Strassenmagazin Nr. 501 4. bis 17. Juni 2021
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Medizin
Ethik statt Effizienz Der Arzt Michel Romanens wehrt sich gegen eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Seite 14
BETEILIGTE CAFÉS
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
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Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
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Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Erlebnis
TITELBILD: FILIPA PEIXEIRO
Editorial
Was kostet ein Leben? Wir debattieren viel über die steigenden Kosten im Gesundheitswesen. Aber wenig darüber, ob wir die richtigen Massstäbe anlegen, wenn wir dermassen auf die ökonomischen Aspekte medizinischer Behandlungen fokussieren. Längst lassen wir uns darauf ein, dass Gesundheitsökonom*innen den Wert menschlichen Lebens in Geld beziffern – noch dazu mit fragwürdigen Methoden, wie der Arzt und Medizinethiker Michel Romanens im Interview erklärt, ab Seite 14. In Wirklichkeit lässt sich der individuelle Wert eines Lebens nicht ökonomisch fassen. Wer gerade einen geliebten Menschen verloren hat, dem kann man den Verlust nicht monetär aufwiegen. Was in einem solchen Moment zählt, sind Erinnerungen, die Möglichkeit, Abschied zu nehmen und gemeinsam zu trauern. So wie im Fall der Ärztin Caroline S., deren Vater an Covid-19 erkrankte und innerhalb kurzer Zeit verstarb. Aus unserer Reihe individueller Corona-Schicksale, ab Seite 18.
4 Aufgelesen
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Albanien
Bildung gegen Armut 5 Was bedeutet eigentlich …?
Arbeitslosigkeit
Dann noch in eigener Sache: Wir freuen uns über jeden Leser*innen-Brief – ob Kritik oder Lob –, denn sie geben uns Hinweise darauf, wie unsere Arbeit bei Ihnen ankommt. Nun möchten wir es gern genauer wissen und laden Sie ein, bei unserer Umfrage mitzumachen. Jede Stimme zählt und hilft uns dabei, Surprise sinnvoll weiterzuentwickeln. Den Fragebogen finden Sie in der Mitte des Heftes oder unter surprise.ngo/umfrage. Vielen Dank! SAR A WINTER SAYILIR
Redaktorin
25 Kino
26 Veranstaltungen
Bildrausch Basel 27 Tour de Suisse
14 Medizin
Michel Romanens im Interview
5 Vor Gericht
Berechtigt, aber illegal
In Albanien formiert sich ein neues Selbstbewusstsein unter den Angehörigen der Roma-Minderheit. Sie setzen sich gegen systematische Diskriminierung zur Wehr und leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Ein Schlüssel zu mehr Teilhabe ist Bildung. Und junge Leute, die ihrer Gemeinschaft etwas zurückgeben wollen, ab Seite 8.
18 Corona
Pörtner in Murten/ Morat 28 SurPlus Positive Firmen
Wenn der Vater stirbt 6 Verkäufer*innenkolumne
Überlebenstrieb
22 Psychiatriealltag
Durch die Linse
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
7 Moumouni
... zur Nettheit
24 Living Museum Wil
30 Nachruf
Mohammad Daoud Haidari
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Aufgelesen
FOTO: MADS NISSEN
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Leben mit Alkohol 25 Prozent der Deutschen trinken mehrmals die Woche Alkohol, 6 Prozent greifen täglich zur Flasche. Offenbar nimmt mit dem Bildungsniveau auch der Alkoholkonsum zu: 50 Prozent der Deutschen mit Hochschulabschluss trinken einmal die Woche oder häufiger Alkohol, bei Menschen ohne oder mit einfachem Schulabschluss sind es 25 Prozent. Dagegen sind 16 Prozent der Deutschen abstinent.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Abtörnende Klimabilanz 300 Millionen Tonnen CO2 werden pro Jahr durch das Streamen von OnlineVideos verbraucht. Das entspricht den Treibhausgasemissionen von ganz Spanien. 82 Millionen Tonnen CO2 gehen übrigens auf Kosten von Pornovideos, was dem jährlichen Ausstoss von Belgien entspricht. Expert*innen raten, sich weniger Geräte anzuschaffen, auf hochauflösende Videos zu verzichten und Autoplay-Funktionen abzustellen.
ASPHALT, DÜSSELDORF
Widerstand mit Todesfolge 2600 Menschen wurden allein seit Februar dieses Jahres in Myanmar festgenommen; sie wehren sich gegen den Militärputsch, indem sie auf die Strasse gehen und demonstrieren. 240 Demonstrierende wurden bislang vom Militär oder der Polizei erschossen.
Die erste Umarmung Der dänische Fotograf Mads Nissen erhält den World Press Photo Award 2021 für sein Bild der brasilianischen Rentnerin Rosa Luzia Lunardi, die nach langer Isolation von einer Pflegerin umarmt wird. Die beiden sind durch einen transparenten Plastikvorhang getrennt. BODO, BOCHUM/DORTMUND
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MEGAPHON, GRAZ
Viel Forschung 85 000 wissenschaftliche Artikel zum Coronavirus SARS-CoV-2 wurden Ende letzten Jahres von der biomedizinischen Bibliothek PubMed verzeichnet. Zum Vergleich: Seit der Entdeckung von Ebola im Jahr 1976 wurden 9700 wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema publiziert.
BODO, DORTMUND
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Was bedeutet eigentlich …?
Arbeitslosigkeit Etwa 170 000 Menschen in der Schweiz sind arbeitslos. Viele bleiben es nicht für lange; sie finden durchschnittlich nach etwa vier Monaten wieder einen Job. Allerdings tut ein genauerer Blick in die Statistik not: Ältere Menschen haben ein viel höheres Risiko, langzeitarbeitslos zu werden. Ihre Wiedereingliederung ist eine der grössten Herausforderungen der Arbeitsmarktpolitik. Kommt hinzu, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen als Folge der Corona-Pandemie steigt – Expert*innen sprechen von einer Zeitbombe. Auch fällt eine*r von acht Arbeitslosen durch die Maschen der Arbeitslosenversicherung. Wer innerhalb von 18 bis 24 Monaten keinen Job findet, wird ausgesteuert. Von den Betroffenen findet rund die Hälfte innerhalb eines weiteren Jahres einen Job, ein Fünftel bezieht Sozialhilfe, alle anderen leben von Ersparnissen oder dem Einkommen der Partner*innen. Die Schweiz gehört im internationalen Vergleich zu den Ländern mit der tiefsten Arbeitslosenquote. Sie bewegt sich seit Mitte der 1990erJahre zwischen 2 und 4 Prozent – derzeit liegt sie bei 3,3 Prozent. Die Höhe der Arbeitslosigkeit ist allerdings auch eine Frage der Definition. Die Zahlen, die der Bund monatlich kommuniziert, schliessen nur jene Personen mit ein, die sich bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) eingeschrieben haben. Nicht erfasst sind Schulabgänger*innen, ausgesteuerte Arbeitslose sowie Erwerbslose in der Sozialhilfe. Zählt man diese dazu, wie das die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) macht, liegt die Quote bei 5 Prozent. EBA
Quelle: Daniel Oesch: Arbeitslosigkeit. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020
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Vor Gericht
Berechtigt, aber illegal Manchmal geht’s nicht anders: Man muss sich oder andere mit strafbaren Handlungen vor einer Gefahr schützen. Juristisch gesprochen liegt dann ein «Notstand» vor: Die Tat ist entschuldbar und bleibt straffrei. Einen solchen Notstand machten auch Klimaaktivist*innen vor dem Bezirksgericht Zürich geltend. Im Juli 2019 hatten sie mit Dutzenden Mitstreiter*innen den Eingang des Credit-Suisse-Gebäudes am Paradeplatz blockiert. Mit Velos und Blumentöpfen, einige ketteten sich an die Türen. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass die Grossbank trotz der Klimakatastrophe weiterhin Milliarden in klimaschädliche Projekte investiert. Von den rund 60 anwesenden Personen erhielten 42 einen Strafbefehl. Neun von ihnen akzeptierten diesen nicht und zogen vor Gericht. Die Fronten sind sehr klar. Der Staatsanwalt tut die Aktion der jungen Frauen und Männer als «Schmierenkomödie» ab. Als «billige Effekthascherei». Statt sich in den politischen Prozess einzubringen, spielten sie lieber einen Vormittag lang Theater. Das sei naiv und bringe dem Klima rein gar nichts. Wegen Nötigung und teils wegen Hausfriedensbruchs fordert er bedingte Geldstrafen von 90 Tagen zu je 30 Franken sowie Bussen von 500 Franken. Demgegenüber verlangt die Verteidigung Freisprüche. Neben dem Notstand macht sie Mängel in der Anklage und ein fehlendes Strafbedürfnis der Öffentlichkeit geltend: «Es sitzen die Falschen auf der Anklagebank.»
