Surprise 482/20

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ILLUSTRATION: DIMITRI GRÜNIG

Verkäufer*innenkolumne

Im Alltag mehr ernten Ein bisschen vorwärtsmachen. In aller Vorsicht – der Mutter der Porzellankiste zuliebe. Vorwärts: Endlich mal das Gefühl kriegen, dass jede Lebenssekunde Sinn macht. Vorwärts: Ich gehe davon aus, der Sinn unseres Lebens ist, dass wir in Jahr­ millionen das Paradies auf Erden schaf­ fen. In Jahrmillionen sage ich, um den Druck von uns zu nehmen. Wir müs­ sen vorwärtsmachen, aber wir haben noch viel, viel Zeit. Die moderne Technik erlaubt uns, für alle Nahrung, Kleider, Häuser und so wei­ ter bereitzustellen. Offenbar geht es aber nicht. Was kann frau / man tun? Vielleicht vermehrt Lebenserfahrungen austauschen, vom anderen lernen. Zum Beispiel: Der Tag ist zum Lernen da. Und das Lernen zum Nicht-verges­ sen-Werden. Schaffen wir’s, Momente zu finden, wo wir das Erlernte, tagtäglich, für alle Zeit verankern? Oder: Früher gab’s doch Volkslieder. Gibt’s die noch? Oder: Von einer 96-jährig Verstorbe6

nen übernommen: Gymnastik verhindert Unfälle. Und ein stressloses Leben auch. Arbeit macht das Leben süss. Stress bewirkt das Gegenteil. Ein weiterer Gedanke: Wir sind ja alle gleich klug. Und doch ziehe ich Claude Lévi-Strauss und sein «wildes Denken» bei. Ich verstehe es so: Hast du ein Problem, schau um dich, das reicht ­vielleicht. Brauchst du einen Hammer, zufällig liegt ein Stein in Griffweite, pack zu. In der Nähe liegt eine Kraft. Und noch was: alte Menschen ernst­ nehmen. Sie sind unsere Wegweiser. Auch die Toten (die für mein Verständnis noch leben). Ich zum Beispiel höre Stim­ men. Mein Vater fand das sehr bedenklich. Unrecht hat er nicht. Träumen, speziell auf der Strasse, kann ins Auge gehen. Und schliesslich eine Überzeugung von den «Streng-Reformierten» (meine Bezeichnung) in Zürich, erzgute Leute, Diskutieren aber sehr schwierig: Jeder hat seine Berufung (50 Prozent Mitsprache­ recht, Gottvater/Gottmutter übernimmt

den Rest). Wer perspektivlos ist, suche danach. Lernen ist alles. Was du jetzt lernst, ist für die Ewigkeit. Berufung, es müssen Leidenschaften sein / werden. Zum Beispiel Musik, Physik, Haushalt, Garten, Helikopter, Literatur, Putzteufel, egal was. Meine Grossmutter lernte in hohem Alter noch eine Sprache. Sinnvoll, nicht? So, genug, ich will nicht lehrmeisterlich klingen, aber hab die Schule eben im Blut: Vater Lehrer, Mutter Lehrerin, mami (= französische Grossmutter mütterli­ cherseits) Lehrerin, Oma (Vaters Seite) Lehrerin, papi (= le père de maman) ­Lehrer, Tante Lehrerin. Und damit es nicht einseitig ist: Senden Sie mir eine Ihrer Erfahrungen, gedanklich oder konkret: nicolas.gabriel@gmx.ch. Ich will’s behelligen, denn ohne Sie bin ich nichts. Danke.

NICOL AS GABRIEL  55, Jus-Studium abgeschlossen, verkauft Surprise in Zürich an der Uraniastrasse. Der Stadt verdankt er seit Neustem ein Zimmer. «Hut ab!», meint er und hirnt nach Gegenleistung: junggebliebenen Alten im Pflegeheim vorlesen und Kunstbücher zeigen.

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