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Strassenmagazin Nr. 494 19. Februar bis 4. März 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Familie

Der Grossonkel Wenn der stadtbekannte Obdachlose plötzlich zu dir gehört. Die Geschichte einer unerwarteten Begegnung. Seite 8 Surprise 000/21

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BETEILIGTE CAFÉS

Die Corona-Krise trifft die Kleinen hart. Zeigen Sie Solidarität mit den Café Surprise.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: DANIEL CHATARD

Editorial

Fremde Welten Für viele sind Armut und Ausgrenzung etwas Abstraktes. Sie hören oder lesen in den Nach­richten davon oder sie sehen Betroffene, auf der anderen Strassenseite zum Beispiel. Meist aber werden diese einfach übersehen, bisweilen mit Absicht: Man möchte sie ausblenden und unsichtbar machen. Als wären sie Luft. Oder was Lästiges, dem man ausweichen muss. Dahinter steckt oft Misstrauen gegenüber ­«Anderen», die von einer irgendwie behaupteten Norm abweichen. So erging es wohl auch ­Manuel Stark, der eines Tages beschloss, sich ­einem Obdachlosen zu nähern, dem er seit ­seiner Jugend immer wieder begegnete – allerdings nur von weitem. Bis er erfuhr, dass er ­diesem Mann, «der letzte Mohikaner» genannt, viel näherstand als er dachte. Von da an war Stark mit zahllosen Vorurteilen konfrontiert, die an den Mohikaner herangetragen wurden und die er nun aufbrechen wollte – um aus dem ­Anderen einen Bekannten zu machen. ­Lesen Sie ab Seite 8.

Wie leicht Misstrauen in Ablehnung umschlagen kann, zeigt gegenwärtig wieder einmal die Diskussion über die angebliche Gefahr einer «Islamisierung» der Schweiz. Dieses Mal soll es ein ­Verhüllungsverbot richten, lesen Sie ab Seite 22. Dabei wird unterstellt: Wer sich anders kleidet, glaubt anders, denkt anders, lebt anders – und ist also kein Teil von uns, vielmehr eine Gefahr für uns. Diese Art der Verfremdung geht mit einer bewussten Engführung der Wirklichkeit ­einher: Wir betrachten den einzelnen Menschen nur noch durch die Brille eines abstrakten ­Konstruktes, nämlich als «die» Muslima – oder eben auch als «den» Obdachlosen. Sich dieser Konstrukte bewusst werden, das ist der erste Schritt gegen eine Dämonisierung der angeblich Anderen. Der nächste könnte sein: Auf Ähnlichkeiten achten, wo wir zuvor nur Differenzen gesehen haben. KL AUS PETRUS

Redaktor

4 Aufgelesen

8 Familie

25 Buch

27 Tour de Suisse

5 Was bedeutet eigentlich …?

16 Altersarmut

26 Veranstaltungen

28 SurPlus Positive Firmen

Vermögensverteilung

5 Vor Gericht

Dubai dubios

6 Verkäufer*innenkolumne

Sehnsucht nach Sehn

7 Die Sozialzahl

Dienstleistungs­ gesellschaft Schweiz

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Der letzte Mohikaner Auf den Schultern der Betagten

Duftnoten

Pörtner in Adliswil

18 Corona

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

22 Verhüllungsverbot

30 Surprise-Porträt

Geteilte Einsamkeit Verbot für 30 Frauen

24 Film

«Die Liebe kam nach der Heirat»

Gerade knapp in der Sonne gestanden

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Der perfekte Ort Die Menschen wussten schon immer, dass der Wald ihnen gut tut. Heute wird sein Einfluss auf unser Wohlbefinden auch wissenschaftlich erforscht. Die positiven Effekte führt die ­Heilpädagogin Judith van de Bruck unter anderem auf Terpene ­zurück, das sind Botenstoffe der Bäume, die in der Waldluft ­nachweisbar sind. «Im hektischen Alltagsleben, in der Stadt und im Beruf sind wir zu sehr in unserem Kopf. Der Wald ist der ­perfekte Ort, um anzukommen», sagt die selbsternannte «Waldhexe» van de Bruck. Judith van de Bruck weiss, wo ihr Kraftort ist.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Leben im Container

Weniger Obdachlose

Benachteiligte Frauen

Mehr als 200 000 Menschen in Hongkong leben für viel Geld in Wohnungen mit nur einem Zimmer. Jetzt hat die Stadt ein neues Projekt realisiert: In übereinandergestapelten Schiffscontainern werden Wohnungen à 27 m2 vermietet. Das sind zwar immer noch Einzimmerwohnungen, doch sind sie viel günstiger und offenbar auch recht gemütlich.

Finnland ist das einzige Land in der EU, in dem die Obdachlosigkeit zurückgeht. Der Grund: Vor gut zehn Jahren hat man auf das Konzept Housing First gesetzt. Die Idee dahinter: eine Mietwohnung für alle, bedingungslos, aber mit ganz gewöhnlichen Rechten und Pflichten. Von den rund einst 7000 Obdachlosen leben heute noch knapp 2000 auf der Strasse.

88 000 Frauen haben in Österreich allein im März 2020, also zu Beginn der Corona-Pandamie, ihre Arbeit verloren. Sie sind somit besonders stark von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen ­Auswirkungen der Corona-Krise betroffen. Gleichzeitig sollen sie – wie schon in der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 – weniger von den Hilfsmassnahmen profitieren.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

ASPHALT, HANNOVER

MEGAPHON, GRAZ

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich ...?

Vermögensverteilung Der Gini-Koeffizient misst auf einer Skala zwischen null und eins, wie finanzielle Vermögen in der Bevölkerung verteilt sind. Ist er null, besitzen alle Personen gleich viel. Ist er eins, besitzt eine Person alles. In der Schweiz liegt der Koeffizient über 0,8. Anders gesagt: Die reichsten zwei Prozent aller Schweizer*innen besitzen gleich viel wie die restlichen 98 Prozent zusammen. Damit ist die Schweiz eines der ungleichsten Länder der Welt. Nur in Namibia, Süd­ afrika, Russland und den USA sind die Vermögen einseitiger verteilt. In den letzten dreissig Jahren hat die Ungleichheit stark zugenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg profitierten breite Bevölkerungsschichten vom Aufschwung. Doch ab Ende der 1970er-Jahre wuchs das Kapital schneller als die Wirtschaft. Die Politik legitimierte hohe Kapitalgewinne zunehmend und korrigierte soziale Gegensätze seltener. Dieser neue, geldgetriebene Libera­ lismus wirkt bis heute. In der Schweiz wird privates Kapital nach wie vor kaum angetastet. Und es lässt sich ohne grosse Abstriche weitergeben. Denn die Steuern auf Vermögen und Erbschaften sind sehr tief. Hier­ zulande beziehen zehn Prozent der Erbenden drei Viertel aller Erb­ schaften – ein Drittel der Bevölkerung geht hingegen leer aus. Die wachsende Ungleichheit gefährde den sozialen Frieden, sagt der ­Ökonom Thomas Piketty. Denn verschärfte Klassengegensätze bedrohen die Demokratie. Betroffen sind nicht nur Randgruppen: Frauen verdienen rund einen Viertel weniger als Männer und ihre privaten Ver­mögen sind im Schnitt um einen Drittel niedriger. EBA Ueli Mäder: Vermögensverteilung. Wörterbuch der Schweizer Sozial­ politik. Zürich und Genf, 2020. Surprise 494/21

Vor Gericht

Dubai dubios Vor Gericht hört man öfter krasse Geschichten, doch es passiert auch dort nicht oft, dass sich einer hinstellt und erzählt, er sei in einem arabischen Emirat vom Geheimdienst entführt worden. Damit er beim dortigen, von ihm angestrengten Prozess nicht gegen die Königsfamilie aussagen konnte – die ihm zuvor seine Anteile an einer Goldbank abgenommen hatte, per Beduinenrecht, die er wiederum als Bezahlung beim Verkauf seiner von ihm gegründeten Goldförderfirma in Peru an Angehörige ebendieser Königsfamilie erhalten habe. Er habe sehr gut gelebt da unten, sagt er dem Zürcher Obergericht. «Wir waren die grössten Goldhändler in Dubai!» Abenteuerliche Tattoos bedecken seinen Nacken, der Anzug spannt sich etwas zu satt über den aufgepumpten Körper. Er sieht aus wie der Türsteher des wildesten Clubs der Stadt. Es ist auch das Goldbusiness, dass ihn nun vor den Richter führt. Ein kleiner Vermittlerdienst nur, denn: Der Glanz ist ab. Derzeit lebt er mit seiner Familie bei seiner Mutter. Er sei aber dabei, wieder Fuss zu fassen, sagt er höchst zuversichtlich, mit einem Blockchain-Projekt. Deshalb halte er die miese Lage seiner Familie auch aus. Dass aber die paar Beratungen, die er macht, nirgendshin reichen. Um eine solche Beratung ging es, als zwei Männer ihn kontaktierten, auf Empfehlung einer Drittperson. Sie wollten rund siebeneinhalb Kilo Gold verwerten und verkaufen, Altgold aus einem Bilderrahmen. Da habe er schon gestutzt: Gold aus einem Bilderrahmen, sehr unüblich. Doch einer der Männer war ja in der Kunst tätig, der andere arbeitete bei einer Bank. Sie hatten

Villen und Ferraris, schienen potente Kunden zu sein. Mit gutem Gewissen habe er das Einschmelzen des Altgolds bei einem zertifizierten Fachmann vermittelt und dafür eine Prämie kassiert, 5000 Franken. Bei einem Verkauf des Goldes wäre nochmal so viel hinzugekommen. Wäre – denn das Gold stammt nicht aus einem Bilderrahmen, sondern aus einem Raubüberfall. Die beiden Männer wurden gefasst und packten aus, so kam die Polizei auf den Beschuldigten. Diesem wirft die Staatsanwaltschaft vor, sich der Hehlerei und der Geldwäscherei schuldig gemacht zu haben. Dem Goldinsider sei schlicht egal gewesen, woher das Gold kam. Er habe alle Augen zugedrückt, auch das Hühnerauge, ätzt der Staatsanwalt. Er habe die elementarsten branchenüblichen Abklärungen zur Herkunft des Goldes unterlassen. Er verlangt eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten. Der Verteidiger korrigiert die Wortwahl des erstinstanzlichen Urteils, das tatsächlich Lenin zitiert: «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.» Das sei falsch. Richtig sei: Dowerjai, no prowerjai. Vertraue, aber prüfe nach. Genau das habe der Beschuldigte aber getan. Nur sei er angelogen worden, getäuscht. Er sei in dieser Situation nicht verpflichtet gewesen, die Vorschriften der Edelmetallverordnung einzuhalten und sei deswegen «in dubio pro reo» freizusprechen. Trotz des kurzweiligen Plädoyers sind die Oberrichterinnen nicht überzeugt. Sie glauben dem Beschuldigten kein Wort und folgen dem Staatsanwalt beinah zur Gänze: Sie schicken den Golddealer mit den glänzenden Geschichten 15 Monate ins Gefängnis.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: MICHAEL LEUTHOLD

Verkäufer*innenkolumne

Sehnsucht nach Sehn Will sehen lernen. Wie Mondrian vor dem Quadrat stehn. Und erkennen: Blau muss da rein. Nicht Rot. Nicht Gelb. Ich möchte die Augen schliessen und ­einen violetten Kreis sehn. Und drumherum einen zweiten Kreis. Und ich will warten. Geduld bringt Rosen, warten auf die Farbe, die den Ring ausfüllt. Ich möchte ein Auto sehen. Von der Sonne beschienen. Drum der Glanz, der dem Auto die Farbe stiehlt und Weiss hinzaubert. Ich möchte 6

Glanzpunkte sehn: Sterne, deren Arme mal kurz, mal lang sind, blitzschnell geht das. Und der Stern wird grün. Und orange. Und ich will die Partikel sehn, die unzählbaren, die in diesem Stern fliessen.

Da, der Spatz hat mich begrüsst. Der Spatz, mein Gegenüber. Die andere Seele. Ich schau ihn genau an. Ich will ihn zeichnen. Der Pfleger bringt mir Blatt und Stift. Ich werde ihm meine Zeichnung schenken. Und verstehen, dass mir die Beine genommen wurden, um meine Augen zu öffnen.

Und erkennen, dass das Winzige riesig ist.

NICOL AS GABRIEL,  56, verkauft Surprise in Zürich auf der Achse Rudolf-Brun-Brücke/Uraniabrücke in Zürich, war lange im Pflegeheim tätig, deshalb hier das Rollenschlüpfen in einen alten Menschen.