Während des Prozesses dringen von draussen Rufe in den Gerichtssaal: «Klimaschutz ist kein Verbrechen!» Damit zitieren sie jene Einzelrichterin, die fünf Demonstrierende freisprach, die am selben Tag die UBS in Basel versperrten. In Zürich befindet der Einzelrichter in seinem Urteil das Anliegen der Beschuldigten für «absolut berechtigt». Er begrüsst ihr Engagement. Er gibt ihnen sogar Recht, dass die Credit Suisse Investitionen ermöglicht, die dem Klima schaden. Aber ihre Blockade taxiert er trotz allem als illegal. Er verurteilt alle neun wegen Nötigung, acht auch wegen Hausfriedensbruchs. Es bleibt allerdings bei weit milderen Strafen als beantragt: In acht Fällen sind es 40 Tagessätze à 10 Franken, in einem 30 à 10 Franken. Denn die Aktion sei für die Kundschaft der Bank und deren Mitarbeiter*innen vielleicht unangenehm gewesen, nicht aber bedrohlich. Anders als seine Kollegin in Basel und zuvor auch Richter*innen in ähnlichen Fällen in Lausanne und Genf sieht er angesichts der Klimakrise keinen Notstand. Noch im Gerichtssaal melden die Rechtsvertreter*innen der Klimaaktivist*innen Berufung an. Die Notstandsfrage geht also auch in Zürich in die nächste Runde. Der Genfer Fall ist nach Berufungen der dortigen Staatsanwaltschaft bereits am Bundesgericht hängig. Man darf gespannt sein: Wie wird das höchste Gericht einen Notstand verneinen wollen, wenn weltweit bereits 30 Länder, darunter Grossbritannien oder Kanada, ganz offiziell den «Klimanotstand» ausgerufen haben? Wird es vielleicht sogar sagen, es sei naiv zu glauben, eine Credit Suisse würde einfach so und ganz freiwillig auf Milliardengeschäfte verzichten? Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich.
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Verkäufer*innenkolumne
Überlebenstrieb Ich bin viel allein, was für mich Ruhe und Erholung bedeutet. Ich bin gern allein. Das liegt auch daran, dass mir nie langweilig ist. Dieses Gefühl kenne ich nur aus meiner Pubertät, als wir drei, meine beiden Schwestern und ich, unsere Ferien immer mit Segeln verbringen mussten. Heute sage ich: «mit Segeln verbringen durften», denn es gibt eigentlich nichts Schöneres, als auf dem Wasser zu sein und den Wind zu erleben. Nur bei Sturm gibt es gar nichts Schönes mehr. Da ist dann nur noch das Erleben der Naturgewalten und die Erfahrung, wie klein wir Menschen sind. Es bleibt einem nur die Hoffnung, dass man nach dem Sturm noch am Leben ist.
Auch mit Corona sind wir im Überlebensmodus angekommen. Wir Menschen zeigen dabei unsere angeborenen Verhaltensmuster. Erstens den Überlebenstrieb, zweitens den Arterhaltungstrieb und drittens den Herdentrieb. Nun wird unser Verhalten wegen Covid-19 schon seit längerer Zeit von anderen Personen bestimmt, und nicht immer bin ich einverstanden. Aber wir alle machen mit, was sicher auch gut ist so. Die Pandemie ist real. Und doch haben wir gute Überlebenschancen.
K ARIN PACOZZI, 54, verkauft Surprise in Zug. Auch heute noch zieht es sie ans Wasser. Der Zürichsee und die Flüsse helfen ihr, auch lange Zeit ohne Meer zu sein. Doch wer einmal auf dem Meer gesegelt ist, dem bleibt die Sehnsucht danach. Die Fortbewegung per Schiff ist im Menschen stark verankert, sagt sie, das war schon zu Zeiten der Wikinger oder von Christoph Kolumbus so. Ob backbord oder steuerbord, ob rot oder grün: Wer segelt, vergisst nichts mehr davon.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
ILLUSTRATION: DINAH WERNLI
Ich erinnere mich an eine Segelreise von der Camargue nach Korsika. Die Hinfahrt war ganz einfach, ruhiges Meer, über uns blau, um uns blau. Danach umsegelten wir in zehn Tagen Korsika, mit einem Abstecher nach Menorca, weil es dort, in Spanien, den guten Safran gab, den meine Mutter brauchte, um eine Paella zu machen. Als es Zeit wurde, in die Camargue zurückzukehren, hatten wir noch Diskussionen, ob wir lossegeln oder besser warten sollten. Wir sind dann los und voll in einen Sturm hineingeraten. Im Nachhinein erfuhren wir, dass es der schlimmste Sturm seit zehn Jahren war. Windgeschwindigkeiten bis über 100 km/h, die sprichwörtliche Windstärke 10. Wir Kinder lagen in der Kabine in unseren Kojen. Wir spürten, wie wir steil hinauffuhren, wie auf einer Achterbahn, sodass wir fast aufrecht waren im Bett, dann ein Augenblick des Stillstands, und schon stürzten wir im freien Fall hinunter, flogen eineinhalb Meter aus den Betten, das Schiff klatschte aufs Wasser. Alles fiel herunter, eine Flasche Grenadinesirup zerschellte.
Als wir im Hafen ankamen, wurden wir angeschaut, als wären wir Gespenster, weil die Leute nicht glauben konnten, dass wir den Sturm überlebt hatten. Zwei Polizisten auf schweren Motorrädern kamen an den Hafen, stiegen ab, und schon wurden ihre Töff von einer starken Böe erfasst und in den Hafen gerissen. Als unser Boot endlich sicher vertäut war, schliefen wir alle fünf bis sechs Stunden wie betäubt, nicht einmal die Wespen, die der Sirup angezogen hatte, störten uns noch. In dem Moment wurde mir klar, was für ein Geschenk, wie wertvoll das Leben ist. Sonst hätte man nicht solche Todesangst.
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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
leme mehr» haben: Snowflakes! Noch so ein tolles Wort. Gemeint ist die junge Generation von Linken, die angeblich so empfindlich ist, dass sie bei der kleinsten Berührung schmilzt – und jede*r Einzelne von ihnen ist individuell! Haha! Aber mal im Ernst: Was ist denn «Empfindlichkeit» für ein politisches Argument in einer Gesellschaft, die sich ja hoffentlich vom Sozialdarwinismus distanziert? Ist es nicht eine Errungenschaft, sich miteinander über Sprache auseinandersetzen zu können? Letztendlich geht es doch darum, über Sprache Sensibilisierung und gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Aber genau da sehe ich noch Handlungsbedarf: Wenn queerfeministische Bewegungen beispielsweise das Gendersternchen etablieren wollen und die halbe Welt nicht begreift, wer damit gemeint ist und warum der Stern demokratisch sinnvoll ist, aber alle verstanden haben, was der Begriff «Genderwahn» heissen soll, dann ist doch was schiefgegangen.
Moumouni …
… zur Nettheit Ich bin immer wieder fasziniert von der Kreativität rechter Meinungsmacher*innen und frage mich, wo man sich ein Scheibchen abschneiden könnte. Manchmal wünsche ich mir zum Beispiel, ich hätte den Begriff Feminazi erfunden. Eine brillante Wortschöpfung, witzig, schnittig, sexy – sofern man der Meinung ist, dass es rassistisch und faschistoid sei, sich für die Gleichstellung der Geschlechter einzusetzen. Die Frage ist, wie Begriffe so zu etablieren, dass sie einen Weg in den normalen Sprachgebrauch finden und jede*r selbstverständlich weiss, was sie bedeuten. Wie zum Beispiel der grusige Begriff der Political Correctness. Man kann linken Bewegungen einiges an staksiger Sprache vorwerfen – aber diese Wortschöpfung kommt von der anderen Seite! Political Correctness ist ein ursprünglich Surprise 501/21
polemischer Begriff für nicht-diskriminierende Sprache, und doch – zack! – hat er sich etabliert. Als hätte je irgendjemand gefordert, ein Büro für Stock-imArschigkeit zu eröffnen. P o l i t i s c h k o r r e k t ! Was heisst das überhaupt? Ich will keine Korrektheit: Ich will Reflexion und Verantwortungsbewusstsein über Sprechhandlungen, die gesellschaftliche Defizite manifestieren. Ich frage mich ja, warum die Person, die diesen Begriff erfunden hat, hier nicht gleich auf «politisch nett» gekommen ist, um die «empfindlichen Linken» noch ein bisschen mehr zu «ärgern» – wie es gern genannt wird in Debatten, in denen um Begriffe gestritten wird, die teilweise jahrhundertealte Missstände widerspiegeln und deshalb hinterfragt werden. Die Empfindlichkeit der Linken, die alle «keine echten Prob-
Deshalb muss man wohl ebenfalls zu Polemik greifen. Dann wird der unsäglichen Cancel Culture der «alte weisse Mann» gegenübergestellt. Das ist zwar auch eine grobe Vereinfachung, aber wenigstens gibt es irgendeine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Cishetero-Patriarchat und rassistischen Strukturen. In Wahrheit geht es doch um politische Macht, und dass es jetzt wohl auch Rechten und Konservativen an den Kragen geht – sodass «man heutzutage nichts mehr sagen darf»! Zu empfindlich für Kritik? Grow up! Wer wird denn gleich zu Holocaustvergleichen greifen? Vielleicht ist ja das geschichts-analphabetische Gejammer à la «Cancel Culture, die Hexenjagd 21. Jahrhunderts» und «Sprachpolizei, schlimmer als die Stasi» auch nur eines: Ein verzweifelter Ruf nach politischer Nettheit. Jetzt plötzlich!
