Ressourcen in der Arktis. Das Festival bietet dem vielfältigen Literaturschaffen eine Plattform an ausgewählten Orten, in der Region ebenso wie in der Berner Altstadt. Am Samstagabend geben Fitzgerald & Rimini ein Konzert zwischen Poesie und Störgeräuschen (Ariane von Graffenried ist die eine Hälfte des Literatur-Musik-Performance-Duos und hat uns für unsere Literaturausgaben soeben einen wunderbaren Text geschenkt). DIF

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Warum auch nicht, Platz hat es genug. Im Oberdorf kann man einen älteren Mann beim Heuen in der heissen Sonne beobachten. Es gibt Kreativtherapien und Fitnesskurse: Fit in Hitt, das Bild einer Frau beim tren­ digen Planking. Auf dem Land ist nicht hinter dem Mond. Ein vorbeifahrendes Auto wirbt für Yogakurse: Yoga tut gut. Auch Meditations- und Bastelkurse werden angeboten. Wie sagte doch die Frau vor der Migros: «Langweilig wird mir nicht.» Falls doch, lockt ein Ü40-Sommerfestival mit Chillout-Zelt und Top-Aussicht: Dringend Vorverkauf benützen. Es gibt ein Ober- und ein Unterhittnau, viel Grün, grosse, schön gereihte Obstbäume, auffällig viele Spiel- und ­Parkplätze. Auf dem Parkplatz vor der Migros bleibt Zeit für einen ausgiebigen Schwatz, die Hektik der Stadt ist weit weg. Parken und Einkaufen tun ausschliesslich Frauen an diesem frühen Nachmittag.

Tour de Suisse

Pörtner in Hittnau Surprise-Standort: Migros Einwohner*innen: 3656 Sozialhilfequote in Prozent: 1,6 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 7,6 Wähler*innenstimmen SVP in Prozent: 40,8

Kurz vor der Einfahrt ins Dorf stehen zwei Reihen Spatz-Zelte. Dazwischen ein aus Blachen konstruiertes Gemeinschaftszelt, das aussieht wie eine über­ dimensionierte Schildkröte, und eine Holzkonstruktion mit dem Urner und Altdorfer Wappen. Kurzum, ein Pfadi­ lager. Pfadfinder*innen sind keine zu sehen. Es ist Sommer, in einem Teil des Landes haben die Ferien schon begonnen, in Hittnau findet der Unterricht noch statt, ein Polizist führt eine Gruppe Primarschüler*innen auf Velos an, Verkehrsunterricht wahrscheinlich. Auch Arbeit gibt es, trotz Krise und Kurzarbeit werden Maler EFZ, Service-Monteure, Boden- und Parkettleger gesucht. Es gibt eine Station Hittnau, ein Gewerbezentrum, dessen Kennzeichnungen an einen Bahnhof mit Geleisen erinnert. ­Einen solchen gibt es allerdings nicht, Surprise 482/20

dafür ein Postauto. An der Bushaltestelle haben sich Fans der beiden Zürcher Fussballclubs verewigt und jemand hat seinem Unmut über die Bundesbahnen Ausdruck verliehen, vielleicht weil sie es nicht geschafft haben, Hittnau an ihr Netz anzubinden. Man ist eben auf dem Land, und es ist ­alles genau so, wie man sich das Land vorstellt: ein Mix aus alten Bauernhäusern, modernen Wohnsiedlungen mit identischen Mehrfamilienhäusern, Reihen­ häusern, Doppelhäusern, Gewerbezonen, Einfamilienhäuser von bescheiden bis stattlich, eine Mehrzweckhalle und eine Kirche. Auffällig: Vor vielen Häusern stehen Wohnwagen. Ob die zu Wohnraumerweiterungs- oder Ferienzwecken an­ geschafft wurden, ist nicht ersichtlich.