Ja, ich war blind all die Jahre. Und jetzt werde ich alt. Und weil ich alt werde, ­beginne ich zu sehen. Ich beginne zu sehen, weil ich nicht mehr gehen kann. Ich muss im Um-mich-herum reisen. Sitzend im Rollstuhl.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Ich will in den Mikrokosmos. Ich will ganz klein werden.

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Dienstleistungsgesellschaft Schweiz Es ist noch nicht so lange her, da war die Schweiz ein Industrie­land. Das hat sich in den letzten dreissig Jahren deutlich ver­ ändert. Heute leben wir in einer Dienstleistungsgesellschaft. Von rund 5 Millionen Erwerbstätigen arbeiten vier Fünftel in Dienstleistungsunternehmen und -organisationen. Schaut man sich die Erwerbstätigkeit in den verschiedenen Branchen im soge­ nannten dritten Sektor genauer an, zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen. Wirtschaftszweige wie der Handel oder das Gastgewerbe und die Hotellerie haben an Bedeutung verloren. Dafür haben Branchen wie Information und Kommunikation oder die Erbringung von wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt massiv an Gewicht ­gewonnen. Da wird die digitale Transformation direkt sichtbar. Die grösste Dynamik haben aber staatliche oder staatsnahe Branchen erlebt. Dazu gehören die öffentliche Verwaltung, der Bildungsbereich und das Sozial- und Gesundheitswesen. ­Zwischen 1991 und 2020 hat sich die Zahl der Erwerbstätigen in diesen drei Segmenten um über 600 000 Personen erhöht. ­Zusammen arbeiten inzwischen ein Drittel aller Erwerbstätigen des Dienstleistungssektor in diesen drei Branchen. Diese ­Entwicklung ist Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels.

Immer mehr Menschen brauchen professionelle Hilfe und ­materielle Unterstützung des Sozialstaates. Die grössere Verwaltung schliesslich ist die Folge einer gewachsenen Regelungsdichte, die vor allem durch die Parlamente vorangetrieben wird. Dafür hat die Schweiz im internationalen Vergleich noch immer einen gut funktionierenden Rechtsstaat, ein hochstehendes und belastbares Gesundheitswesen sowie ein Sozialwesen, das viele (aber nicht alle) erreicht, die Unterstützung benötigen. Diese drei Segmente des Dienstleistungssektors weisen eine Gemeinsamkeit auf: Während in den privatwirtschaftlichen Branchen eine direkte Kundenbeziehung besteht, finden sich in staatlichen und staatsnahen Branchen asymmetrische ­Verhältnisse: Die Zahlenden sind oftmals nicht jene, die von den Leistungen in diesen drei Branchen profitieren. Diese staat­ lichen und staatsnahen Segmente der Dienstleistungsgesellschaft werden über Einkommenssteuern, Lohnprozente und Krankenversicherungsprämien finanziert. Wer aber diese Abgaben leistet, muss nicht unbedingt eine staatliche Dienstleistung benötigen, eine Ausbildung machen oder krank werden. Die ­einen reden darum von einer massiven staatlich verordneten Umverteilung, die anderen von gesellschaftlicher Solidarität. Werden die Verwaltung, der Bildungsbereich sowie das ­Sozial- und Gesundheitswesen immer weiter wachsen? Wohl kaum. Die digitale Transformation macht auch vor diesen Branchen nicht halt.

So spiegelt die wachsende Zahl von Erwerbstätigen im Bildungsbereich den hohen Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften mit einer qualifizierten Ausbildung wider. Der Anstieg im Gesundheitswesen ist die Reaktion auf den demographischen Wandel hin zu einer Gesellschaft des langen Lebens. Die grössere Zahl an Angestellten im Sozialbereich ist die Antwort auf die die ­raschen Umwälzungen in der Arbeitswelt, aber auch im Alltag.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Erwerbstätige nach ausgewählten Branchen (in 1000, jeweils 2. Quartal) 800 000

1991

2020

700 000

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+ 397 000

Gesundheits- und Sozialwesen

+ 156 000

Bildungsbereich

+ 71 000

Öffentliche Verwaltung

+ 74 000

Finanzwesen/Versicherungen

+ 85 000

0

Information/Kommunikation

100 000

− 32 000

200 000

− 38 000

300 000

Gastgewerbe/Hotellerie

400 000

+ 204 000

500 000

Erbringung freiberuflicher, wissenschaftlicher und technischer Dienstleistungen

600 000

Handel

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: ERWERBSTÄTIGENSTATISTIK

Die Sozialzahl

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Der letzte Mohikaner Familie Unser Autor wollte über einen stadtbekannten

Wohnungslosen seiner Heimatgemeinde schreiben. Und fand heraus, dass der Mann sein Grossonkel ist. TEXT  MANUEL STARK FOTOS  DANIEL CHATARD

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Plötzlich um ein Familienmitglied reicher: So ging es dem wohnungslosen Jochen Hartmann, als er den Autor traf.

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1 Eine Containersiedlung bietet ein Dach über dem Kopf. Für Flair braucht es die Bewohner*innen. 2 Wäsche waschen, Essen kochen, sich um seine Mitbewohner*innen kümmern – Hartmann ist die gute Seele der Siedlung. 3 Wegen seiner langen Haare nannte man ihn Mohikaner, passend dazu die Indianerfahne überm Bett.

Selbst die Mülltonnen wirken heruntergekommen. Schmutz klebt auf den Deckeln, Risse ziehen sich durchs Plastik. Klappstühle, Blumentöpfe, Eisenstangen liegen verstreut um vier Wohncontainer herum, frei bleibt das Gras nur vor dem fünften, vorne rechts. Gegenüber der Tür flattern Handtücher, Unterhosen, T-Shirts an einer Wäscheleine, der Duft nach Weichspüler wird überlagert von Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. Hier lebt er also. Ich klopfe. Niemand reagiert. Zweimal umrunde ich den Container und finde zwei Fenster, beide geschlossen. Ich atme enttäuscht aus und wende mich ab. Da klackt das Schloss. Der Fremde mustert mich aus hellgrauen Augen, den gleichen, die meine Grossmutter hat – auch seine müssen einmal blau gewesen sein. Ein schmales Gesicht mit grauem Wochenbart und Schnauzer, die Haare fallen über beide Schultern auf ein dunkelblaues T-Shirt und enden auf Höhe des Herzens. Dort klebt das Wappen einer Brauerei. «Was ist los?», knurrt die raue Stimme des Kettenrauchers. In Lichtenfels, der etwa 11 000-Einwohner-kleinen Kreisstadt meiner Heimat in Oberfranken, heisst er «der letzte Mohikaner». Der siebzig Jahre alte Wohnungslose 10

lebt am Rand der Stadt in der Containersiedlung. Ich kenne ihn seit ich dreizehn war vom Anstehen an der Supermarktkasse – ich kaufte Gummibärchen und Schokolade, er Tabak und Alkohol. Dann und wann belauschte ich, wie er anderen Kunden von vergangenen Abenteuern erzählte; Touren mit dem Jeep durch Nordafrika, Wanderungen im Wüstensand. Jahrelang hatte ich nicht an ihn gedacht, bis zu einem Abend im Spätherbst 2018. Ich sass mit Kollegen in einer Kneipe, als ein Betrunkener «O sole mio» grölte – mit der Anmut eines Seelöwen. Ich fragte mich: Hat eigentlich jeder Ort eine solche Kunstfigur wie den letzten Mohikaner? Familienabend: Der Onkel, die Tante und meine Grossmutter waren zu Gast bei meinen Eltern. Smalltalk. «Woran arbeitest du?» Ich erzählte, dass ich über den letzten Mohikaner schreiben wolle. Oma war empört. «Dem darfst du nichts glauben!» «Wieso?» «Der schmarotzt sich durchs Leben. Ein Lügner und Betrüger.» «Wir kennen den Typen doch gar nicht.» «Und wie! Viel zu gut.» «Woher denn?» «Er ist mein Bruder.»

«Du weisst das doch», sagt Oma noch. Ich widerspreche, so etwas hätte ich wohl kaum vergessen. «Egal», sagt Oma, das sei abgeschlossen. Nur so viel: Man habe ihn noch vor meiner Geburt verstossen, etwa dreissig Jahre sei das her. Langsame Annäherung Die Notunterkunft für Obdachlose liegt fünfzehn Minuten Autofahrt entfernt vom Haus meiner Eltern, der einzige Nachbar ist das örtliche Tierheim. Das Bellen der Hunde verfängt sich zwischen den Bäumen und Büschen, die das Container-Gelände vor Blicken schützen. Es ist Juli, als der Mann mit den grauen Augen mir die Tür öffnet. Unsere Verbindung verschweige ich. Die Pausen nach jedem Satz fülle ich mit so vielen Ähms und Ähs, dass er misstrauisch die Augen zusammenkneift. «Heute ist schlecht», sagt er. «Wann würde es denn passen?» «Montag ist okay.» Jochen Hartmann weiss nicht, dass es draussen regnet und windet. Als ich um 15 Uhr ankomme, hat er den Container noch nicht verlassen. Sein Zimmer, das sind zehn Quadratmeter, bestückt mit einem Sessel, einem niedrigen Holztisch und einem Bett, über dem ein Tuch hängt, das einen Indianer mit Kopfschmuck zeigt. ZiSurprise 494/21


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«Meine Schwester treffe ich ein paar Mal im Monat beim Einkaufen. Wir nicken, das war’s.» JOCHEN HARTMANN

garettenrauch hat sich in die Wände und Möbel gefressen, so intensiv, dass die Zunge kaum einen Unterschied schmeckt, wenn Hartmann frischen Tabak anzündet. «Regel Nummer eins: Ich bin der Jochen. Regel Nummer zwei: Wir sind hier beim Du. Soooo – was willst du wissen?» Vermisst du deine Familie, will ich fragen. «Wie war das denn in Afrika», frage ich stattdessen. Er beschreibt Marktstände in Gassen und erzählt von Feuerschalen, deren Rauch sich mit Gewürzen mischt. «Gibt es Fotos?» «Tausende. Aber die hat sich mein grosser Bruder unter den Nagel gerissen. Surprise 494/21

Und mit meiner buckligen Verwandtschaft habe ich nichts mehr zu tun.» «Wieso nicht?» «Ach, weisst du, ich war der Einzige mit ausgelerntem Beruf – Bürokaufmann, Abschlussnote 1,2. Das hat den anderen nie gepasst.» «Wieso eigentlich ‹letzter Mohikaner›», frage ich und deute auf die Flagge. «Mein bester Freund hat mich Mohikaner getauft, wegen meiner Haare. Wir waren von Anfang an hier, vor dreissig Jahren haben wir die Container mit aufgestellt. Seit er tot ist, bin ich der letzte.» Er erzählt von Frauen, die er hatte, als er in Hamburg und Berlin lebte, von garstigen Schwiegermüttern in spe und davon, dass Heimat eben Heimat sei. Deshalb sei er auch zurückgekommen nach Lichtenfels. Und wegen seiner «Lieblingsmama», die sei schwer krank gewesen und habe ihn gebraucht. «Pflegen. Süppchen kochen. Wer hätte es denn sonst tun sollen? Keiner von der buckligen Verwandtschaft!» Ein Onkel für viele Klopfen. Ein Mann von der Statur eines Türstehers will sich Wasser leihen. «Nimm so viele Flaschen mit, wie du brauchst.» «Danke, Onkel Jochen!», er klemmt sich

drei Flaschen in die linke Armbeuge und hebt die rechte Hand zum Abschied. Onkel Jochen? «Ach, ich bin hier sowas wie der Bürgermeister von Blechhüttenstadt.» Wenn die Duschen mal wieder Zicken machten oder es was mit dem Amt zu klären gebe, regle er das. Und sonntags koche er für alle, Gemüse, Schnitzel oder auch mal einen Braten. «Soll bloss niemand denken, er wäre hier unter armen Leuten!» Aber wieso Onkel? «Das hat sich halt so eingebürgert. Streiten tut man manchmal, aber wer hierherzieht, auf den wird aufgepasst. So gehört sich’s bei einer Familie.» Aber zu deiner biologischen Familie hast du keinen Kontakt mehr? «Neeee. Meine Schwester treffe ich ein paar Mal im Monat beim Einkaufen. Wir nicken, das war’s.» Was denn passiert sei, dass gar kein Kontakt mehr besteht? «Lange Geschichte.» Wir schweigen. Eine Minute, zwei Minuten. Sollte ich sagen, wer ich bin? «Ich wollte zur Bahn», sagt Jochen unvermittelt, und zum ersten Mal schleicht sich etwas Trauriges in seine Stimme. «Ich wollte unbedingt zur Bahn. Aber mein Vater hat gesagt: Du wirst Bürokaufmann.» Jochen bläst Rauch gegen die geschlossenen Jalousien seines Fensters. «Ich habe es gehasst.» 11


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4 Früher hat Hartmann mal in Hamburg gelebt, geblieben ist ihm dieser Flaschenöffner. 5 Nun ist er längst kein Fremder mehr, sondern der Grossonkel, der sich über Besuch freut.