FATIMA MOUMOUNI
hat sich noch nicht entschieden, ob sie lieber gegen Rechte zurückmobben will oder doch eher mit viel Geduld für den gesellschaftlichen Zusammenhalt arbeitet.
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«Die Regierung kam zu uns und sagte: Morgen müsst ihr raus sein», sagt Brisilda Taco.
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Mehr Bildung, mehr Rechte Albanien Junge Roma-Aktivist*innen haben genug von
Diskriminierung und Demütigungen – und kämpfen für eine bessere Zukunft. TEXT ASTRID BENÖLKEN UND TOBIAS ZUTTMANN
FOTOS TOBIAS ZUTTMANN
Tirana
ALBANIEN
Den Demonstrant*innen blieb nichts ausser Wut. Sie hielten Bilder hoch von dem, was einmal ihre Häuser gewesen waren. Abrissfahrzeuge hatten die Kunststoff-Wellplatten der Dächer eingedrückt und die Wände zerfleddert, als bestünden sie aus Papier. Sie hatten Sessel weggebaggert, Vorhänge, Kinderfotos, Erinnerungen. Unter den Protestierenden war auch Brisilda Taco, sie reichte die Megafone weiter, stimmte Sprechchöre an. Sie war es auch, die zu der Demonstration vor dem Rathaus von Tirana aufgerufen hatte. Von einem Tag auf den anderen waren Dutzende Roma-Familien in der Hauptstadt Albaniens enteignet und ihre Wohnungen zerstört worden – wieder einmal. «Die Regierung kam zu uns und sagte: Morgen müsst ihr hier raus sein», erinnert sie sich. Fünf Jahre sind seither vergangen, doch Brisilda Tacos Wut ist immer noch spürbar. Jahrelang dokumentierte Amnesty International, wie Roma in verschiedenen albanischen Städten von einem Tag auf den anderen ihr Zuhause verloren, in Zelte Surprise 501/21
oder in die Obdachlosigkeit gedrängt oder in Bussen an den Stadtgrenzen ausgesetzt wurden. Rechtswidrige Zwangsräumungen verstossen gegen die Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich Albanien offiziell verpflichtet hat. Dass Städte wie Tirana trotzdem immer wieder kurzfristig Räumungen anordnen, sei Kalkulation, glaubt Brisilda Taco: «In Albanien gibt es viele gute Gesetze, aber sie werden nicht umgesetzt, wenn niemand auf seinen Rechte besteht.» Auch Brisilda Taco wusste lange nicht, was sie gegen den scheinbar allmächtigen albanischen Staat tun sollte. Behörden, an die sie ihre Beschwerden richtete, verwiesen sie an andere Zuständige weiter, die sich auch nicht in der Verantwortung sahen. Doch Taco und andere junge Aktivist*innen gaben nicht auf, sie vernetzten sich mit Roma in ganz Europa, arbeiteten sich in die Gesetze ein, nahmen nicht mehr hin, wurden laut. «Wir sind mit einem Anwalt zum Premierminister gegangen und haben gesagt: So ist die Gesetzeslage, ihr verstosst gegen geltendes Recht», erzählt
Brisilda Taco. Seit 2017 sind für die Roma in Albanien Zwangsräumungen kaum noch ein Problem. Tacos Erfolg ist auch ein Symbol für den Aufbruch der Roma in diesem Land. Die albanischen Roma fangen an, sich zu organisieren, zu informieren und sich für ihre Rechte einzusetzen. Immer noch Fremde Seit Jahrhunderten werden Roma in Europa vertrieben, versklavt und getötet. Obwohl ihre Vorfahren schon vor etwa tausend Jahren aus der Region des heutigen Indien nach Europa kamen, werden sie oft immer noch wie Fremde behandelt. «Nicht nur durch die Gesellschaft, auch durch die staatlichen Institutionen erfahren wir seit Jahrhunderten strukturellen Rassismus. Roma werden wie Bürger*innen zweiter Klasse behandelt», kritisiert Adriatik Hasantari, Vorsitzender der NGO Roma Active Albania. Das Speichenrad als Symbol der Roma, das auch für den nomadenhaften Lebensstil steht, ist schon lange zum Stillstand gekommen: Grosse Teile der albanischen 9
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Gemeinschaften sind spätestens seit dem Sozialismus sesshaft geworden. «Es gibt aber noch immer die Vorstellung, dass es reicht, wenn man die Roma mit ein bisschen Essen abspeist, damit sie weiterziehen und ihr Leben an irgendwelchen Flüssen verbringen, barfuss und die ganze Zeit tanzend», sagt Hasantari. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur 1991 war Albanien das drittärmste Land der Welt. Während es in den folgenden Jahren für viele Albaner*innen langsam aufwärts ging, wurden die Roma oft vergessen oder bewusst übergangen. Viele wurden in Siedlungen an die Stadtränder abgeschoben, ohne Strom, ohne fliessendes Wasser, ohne Perspektive. Auch heute wohnt ein Grossteil der schätzungsweise 100 000 Roma im 2,8-Millionen-Einwohner*innen-Staat Albanien in prekären Verhältnissen. Eigentlich sieht Adriatik Hasantari die Verantwortung für eine Veränderung bei der albanischen Mehrheitsbevölkerung und beim Staat. «Antiziganismus ist kein Problem der Minderheit, das durch seine 10
Existenz dieses Verhalten hervorruft. Es ist ein Problem der Mehrheitsgesellschaft, die diese Gruppe nicht akzeptiert.» Doch Aktivist*innen wie er und Brisilda Taco wollen nicht länger darauf warten, dass diese Bürde von ihnen genommen wird. Sie wollen selbst die Veränderung herbeiführen, die sie sich wünschen. «Seit einigen Jahren verbessert sich die Situation der Roma erheblich, denn es gibt immer mehr gut ausgebildete Roma», sagt die Aktivistin. Sie selbst ist als Erste in ihrem Viertel zur Universität gegangen. «Eine Freundin von mir ist 33 und ist vor Kurzem Grossmutter geworden. Ich bin 32 und habe noch nicht einmal ein Kind.» Möglich gemacht habe das nur die Unterstützung ihrer Familie, sagt Taco. Mit Bildung gegen Armut «In Albanien herrscht ein patriarchales System», erklärt der Rom Emiliano Aliu. Deswegen sei es entscheidend, den Eltern klar zu machen, dass nur Bildung ihre Kinder aus dem Kreislauf der Armut befreien könne, in dem sie ein System aus Diskri-
minierung und Unterdrückung gefangen halte. Aliu ist Leiter der NGO Roma Versitas Albania, die sich für bessere Bildungschancen einsetzt. Nur wer die Schule abschliesst, hat die Möglichkeit, einen besser bezahlten Job zu bekommen. Doch nach Angaben der Vereinten Nationen gehen nur 55 Prozent der Roma in Albanien überhaupt zur Schule – für die albanische Gesamtbevölkerung liegt die Quote bei hohen 97 Prozent. Und die meisten Roma besuchen den Unterricht nur bis zur 4. Klasse. «Viele Familien sind stärker darauf konzentriert, Essen zu besorgen, als ihre Kinder an der Schule anzumelden», sagt Aliu. Die Kinder müssten ihren Eltern bei der Arbeit helfen, weil sie sonst verhungern würden. Oft verstehen die Eltern zudem nicht die Notwendigkeit einer Schulbildung über die Grundschule hinaus – die meisten von ihnen sind selbst nur vier Jahre zur Schule gegangen. Spätestens mit dem Ende der Schulpflicht nach der 9. Klasse ist für die meisten Roma-Schüler*innen Schluss. Im Alter von 16 Jahren haben 96 Prozent der Roma-Mädchen die Surprise 501/21
1 Brisilda Taco ist als Erste in ihrem Viertel zur Universität gegangen. 2 Roma würden immer noch wie Bürger*innen zweiter Klasse behandelt, sagt Adriatik Hasantari von der NGO Roma Active Albania. 3 Oft leiden Roma-Kinder darunter, dass Lehrer*innen ihnen aufgrund rassistischer Vorurteile schlechtere Noten erteilen.