Das Velo braucht man nicht abzuschlies­ sen, während man einkaufen geht. Auf der Jakob-Stutz-Strasse behindert immer wieder mal ein landwirtschaft­ liches Fahrzeug den Verkehr. Jakob Stutz, wer immer das gewesen sein mag, hatte an Hittnau schlechte Erinnerungen, wie auf einer Tafel bei der Kirche zu lesen ist. Wer wissen will warum, der fahre nach Oberhittnau. Es gibt Hofläden und lauschige Gasthäuser, das Schaffleisch kann direkt vom Produzenten bezogen werden. Ein Wanderweg führt auf den beliebten Ausflugsberg ­Rosinli, von dort kommt denn auch die obligate Wandergruppe, die das lokale Bauernhofglace testet. Zum Dorf hinaus führt die Furt-Strasse, ein Name, der durchaus einleuchtet.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Echtzeit Verlag, Basel 02 Beat Hübscher, Schreiner, Zürich 03 Dietke Becker, Physiomovimento, Männedorf 04 Stefan Westermann Immo DL, Lützelflüh 05 Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern 06 Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti 07 Gemeinnütziger Frauenverein Nidau 08 Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden 09 Brother (Schweiz) AG, Dättwil 10 Senn Chemicals AG, Dielsdorf 11

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

12 Scherrer & Partner GmbH, Basel 13 TopPharm Apotheke Paradeplatz 14 Coop Genossenschaft, Basel 15 Gemeinnützige Frauen Aarau 16 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 17 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich 18 Yogaloft, Rapperswil

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Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

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19 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 20 Zubi Carosserie, Allschwil 21 Kaiser Software GmbH, Bern 22 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 23 RLC Architekten AG, Winterthur 24 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 25 Neue Schule für Gestaltung, Bern Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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Wir alle sind Surprise #479: «Die Ehre der Schildkröten»

#Strassenmagazin

«Könnte doch sein»

«Megavergnüglich»

Ich gratuliere der Schriftstellerin AnaÏs Meier zu ihrem gelungenen Bild über eine hinterwäldlerische – fiktive – Gemeinde, in welcher Frauen immer noch die Unterschrift der Männer brauchen, um mit ihrer Arbeitskraft die Familie finanziell über Wasser zu halten. Wie vor den Kopf gestossen, habe ich all die Seltsamkeiten im Artikel aufgenommen, zweifelnd und doch nicht wissend, könnte es tatsächlich wahr sein? Was weiss ich als Eingewanderte wirklich über meine neue Heimat? Landfrauenblog, Betty Bossi, Kreuzworträtsel im Skilifthäuschen – da muss man schon ein paar Jahre die Schweiz ins Herz geschlossen zu haben, um mitreden zu können. All die schriftstellerischen Winkelzüge haben es so weit gebracht, mich an einen Schweizer Freund zu wenden: «Du, stimmt das?» Er ist über 70 Jahre alt, ein intellektuelles Urgestein, belesen, neugierig und skeptisch. Aber auch er konnte mir nicht mit Sicherheit sagen, dass es nicht so ist. Damit ich nicht versehentlich zur Fake-News-Produzentin werde, habe ich dann doch mal gegoogelt und bin mit dem Finden von nur drei Worten in der Fabrikzeitung unendlich erleichtert: «Was wäre, wenn ...». Das Frauenstimmrecht wird bald 50, nicht 500 oder 5000 oder vom Urknall an. So jung. Hoffentlich werde ich bald eingebürgert und darf es dann endlich persönlich ausüben, jetzt wo die Schweiz für mich wieder in Ordnung ist. G. RUT TKOWSKI,  ohne Ort

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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S. GANTENBEIN + A . SPIRO,  Zürich

#474: «Ich stehe ganz am Anfang»

«Den Falschen die Schuld zugewiesen» Eine Anmerkung zum Surprise-Porträt über Sandra Brühlmann, im vierten Abschnitt steht: «Ein Psychologe verschrieb mir drei verschiedene Antidepressiva ...» Diese Aussage stimmt so nicht. Ein Psychologe darf keine Medikamente verschreiben, die Medikamentierung steht nur dem Arzt, dem Psychiater, zu. Diese Richtigstellung ist mir sehr wichtig, weil in Ihrem Bericht den Falschen die Schuld zugewiesen wird. M. LEDERMANN,  Othmarsingen

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

Vielen Dank für die Ausgaben 473 und 474. Die hatten wir noch nicht gelesen, hatten gedacht, auch die Redaktion sei stillgelegt gewesen. Wie konnten wir uns nur so einer Einschätzung hingeben! Sie sind immer voll am Wirken, und das für ein Heft, das viel Interessantes und Verlässliches bietet und obendrein megavergnüglich zum Lesen ist.