Er wollte weg von seinem Vater, deswegen sei er nach der Ausbildung nach Hamburg gezogen, das muss Mitte der 1970er gewesen sein. «Die Schiffe verschwinden im Horizont, das musst du gesehen haben. Bei dem Anblick lernst du, was Freiheit bedeutet.» Von der Zeit in Hamburg ist ihm nur ein Flaschenöffner geblieben, Eisen in Form eines Dreimast-Seglers. Als ich mich verabschiede, ruft eine Frau Mitte dreissig mir nach, die gern Andrea genannt werden möchte, «weil ich doch eigentlich gar nicht hierher gehöre». Sie sagt, sie sei erst seit einer Woche hier, Jochen habe sie geholt, als sie aus dem Entzug der Bezirksklinik geschmissen wurde. «Wir hier gelten als das Letzte», sagt Andrea, «aber einen wie ihn gibt es draussen nicht. Er kocht für alle und teilt, was er hat. Wir hier sind wie Familie.» Familie. Was bedeutet das überhaupt? Die Frage hält mich wach, als ich im Bett meines alten Kinderzimmers liege. Ich denke an Jochen, der im Brauerei-Shirt vor mir sass, den Rücken gekrümmt, umgeben von Wäsche, Schmutz und leeren Bierflaschen. Drei Tage später: Seine Schwester, meine Oma, eröffnet das Gespräch mit: «Ich bin ein Familienmensch» und erklärt mir dann, dass es ihr egal wäre, wenn ihr Bruder stürbe. Wir sitzen am Holztisch ihrer Vier12

zimmerwohnung, sie hat Kaffee gekocht, Kuchen gekauft und vor wenigen Minuten den Namen ihres jüngsten Bruders ausgesprochen – zum ersten Mal seit dreissig Jahren. «Jochen.» Seitdem beginnt sie fast jeden Satz mit «der Gammler», als könne sie durch Beschimpfung den Namen erneut begraben.

«Einen wie ihn gibt es draussen nicht. Er kocht für alle und teilt, was er hat.»

Keine schöne Kindheit «Der hat zu viele Wohltaten durch die Verbrennungen erfahren», sagt sie und erzählt, dass ihr anderer Bruder, Wolfgang, als Zwölfjähriger mit einem Freund rauchen wollte. Sie kauerten sich unter einen Holzstapel im Garten und stopften Holzwolle zwischen die Ritzen, damit kein Rauch nach aussen drang. Jochen war nicht älter als fünf und Wolfgang sollte auf ihn aufpassen, also nahm er ihn mit. «Ich sehe ihn noch heute. Die Haut hängt in Fetzen von Armen, Beinen. Bis zum Eingang der Klinik hab ich es gehört, als sie seine Verbände gewechselt haben. Er hat so laut gebrüllt.» Aber wieso dann Gammler? Die Eltern hätten ihm nach den Verbrennungen regelrecht verboten, mit anzufassen, und er habe es sich im Nichtstun gemütlich gemacht. Für sie sei das abgeschlossen. Wolfgang könne ja noch etwas erzählen.

ANDREA

Wolfgang lebt in einem Einfamilienhaus mit kleinem Garten, etwa vierzig Minuten Autofahrt entfernt von Jochens Wohncontainer. Als wir auf der Terrasse sitzen, sagt er über seine Schwester: «Sie ist ein Feingeist.» Und Jochen? «Mit so etwas möchte ich nicht herabgewürdigt werden, auch wenn es mein leiblicher Bruder ist.» Als Flüchtlinge seien die Geschwister in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, zwölf Quadratmeter für die ganze Familie. Der Vater sei jähzornig gewesen und habe getrunken, die Mutter habe sich nicht durchsetzen können. «Wir hatten keine schöne Kindheit, deine Oma und ich.» An Surprise 494/21


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seine Sätze hängt er oft ein «deine Oma und ich», als hätte es nur zwei Kinder gegeben. Wie war euer Verhältnis? «Wir haben uns immer gut verstanden», antwortet er und erzählt, seine Schwester habe sich manchmal mit einem Verehrer eingeschlossen und das Radio aufgedreht – «zum Schmusen». Er habe Wache gehalten. Und Jochen? «Mit dem haben wir leben müssen. Er hat immer wieder ein paar hinter die Ohren gekriegt, wenn er nicht gespurt hat. Das war für uns Erziehung.»

«Er hat immer wieder ein paar hinter die Ohren gekriegt, wenn er nicht gespurt hat. Das war für uns Erziehung.»

«A-weng a Arschloch» Im Arbeitszimmer meiner Oma hängt ein Bild, auf dem sie Josef Neckermann, dem legendären Firmengründer, die Hand schüttelt. Wolfgang wurde eine Auszeichnung des bayerischen Ministerpräsidenten verliehen. Es sind Symbole für den Aufstieg der beiden, heraus aus dem Elend ihrer Flüchtlingskindheit. Bei Jochen hängt ein Tuch überm Bett, von dem ein Indianer-Gesicht auf Bettwäsche, Bierflaschen und Hustenbonbons lächelt. Zwei Tage später sitze ich wieder bei Jochen in seinem Zimmer, Andrea ist auch da. Beide sind müde von der letzten Nacht – Party in Blechhüttenstadt. «Beim Feiern sauf ich immer zu viel. Ich bin halt a-weng a Arschloch», sagt Jochen.

WOLFGANG

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«Was bist du?», fragt Andrea. «Ein Aaaarschloch!» «Quatsch, Onkel Jochen! Du bist quasi mein Adoptiv-Papa!» «Na dann gut Nacht, schöne Welt.» «Was hast du heut früh zu mir gesagt, was ich für dich bin?» «Ist ja gut. Mei Töchterla.» Andrea grinst. Auch Jochen lächelt. Ein paar Stunden später stehen wir an der Einfahrt zur Containersiedlung und verabschieden uns. Morgen will er für alle Bewohner gefüllte Paprika kochen, am Sonntag Klösse. Jochen, da ist noch etwas, beginne ich. Er dreht sich zu mir und seine

grauen Brauen heben sich überrascht. «Was?» Ich zögere. In meiner Vorstellung ist er enttäuscht, schreit mich an. «Die Schwester, von der du erzählt hast – das ist meine Grossmutter.» Für einen Moment bleibt er still. «Meine Schwester hatte Probleme mit dem Herz, hab ich gehört. Geht’s ihr gut?» Seine Stimme bleibt ruhig. Er weiss, wo seine Schwester lebt und dass meine Mutter ein Ehrenamt ausübt. «Weisst du, ich bin halt das schwarze Schaf. Aber ich darf doch informiert bleiben.» Erst als er sich später wegdreht und zu den Containern läuft, schüttelt er den Kopf und murmelt vor sich her: «Das gibt’s ja nicht! Jetzt ist der mit mir verwandt ...» Jochen und ich schreiben uns, schicken Bilder und erzählen aus dem Alltag. Meinen Eltern und Oma erzähle ich, dass er ein guter Mensch ist, der für jeden ein Bier übrighat oder einen guten Rat. Sie glauben mir, sagen sie. In der Familie wollen sie ihn trotzdem nicht. Bin ich in der Heimat, schaue ich bei ihm vorbei. Jeder Besuch beginnt etwa gleich: Ich klopfe an einem der Fenster, er fragt mürrisch von drinnen, wer etwas wolle. Dann sieht er mich und lacht. Meistens reden wir über Politik oder über eine Doku, jeden Tag sieht er eine – «weil ich nicht blöd werden will». Surprise 494/21


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6 Der hohle Fels: Hierher kam Jochen als Jugendlicher, trank Bier und quatschte mit Freunden. 7 Beim Einkaufen begegnet er zuweilen der Schwester. Sie nicken sich dann zu. 8 Für Jochen war Lichtenfels schon früh zu klein und eng, es zog ihn in die weite Welt – und doch kam er zurück.

Einmal erzählt er mir, er habe mit dem Rauchen aufgehört. Auch trinken wolle er weniger. «Ich will ja noch ein wenig leben.» Der Tabakgeruch wirkt tatsächlich weniger aufdringlich. Statt Bier stehen Wasserflaschen auf dem Tisch. Wie immer fragt er, wie es seiner Schwester gehe und dem Rest der Familie. Ich erzähle. Er kramt in einem Regal und sagt: «Ich hab noch was für dich». Jochen hält mir einen kleinen Stapel Bilder hin, leicht ausgeblichen, aber frei von Staub. Auf einem der Bilder sind zwei Mädchen zu sehen, erst ein paar Jahre alt, auf anderen Fotografien sind sie älter, vielleicht dreizehn, sie tragen Kleider und halten Blumen. Eines zeigt eine Dame um die dreissig. «Das sind deine Mutter und ihre Schwester, als sie klein waren. Die Frau ist deine Oma. Eins muss man ihr lassen, elegant war sie schon immer.» «Jochen», beginne ich, «was ist denn passiert?» «Weisst du», sagt er und sieht mir in die Augen, «ich habe richtig grosse Scheisse gebaut.» Nach der Ausbildung lief es nicht so gut mit dem Job und den Kollegen, und als es gar nicht mehr lief, habe er sich mit Aushilfsjobs durchgeschlagen. Einmal sollte er auf die Wohnung meiner GrossSurprise 494/21

eltern aufpassen. Er sah sich um und entdeckte in einem Schrank zwei Scheine, je 500 D-Mark. «Ich habe mich gefühlt wie ein Schatzsucher. Ich hatte noch nie so viel Geld gesehen!» Jochen gestikuliert, ringt mit den Worten. Dann lässt er die Schultern sinken: «Ich hab’s eingesteckt. Damals dachte ich, für die ist das ja nix. Das war scheisse, ich hab meine eigene Schwester bestohlen.» Das war der Moment, als seine Geschwister beschlossen: Den kennen wir nicht länger. Jetzt hört Jochen nicht mehr auf zu reden. Er erzählt, wie er zurück nach Lichtenfels kam, als seine Mutter zum Pflegefall wurde. Gelegenheitsjobs statt fester Arbeit, schwieriges Verhältnis zum trinkenden Vater. Irgendwann brach er sich den Lendenwirbel, vor der Operation fragte der Arzt nach einem Kontakt zur Familie. Jochen nannte seine Schwester. Ich habe keinen Bruder, sagte diese am Telefon und legte auf. Von da an lief es schlecht bei Jochen. Zuerst keine Arbeit mehr, dann keine Mutter, irgendwann auch keinen Vater. Er musste raus aus der Wohnung, die Stadt schickte ihn in die Container. «Ich habe keinen Bruder», wiederholt Jochen leise. Er sagt es in einem Ton, irgendwo zwischen verwirrt und unsicher.

Seit er von unserer Verbindung weiss, spricht er nicht mehr von der «buckligen Verwandtschaft», sondern nennt die Namen und erinnert mich sogar an Geburtstage – «Da musst du dran denken!» Als ich ihn frage, wieso er das alles noch auswendig weiss, antwortet er. «Mein Hirn ist geeicht für Daten in der Familie.» Nur an den eigenen Geburtstag erinnert er sich nicht, ich bringe trotzdem selbstgebackenen Zitronenkuchen. «Du bist ja tatsächlich da!», freut er sich. Wir sitzen zu zweit in seinem Zimmer und trinken Kaffee. Er habe wieder angefangen, mit Bier und Zigaretten, das ärgere ihn ein wenig. Andrea von gegenüber habe sich inzwischen von ihrem Freund getrennt – vielleicht besser so, sie sei ein kluges Mädel. Am Tag danach schickt er mir eine Nachricht, zum ersten Mal endet sie mit «Dein Grossonkel Jochen».