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«Viele meinen immer noch, dass es reicht, wenn man die Roma mit ein bisschen Essen abspeist.» ADRIATIK HASANTARI
Schule bereits verlassen, von den Jungen gehen 68 Prozent nicht mehr zur Schule. Auch wenn das in Albanien verbreitete Vorurteil falsch ist, dass die meisten Roma als Kinder verheiratet werden, und obwohl verlässliche Zahlen schwer zu erlangen sind, ist die Jugendehe laut Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen trotzdem nicht selten. Die betroffenen 15- oder 16-Jährigen müssen dann für ihre neugegründete Familie sorgen – der Besuch einer weiterführenden Schule ist ein Luxus, den sie sich nicht leisten können. Surprise 501/21
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Und dann ist da noch die systematische Diskriminierung durch die Gesellschaft. Lehrer*innen geben aufgrund rassistischer Vorurteile schlechtere Noten, Roma müssen teils in der letzten Reihe sitzen, und auch die Sprache ist eine Hürde: Viele Roma-Kinder sprechen als erste Muttersprache Romanes statt Albanisch. «Als ich in die 1. Klasse kam, sprach ich einen Mix aus Romanes und Albanisch», erinnert sich Aliu. Er hatte Glück, eine Lehrerin lernte nach dem Unterricht mit ihm Albanisch: «Ohne ihre Hilfe hätte ich Probleme gehabt, dem Unterricht zu folgen, Angst davor, zu sprechen, und schlechtere Noten bekommen. Dann hätte ich vielleicht auch schon nach der 4. oder der 9. Klasse die Schule abgebrochen.» Aliu wuchs in einer Roma-Siedlung auf, seine Mutter war eine gute Schülerin, wollte studieren, sein Vater Fussball-Profi werden. Doch beide mussten im Alter von 16 Jahren heiraten. «Die Träume meiner Eltern wurden nicht wahr. Also haben sie dafür gesorgt, dass meine wahr werden können», sagt Aliu. Sie unterstützten ihn in der Schule und bekräf-
tigten ihn in seinem Vorhaben zu studieren. Aliu ist fest davon überzeugt, dass Bildung ein entscheidendes Mosaikteilchen für das erwachende Selbstbewusstsein der Roma ist. «Als ich mich 1999 an einer albanischen Universität einschreiben wollte, war ich der einzige Roma, der sich beworben hatte», sagt der 40-Jährige. Aliu wurde – wie viele albanische Mitbewerber*innen – trotz herausragender Noten abgelehnt: «Ich hatte keine Chance, in meinem Land zu studieren, ich musste für mein Studium nach Italien gehen.» Dort arbeitete er fast pausenlos, um sich sein Studium zu finanzieren: «Damals habe ich vielleicht drei, vier Stunden pro Nacht geschlafen.» Lockdown als Überlebenskampf Aliu spricht schnelles Englisch, laut und energisch. Noch zwanzig Jahre später merkt man, wie sehr es ihn ärgert, dass die Regierung nicht einen Studienplatz für einen Roma freimachen konnte. Das hat sich inzwischen geändert, mithilfe seiner NGO konnte er etwa 200 Roma zum Studium 11
4 Kristina Myrteli studiert Jura, um später ihre eigenen Leute beraten zu können. 5 Emiliano Aliu setzt sich dafür ein, dass mehr Roma eine Schulausbildung machen. 6 Viele Roma konnten ihre Kinder während des Lockdowns kaum beim Lernen unterstützen.
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«Ich kann mit meinem Handy zwar am Unterricht teilnehmen, aber habe keinen Zugang zum Bibliothekssystem der Uni.» KRISTINA MYRTELI
verhelfen. «Aktuell studieren 37 Roma – im ganzen Land», sagt Aliu. Gemessen am Bevölkerungsanteil noch immer wenige, doch es ist ein Anfang. Alius Organisation vergibt Stipendien, hilft Roma beim Bewerbungsprozess, und Tutor*innen unterstützen die Studierenden. Kristina Myrteli studiert im zweiten Jahr Jura. Ohne die Hilfe von Roma Versitas hätte sie dazu keine Möglichkeit gehabt, ist sich die 19-Jährige sicher: «Wie hätte 12
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ich die Studiengebühren zahlen sollen?», fragt sie. Myrteli studiert Jura, um später ihrer Community mit einer Rechtsberatung zu helfen. «Viele Roma kennen ihre Rechte nicht, das ist ein Problem», sagt sie. Myrteli ist eine gute Studentin, doch Corona hat vieles verändert. Sie teilt sich eine kleine Wohnung mit anderen Studierenden. Internet gibt es, doch einen Laptop hatte sie nicht, als der Distanzunterricht eingeführt wurde. «Ich kann mit meinem Handy zwar am Unterricht teilnehmen, aber habe keinen Zugang zum Bibliothekssystem der Uni.» Myrtelis Noten haben sich deutlich verschlechtert, das Studieren zu Hause frustriert sie. Und nicht nur Studierende leiden unter dem Lockdown. Auch Roma-Schüler*innen gehören zu den Verlierer*innen der Pandemie. Viele Roma können ihre Kinder beim Lernen kaum unterstützen, es fehlen die Schulbücher, sie haben keinen Zugang zum Internet – nur sieben Prozent der Roma in Albanien besitzen gemäss einer Studie der UN einen Computer. «Ich denke, Corona hat die meisten
Roma-Schüler um zwei Jahre zurückgeworfen. Und nicht wenige werden nicht mehr in die Schule zurückkehren», schätzt Hasantari. Der Lockdown wurde für viele Roma zum Überlebenskampf. Eine Studie der UN vom Juli 2020 ergab, dass in 90 Prozent der Haushalte nicht genug Essen zur Verfügung stand. Ein Grund war, dass nicht einmal jeder fünfte Rom eine Festanstellung hat. Denn die meisten Roma arbeiten im informellen Sektor und konnten im Lockdown kein Geld verdienen. «Wir bekamen Anrufe von Leuten, die sagten, dass sie Hunger litten», erinnert sich Hasantari an die Anfänge der Pandemie. Politisch Einfluss nehmen Ebenso war es für Roma schwieriger als für andere Albaner*innen, die von der Regierung vorgegebenen Hygienemassnahmen einzuhalten. Mehr als doppelt so häufig wie in der restlichen Bevölkerung leben Roma in beengten Wohnverhältnissen und müssen sich mit mehr als vier Personen eine Wohnung teilen. Da ist kaum Raum für Abstandsregeln. Nur knapp die Hälfte Surprise 501/21
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der Roma hat zudem Zugang zu fliessendem Wasser, regelmässiges Händewaschen ist nur schwer möglich. Die Pandemie wirft vor allem den Kampf um Gleichberechtigung zurück. Als die Panik wuchs, fielen viele Menschen wieder in überholt geglaubte Denkmuster zurück. «Den Roma wurde angehängt, sie hätten das Virus ins Land gebracht, es ausser Kontrolle geraten lassen und verteilt», sagt Hasantari. Der Corona-Hass, so scheint es, könnte ein weiteres Kapitel von Roma-Feindlichkeit in Albanien bilden. Die Folgen davon werden vor allem die Jüngsten zu spüren bekommen: «Wir haben durch verschiedene Projekte erreicht, dass Roma und Albaner*innen friedlich koexistieren können. Aber diese physische Verbindung existiert bei den Schüler*innen nicht mehr, weil der Unterricht online stattfand», sagt Adriatik Hasantari. All die Arbeit der NGOs im vergangenen Jahrzehnt gegen Antiziganismus und für bessere Chancen für Roma könnte durch die Pandemie zunichte gemacht worden sein, glaubt er. Surprise 501/21
Alius NGO Roma Versitas Albania versucht ihr Bestes, um die Chancengleichheit zumindest in Ansätzen zu wahren. Sie hat hundert Tablets gekauft, um sie an Roma-Schüler*innen zu verteilen. Aliu fährt an den Stadtrand von Tirana, wo Kinder auf der Strasse zwischen den Schlaglöchern und nie trocknenden Pfützen Kreise mit dem Fahrrad drehen. Die Luft schmeckt nach Benzin und Staub, die Häuserwände sind zerfressen vom Wetter. In einem engen Hinterhof sind Familien zusammengekommen. Aliu ruft die Schüler*innen auf und übergibt die Geräte. Bei einem Jugendlichen erhebt Aliu die Stimme, sein Ton wird scharf. Um seine Familie zu unterstützen, hat der Junge die Schule abgebrochen und arbeitet jetzt. Es gehe nicht darum, Geschenke zu verteilen, es gehe um seine Zukunft, weist Aliu den Jungen zurecht. Er solle zu ihm ins Büro kommen und sich für eine Ausbildung einschreiben, die Aliu mit seiner NGO anbietet – dann bekomme er zur Unterstützung das Tablet. Aliu redet auch der Familie ins Gewissen. Die Zeit, die der Junge jetzt in
eine Berufsausbildung investiere, zahle sich später aus. Doch bei allen Bemühungen reicht Bildung allein nicht aus. «Wenn wir einen echten Wandel erreichen wollen, müssen Roma in den entsprechenden Positionen in der Politik sein», erklärt Aliu. Er sitzt im Stadtrat von Rrogozhina und kann dort Einfluss nehmen. Damit ist Aliu eine Ausnahme: «In den Verwaltungen unseres Landes sitzen vielleicht drei Roma – Personen, nicht Prozent wohlgemerkt.» Auch Brisilda Taco hat dieses Problem erkannt. «Inzwischen gibt es viele gut ausgebildete Roma, doch die meisten arbeiten in NGOs und nicht in der Verwaltung oder der Politik.» Roma werden zwar aufgefordert, sich zu bewerben. «Aber wir bekommen den Job nicht, weil wir keine Berufserfahrung haben. Doch wie sollen wir die sammeln, wenn wir nie zugelassen werden?», fragt Taco. Doch davon hat sie sich nicht aufhalten lassen. «Aktuell bin ich Aktivistin, weil ich keine Kompromisse eingehen will. Aber vielleicht kandidiere ich später für den Stadtrat – und dann fürs Parlament.» 13
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«Unlautere Zahlenzaubereien» Medizin Sie bestimmen den Wert eines Menschenlebens: Gesundheits-
ökonom*innen werden immer wichtiger. Der Arzt Michel Romanens hält ihre Berechnungen für ethisch fragwürdig – und mathematisch falsch. INTERVIEW ANDRES EBERHARD
FOTOS FILIPA PEIXEIRO
In einem Fachartikel warfen Sie den Schweizer Behörden Realitätsverlust beim «Impfdebakel» vor. Meistert die Politik die Pandemie wirklich so schlecht? Mich hat erschreckt, dass man anfangs offenbar gar nicht wusste, was eine Pandemie ist. Und sie deswegen zu wenig ernst nahm. Die Maskenpflicht zum Beispiel kam viel zu spät. Danach zeigte sich, wie unglaublich effizient die Medizin Impfstoffe herstellen kann. Doch die Behörden zögerten und stellten sich immer wieder dieselbe Frage: Was kostet das? Das ist fatal.
