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«Es kann nicht sein, dass Menschen so leben müssen» Literatur Roland Reichen schreibt über Menschen am Rande der Gesellschaft, indem er an die Grenzen der Sprache geht. Und manchmal auch darüber hinaus. INTERVIEW  KLAUS PETRUS

Ronald Reichen, die Figuren in Ihrem neuen Roman «Auf der Strecki» haben es schwer: Sie sind depressiv, traumatisiert oder drogenabhängig. Woher kommt Ihre Nähe zu Menschen am Rande unserer Gesellschaft? Es gibt einige Leute in meinem Umfeld, die sind nicht sonderlich privilegiert. Sie erzählen mir ihre teils krassen Lebensgeschichten, und jedes Mal denke ich mir: Das kann doch nicht sein, dass Menschen so leben müssen – in der reichen Schweiz, mit diesem Sozialstaat. So habe ich begonnen, ihre Geschichten aufzuschreiben.

was Irritierendes oder Verfremdetes, das einen zum Schmunzeln bringen kann. Zugleich kann diese Irritation dazu führen, dass sich die Leute fragen, ob die geschilderten Szenen wirklich etwas sind, worüber man lachen kann – oder nicht vielleicht etwas, wogegen man in unserer Gesellschaft angehen sollte. Das erlebe ich auch bei meinen Lesungen. Zu Beginn lachen die Menschen recht oft, doch je länger die Lesung geht, umso nachdenklicher werden sie. Vielleicht geht es mir bei dieser Sprache letztlich tatsächlich um das: die Menschen zum Nachdenken zu bringen.

Sie tun das in einer Sprache, die sich selbst am Rande des «Normalen» bewegt: Eine Mischung zwischen Hochsprache und berndeutschem Dialekt, die nahezu keinen Regeln folgt. Wieso? Mit dem stark mundartlich geprägten Deutsch, das immer etwas falsch klingt, geht es mir in erster Linie darum, den Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen, in dem meine Figuren stehen, auf der sprachlichen Ebene zum Ausdruck zu bringen. Die Sprache im Roman ist eine Kunstsprache, keine Nachbildung realen Sprechens. Wenn man über Sätze stolpert oder sich darüber wundert, wieso die Figuren eigentlich so seltsam reden, kommt man vielleicht zur Frage, was in den gesellschaftlichen Beziehungen nicht stimmt.

Denkt man an Literatur in Mischsprache, kommt einem Jeremias Gotthelf mit seiner hochdeutschen Sprache in den Sinn, die er mit berndeutschen Ausdrücken durchsetzt hat. Im Grunde aber sind es bei ihm immer noch zwei Sprachen, die sich klar voneinander unterscheiden lassen. Bei Ihnen ist sogar diese Grenze aufgehoben. Ja, in meinem Buch sind weder das Hochdeutsche noch das Berndeutsche «rein». Ich habe versucht, auch dann keinen Regeln zu folgen, wenn ich von der Norm abweiche. Schliesslich können auch Normabweichungen etwas Standardisiertes haben, selbst im Dialekt. Deshalb gebrauche ich für dasselbe Wort oder dieselbe Endung mal die hochdeutsche, mal die dialektale Form, wie zum Beispiel «Sunne» oder «Rechnig». Oder ich verwende als dialektale Form für «hinunter» einmal «achen», ein anderes Mal «aben». Auch folge ich keinem festen Muster, welche Passagen in Hochdeutsch verfasst sind und welche im Dialekt. Vieles läuft recht intuitiv ab, oft spielt der Klang die entscheidende Rolle.

Viele Szenen im Buch sind happig, es geht ums Elend, die Auswirkungen des Drogenkonsums, um Gewalt in Beziehungen. Ihre Mischsprache macht die Lektüre erträg­ licher, denn sie klingt oft komisch. Wären gewisse Passagen in klassischem Hochdeutsch geschrieben, bliebe bei den Leser*innen wohl vor allem die Schwere zurück. So aber haben diese Textstellen et22

Der Verstoss gegen Normen setzt sich sogar auf der Ebene des Genres fort:

Sie nennen Ihr Buch zwar «Roman», im klassischen Sinne trifft das aber kaum zu. Hinter dem Etikett «Roman» steckt ja oft so eine traditionelle, bürgerliche Vorstellung davon, wie das Leben eines Menschen zu verlaufen hat: Geburt, Lehrjahre, Bewährung, Familiengründung, Meisterschaft, Weitergabe des Erbes, Tod. Mein Buch besteht dagegen aus losen Episoden. Auch gibt es keinen Erzähler, der die Szenen zusammenhält oder die Geschehnisse in einen Zusammenhang stellt und den Leser*innen erklärt, wie es läuft. Stattdessen kommen bei mir Biografien vor, die nicht vorhersehbar, planend und selbstbestimmt sind, sondern aus einer Abfolge von mehr oder weniger schlimmen Notlagen bestehen, in die diese Menschen geraten – oft ohne ihr eigenes Zutun. Ihr Buch hat ein Glossar, wo spezielle Ausdrücke ins Hochdeutsche übersetzt sind. Widerspricht das nicht Ihrem künstlerischen Anliegen? Sagen wir es so, es ist ein Kompromiss. Natürlich sehe ich das Problem, denn dadurch werden einzelne Begriffe in eine standardisierte Form gebracht und der Norm angepasst. Auf der anderen Seite sind die Themen, über die ich schreibe, ja keine regionalen, man findet sie überall. Von da her möchte ich schon, dass der Text von möglichst allen verstanden werden kann, die Deutsch reden. Und wenn ein Glossar dazu beiträgt, finde ich das gut. Der konsequente Bruch mit Regeln und Normen kann auch etwas Ästhetisierendes, vielleicht sogar Aufgesetztes haben. Was ist Ihnen am Ende wichtiger, der Inhalt oder die Form? Ich möchte das so nicht trennen. Mir geht es darum, dass die Form den Inhalt aufSurprise 482/20


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