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Auf den Schultern der Betagten Altersarmut Jahrelang konnten armutsbetroffene ältere Menschen im Kanton Bern unkompliziert einen Steuererlass beantragen. Damit soll nun Schluss sein. TEXT  SIMON JÄGGI

Wer in der Schweiz unter dem Existenzminimum lebt, gilt chenden Gemeinden hat sich absolut nichts geändert», als arm. Besonders häufig von Armut betroffen sind Sesagte sie 2017 gegenüber dem SRF Regionaljournal. Ein nior*innen. Im Kanton Bern lebt gemäss Angaben von Pro Jahr später antwortete auch der Regierungsrat auf eine Senectute jede*r Achte an der Armutsgrenze. «Für viele Nachfrage von SP-Grossrätin Ursula Marti, die Praxis habe Betroffene wird es finanziell immer schwieriger», sagt sich nicht geändert. Wie Recherchen von Surprise nun Daniela Krebs, Sozialberaterin bei Pro Senectute Liebezeigen, waren diese Aussagen zumindest unvollständig. feld. Mit ihrer Aussage steht sie nicht alleine da. BeraTatsächlich hat die kantonale Steuerbehörde die Praxis tungsstellen im gesamten Kanton berichten, dass sich die bei Gesuchen um Steuererlass gemäss Artikel 41 stillfinanzielle Situation für alte Menschen verschärft. Insschweigend verschärft. «Damit die Beurteilung der Anbesondere eine Entwicklung erträge im ganzen Kanton einheitfüllt viele Berater*innen mit Sorge: lich und korrekt gehandhabt wird, Bis vor wenigen Jahren konnten wurden die Abläufe der damit betrauten Stellen entsprechend anarmutsbetroffene Personen, die Ergänzungsleistungen beziehen, gepasst», sagt Tanja Bertholet von ein vereinfachtes Gesuch um Steuder kantonalen Steuerverwaltung. ererlass stellen. Bis zu 26 000 ErDabei handle es sich jedoch nicht lassgesuche gewährte der Kanton um eine Praxisänderung oder jährlich. Damit soll es nun vorbei eine Verschärfung, betont Berthosein. Seit 2017 hat der Kanton die let. Doch die Zahlen zeigen einen Kriterien für diesen Steuererlass eindeutigen Trend. 2010 bewilvon der Öffentlichkeit unbemerkt ligte der Kanton noch 54 Prozent aller neu eingereichten Gesuche verschärft. Diese Entwicklung hat eine Vorum Steuererlass, seither ging die geschichte: Bereits im Dezember Gutheissungsquote kontinuier2017 berichtete der «Kassensturz» lich zurück und brach in den verüber den Fall einer armutsbetroffegangenen drei Jahren regelrecht nen Seniorin aus Hilterfingen am ein. 2019 bewilligte der Kanton Thunersee, die von einem Jahr auf gerade noch 13 Prozent aller neu das andere den Anspruch auf Steueingereichten Gesuche. ererlass verloren hatte. Yvonne H. lebte damals von ihrer AHV-Rente Unter dem Existenzminimum und von Ergänzungsleistungen, toAuslöser der Verschärfung war tal standen ihr pro Monat 2950 eine interne Überprüfung, die bereits vier Jahre zurückliegt. «Dabei Franken zur Verfügung. Darüber hinaus erhielt sie Prämienverbillistellten wir fest, dass die Gemeingung. Nach Abzug der Miete und den die Gesuche um Steuererlass MARCEL SCHENK , der restlichen Krankenkassenpränicht einheitlich prüfen», sagt Anmien blieb ihr unter dem Strich gel Luaces, zuständiger KoordiLEITER PRO SENECTUTE K ANTON BERN nicht mehr viel, zum Leben reichte nator bei der kantonalen Steueres knapp. Während vieler Jahre verwaltung. Dafür muss man hatte ihr der Kanton die Steuern erwissen, wie das System funktiolassen. Doch mit einem Mal lehnte der Kanton ihr Erlassniert: Die Gemeinden machen eine Vorabklärung und gesuch ab, und die mittellose Rentnerin musste 1000 leiten das Erlassgesuch dann an die kantonale Behörde Franken Steuern bezahlen. weiter, die final darüber entscheidet. In der Vergangenheit Bereits damals berichteten Beratungsstellen von einer orientierten sich bei der Vorprüfung viele Gemeinden am zunehmend härteren Gangart der kantonalen Steuerbesozialen Existenzminimum. Personen, die ein Anrecht hörden. Doch BDP-Finanzdirektorin Beatrice Simon beauf Ergänzungsleistungen haben, leben unter diesem stritt diesen Sachverhalt gegenüber den Medien vehement. Existenzminimum und erhielten deshalb in der Regel «An der Praxis der Steuerverwaltung und der entspreeinen Steuererlass.

«Am Ende können alte Menschen die Steuern nicht bezahlen, werden betrieben und müssen sich die Steuern vom Mund absparen.»

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Aus Sicht des Kantons haben damit viele Gemeinden sowie die kantonalen Veranlagungsbehörden ausserhalb der Bestimmungen gehandelt. Denn massgebend für den Steuererlass sei nicht das soziale, sondern das «betreibungsrechtliche Existenzminimum», das tiefer angelegt ist, sagt Angel Luaces. So ist es auch in der entsprechenden Verordnung festgehalten. «Dieser Grundsatz für den Steuererlass wurde in der Vergangenheit nicht konsequent berücksichtigt.» Deshalb hat der Kanton die Abläufe angepasst und die Gemeinden instruiert, die Gesuche künftig gemäss der Verordnung zu prüfen. Keine Chance auf Steuererlass? Das Vorgehen der Behörde stösst verbreitet auf Kritik. Marcel Schenk, Leiter Pro Senectute im Kanton Bern, sagt: «Pro Senectute hatte bisher keine Kenntnis von diesen Verschärfungen.» Auf entsprechende Anfrage sei von der kantonalen Steuerverwaltung immer wieder betont worden, dass die Praxis bei der Behandlung der Steuererlassgesuche nicht geändert worden sei. Die Anpassungen des Kantons würden die alten Menschen hart treffen. Es sei unverständlich, so Schenk, dass der Staat mit der einen Hand Ergänzungsleistungen ausrichtet und diese mit der anderen Hand wieder einkassiert. Auch SP-Grossrätin Ursula Marti reagiert mit Unverständnis. «Der Kanton bringt jene Gemeinden von der Praxis ab, die Verständnis für armutsbetroffene Alte haben. Dabei bräuchte es gerade mehr Entlastung für ältere Personen in prekären finanziellen Situationen.» Sie möchte das Thema in einer Interpellation nochmals aufgreifen.

Selbst der Verband Bernischer Steuerverwalterinnen und Steuerverwalter (VBSS) kritisiert das Vorgehen des Kantons deutlich. «Bisher hatten die Gemeinden einen gewissen Ermessensspielraum», sagt Moritz Jäggi, Vorstandsmitglied und Leiter der Steuerverwaltung Stadt Bern. «Das ist mit den neuen Bestimmungen nun vorbei.» Wenn jemand auch nur 100 oder 150 Franken über dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum liege, habe er keine Chance mehr auf einen erleichterten Steuererlass. «Dabei war es gerade die Idee des Artikels 41, dass betagte Leute, die ohnehin mit der Bürokratie überfordert sind, einfach und unkompliziert einen vorzeitigen Erlass beantragen können.» Der VBSS hatte bei der Steuerbehörde erfolglos gegen die Praxisänderung interveniert. Die kantonale Steuerverwaltung kennt die Kritik, sah aber nach eigener Aussage keine andere Möglichkeit. «Wir haben die Pflicht dafür zu sorgen, dass das Gesetz eingehalten wird», sagt Angel Luaces von der kantonalen Steuerverwaltung. «Die Gleichbehandlung ist im Steuerrecht ein wichtiger Grundsatz. Das funktioniert nur, wenn alle Gemeinden dieselben Kriterien anwenden.» Aufgrund der jetzt deutlich höheren Hürden rechnet man bei der Steuerverwaltung damit, dass die Zahl der bewilligten Gesuche in den nächsten Jahren weiter sinken wird. Womöglich wird der erleichterte Steuererlass aber auch ganz abgeschafft. Der VBSS hat beim Kanton den Antrag gestellt, den Artikel 41 zu streichen. «In der jetzigen Form hat er seinen ursprünglichen Sinn komplett verloren», so Moritz Jäggi. Die Steuerbehörde will diesen Schritt im Rahmen der nächsten Gesetzesrevision prüfen.

Gewährte Neueinreichungen pro Jahr (in Prozent) 60

53,6 % 50

1928

46 %

49,2 % 1844

1933

47,2 % 1780

46,2 % 1657

39,0 %

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37,6 % 1264

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24,7 % 895 20

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13,7 % 356

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Geteilte Einsamkeit Corona Schon vor der Pandemie fühlte sich jede dritte Person einsam. Nun stellt

sich die erste digitale Selbsthilfegruppe der Schweiz dem entgegen. TEXT  SEBASTIAN SELE ILLUSTRATIONEN  CLAUDIO NÄF

Da sitzen sie also, an einem Freitag um 19 Uhr, vor ihren Bildschirmen irgendwo in der Schweiz. Diego Huber*, 66, Aargau: «Es mag überheblich klingen, aber ich habe im Coronajahr gemerkt, dass ich ein wertvoller Mensch bin.» Oder Andreas Wehrli*, 65, Berner Seeland: «Als mir eine Selbsthilfegruppe ans Herz gelegt wurde, war ich skeptisch. Probleme habe ich genug. Wieso sollte ich mir auch noch diejenigen anderer anhören?» Und Tom Burri, 50, Geschäftsleiter der Luzerner Selbsthilfe: «Auch in meinem Leben ist Einsamkeit ein Thema, daher bringe ich mich in dieser Gruppe aktiver ein.» Weitere Rechtecke poppen auf, weitere Gesichter kommen in der Videokonferenz hinzu. Man grüsst sich, teils mit Spitznamen, öffnet Getränke. Man kennt sich. Tom Burri moderiert. «Was hat euch in dieser Woche beschäftigt?», fragt er. «Welche Themen wollt ihr heute besprechen?» – «Ödnis», schallt es aus der Runde zurück, jeder Tag gleiche einer Kopie des vorhergehenden. Ebenso: «Panikmache in den Medien», «fehlende persönliche Kontakte», «Vereinsamung» – und irgendwann fällt ein «scheiss Corona». Eine Teilnehmerin hält ein Foto in die Kamera. Ein Geschenk, das sie von einem anderen Teilnehmer geschickt bekommen hat. «Das beste meiner Bilder», sagt dieser, und dass er es auch in Posterformat für seine Tochter drucken lasse – die wichtigste Person in seinem Leben. Einsamkeit ist kein neues Problem. Schon vor der Pandemie erreichten die Selbsthilfe Luzern Obwalden Nidwalden viele Anfragen. «Sehr viele», schiebt Burri nach. 2017 sagte mehr als jede dritte Person in der Schweiz über sich selbst, sie fühle sich einsam. Fünf Prozent gaben sogar an, sich häufig oder sehr häufig einsam zu fühlen. Surprise 494/21

Vor allem diese chronische Einsamkeit ist gefährlich, sie erhöht laut Neurowissenschaftler*innen die Wahrscheinlichkeit für einen verfrühten Tod um zwanzig Prozent. Manche gehen gar davon aus, sie sei so schädlich wie das Rauchen von fünfzehn Zigaretten pro Tag. Doch Selbsthilfegruppen für Einsame, die Bestand hatten, gab es in der Schweiz bisher kaum. «Einsamkeit ist sehr komplex», sagt Burri. Damit eine Selbsthilfegruppe funktioniere, brauche es vor allem eines: eine gemeinsame Identität. Eine solche zu generieren ist immer schwierig, wenn Unbekannte aufeinandertreffen. Und es wird noch schwieriger, wenn die Beweggründe hinter den Anfragen derart verschieden sind: Manche leiden unter Kontakthemmungen, andere an Social-Media-Sucht, wieder andere haben keine Angehörigen mehr oder finanzielle Engpässe. Erst mit Corona, sagt Burri, kam der Nenner, der sie alle vereint. Seit März trifft sich die zwölfköpfige Gruppe mit dem Namen «Einsamkeit und Isolation» wöchentlich per Video. An diesem Freitag sind sechs von ihnen dabei. Ein schleichendes Gefühl Die Einsamkeit, sagt Diego Huber, zugeschaltet aus einer 4,5-Zimmer-Wohnung, die er seit dem Tod seiner Frau vor vierzehn Jahren alleine bewohnt und jeweils freitags gründlich putzt, sei ein schleichendes Gefühl. «Die Gedanken werden speziell», es habe etwas von Kopfschmerzen, aber nicht so richtig. Wenn es so weit sei, dann wisse er inzwischen: «Jetzt möchte ich mit jemandem sprechen.» Huber hat sich Strukturen geschaffen, um diesem Gefühl vorzubeugen. Jede zweite Woche: Männergruppe. Immer samstags: Veloclub. Und hat er drei Tage lang mit niemandem gesprochen, 19