Ist das Verhalten in der Pandemie typisch für die Schweizer Gesundheitspolitik? Typisch ist vor allem der Reflex: Das kostet zu viel. Die Behörden argumentieren in der Regel, dass sie sich nicht von den hohen Preisen der Pharmaindustrie erpressen lassen wollen. Das zeigte sich auch schon früher, etwa bei der Debatte um Hepatitis C. Bei einer solchen Argumentation verliert das Volk. Denn bei hocheffizienten Therapien lohnt es sich, den Preis zu zahlen. In der Pandemie haben das andere Länder schneller begriffen.
Warum? Sie haben falsch gerechnet. Die Pandemie ist eine Notfallsituation, in der wir möglichst schnell möglichst viel impfen müssen. Warten wir zu lange, wird es insgesamt viel teurer. Impfdosen für die ganze Bevölkerung zu beschaffen kostet etwa eine Milliarde Franken. Die volkswirtschaftlichen Kosten eines Lockdowns werden auf 25 Millionen Franken pro Tag geschätzt. Das Geschäft lohnt sich also bereits nach knapp vierzig Tagen. Die Regierung hätte alles daransetzen müssen, sich bei den Herstellerfirmen möglichst schnell Impfdosen zu beschaffen. Stattdessen zögerte sie. In dieser Zeit breitete sich das Virus aus, zahlreiche Menschen starben an Covid-19.
Aber irgendwo braucht es doch eine Grenze. Nehmen wir an, jemand ist 90 Jahre alt und braucht ein Medikament, das mehrere Hunderttausend Franken kostet. Soll die Allgemeinheit das bezahlen? Solche extremen Fälle sind selten und belasten das Gesundheitsbudget kaum. Darum sollten sie zwischen Ärzt*innen und Patient*innen ausgehandelt werden. Man sollte aus solchen Einzelfällen keine Skandale ableiten. Denn wenn man sagt, dass 100 000 Franken für eine 90-jährige Person zu viel sind, dann wendet man die normative Regel auf andere an. Erst sind es die 80-Jährigen, dann die 75-Jährigen.
Ist dieses Zögern nicht berechtigt? Beim Impfstoff von AstraZeneca stellte sich heraus, dass er Hirnvenenthrombosen auslösen kann, die einen Schlaganfall zur Folge haben und potenziell tödlich sind. Das stimmt, aber solche Hirnvenenthrombosen treten sehr selten auf. Einen Beweis, dass wirklich der Impfstoff die Ursache ist, hatte man nie. Gleichzeitig sterben Menschen am Virus, wenn man nicht rechtzeitig genug Impfstoff hat. Die Diskussion um AstraZeneca zeigt für mich, dass man von der Medizin verlangt, sie dürfe nie schaden. Aber das ist unsinnig. Richtig wäre: Die Medizin soll nicht schaden. Denn jede Wirkung hat Nebenwirkungen, immer. Surprise 501/21
Sie kritisieren mit dem Verein Ethik und Medizin Schweiz die Entwicklungen im Schweizer Gesundheitssystem scharf. Warum? In der Schweiz haben heute Gesundheitsökonom*innen eine enorme Macht erlangt. Sie berechnen, welche medizinischen Massnahmen kosteneffektiv sind und welche nicht. Sie nutzen dafür allerdings primitive Modelle. Diese berücksichtigen die sozialen Kosten und den Wert des Lebens nicht. Damit können effektive Therapien als unwirksam dargestellt werden. Und das ist nicht akzeptabel. Können Sie ein Beispiel geben? Das einflussreiche Swiss Medical Board liess untersuchen, wie kosteneffektiv sogenannte Statine sind. Es handelt 15
sich um Medikamente zur Senkung des Cholesterinpegels. Sie sind dazu da, Herzinfarkte und Hirnschläge zu verhindern. Nun haben Gesundheitsökonom*innen berechnet, wie hoch die Kosten von Statinen pro gewonnenes Lebensjahr sind. Dafür verwendeten sie das sogenannte QALY-Verfahren, das Lebensjahre nach Qualität bewertet. 0 bedeutet Sterben, 1 ist ein Jahr bei voller Gesundheit. Das Resultat: Statine kosten 210 000 Franken pro gewonnenes Lebensjahr. Der Aufschrei war gross, denn das ist in der Tat ein hoher Betrag. Der «Skandal» passt gut in das Narrativ von angeblich vielen unnötigen Behandlungen, welche die Gesundheitskosten explodieren lassen. Nur: Die Berechnung war komplett falsch. Woher wissen Sie das? Wir haben nachgerechnet. Die Analyse wies diverse methodische Fehler auf. Der Augenfälligste: Die Kosten für die Gesellschaft bei einem Todesfall bezifferten die Gesundheitsökonom*innen auf 8500 Franken. Das hätte selbst Laien stutzig machen müssen: Das also soll der Wert eines Menschenlebens sein? Wie viel Wert hat ein Menschenleben für Sie? Ich halte solche Berechnungen generell für willkürlich und der modernen Medizin unwürdig. Denn jeder Tod hat ja auch soziale Kosten zur Folge. Das heisst, Arbeitgeber*innen verlieren das Know-how ihrer Mitarbeiter*innen, Kinder ihren Vater oder ihre Mutter, und so weiter. Aber wenn schon gerechnet wird, dann wissenschaftlich korrekt. In vergleichbaren Hochrechnungen aus Deutschland und den USA wurden Werte von 200 000 Euro beziehungsweise 243 600 Dollar pro Jahr errechnet. Setzt man diese Beträge ein, ergibt sich ein vollkommen anderes Bild.
Ihr Verein ist eher klein. Warum nehmen sich einflussreichere Stimmen der Ethik wie etwa die Kommission der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften (SAMW) des Problems nicht an? Die meisten Institute hinterfragen die Annahmen der Gesundheitsökonomie nicht. Wir fordern: Ethiker*innen müssen mindestens so schlau sein wie jene, die sie beurteilen. Sie müssen also in der Lage sein, nachzurechnen. Das wird viel zu selten gemacht. Sie erwähnten das Narrativ von den vielen unnötigen Behandlungen … … für das es keinerlei Beweise gibt. Die allermeisten in unserem Beruf sind nicht in erster Linie Arzt oder Ärztin geworden, um sich damit eine goldene Nase zu verdienen. Trotzdem werden Massnahmen getroffen, die solche Motive korrigieren sollen. Ich bin überzeugt, dass die Schweizer Gesundheitspolitik gerade das Gegenteil dessen erreicht, was sie beabsichtigt: dass unser Gesundheitswesen immer teurer wird, gerade weil es immer effizienter werden soll.