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Nicolas Gabriel, Dimitri Grünig, Anicia Kohler, Maria Rehli, Martin Theis, Sam Vox Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Ich habe schlimme Geschichten gehört» «Ich heisse Freweini Tsegay und stamme aus Asmara, Eritrea. Ich lebe seit 2011 in der Schweiz, unser Asylgesuch wurde Gott sei Dank angenommen. Auch nach neun Jahren bin ich froh, dass mit unserer Flucht alles geklappt hat. Ich habe viele schlimme Geschichten gehört, sogar von meiner eigenen Familie. Zwei meiner Cousinen wurden auf dem Weg nach ­Libyen von Islamisten ermordet, weil sie Christinnen waren und ein Kreuz trugen. Weitere Cousins sind bei der Über­ querung des Mittelmeers ertrunken. Wir konnten uns zum Glück von meiner Schwester etwas Geld leihen und damit ein Flugticket in die Schweiz bezahlen. Eigentlich wollte ich zu meinen Kindern nach England. Die beiden ältesten waren schon vor uns geflohen und sind nun dort richtig verwurzelt. Leider hatte ich vor meiner Flucht noch nie etwas vom Dublin-Abkommen gehört. Im Sudan gab ich einem Mann Geld, damit er unsere Flucht nach Europa organisiert. Er kaufte ein Flugticket in die Schweiz, erwähnte aber nicht, dass wir unser Asylgesuch in der Schweiz stellen müssen. Ich dachte, sobald ich in Europa bin, kann ich zu meinen Kindern. Jetzt lebt meine Familie in drei verschiedenen Ländern – meine beiden ältesten Kinder in England, mein Mann in Eritrea und ich mit den anderen vier Kindern in der Schweiz. Mittlerweile gefällt es mir sehr gut in der Schweiz. Meine Söhne und Töchter dürfen eine Ausbildung machen, und ich kann arbeiten. Deutsch zu sprechen fällt mir noch schwer, aber ich besuche zweimal in der Woche einen Kurs. Zudem bringen mir die Leute auf der Strasse viele Wörter bei, und wenn ich etwas falsch sage, korrigieren sie mich. Ich verkaufe Surprise-Hefte gleich neben einem Blumen­ laden. Da frage ich manchmal, wie die Blumen heissen, denn ich liebe Blumen. Ich werde immer traurig, wenn ich sie welken sehe. In dem Blumenladen würde ich gerne arbeiten, dann würde das nicht passieren. Auch die Arbeit bei Surprise macht mir Spass. Dies ist mein ­erster Job, mit dem ich eigenes Geld verdiene. In Eritrea war ich Hausfrau. Es tut gut, seine Rechnungen selbst bezahlen zu können. Im Moment lebe ich auch nicht vom Sozialamt. Das macht mich stolz. Umso mehr freut es mich, wenn mir die Leute Komplimente machen. Viele sagen, dass ich eine gute Verkäuferin bin. Die Leute in Wil und Oberwinterthur ­haben Freude, dass dort überhaupt jemand Surprise verkauft. Die Standorte habe ich selbst ausgewählt und organisiert. Nun suche ich noch eine weitere Arbeit, denn leider gibt es auch Zeiten, in denen der Verkauf harzig läuft. Darum wün­ sche ich mir ein stabileres Einkommen. Manchmal mache 30

Freweini Tsegay, 54, verkauft in Oberwinterthur und Wil Surprise und würde zudem noch gerne in einem Blumenladen arbeiten.

ich mir Sorgen, ob ich so meine Familie ernähren kann. Auch frage ich mich, ob ich in meinem Alter noch eine andere Stelle finden werde. Die Zukunft meiner Kinder liegt mir besonders am Herzen. Ich musste in meinem Leben zweimal fliehen, einmal als Kind vor dem Krieg in den 1970er-Jahren – damals flohen wir in den Sudan. Dort war das Leben hart, es gab kaum Arbeit, und die Scharia wurde eingeführt. Nach vier Jahren konnten wir zurückkehren, hatten aber nichts mehr in Eritrea. Das zweite Mal tat ich es für meine Kinder, damit sie nicht in einem Land ohne Rechte und Zukunft aufwachsen müssen, so wie ich. Ich kann mich also glücklich schätzen, in der Schweiz gelandet zu sein. Wir haben überlebt, ich kann arbeiten und ich sehe, wie meine Kinder selbständige junge Erwachsene werden. Viel mehr brauche ich nicht, um glücklich zu sein – ausser viel­ leicht ab und zu ein paar Blumen.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 482/20


SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kundinnen und Kunden Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank den gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufs­regeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand. Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise-Verkäuferinnen und -Verkäufer.

Die Heft- und Geldübergabe erfolgt via Kessel.

Zahlen Sie möglichst passend in den Kessel.

Nehmen Sie das Heft bitte selber aus dem Kessel.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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