was einmal wöchentlich vorkommen kann, ruft er die Telefonseelsorge der Dargebotenen Hand an. «Man muss dort nicht jammern, man kann auch einfach plaudern.» Als der erste Lockdown nicht nur am Selbstverständnis der Schweiz, sondern auch an Hubers Strukturen zu rütteln begann, bekam der pensionierte Musiklehrer es mit der Angst zu tun. Spanischunterricht: fiel weg. Unterricht für Flüchtlinge: fiel weg. Veloclub: «Alles war weg», erinnert er sich. Bloss die Angst vor neuerlichen depressiven Episoden, die kam. Freitag, kurz nach 19 Uhr. «Wir möchten nicht nur Probleme ansprechen, sondern auch Möglichkeiten», moderiert Burri. Er verweist auf Huber und die Sprachkurse, die dieser inzwischen virtuell besucht: Englisch, Spanisch, Französisch. «Diego», fragt Burri, «könnten wir alle etwas mutiger sein?». Und Huber erzählt: von seinem Drang, Neues auszuprobieren und von den konkreten Zielen, die er sich gesetzt habe. «Ich möchte fliessend zwischen den Sprachen wechseln können.» Aber Ratschläge möchte er keine geben. Der Antrieb, sagt er, müsse aus jedem Menschen selbst kommen. Eine Teilnehmerin signalisiert mit Handzeichen, dass sie zu Wort kommen möchte: «Ich finde es toll, wie respektvoll Diego das gesagt hat.» Gemäss einer soziologischen Studie der Hochschule Luzern von 2017 zur Selbsthilfe in der Schweiz nutzten damals 43 000 Menschen diese Angebote und die Anzahl von Selbsthilfegruppen hatte sich in den fünfzehn vorangehenden Jahren verdoppelt. Die 2560 bestehenden Gruppen decken 280 verschiedene Themen ab, jedes vierte davon ein sogenanntes soziales Thema: Armut, Hochsensibilität, Einsamkeit. Besonders bei diesen sei die Nachfrage stark gestiegen. «Gesellschaftliche Änderungen spie20

geln sich rasch in der Selbsthilfe wieder», sagt Burri. Als Donald Trump an die Macht kam, stiegen die Anfragen zu Narzissmus. Als sich Greta Thunberg aufmachte, der Welt die Leviten zu lesen, jene zu Autismus. Die Luzerner Studie schaute auch an, wie Selbsthilfe organisiert ist. Obwohl Selbsthilfegruppen kostengünstige und niederschwellige Ergänzungen im Sozial- und Gesundheitswesen bieten, sind sie weder gesetzlich verankert noch nachhaltig finanziert. Die Kosten tragen Spender*innen und die Teilnehmenden, auch die Kantone steuern Geld bei. Doch lediglich in Basel-Stadt ist Selbsthilfe kantonal gesetzlich geregelt. Anders in Deutschland: Dort sind die Krankenkassen verpflichtet, pro versicherte Person etwa einen Euro für die gemeinschaftliche Selbsthilfe zur Verfügung zu stellen. Für die Teilnahme an der Einsamkeitsgruppe bezahlen weder Diego Huber noch Andreas Wehrli etwas. «Sie ist ein Pilotprojekt und braucht keinen eigenen Raum», sagt Burri. Grundsätzlich sind Selbsthilfegruppen für die Teilnehmer bis auf die Raummiete kostenlos. Anfängliche Skepsis Andreas Wehrli war, bevor es zum Mobbing, den psychischen Problemen und dem Abstellgleis auf dem Arbeitsmarkt kam, Lehrlingsbetreuer in der Versicherungsbranche. Seiner anfänglichen Skepsis gegenüber Selbsthilfegruppen stand das Vertrauen zu seiner psychologischen Begleiterin gegenüber. «Ich weiss, dass sie mein Bestes möchte», sagt er, daher habe er auf ihren Rat gehört und sich darauf eingelassen. Das war im Frühjahr 2020. Inzwischen sieht sich Wehrli als Animateur der Einsamkeitsgruppe und übernimmt auch selbst die Moderation. Surprise 494/21


Anders als Huber, der pensionierte Musiklehrer, bringt Wehrli öfter eigene Themen ein. Er weiss, dass sich seine Ängste manchmal über die Realität stellen können. «Gibt es tausend Möglichkeiten, sehe ich jeweils die schlimmste.» Andere Perspektiven und Strategien auf Alltagsfragen helfen, dass die Ängste nicht überhandnehmen. Er möchte etwa wissen, wie andere die Weihnachtstage verbringen oder wie sie mit dem Einkauf umgehen. Früher habe er mehr Strategien gehabt, mit dem Alleinsein umzugehen. «Ich habe mich in Arbeit gestürzt, war auf Reisen, habe Freunde besucht.» Doch das sei alles weggebrochen: die Arbeit wegen der psychischen Probleme, die Freunde wegen des fehlenden Geldes. «Irgendwann konnte ich finanziell nicht mehr mit ihnen mithalten.» Wehrli verlässt das Haus nur noch in Ausnahmesituationen, etwa für Arzttermine. Oder wenn der «Revoluzzer» durchdringt, wie er sagt, und er selbst einkaufen geht. Denn jemanden zu finden, der die Einkäufe übernimmt, wurde in der zweiten Welle schwierig bis unmöglich. Man habe jeweils das Gefühl, die Schweiz sei ein soziales Land. Wenn man ganz unten angekommen sei, möge das zutreffen, meint Wehrli. Aber auf den Stufen davor? Jahr für Jahr stiegen die Ausgaben an, nicht aber die Einnahmen. «Offiziell sind wir frei, aber materiell sind wir stark eingebunden.» Merken, was man hat Freitag, gegen 20 Uhr. Wehrli spricht über die Familie, die er nicht hat, und die Vorwürfe, die er sich deswegen macht. «Ist man ganz ehrlich zu sich selbst, wünscht man sich Kinder.» Ein Handzeichen, eine andere Perspektive: «Ich hatte nie den Mut, die Verantwortung für Kinder zu übernehmen», sagt jemand. Durch Surprise 494/21

Corona merke man erst, was man wirklich habe und was eben nicht. Auch er habe Angst vor der Geburt seines Kindes gehabt, sagt ein anderer, aber irgendwann sei es eben passiert. «Und es war der schönste Moment meines Lebens.» Es habe Mut gebraucht, die Gruppen virtuell umzusetzen, sagt Burri, der Geschäftsleiter. Es habe bereits Selbsthilfechats gegeben, aber dass man auf offiziellem Weg unbekannte Leute im Internet ihre intimsten Sorgen und Ängste teilen lässt, das sei neu gewesen. Auch anderes war ungewohnt: Üblicherweise treffen sich Selbsthilfegruppen monatlich, die Teilnehmer der Einsamkeitsgruppe aber wollten sich wöchentlich sehen. Und Burri, der üblicherweise nach drei Einführungsrunden die Gruppen wieder verlässt, blieb dabei. Auch wenn er es brauche, alleine zu sein und ein grosses Beziehungsnetz pflege: «Einsamkeit ist auch in meinem Leben ein Thema.» Die Einsamkeitsgruppe hat sich inzwischen auch abseits der Treffen organisiert: In Eigeninitiative kam eine WhatsApp-Gruppe hinzu. «Fühlt sich jemand einsam», sagt Wehrli, «findet man dort jemanden zum Telefonieren.» Und Huber meint: «So können die fehlenden physischen Kontakte gut kompensiert werden.» Freitag, kurz vor 20.30 Uhr. «Auf was freut ihr euch, wenn wieder Normalität einkehrt?», fragt Burri abschliessend. «Ein richtiges Abendessen mit gutem Wein», kommt es zurück. «Ins Café gehen», «die wöchentliche Käsewähe im Tea House», «Konzerte im Keller», «die liebste Freundin in den Arm zu nehmen». Die Träume sind individuell, in einem aber sind sich alle einig: Es hat wieder einmal gutgetan, sich auszutauschen. Aus der Einsamkeit, die wildfremde Menschen zusammengebracht hatte, wurde eine Gemeinschaft. Ein Wermutstropfen aber bleibt. «Jene, die wirklich isoliert sind, erreichen wir mit unseren Angeboten nicht», sagt Burri. Inzwischen hat mehr als jede zweite Person in der Schweiz Angst davor, einsam zu sein. * Name geändert

Hilfe gegen die Einsamkeit Möchten Sie mit jemandem sprechen, wissen aber nicht, mit wem? Selbsthilfegruppen zu Themen wie Einsamkeit, Existenz­ängsten oder Long Covid finden Sie unter www.selbsthilfeschweiz.ch. Die Dargebotene Hand erreichen Sie telefonisch unter 143 oder online auf www.143.ch, Pro Mente Sana unter 0848 800 858. Jugendliche können sich telefonisch an die 147 oder den Chat auf www.147.ch wenden.

Hintergründe im Podcast: Über seine Recherchen zur Geschichte spricht Sebastian Sele im Podcast mit Simon Berginz. Mehr auf: surprise.ngo/talk 21


Verbot für 30 Frauen Verhüllungsverbot Warum zeigen manche Frauen ihr Gesicht nicht? Diese Frage irritiert so sehr,

dass eine Debatte über Frauenrechte entbrannt ist. Dabei gibt es einleuchtende Antworten. TEXT  ANDRES EBERHARD

Kürzlich machte sich ein Forscher die Mühe, sie zu zählen. Zwidem Wissenschaftler politischer Gegenwind entgegen. Die Weltschen 21 und 37 Frauen tragen hierzulande Gesichtsschleier, so woche verunglimpfte seine Untersuchung, tags darauf warf ihm das Fazit seiner Untersuchung. Zum Vergleich: In der Schweiz Initiant und SVP-Nationalrat Walter Wobmann im Tages-Anzeileben gegen 200 000 muslimische Frauen. Nun stimmt am 7. ger mangelndes Fachwissen vor. März die ganze Schweiz darüber ab, ob ihnen dieser Teil ihres Tunger-Zanettis Schlussfolgerungen sind wissenschaftlich Gewandes verboten wird. jedoch breit abgestützt. So haben Wissenschaftler*innen aus Wer sind die verhüllten Frauen? Warum zeigen sie ihr Gesicht ganz Europa dazu schon zahlreiche Frauen interviewt. Am umnicht? Darauf kennt kaum eine*r die Antwort. Denn mit Ausfangreichsten ist die Langzeitbegleitung der französischen Sonahme von Nora Illi, der in Fernsehshows bekannt gewordenen ziologin Agnès De Féo, die für ihr kürzlich erschienenes Buch «Derrière le niqab» mit 200 Niqab-Trägerinnen in Frankreich und vor einem Jahr verstorbenen Zürcher Konvertitin, trat keine gesprochen hat. Es handle sich bei den allermeisten um «westFrau mit Niqab (wie das Kleidungsstück auf Arabisch heisst) regelmässig öffentlich in Erscheinung. liche Frauen ihrer Zeit, die weder von den Männern noch von der Wo keine Fakten bekannt sind, kursieren Bilder: vor allem Salafisten-Szene unter Druck gesetzt werden.» Nur zwei von jenes der hilflosen Frau, unterdrückt von ihnen rutschten ins extremistische Milieu ihrem Mann oder Vater aus dem extremisab – beide radikalisierten sich, nachdem tischen Milieu. Gezeichnet wird es von den Frankreich vor zehn Jahren ein VerhülInitianten des Verhüllungsverbots, dem lungsverbot beschlossen hatte. SVP-nahen Egerkinger Komitee. Dieses lancierte im Jahr 2009 bereits die MinaKein Zwang rettinitiative und wirbt mit dem Slogan Zum fast identischen Schluss kommen «Stopp der Islamisierung der Schweiz» Untersuchungen aus Belgien (27 Interoffen für Ausgrenzung. Nun argumentieviews: «Gesichtsschleier für die meisten ren die vorwiegend alten Männer aus dem eine autonome Entscheidung»), Holland Komitee mit angeblich demokratischen (20 Interviews: «Frauen distanzierten sich Argumenten. Das Kleidungsstück greife deutlich davon, dass sie physisch oder sogleich mehrere Grundwerte an: Freiheit. zial unter Druck gesetzt worden seien») Gleichberechtigung. Sicherheit. und Dänemark (8 Interviews: «Alle Frauen Nicht einmal Gegner*innen der Initisprachen von einer freien Entscheidung, ative bestreiten grundsätzlich das orienANDREAS TUNGER-Z ANE T TI bezeichneten es als ihren eigenen mutigen talistische Bild der schwachen Frau, die und unabhängigen Schritt»). In Grossbriihr Äusseres wegen ihrer patriarchalitannien (122 Interviews) war der am häuschen Familie nicht zeigen darf. Eher argumentieren sie, ein figsten genannte Grund für die Verschleierung die Freiheit. Eine Verbot sei die falsche Lösung. So sagte SP-Nationalrat Fabian junge Engländerin bezeichnete den Schritt bei der Befragung als Molina in der «Arena», dass man «Frauen, die dazu gezwungen «eine Befreiung aus einer westlichen Perspektive», da sie sich werden, einen Niqab zu tragen, nicht hilft, wenn man sie zu Tänun «nicht mehr darum kümmern muss, wie mich die Leute anterinnen macht». schauen und was sie von mir denken. Sie können mich nicht mehr Doch das Bild der unterdrückten Muslima ist falsch. Das sagt nach dem Äusseren beurteilen. Alles was zählt, ist was ich sage Andreas Tunger-Zanetti, Islamwissenschaftler an der Universität und was ich denke.» Luzern – jener Forscher, der die Zahl der Niqab-Trägerinnen in Und in der Schweiz? Kann es sein, dass hier alles anders ist? der Schweiz geschätzt hat. In seinem Buch «Verhüllung» schreibt Anruf bei Mira Menzfeld. Die deutsche Ethnologin betreibt Felder, dass sich die allermeisten Frauen in Westeuropa und so auch forschung über Salafist*innen – das heisst, dass sie Menschen in der Schweiz aus freien Stücken heraus dafür entscheiden würprivat trifft, die einer sehr strengen Auslegung des Islams folgen. den, den Niqab zu tragen, manchmal sogar gegen den Willen von Derzeit arbeitet Menzfeld als Gastforscherin am ReligionswisEhemann oder Vater. Es handle sich fast ausschliesslich um senschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Sie hat GespräFrauen, die hier sozialisiert worden sind. che mit mehreren Schweizer Niqab-Trägerinnen geführt, drei Mit dem Buch erlangte Tunger-Zanetti mediale Bekanntheit. davon begleitet sie schon sehr lange. «Keine Einzige wurde geDer Bundesrat übernahm die Argumente des Luzerner Forschers, zwungen, den Niqab zu tragen», sagt die Ethnologin. «Diese um die Initiative zur Ablehnung zu empfehlen. Daraufhin wehte Frauen haben sich alle sehr bewusst dafür entschieden.» Diese