Welche Folgen hat diese fehlerhafte Analyse? Solche falschen Studien setzen Ärzt*innen unter Druck, nicht zu behandeln. Im Beispiel mit den Statinen hat dies Hirnschläge oder Herzinfarkte zur Folge, die hätten verhindert werden können.
Das müssen Sie erklären. Die Behörden überprüfen jährlich die Kosten, welche Schweizer Ärzt*innen verursachen. Wer zu teuer ist, wird gebüsst. Damit sollen unnötige Behandlungen verhindert werden. Jedoch tritt das Gegenteil ein: Massgebend sind nämlich die Durchschnittskosten pro Patient*in. Wenn ein Arzt also viele teure Patient*innen hat, etwa weil er ein teures Ultraschall-Gerät in der Praxis hat oder auf Krebsmedizin spezialisiert ist, was macht er? Er wird teure Patient*innen weiterleiten, statt sie selbst zu behandeln. Womit die Kosten steigen. Oder aber er behandelt mehr «günstige» Patienten, damit der Durchschnittswert sinkt – auch wenn dies gar nicht angezeigt wäre. Unnötige Behandlungen werden so paradoxerweise just durch jene Anreize ausgelöst, mit denen sie verhindert werden sollten.
Grundsätzlich gilt aber immer noch die Therapiefreiheit. Das heisst, Ärzt*innen können sich über solche Analysen hinwegsetzen. Das stimmt. Jedoch übernehmen sie ein erhöhtes Risiko, haftbar gemacht zu werden, falls bei der Behandlung Nebenwirkungen auftreten. Plötzlich stehen Ärzt*innen, die ihre Patient*innen vor Herzinfarkten oder Hirnschlägen schützen wollen, als potenziell Kriminelle da. Vor allem aber ist das QALY-Verfahren das perfekte Instrument für Gesundheitsökonom*innen, um Politiker*innen zu bedienen. Diese können dann auf dieser
Haben Sie eine Lösung? Es müsste überprüft werden, wie stark verbreitet die viel gescholtene geldgetriebene Medizin ist, welche die Gesundheitskosten angeblich in die Höhe treibt. Das einzige wirklich geeignete Instrument dafür sind Audits. Dabei überprüfen unabhängige professionelle Fachkräfte die Situation vor Ort. Leider gibt es solche hierzulande kaum. Das öffnet Tür und Tor, um Dinge zu behaupten, die stets wiederholt werden und irgendwann nicht mehr hinterfragt werden. So etwa, dass rund 30 Prozent der Gesundheitskosten auf unnötige Behandlungen zurück-
Nämlich? Gerade das Gegenteil dessen, was die Gesundheitsökonom*innen behaupten: Die Therapie mit Statinen ist sehr kosteneffektiv. Es ist ja auch absurd: Da behauptet tatsächlich einer, Cholesterinsenker seien unbezahlbar, wo diese pro Tag gerade einmal 36 Rappen kosten.
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Basis Gesundheitsleistungen rationieren, konkret: bei Gebrechlichen und Kranken sparen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind solche Analysen nichts anderes als unlautere Zahlenzaubereien. Und aus medizinethischer Sicht sind sie diskriminierend gegenüber den Bedürftigen. Darum sind QALY-Verfahren in einigen Ländern wie etwa den USA zur Bewertung von Therapieentscheiden verboten.
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gehen. Ich gehe eher von 5 Prozent aus. So zeigt eine Studie, dass Hausärzt*innen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz eher unter- als überversorgen. Indem man auf die angeblich häufigen unnötigen Behandlungen fokussiert, lässt man zudem andere, viel wichtigere Gründe für die Kostensteigerung im Gesundheitswesen ausser Acht. Dass Gesundheitskosten ansteigen ist normal und wird so bleiben. Wie meinen Sie das? Im Vergleich zu anderen Sektoren ist das Gesundheitswesen stark von der Entwicklung der Personalkosten abhängig. Und diese lassen sich, im Gegensatz zur Produktion von Staubsaugern oder Computern, nun mal nicht viel kosteneffizienter gestalten. Dadurch wird das Gesundheitswesen, genauso wie andere Dienstleistungen, im Vergleich zu anderen Sektoren immer teurer. Die vielzitierte «Kostenexplosion» wird sich also fortsetzen. Und das selbst ohne Alterung der Bevölkerung, teure Medikamente oder weitere oft genannte Kostentreiber.
«Die Schweizer Gesundheitspolitik erreicht gerade das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt: Das Gesundheitswesen wird immer teurer, weil es immer effizienter werden soll.» MICHEL ROMANENS
Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie in Olten sowie Präsident des Vereins Ethik und Medizin Schweiz (VEMS).
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Heisst das: Löhne drücken, damit die Kosten im Lot bleiben? Um Himmels willen nein. Wir sollten diese Entwicklung uns bewusst machen: Wir können uns ein teureres Gesundheitssystem leisten, solange die Löhne steigen. Da die Einkommen bei ärmeren Menschen weniger stark steigen, muss der Staat diese Menschen auf Dauer stärker unterstützen – namentlich mit Prämienverbilligungen. Was man einmal genauer unter die Lupe nehmen müsste, sind die Verwaltungskosten. In den USA stiegen diese 34-mal so stark wie die Personalkosten, wie eine Untersuchung nahelegt. Ein weiteres Thema ist die Prävention. Ob Tabakwerbung, Luftverschmutzung oder Lärmemissionen: Mit unserer Umwelt produzieren wir Kranke, die vom Gesundheitswesen behandelt werden müssen. Gesundheitsökonom*innen stützen sich oft auf den Utilitarismus. Der will das grösste Glück für die grösste Anzahl Menschen. Klingt doch vernünftig, oder nicht? Der Utilitarismus geht davon aus, dass eine Handlung moralisch dann richtig ist, wenn sie den grösstmöglichen Nutzen für alle erzeugt. Das Problem ist, dass ein Individuum unmöglich eine solche Entscheidung treffen kann. Wenn ich zum Beispiel einer 90-jährigen Person ein teures Krebsmedikament verwehre, ist überhaupt nicht gesagt, dass das Geld an einem anderen Ort effizienter eingesetzt wird. Es gab einmal ein Experiment, in dem die Teilnehmer*innen angehalten wurden, utilitaristisch zu handeln. Das Resultat: Sie behandelten Kinder mit Blutkrebs nicht, dafür solche mit einer Hasenscharte. Es funktioniert einfach nicht. Der Utilitarismus ist im Grunde ein ökonomisch-liberales Konzept. Er schafft einen Durchschnittswohlstand für alle, ist aber blind für das Leid der wenigen Bedürftigen. Genau für diese sollte die Medizin aber da sein. Darum geht es ja auch beim Konzept der Krankenversicherung: Wir zahlen Prämien ein und erwarten, dass etwas getan wird, wenn wir schwer krank werden. 17
Corona In loser Folge erinnern wir an Menschen, die ihr Leben an Covid-19 verloren haben. Es sind individuelle Begegnungen mit der Trauer – durch die Augen und Erzählungen von Hinterbliebenen.
«Er hätte noch nicht gehen müssen» Richard S. ist mit 86 Jahren an Covid19 gestorben. Für seine Tochter Caroline kam sein Tod zu früh. TEXT SARA WINTER SAYILIR
«Wäre der Papa mein Patient gewesen, hätte ich gesagt: Nein, den nehmen wir nicht auf die Intensivstation.» Caroline S., 36, arbeitet auf der Covid-Intensivstation eines grossen Spitals. Ihr Vater Richard ist 86 Jahre alt und dement, als er sich Ende Januar im Pflegeheim mit dem Virus ansteckt. Mit ihrer Schwester und Mutter ist sie sich einig, dass sie auf keinen Fall möchten, dass er intubiert wird. «Vier, fünf, vielleicht acht Wochen sediert sein, um dann vielleicht doch noch am Tubus zu sterben», das wollten sie um jeden Preis vermeiden. Wenn Caroline S. über die Krankengeschichte ihres Vaters spricht, ist sie Ärztin und Tochter zugleich. Und vielleicht war ein Teil ihrer Motivation, Ärztin zu werden, genau das: »Immer ist mit dem Papi gesundheitlich irgendwas gewesen, immer hat er was gehabt. Nichts Schlimmes, kein Herzinfarkt oder so, aber einfach Schmerzen.» Zunächst jedoch studierte sie Pharmazie wie die Mutter. «Ich bin ihr sowieso sehr ähnlich.» Und ihre Mutter, wird sie später erzählen, habe sich so lange aufopfernd um den kranken Vater gekümmert, bis sie selbst zusammenbrach. Als ältere Tochter begann Caroline S. schon während Surprise 501/21
ILLUSTRATIONEN SARAH WEISHAUPT
des Studiums, die Mutter zu unterstützen. Ihre Schwester entzog sich lange, kam aber wieder näher, als sie begriff, wie krank der Vater war. So könnte man die Geschichte zumindest erzählen. Ob ein Patient wie ihr Vater auf die Intensivstation aufgenommen werde, hänge von verschiedenen Faktoren ab, spricht wieder die Intensivmedizinerin aus Caroline S. Damit sich ein massiver Eingriff wie die bei den Covid-Patient*innen häufig notwendige Intubierung lohne, müsse es eine ernsthafte Perspektive für hinterher geben. Das gilt für jede Form der Intensivmedizin, die dem Körper so viel abverlangt. Eine Person, die einmal länger auf der Intensivstation (IPS) liegt, wird danach nie mehr dieselbe Leistungsfähigkeit erreichen wie vorher. «Das ist den meisten Menschen gar nicht bewusst.» Das ist auch bei jungen Leuten so. «Je länger die Patient*innen auf der IPS liegen, desto mehr baut der Körper ab.» Vor jeder Aufnahme müsse man sich deshalb fragen, ob danach wirklich eine Chance auf ein lebenswertes Leben bestehe. Und bei alten Menschen ist die Gefahr gross, dass diese hinterher dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind – wenn sie denn überleben.
Caroline S. hadert mit dem Corona-Ausbruch im Pflegeheim ihres Vaters. Bei einem der letzten Besuche hatte sie selbst gesehen, wie ein Pfleger ihren Vater umarmte, obwohl der Vater keine Maske trug. Gleichzeitig will sie keine Schuldzuweisungen machen: «Die Menschen brauchen das ja auch, die Nähe. Und einem Demenzerkrankten kann man nicht erklären, dass er eine Maske tragen muss.» Es ging Richard S. gut im Heim, das erste Mal seit vielen Jahren. «Die haben ihn u-gern gehabt. Das hat mich überrascht.» Einmal vor vielen Jahren hatte Caroline S. ihn in die Psychiatrie einweisen lassen, als er dermassen tobte, dass sie ihn nicht mehr beruhigen konnten. Zu jener Zeit fand man bei einer Untersuchung zufällig heraus, dass er unter fronto-temporaler Demenz litt. Eine seltene Form von Demenz, die mit Wesensveränderungen einhergeht. Demenz, das wusste Caroline aus dem Studium, da kann man nichts tun. «Hätte der Papi damals eine Krebsdiagnose bekommen, das wäre einfacher gewesen.» Dagegen hätte man kämpfen können. Für die Mutter hiess das: die Wutanfälle und den Groll aushalten. Die Töchter waren zu diesem Zeitpunkt bereits erwachsen 19
und ausgezogen. «Manchmal hat mich meine Mutter Sonntagabends nach einem Familienessen nach Hause gefahren. Diese Autofahrten waren für sie der Moment, wo sie mal abladen konnte. Zuhause angekommen war ich dann völlig am Boden. U-schlimm», erinnert Caroline S. sich. Was würde er wollen? Anfang Februar hätte Richard seinen ersten Impftermin gehabt. Ende Januar trifft eine Email bei Caroline S. ein, die Station sei wegen eines Corona-Ausbruchs geschlossen und Besuche nicht mehr möglich. Sofort ruft sie das Heim an. Man sagt ihr, ihr Vater sei positiv getestet. Warum man sie nicht angerufen habe? Das sei irgendwie untergegangen. Das Gefühl, durch die Heimleitung nicht gut genug informiert zu werden, wiederholt sich kurz darauf, als die Sauerstoffsättigung des Vaters abfällt und die Familie wieder erst auf Nachfrage davon erfährt. Die drei Frauen lassen ihn ins Spital verlegen. «Ich war froh, dass meine Mutter sich dafür eingesetzt hat.» Auch die Schwester hängt sich jetzt voll rein. Die Doppelrolle als Tochter und Ärztin lastet auf Caroline S., sie ist froh, die Verantwortung für die Gesundheit des Vaters nicht allein zu tragen. Als Oberärztin sitzt sie oft mit den Angehörigen von Patient*innen zusammen, wenn es um Entscheidungen für oder gegen lebenserhaltende Massnahmen geht. «Ich versuche immer, ihnen zu sagen: Stellen Sie sich vor, der- oder diejenige sässe jetzt hier bei uns am Tisch. Was würde sie oder er wollen?» Oft helfe dieser psychologische Trick bei Entscheidungen rund um lebenserhaltende Massnahmen. Nun ist sie als Tochter in derselben Situation. Als der behandelnde Oberarzt ihres Vaters anbietet, man könnte Richard auch ohne zu intubieren in die Intensivpflege aufnehmen, zum Beispiel um ihm mit einer speziellen Sauerstoffmaske das Atmen ein wenig zu erleichtern, ist sie froh: «Ich wusste, die kümmern sich gut um ihn.» Und doch erschrickt sie noch einmal, als sie am nächsten Morgen hört, man habe ihn auf die Intensivstation verlegt. Und die Schwester macht sich Vorwürfe: «Wenn man den Papi früher eingewiesen hätte, hätte man ihm vielleicht helfen können, und er soll doch nicht einfach so sterben.» Caroline S. kennt sich gut mit dem Krankheitsbild von SARS-Cov-2 aus, wie die Infektion medizinisch heisst. Sie zählt zu denen, die seit Beginn der Pandemie 20
Caroline S. ist dankbar für den familiären Heilungsprozess, den die letzten Tage mit dem Vater gebracht haben. mit den Schwererkrankten gearbeitet haben. Dass sie in der ersten Welle der Covid-Station zugeteilt wurde, hat sie nicht infrage gestellt. Zwar sei es ein mühsames Arbeiten mit all der Extra-Schutzkleidung und den zusätzlichen Regeln, aber aus beruflicher Sicht sei es eben auch spannend, die noch unbekannte Krankheit unmittelbar mit zu bekämpfen. Caroline S. sagt das zögerlich, als erscheine es ihr unsittlich, berufliches Interesse daran zu zeigen. «Es ist ein mühsames Krankheitsbild. Es geht nicht vorwärts. Du stehst an den Intensivbetten und gleichst immer wieder die Einstellung des Beatmungsgeräts an, damit die Lunge nicht geschädigt wird. Und das teilweise über Wochen.» Viele Patient*innen bemerkten nicht einmal, dass sie
Atemnot haben. Und doch atmen sie so stark, dass das ohnehin angegriffene Lungengewebe geschädigt wird und vernarbt. Am Sonntag war Richard getestet worden. Am Dienstag erfuhr die Familie, dass er positiv ist. In der darauffolgenden Woche kam er am Mittwoch ins Spital. Und nur einen Tag später auf die Palliativstation. Weil das Infektionsgeschehen zu diesem Zeitpunkt relativ entspannt war, hatten die drei Frauen die Möglichkeit, ihn im Spital zu besuchen. Am Sonntag darauf starb Richard S. «Jede konnte allein und für sich Abschied nehmen.» Hausmann statt Pilot «Er hatte so schöne Hände, das ist mir früher nie aufgefallen. Und dann sass ich da, er war nicht mehr wirklich ansprechbar, aber ich konnte seine Hand halten. Und als ich ihn dort so liegen sah, dachte ich: Papa, du musst nicht mehr kämpfen. Wenn du gehen willst, dann kannst du jetzt gehen, es ist ok.» Caroline S. ist dankbar für den familiären Heilungsprozess, den die letzten Tage mit ihrem Vater gebracht haben. Gerade ihre Mutter konnte sich in der Zeit, als er im Spital lag, mit dem Vater aussöhnen. «Ich glaube, der Papi hat s’Mami wahnSurprise 501/21
sinnig gerngehabt. Aber er hat das nicht so zeigen können. Sein eigener Vater ist gestorben, als er zehn war, die Mutter musste sich allein durchkämpfen. Papi hat wohl als Kind vieles nicht bekommen, was ein Kind braucht.» Plötzlich traten die positiven Erinnerungen an ihn wieder in den Vordergrund, die Anstrengung der letzten Jahre verlor an Bedeutung. «Wir haben zusammen Fotos angeschaut, und da ist er wieder aufgelebt, wie er früher gewesen ist.» Mutter und Vater lernten sich in einer Apotheke kennen, er war damals 40, sie 25. Nach einem halben Jahr waren sie verheiratet. Richard war Pilot. Über sein Leben vor der Hochzeit wissen sie nur wenig. Kurz nach der Hochzeit Mitte der 1970erJahre hatte er in kurzem Zeitabstand drei Auffahrunfälle mit dem Auto. Obendrein wurde er auch noch auf dem Klotener Rollfeld von einem Bus erfasst – danach konnte er nicht mehr als Pilot arbeiten. Dabei war ein ausgezeichneter Flieger gewesen. Doch nun sass er statt in der Maschine mit 50 Jahren als versehrter Hausmann zuhause. «Wir sind vom Papi grossgezogen worden», sagt Caroline S.. «Das klingt zwar megacool, das war immerhin vor über dreissig Jahren, und wir waren die EinziSurprise 501/21