«Kleidungsfreiheit ist auch Meinungsfreiheit. Kein Patriarch lässt sich umstimmen, wenn die Schweiz ein Niqab-Verbot einführt.»

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Kommentar

Willige Beute

Freiwilligkeit sei für Salafist*innen sogar extrem wichtig. «Es gilt als Heuchelei, den Niqab nicht aus voller persönlicher Überzeugung zu tragen», so Menzfeld. Motive seien häufig schlechte Erfahrungen mit Männern, der Wunsch, nicht bewertet zu werden oder jener, eine gute Muslima zu sein. Bei den Frauen handle es sich entweder um Konvertitinnen oder um Rekonvertitinnen, fast alle mit Schweizer Pass. Die Sache ist also relativ klar. Es gibt keine Frauen, die in der Schweiz leben und dazu gezwungen werden, ihr Gesicht zu verhüllen. Das sagt noch nichts darüber hinaus, wie es sich für Frauen in autoritär regierten islamischen Ländern verhält. Dieser Unterschied ist auch Tunger-Zanetti wichtig. «Ein Niqab in Kairo ist nicht dasselbe wie ein Niqab in Luzern.» Er erachtet eine Verhüllung dort als problematisch, wo es eine Pflicht ist, sie zu tragen. «Kleidungsfreiheit ist auch eine Art Meinungsfreiheit.» Um in solchen Ländern etwas zu verändern, müsse man jene Kräfte unterstützen, die sich vor Ort gegen autoritäre und patriarchalische Strukturen auflehnen. «Kein Patriarch lässt sich umstimmen, wenn die Schweiz ein Niqab-Verbot einführt.» In der Schweiz steht ein Nikab, so legt es die Forschung nahe, also eher für eine bewusste Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft, häufig als Phase im Leben einer Frau, die einen eigenen Zugang zur Religion oder Identität gefunden hat. Umgekehrt kommt es vor, dass Muslimas, die in der Heimat Niqab tragen, diesen auf Besuch in Europa ablegen. «Während es in der Heimat sozial üblich oder erforderlich ist, erzeugt es im Westen eine ungewollte Aufmerksamkeit», schreibt die holländische Forscherin Annelies Moor. Was also, wenn die Initiative angenommen wird? Mehr Gleichberechtigung und Freiheit? Nein, sagt die Forschung. Sicherheit? Auch das nicht: Zwei Wissenschaftlerinnen untersuchten, ob ein Verhüllungsverbot vor islamistischen Angriffen schützt. Dafür verglichen sie die Daten aus 27 europäischen Ländern mit einem solchen Verbot und ohne. Das Resultat: Ein Verbot führte schon rein statistisch gesehen zu mehr Terrorismus – vermutlich, weil sich Länder damit erst recht zur Zielscheibe von islamistischen Extremist*innen machten. Es ist gemäss Erfahrungen anderer Länder nicht einmal besonders wahrscheinlich, dass die rund dreissig Schweizer Niqab-Trägerinnen den Schleier abwerfen und ihr «Gesicht zeigen», wie es die Initianten verlangen. Eher werden sie stattdessen zuhause bleiben, das Auto nehmen und falls sie doch einmal in die Öffentlichkeit gehen sollten, angefeindet werden. Als sie befragt wurde, erzählte die 21-jährige Nadjet aus Frankreich, wo der Niqab seit zehn Jahren verboten ist: «Würden die Leute wirklich denken, dass wir unterdrückt und geschlagen werden, dann wären sie traurig oder hätten Mitleid.» Doch davon spürt sie nichts, eher erlebt sie Rassismus. «Was sie für uns haben, ist pure Wut.» Surprise 494/21

Es ist das x-te Mal, dass uns das sogenannte Egerkinger Komitee in eine Debatte reindrängt, die vorgibt, Freiheiten und Werte zu verteidigen, in Wirklichkeit jedoch darauf abzielt, den Islam und die Muslime als fremd und nicht zur Schweiz gehörig zu markieren. Wir sollten die Taktik bereits kennen und durchschaut haben. Und doch tappen wir mit der öffentlichen Debatte zielsicher wieder in dieselbe Falle: Wir lassen uns von der SVP mit ihren rassistischen Kampagnenplakaten – absichtlich in der Rechtsextremen vertrauten Farbcodierung schwarz-weiss-rot gehalten – und der Inszenierung einer Bedrohung durch «den Islam» und «die Muslime» zwingen, uns zu dieser Religion und den Gläubigen zu positionieren. Dabei reflektieren wir nicht, dass wir Europäer*innen diese Art Diskussionen über den Islam, die Muslime und die islamische Welt bereits seit Jahrhunderten führen und über die darin vorgenommene Abgrenzung unsere eigene Identität konstruieren. Hier «wir», da «die». Wir merken nicht, wie wir in den Debatten Vorurteile und rassistische Stereotypen reproduzieren: Frauen, die wir glauben, befreien zu müssen, patriarchale Strukturen, die «wir» längst hinter uns gelassen zu haben glauben. (Frauenwahlrecht Aserbaidschan 1918, Albanien 1920, Türkei 1934, Libanon 1952, Algerien 1962, just saying.) Wer diesen Mangel an Selbstreflexion jedoch schmerzhaft wahrnimmt, sind Muslime. Viele haben gar keine Lust (und Kraft) mehr, sich in die Debatte einzuschalten. Ständig müssen sie sich erklären, werden ­angestarrt wegen des Kopftuchs oder misstrauisch beäugt beim Gang in die Moschee. Dabei gehören viele seit Generationen zur Schweiz. Für die allermeisten ist der Gesichtsschleier genauso marginal wie für uns. Und doch wird ihnen in Debatten wie dieser immer wieder aufs Neue vermittelt: Ihr gehört nicht dazu. Nur wer sich besonders glaubwürdig oder laut abgrenzt, hat vielleicht eine Chance auf Toleranz. Kein Kopftuch, keine Takke, keine Speisevorschriften. Von wegen ­Religionsfreiheit. Wir als Mehrheitsgesellschaft nehmen uns derweil ­heraus, darüber zu diskutieren, was der Islam ist, darf und kann, und behalten uns auch noch vor, diese ­Deutungshoheit auch auf das Christentum und überhaupt: unsere liberalen Werte (!) allein gepachtet zu haben. Eine ­Infragestellung unserer Machtposition hingegen lassen wir nicht zu. Durch jede dieser ­rassistischen Krawallkampagnen verschiebt die SVP den Diskursrahmen noch ein wenig weiter nach rechts, und grenzt Menschen weiter aus, die schon längst zu unserer Gesellschaft gehören. Und wir lassen es e­ infach zu. WIN 23


BILD: ROGER CREMERS/COURTESY OF IDFA

Eröffnungsabend des International ­Documentary Filmfestival Amsterdam IDFA im letzten ­November: Regisseurin Arami Ullón (links) und die niederländische Kulturministerin.

Gerade knapp in der Sonne gestanden Film Arami Ullóns «Apenas el sol» war der Eröffnungsfilm eines

der wichtigsten internationalen Dokumentarfilmfestivals. Aber die Regisseurin sass zusammen mit dem Festivaldirektor und der Kulturministerin allein im Saal. TEXT  DIANA FREI

Die Coronasituation hat ihre Auswirkungen nicht nur auf die Kinos, die immer noch geschlossen sind (oder noch waren), sondern auch auf die Filmproduktion. Fünf Jahre hatte das Produktionsteam an «Apenas el sol», einem Do­ kumentarfilm über Indigene in Paraguay, gearbeitet. Nor­ malerweise ist die Weltpremiere eines Films dann der grosse emotionale und geschäftliche Höhepunkt für das gesamte Team. Umso mehr, wenn der Film eines der re­ nommiertesten Dokumentarfilmfestivals weltweit eröff­ net, das International Documentary Filmfestival Amster­ dam IDFA. Diese Ehre wurde der paraguayischen Regisseurin und Wahlbaslerin Arami Ullón letzten No­ vember zuteil. Bloss: Die Eröffnung fand coronabedingt ohne Publikum vor Ort statt. Die Vorstellung wurde online übertragen, während im Kinosaal genau drei Leute sassen: die niederländische Kulturministerin, der Festivaldirektor und die Regisseurin selbst. Produzent Pascal Trächslin blieb derweil zuhause vor dem Bildschirm. Rückblickend 24

sagt er: «Es ist schon sehr absurd, wenn man aus weiter Ferne zuschauen muss und schnell per Zoom zugeschal­ tet wird, damit man auch noch was sagen kann.» Die Pandemie war dem Team schon in der Postpro­ duktion in die Quere gekommen. «Wir wollten den Film in Argentinien schneiden», sagt Produzent Trächslin. «Das war während der ersten grossen Coronawelle, in der dann auch die Regisseurin mit einem der Flüge, die das Eidge­ nössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA organisierte, nach Hause gebracht wurde.» Die Edi­ torin war also in Argentinien, die Regisseurin fortan in Basel. Das war so nicht geplant. «Es hat vieles verkompli­ ziert», sagt Trächslin. «Es ist einfacher, wenn man sich täglich im Schnittraum sieht. Nun musste man Versionen hin und her schicken, und die Internetverbindungen in Argentinien sind nicht sehr stabil.» Man versuchte also, die Verbindung aufzurüsten, aber Argentinien war im har­ ten Lockdown. Wochenlang war nichts dergleichen mach­ Surprise 494/21


Duftnoten

bar. Alles dauerte länger, und natürlich kostete es auch mehr. «Wir konnten für einen gewissen Teil Ausfallent­ schädigungen geltend machen und sind mit einem blauen Auge davongekommen», sagt Trächslin.

Buch Karl Schlögel verknüpft die­ ­Biografien

zweier Parfüms zu einem spannenden Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Viele Filme zurückgehalten Sein Produktionshaus Cineworx war im vergangenen No­ vember und Dezember auch als Koproduzent in die Dreh­ arbeiten für den Spielfilm «Gömmer hei» der Zürcher ­Regisseurin Caterina Mona involviert. Drehen unter Corona-Bedingungen, das heisst: «Testen, testen, testen», so Trächslin. «Jede Woche wird getestet, und auf dem Dreh gibt es eine Corona-Verantwortliche, die dafür sorgt, dass die Regeln durchgesetzt werden.» Alle tragen Maske bis und mit Stellprobe. Erst wenn die Kamera läuft, wird ohne Maske gespielt. Drehen geht also auch in der Pandemie, aber auch hier: Der Aufwand ist grösser, die Abläufe nehmen mehr Zeit in Anspruch und werden daher teurer. Und: Es gibt keine Versicherung, die den Schaden deckt, falls es einen Krankheitsfall gibt. Jeder Dreh wird zur Frage der Risiko­ abschätzung. So wird zurzeit viel weniger gedreht als üblich. Trotz­ dem wird es nach der Pandemie im Kino eher zum Stau als zur Flaute kommen. «2020 wurden sehr viele Filme zurückgehalten. Wenn die Einschränkungen wegfallen, wollen alle ihre Filme gleichzeitig ins Kino bringen», sagt Pascal Trächslin, der neben seiner Produktionsfirma auch einen Filmverleih betreibt. Doch solange die Kinos im Aus­ land zu sind, gibt es ausser Schweizer Produktionen auch hierzulande nichts zu sehen: «Ein französischer Film wird in der Schweiz nicht vor Frankreich gestartet, ein deutscher nicht vor Deutschland.» Sogar von den Entwicklungen bei den internationalen Blockbustern ist ein Arthouse-Verleih indirekt abhängig. Etliche Kinos in kleineren und mittleren Städten finan­ zieren sich durch die Publikumsmagneten. «Damit diese Kinos die Mischrechnung machen können, braucht es Blockbuster», sagt Trächslin. Sollten diese aufgrund von Streaming-Strategien der Majors aus den Kinos verschwin­ den, wird es eng für viele Kinos und damit auch für die Vielfalt der kleineren Filme. «Die Streaming-Bestrebungen der Majors könnten sich nun tatsächlich weiter verändern. Warner hat angekündigt, seine Filme auch online zu lan­ cieren, was zu einem grossen Aufschrei geführt hat – auch wenn es zunächst nur für 2021 gelten soll.» Trotzdem: Ein Kinostart gilt auch für einen Blockbuster nach wie vor als einzigartiges Promo-Instrument. Und Trächslin glaubt daran, dass das Publikum nach dem Lockdown wieder ins Kino gehen wird. Er hat allen Grund dazu: «Wir hatten 2019 das beste Jahr unserer Firmengeschichte. Die Kino­ branche serbelt meiner Meinung nach nicht.» Und an Aus­ wahl wird es wahrscheinlich nicht mangeln.

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FOTO: ZVG

«Apenas el Sol» Der Kinostart von «Apenas el Sol» ist auf Herbst 2021 geplant – voraussichtlich.

«Zum Schlafen trage ich nur ein paar Tropfen Chanel N05.» Das Bonmot von Marilyn Monroe bringt all das, was sich mit diesem wohl berühmtesten Parfüm verbindet, auf den Punkt: Luxus, Glamour, Sinnlichkeit. Kaum zu glauben, dass diese westliche Status- und Lifestyle-Ikone ein kaum be­ kanntes östliches Pendant mit einem gemeinsamen (!) Ur­ sprung hat: Krasnaja Moskwa, zu deutsch Rotes Moskau. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt der Franzose Er­ nest Beaux anlässlich des 300-Jahre-Jubiläums der Ro­ manows das «Bouquet der Kaiserin Katharina II.» Als Beaux nach Frankreich zurückkehrt, nimmt er die Rezeptur mit. 1921 komponiert er daraus für Coco Chanel zehn Probedüfte. Sie entscheidet sich für die fünfte Probe – Chanel N05. Rotes Moskau dagegen erlebt eine Zangengeburt. Nach Revolution und Kriegswirren müssen die Parfümfabriken in Russland, die einst zu den grössten und modernsten der Welt zählten, wieder mühsam aufgebaut werden. Erst 1925 entwickelt der Franzose Auguste Michel, der aufgrund un­ glücklicher Umstände in Moskau geblieben ist, auf der Ba­ sis derselben kaiserlichen Rezeptur Rotes Moskau, das 1927 zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution in den Han­ del kommt. Ihre Erfolgsgeschichten verdanken beide Parfüms zwei aussergewöhnlichen Frauen. Auf der einen Seite ist dies die schillernde Coco Chanel, die ihren Aufstieg auch reichen Liebhabern verdankt und die nach dem Zweiten Weltkrieg trotz ihrer Kollaboration mit den Nazis ein Comeback feiert. Auf der anderen Seite die weitgehend unbekannte Polina Shemtschushina (die Frau von Stalins Weggefährten Mo­ lotow), die zur Volkskommissarin aufsteigt, dann zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt wird und trotzdem bis zu ihrem Lebensende eine fanatische Stalinistin bleibt. Der Autor Karl Schlögel bietet nicht nur viel Wissens­ wertes über den Aufbruch in die Moderne in der Welt der Parfüms, ihr Design, ihre Produktion und Vermarktung. Er verbindet die wechselvollen Biografien dieser Düfte auch zu einem spannenden und faktenreichen Blick auf die Ge­ schichte dieses «Jahrhunderts der Extreme». Eines trauma­ tischen Jahrhunderts, in dem sich die Duftnoten aus den Parfümflakons mit den Gerüchen der Schlachtfelder, der Exekutionen, Straflager und Gaskammern mischen. «Düfte verfliegen», schreibt Schlögel. «Es gibt kein Ar­ chiv der Aromen.» Doch mit den Biografien von Chanel N05 und Rotes Moskau gelingt es ihm, diese Düfte auf eine be­ merkens- und lesenswerte Weise zum Leben zu erwecken. CHRISTOPHER ZIMMER

Karl Schlögel: Der Duft der Imperien Chanel N05 und Rotes Moskau Hanser 2020, CHF 36.90

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BILD(1): ZVG, BILD(2): ZVG, BILD(3): ZVG, BILD(4): ANITA AFFENTRANGER

Veranstaltungen Online Kosmopolitics Zwischendurch, virtuelle Gesprächsreihe, jeweils montags, 20 Uhr, Kosmos Zürich; Mo, 22. Februar: «Fight For Your Rights» mit Alexandra Gavilano und Samira Marti; Mo, 1. März: «Klimaaktionsplan – Netto 0 bis 2030?» mit Balthasar Glättli und Hanna Fischer; Mo, 8. März: «Inter­ nationaler Frauentag?» mit Annette Hug und Ezgi Akyol; Mo, 15. März: «Solidarische Ökonomie» mit Cédric Wermuth u. a. virtuellerkosmos.ch

Drei Menschen, drei Kameras und eine konzentrierte Stunde, um ein gesellschaftspolitisch aktuelles und relevantes Thema zu diskutieren: Die montägliche Diskussionsreihe im Zürcher Kulturhaus Kosmos findet weiterhin statt, zurzeit einfach virtuell, in Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung WOZ. Hier wird über neue Formen des Zusammenlebens diskutiert, die in der Corona-Krise vielleicht sogar ein bisschen greifbarer geworden sind, und über ein zukunftsfähiges Wirtschaftssystem. Oder darüber, wie die Politik bis 2030 einen nachhaltigen Klimaplan umsetzen kann. Die Veranstaltungen können als Livestream verfolgt werden und sind im Anschluss auf dem Kosmos-Youtube-Kanal zu finden. DIF

Online Aarauer Demokratietage – «Frauen und Politik», 16 bis 18 Uhr; 4. März 16 bis 17.30 Uhr; 11. März; 18. März; 25. März. zdaarau.ch

anstaltungen des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) weiter: Sind Quoten zwecks Erreichen der Parität in den Parlamenten rechtens? Inwiefern politisieren die Geschlechter anders? Und welche Rolle spielen Gender-Fragen in der politischen Bildung? DIF

Am Radio SONOHR «on air», Radio & Podcast Festival, Fr, 26. bis So, 28. Februar. sonohr.ch Ein halbes Jahrhundert nach der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz beleuchten die 13. Aarauer Demokratietage, welche Bedeutung die Geschlechterfrage heute in der Politik hat. Zum Auftakt stellt Medienpartner swissinfo.ch die Frage: «Wie und wofür engagieren sich junge Frauen heute?» Die Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli diskutiert sie mit Frauen, die in Klima-, Diversity- und Empowerment-Themen aktiv unterwegs sind. An den folgenden Donnerstagen geht es mit akademischen Ver-

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«Suche dir eine Tankstelle mit Shop in deiner Nähe. Atme tief ein, beobachte das Geschehen ein Weilchen, bevor du das Stück startest», lautet die Höranleitung des deutschen Komponisten und Filmmusikers Elias Gottstein für sein Stück «Tankstelle». Und macht deutlich: Wer hören mag, mag sich Dinge vorstellen und genauso in innere wie in fremde Welten eintauchen. Die Anleitungen haben nebst den Hörstücken einen eigenen Stellenwert am Sonohr, bei Johanna Bentz’ «Stuck at home» lautet sie etwa: «Die Au-

torin empfiehlt, ihr Stück zum Beispiel dann zu hören, wenn Sie auf einen wichtigen Anruf warten oder auf dem Klo sitzen.» Eigentlich ist dieser Fokus auf die Hörsituation ganz reizvoll. Vor allem, wenn es schon nicht sein darf wie normalerweise am Podcast-Festival, wenn im Berner Kino Rex die anwesenden Podcaster*innen jeweils Auskunft geben und sich das Publikum auf ein Gläschen im Foyer trifft. Diesmal hört man also online oder am Radio mit, draussen an der Tankstelle oder auf dem Klo. Sieben nicht-kommerzielle Radiosender von Chiasso bis Schaffhausen werden das Festival mit den siebzehn nominierten Stücken übertragen: Kanal K (Aarau), Radio Gwendalyn (Chiasso), Radio RaBe (Bern), Radio RaSa (Schaffhausen), Radio Vostok (Genf), Radio Stadtfilter (Winterthur), Radio LoRa (Zürich). DIF

Online «Kostprobe», ein Podcast des Theater Winkelwiese, Zürich, winkelwiese.ch/ kostprobe

Auch in der Zeit des äusseren Stillstands wird in Theatern vielerorts geprobt und experimentiert. Und wir haben es in den Kulturbeiträgen im letzten Heft schon festgestellt: Dass nichts stattfindet, ist schlimm und trist, aber dass das Publikum online nun oft direkter als je zuvor Einblick in den Entstehungsprozess bekommt, ist spannend. Beim Theater Winkelwiese geht da so: Es stellt eine aktuelle Produktion aus der ganz subjektiven Sicht eine*r eigens eingeladenen Autor*in vor. Diese*r besucht im Vorfeld einer Premiere die Proben und teilt ihre*seine Erfahrungen in einem Podcast mit dem Publikum. Das Theater möchte damit einen sinnlichen Zugang zu den Produktionen schaffen, der über die gewohnte Berichterstattung hinausgeht. Die Autor*innen reagieren mit ihrer Sprache auf

das Gesehene und Gehörte und fügen so der Welt, die auf der Bühne entstanden ist, eine zusätzliche künstlerische Ebene hinzu. In der Pilotfolge erzählt die Autorin Katja Brunner über ihren Besuch der Hauptprobe von Eva Roths «Streuner». Hier wacht Ines in ihrer Wohnung auf und entdeckt, dass sie einige Tage im Koma lag. Sie erinnert sich kaum und stösst auf Unstimmigkeiten. Warum weicht ihre Schwester Alex aus? Was geht hier vor? Rausch? Krankheit? Verbrechen? – Wir glauben nicht, dass der Podcast spoilert. DIF

Podcast «Supernova», Podcast, Audiobande in Zusammenarbeit mit dem Museum für Kommunikation Bern zur Sonderausstellung «Super – die zweite Schöpfung»; zu hören auf der Podcast-Website und auf allen gängigen Apps und Plattformen wie Apple Podcasts, Spotify, Google Podcasts supernovapodcast.art Kann KI Kunst? Wie wird künstliche Intelligenz unterschiedliche Kunstgattungen verändern? Und könnte auch ein Podcast selbst durch KI entstehen? Das Team rund um den Podcastproduzenten This Wachter – die Podcasterin und Kulturjournalistin Jennifer Khakshouri, Mensch-Maschine-Spezialist Roland Fischer und die Sounddesigner und Komponisten Simon Meyer und Luki Fretz – haben ein aufwendiges Storytelling-Format mit eigens dafür komponierter Musik geschaffen. Episode 1 «Kopieren» steigt mit Angela Merkels geklonter Stimme ein: Die deutsche Bundeskanzlerin telefoniert mit dem Schweizer Satiriker Karpi. Episode 2 «Lachen» heisst dann im Untertitel: Wie begrenzt lustig KI alleine ist. Auf der Podcast-Website gibt es Zusatzmaterial, etwa ein Interview mit dem Merkelstimmenkloner Werner Dreier. Episode 3 erscheint am 23. Februar: Es wird um die Bedeutung der KI in der Musik gehen – mit Auftritten von Boris Blank, Yello und der irischen KI-Musikerin Jennifer Walshe. DIF

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Niemand betritt das Verkaufslokal des Verkehrsverbundes, das ZVV Contact heisst, ein unglücklicher Name, denn gerade der sollte möglichst eingeschränkt werden. Oder etwa doch nicht? Ist Corona nur ein Fake, eine Plandemie, wie an eine Hausmauer gesprayt ist, dazu der Aufruf: Wake up! Im Schaufenster da­ neben verspricht eine Immobilienfirma, Erfolg zu vermieten, in Form eines­ ­Ladenlokals mit Lager. Es braucht beträchtlichen Optimismus, an diesen zu glauben, denn nur wenige Meter da­ neben wird in einem Geschäft nach Sponsoren für ein Café gesucht, das gerettet werden muss. Vor dem Aufruf ist ein Regenschirm platziert, der für ein natür­ liches Medikament wirbt, das für kurze Zeit als Heilmittel gegen das Corona­ virus gefeiert wurde. Vielleicht müssen die voreilig angelegten Lagerbestände abgebaut werden.

Tour de Suisse

Pörtner in Adliswil Surprise-Standorte: Einkaufszentrum Bahnhof Einwohner*innen: 19 006 Sozialhilfequote in Prozent: 3,2 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 36,1 Geschichte 1942– 1945: Ort des schweizweit zweitgrössten ­Auffang­lagers für Verfolgte des Nazi-Regimes

Adliswil ist kein Winterkurort und keine Geisterstadt. Trotzdem macht es von ­beidem den Anschein an diesem Mittwochnachmittag. Zu Klumpen geschmolzener, schmutziger Schnee liegt an den Strassenrändern, länger nicht bewegte Autos haben Schneedeckel. Die Sonne scheint, die Geschäfte sind geschlossen. Nicht alle, aber die meisten. Der gross angekündigte Big Sale für Damen- und Herrenkleider mit bis zu 70 Prozent R ­ abatt findet vorläufig nicht statt. In der Ladenpassage sind viele G ­ itter herunterge­ lassen. Wenigstens schöntrinken lässt sich die trübe Lage noch, mit edlen ­Weinen und lokalen Bieren vom Getränkehändler. Wie aus Protest geht in der Kaffeeröster­ filiale, in der es alles andere als Kaffee gibt, immer wieder der Alarm los, der nor­ malerweise anzeigt, wenn jemand das Geschäft mit unbezahlten Waren verlässt. Surprise 494/21

Am Take-away kann man sich verpflegen, der Coffee to go wird zum Coffee to stand. Dem Sitzen, das inzwischen als ähnlich gesundheitsschädigend wie das Rauchen gilt, wird der Garaus gemacht. Die Leute stehen mit ihren Pappbechern in der Hand beisammen, begehrt ist das trockene Bänklein unter dem Vordach des Einkaufszentrums. Auch vor dem Bahnhofstreff trifft man sich im Stehen, trinkt statt Kaffee Bier. Beim Bahnhof selber, hinter den wahrscheinlich weniger als sieben Geleisen, haben es sich drei Männer an einem nicht weggeräumten Tisch eines geschlos­ senen Lokals ­gemütlich gemacht. So gemütlich man es sich halt machen kann, draussen in der Kälte neben einer Baustelle.

Der Schweizer Tierschutz fordert mittels Plakat dazu auf, Tauben nicht zu füttern. Das Plakat steht auf einem leeren Platz, auf dem keine einzige Taube zu sehen ist, von dem man sich durchaus vorstellen kann, dass er bei schönem Wetter, an einem sonnigen Frühlingstag, zu einer Art Markusplatz von Adliswil mutiert, wo ganz wie in Venedig Tauben gefüttert, draussen gesessen, Glace und Pizza gefuttert wird. Irgendwann wird es wieder so sein. Noch aber ist schwierig zu entscheiden, welche Vorstellung schwerer fällt: Dass diese unbeschwerten Zeiten zurückkehren oder dass der Aufruf dann befolgt wird. Gewiss wird es Leute ­geben, die den Parasitenbefall und die Krankheiten der Tiere, die sich bei ­Überpopulation ausbreiten, wie das Plakat erklärt, für fake halten und nicht daran denken, sich von solcher Seuchenpropaganda einlullen zu lassen. Wake up!

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01 Beat Hübscher, Schreiner, Zürich 02 Lebensraum Interlaken GmbH 03 Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel 04 Yogaloft GmbH, Rapperswil SG 05 unterwegs GmbH, Aarau 06 Infopower GmbH, Zürich 07 Hedi Hauswirth, Privatpflege, Oetwil am See 08 Gemeinschaftspraxis Morillon, Bern 09 Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden 10 sinnovec GmbH, Strategie & Energie, Zürich 11

Barth Real AG, Zürich

12 Simplution Software GmbH 13 Ueli Mosimann, ehemals Abt. Ausbildung Coop 14 Fontarocca Natursteine, Liestal 15 Christine Meier, raum-landschaft, Zürich 16 www.deinlohn.ch 17 TopPharm Apotheke Paradeplatz 18 Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

19 Paul + Peter Fritz AG, Zürich 20 SHI, Haus der Homöopathie, Zug 21 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 22 onlineKarma, Online-Marketing mit Wirkung 23 Gemeinnützige Frauen Aarau 24 Shinsen AG, Japanese Food Culture, Zürich 25 Halde 14, Baden Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise #474: Der Mensch und die Arbeit: Eine Hassliebe?

«Bereicherung statt Qual» Danke für den spannenden Artikel über «Bullshit-Jobs». Ich selbst bin Sozialpädagogin und arbeite auch hin und wieder als Erlebnispädagogin. Beide Arbeiten finde ich spannend und ich glaube, dass sie eine richtige Wirkung haben, mindestens für einige Klienten. Doch die Frage, was sinnvolle Jobs sind – oder ob der Job, den ich ausführe, mich glücklich macht –, beschäftigt mich sehr. Ich habe ein Jahr in London als Au-pair gearbeitet. Mein Hausvater war Polizist, ein ziemlich hoher. In seiner Freizeit reparierte er Autos und verkaufte sie wieder. Das war seine Leidenschaft. Auf die Frage, wieso er das nicht hauptberuflich mache, war seine Antwort: «Geld». Wieso arbeiten so viele Menschen NUR für Geld? Was wäre, wenn Menschen ihre Arbeit liebten – wie würde sich das auf die Effizienz auswirken? Welches Potenzial hätte das? Und vor allem, was bedeutete es für jeden Einzelnen, wenn er sich auf seine Arbeit freuen und die 40 bis 80 Stunden in der Woche nicht als Qual, sondern als Bereicherung in seinem Leben anschauen könnte? L . LIECHTI,  ohne Ort

#492: «Der Staat spuckt den Schwächsten weiter ins Gesicht»

«Der Staat sind wir alle» Mit einem Staat meint man ein Land und die Menschen, die darin wohnen. Das ist die gängige Definition eines Staates. Ich hätte heute Surprise beinahe nicht gekauft, weil der Titel wie ein SVP-Slogan daherkommt und mich indirekt auch zur Spuckerin macht. Was wollten Sie bewirken? Ich bin es leid, stets von rechts und links zu lesen, was der «Staat» tut oder eben nicht tut. Letztlich sind wir das ja alle, der Staat! Ein Staat ist kein handelnder Akteur, es sind einzelne Personen, die agieren (z.B. Akteure in Verwaltungen, die sich vor Veränderungen drücken oder schlaffe Politiker und Politikerinnen, die die Gesetze nicht umschreiben wollen, oder andere Menschen in Institutionen, die handeln sollten). Kurze Titel zu finden, die gut klingen und zum Lesen einladen, ist nicht einfach, doch die Mühe wert. C. SOKOLOFF,  ohne Ort

«Seich*innen» Die Artikel über den Freier und Krakau habe ich sehr interessiert gelesen. Nur ein Wermutstropfen: Ich kaufe Ihre Zeitung wieder, sobald sie mit dem Sterni-Seich*innen wieder aufgehört haben. M. L ATSCHA,  Bärschwil

Korrigenda

In Ausgabe 492 wurden auf S. 14 und 17 die Namen der abgebildeten Personen vertauscht. Und in Ausgabe 493 machte unsere Tour de Suisse auf S. 27 nicht, wie Postkarte und Überschrift haben glauben lassen, in Ittingen Halt, sondern in Ittigen. Wir bitten um Entschuldigung.

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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Daniel Chatard, Nicolas Gabriel, Michael Leuthold, Eva Mell, Claudio Näf, Sebastian Sele, Manuel Stark Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  29 000 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Die Liebe kam nach der Heirat» «Seit sieben Monaten verkaufe ich Surprise, meistens am Bahnhof in Liestal. Ich war auf der Suche nach einem neuen Job, weil ich vor zwei Jahren meine Arbeit verloren hatte. Ich war viele Jahre lang auf Baustellen, zuletzt arbeitete ich als Aushilfe in einer Restaurantküche. Doch ich habe aufgrund der jahre­ langen körperlichen Arbeit starke Probleme mit meinem Fuss bekommen. Ich wurde operiert und habe seitdem eine Schraube im Fuss. Zum Glück musste ich nie im Rollstuhl sitzen, aber ich kann nun nicht mehr körperlich arbeiten wie zuvor. Wenn ich Surprise verkaufe, stehe ich zwar auch viel, doch ich kann mich zwischendurch hinsetzen oder nach Hause gehen, wenn es gar nicht mehr geht. Das Verkaufen macht mir Spass. Die Menschen sind sehr nett zu mir, und ich kenne mittler­ weile auch schon ein paar Kund*innen. Mit der Gesichtsmaske geht es auch gut. Ich bin es nicht anders gewöhnt, ich habe ja während der Corona-Zeit mit dem Verkauf angefangen. Ich bin in Algerien als Beduine in der Sahara aufgewachsen. Wir hatten Tiere und es kamen auch Tourist*innen zu uns. Als junger Mann wollte ich Abenteuer erleben, neue Kulturen und Sprachen kennenlernen. Deshalb zog es mich nach Europa. Es ging mir nicht darum, dass ich hier mehr Geld verdienen oder ein besseres Leben haben kann. Ich wollte einfach etwas Neues erleben. Zuerst bin ich nach Italien ausgewandert. Dort lernte ich eine Schweizerin kennen. Wir sind 1990 zusammen in die Schweiz gezogen und haben geheiratet. Doch ein paar Jahre später haben wir uns scheiden lassen. Ich bin trotzdem in der Schweiz ­geblieben. Hier lebe ich gern. Mittlerweile bin ich sogar einge­ bürgert. Meine Mutter war i­ rgendwann der Meinung, ich solle eine Frau aus Algerien heiraten. Also hat meine Familie mir eine gesucht. So läuft das in Algerien. Ich habe eingewilligt. Bei uns sagt man, die Liebe kommt nach der Heirat. Das stimmte in unserem Fall sogar. Meine Frau und ich haben fünf Kinder, das jüngste ist neun Jahre alt. Ich reise ungefähr einmal im Jahr für einen Monat nach Algerien, um sie dort zu sehen. Das letzte Mal war ich im ­November 2019 dort. Seitdem ging es wegen Corona nicht mehr. Ich möchte gerne, dass meine Familie hier mit mir lebt, aber es ist schwierig. Wie soll ich sie hier versorgen? Ich verdiene nicht genug, damit wir hier alle gut leben können. Ich würde meiner Frau und den Kindern das Land gerne wenigstens zeigen. 30

An die Gesichtsmaske hat sich Salim Leghdemsi, 57, schon lange gewöhnt: «Ich habe erst während der Corona-Zeit mit dem Verkauf von Surprise angefangen.»

So könnten sie die Schweizer Kultur besser verstehen. Ich muss meiner Frau oft erklären, dass manche Dinge hier ganz anders sind. In Algerien zum Beispiel sprechen Männer nicht mit fremden Frauen, in der Schweiz ist das normal. Das ist für meine Frau nicht leicht zu verstehen. Ich war ja selbst schockiert, als ich zum ersten Mal in Europa war und Frauen in Bikinis gesehen habe. In meiner Heimat ist so etwas ­unmöglich. Wenn ich bei meiner Familie bin, kommt es manchmal vor, dass ich mir selbst einen Kaffee mache. Das kann meine Frau auch nicht verstehen. Denn in Algerien bedienen Ehefrauen ihre Männer. In Algerien fühle ich mich oft wie ein Ausländer. Ich denke oft ganz anders als die Menschen dort. Aber in der Schweiz bin ich für die meisten Menschen auch ein Ausländer. Trotzdem fühle ich mich hier wohl. Hier habe ich Freunde, hier bin ich zuhause, hier kenne ich mich aus. Ich schicke meiner Familie regelmässig Geld zum Leben. Manchmal langt es, manchmal nicht. Für mich selbst reicht das Geld meistens kaum. Ich muss immer überlegen, wo ich noch sparen kann. Die Schweiz ist halt teuer. Ich wünsche mir, dass ich meine Familie dieses Jahr endlich wiedersehen kann. Wir sprechen viel über Videochat und ver­ missen uns. Aber was können wir tun? Es ist eben Schicksal.» Aufgezeichnet von EVA MELL Surprise 494/21


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