gen. Aber für ihn war das schwierig. Es hat an ihm genagt.» Zwar verdiente er mit Börsengeschäften ein bisschen was dazu und bezahlte damit die Ferien der Familie, aber die Mutter war die Hauptverdienerin, sie leitete eine Apotheke. «Heute würde man jemandem wie ihm psychologische Hilfe anbieten, um den Umbruch zu bewältigen», sagt Caroline S. Damals war das kein Thema. Über seine Gefühle hat der Vater, Jahrgang 1934, nie gesprochen. Immer wieder im Spital Als die Töchter das elterliche Haus verlassen hatten, zogen die Eltern in die Zürcher Agglomeration. «Den Umzug hat er nicht mehr vertragen. Wahrscheinlich war das schon die einsetzende Demenz, das hatte einfach noch keiner gemerkt.» Das ist elf Jahre her. Richard S. war damals 75 Jahre alt. Die Krisen häuften sich, er tobte immer ungebremster. Irgendwann musste die Mutter mit einem Burn-out in die Klinik und kehrte nicht mehr in die gemeinsame Wohnung zurück. «Der Papi hat dann einfach selber gewurschtelt. Man kann es nicht anders ausdrücken.» Caroline S. fuhr regelmässig zu ihm, räumte ein wenig auf, eine Putzfrau gab es auch, die ihm half. Häufig gerieten sie an-
einander. «Und dann gehst du im Streit abends auseinander – das ist nicht schön.» Ihre Schwester hatte zu dem Zeitpunkt Abstand zum Vater genommen. «Sie sind sich sehr ähnlich, das war eine explosive Mischung.» Nach einem fürchterlichen Streit brach die Schwester den Kontakt zunächst ab. Damals war Caroline S. gerade zum Studium in Toronto. «Das war auch gut für mich, dass ich mal rauskam und nicht mehr viel machen konnte aus der Entfernung.» Caroline S. konnte ihre Schwester verstehen, insgeheim beneidete sie diese dafür, sich so abgrenzen zu können. Der Vater wurde immer wieder hospitalisiert. Aber dabehalten haben sie ihn nie lange. Caroline S. frustriert das bis heute. Wenn jemand nicht in eine Einrichtung will, ist nichts zu machen. «Er hat sich immer beklagt, dass er allein sei, aber in ein Altersheim oder eine betreute Wohneinrichtung wollte er nicht.» Caroline S. und ihre Mutter einigten sich darauf, dass es in Ordnung wäre, «wenn er daheim stürzen sollte und nicht mehr aufstehen kann. Dann ist das so.» Tatsächlich kam der Moment, wo er nach einem Sturz eine Hirnblutung erlitt und Caroline S. ihn ins Spital bringen liess. Und wieder möchte sie die Entscheidung nicht allein treffen, nicht Ärztin und Tochter in einem sein. Der Notarzt hatte dafür vollstes Verständnis. Aus dem Spital kam ihr Vater in das Pflegeheim, wo er sich ansteckte. Jetzt kann auch Carolines Schwester dem Vater seine Wutausbrüche verzeihen und kümmert sich liebevoll um ihn, weil sie weiss, wie sehr seine Stimmungen mit seiner Krankheit zu tun hatten. «Er hätte noch nicht gehen müssen.» Wäre Corona nicht gewesen, hätte Richard S. vielleicht noch mitbekommen, dass er im Oktober Grossvater werden würde. Caroline S. ist schwanger.
Surprise Talk: Die Autorin Sara Winter Sayilir im Gespräch mit Simon Berginz: surprise.ngo/talksurprise.ngo/talk
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Psychiatriealltag Das Museum im Lagerhaus St. Gallen zeigt psychiatrische Kliniken als Schaffensort. Die Frage nach dem Verhältnis von Patient*in und Klinik stellt sich hier in der Kunst – aber auch in der Psychiatrie.
Willi Keller hat den Moment vor einem Besuch des Regierungsrats eingefangen (links). Rechts: «Andy» von Roland Schneider.
«Wer bin ich, der Bilder schiesst?» Roland Schneider und Willi Keller sind beide Fotografen, und die Klinik ist ihr Alltag. Für den einen als Patient, für den anderen als Pfleger. TEXT DIANA FREI
«Wer bin ich, der hier inmitten dieser Menschen steht und Bilder schiesst? – Als was stehe ich hier? Als Irrer, so wie sie? Als Besucher, der jederzeit aus eigenem Willen diesen Ort hier wieder verlassen könnte?» Im Sommer 1987 erlebte der Industriefotograf Roland Schneider eine schwere persönliche Krise, die ihn in die Kantonale Psychiatrische Klinik Solothurn führte. Er war nun Patient, der sich sein neues Umfeld als Fotograf aneignete. Auf den Fotos sehen wir das Gesicht eines Mannes, der, ganz nah an der Linse, zwischen seinen Fingern hindurch in die Kamera blickt. Oder einen Mann im Anzug, aber mit zur Hälfte abgeschnittenem Kopf, die letzte Zigarette vor der Entlassung im Mund: wie ein Still aus einem französischen Gangsterfilm. «In der Industriefotografie war es Schneider immer wichtig, das Verhältnis von Arbeiter*innen und Industrie zu zeigen. In der Klinik entspricht das dem Verhältnis Patient*in und Klinik», sagt Monika Jagfeld, die Direktorin des Museum im Lagerhaus. Schneider beginnt zudem, die Klinik zu einem Ort der Kreativität umzudeuten. Sein Zimmer wird zum Atelier. «Uns als Kunstmuseum interessiert, wie der Mensch auf diese Lebenssituation An22
stalt reagiert, wenn er kreativ tätig wird», sagt Jagfeld. «Welche Möglichkeiten stehen zur Verfügung, und welche Themen werden da wichtig?» Nebst den Fotos aus dem Psychiatriealltag zeigt das Museum Werke aus dem Living Museum Wil. Diese Dialogausstellung («Tagträume») knüpft bei dem an, was Schneider von sich aus tat: Patient*innen reagieren mittels Kunst auf ihre Situation. Auch Willi Keller kannte den Klinikalltag gut, aus einer anderen Perspektive: Der ausgebildete Fotograf war von 1963 bis 1972 Psychiatriepfleger in der Klinik Burghölzli in Zürich. 1970 bekam er von der Klinik den Auftrag, den Klinikalltag zu dokumentieren. Auf den Bildern sind Menschen auf Stühlen zu sehen, zusammengekrümmt, aber stets im Anzug. Andere Szenen zeigen den Hof, wo viel geraucht wird. Und immer wieder die beengten, kargen Innenräume. Es sind Bilder aus der Verwahrpsychiatrie, das Gebäude gleicht einem Hochsicherheitstrakt. Keller und einige Ärzt*innen, Ergotherapeut*innen und Pflegepersonal gründeten eine Basisgruppe, die Veränderungen anstrebte. Sie machten sich in Italien ein Bild von Franco Basaglias Ansätzen, einem Pionier Surprise 501/21
FOTOS: WILLI KELLER, HISTORISCHES MUSEUM OLTEN
Gesunden statt Aushalten
der antipsychiatrischen Bewegung. «Im Vergleich merkten wir erst, wie konservativ die Psychiatrie bei uns war», sagt Keller heute. «Anfangs hatten wir noch Therapien wie den Insulinschock oder Schlafkuren. Beides ist gefährlich und kann auch tödlich enden. Neuroleptika verteilte man grosszügig in extrem hohen Dosen. Man machte die Leute schläfrig.» Immerhin wurden um das Jahr 1964 bereits Ergotherapien eingerichtet. 1971 wurde Keller für ein Jahr als Leiter der Intensivtherapie eingesetzt. Er malte und bastelte mit den Patient*innen. «Das war hochspannend. Am Morgen haben wir zusammen gearbeitet. Am Nachmittag gingen wir fast immer hinaus in die Stadt, ins Kino oder Kunsthaus – oder Stoff kaufen im Globus. Da habe ich erlebt, wie die Patient*innen wach wurden und mitmachten.» 1967/68 wurden die Mauern um die Klinik im Zug der Antipsychiatrie eingerissen, ab 1970 baute Ambros Uchtenhagen den Sozialpsychiatrischen Dienst auf, ein Netzwerk aus ambulanter, teilstationärer und stationärer Versorgung. Vor Ort blieb es vorerst dennoch eng. 1971 brach an einem frühen Morgen ein Brand aus, es erstickten 28 Menschen. Die Feuerwehr konnte die eingesperrten Menschen wegen verschlossener Türen und vergitterter Fenster nicht rechtzeitig erreichen.
«Durch die Linse – Fotografien aus dem Psychiatriealltag» und Dialogausstellung «Living Museum Wil – Tagträume», Di bis Fr, 14 bis 18 Uhr, Sa/So 12 bis 17 Uhr, bis am So, 11. Juli, Museum im Lagerhaus, Davidstrasse 44, St. Gallen. www.museumimlagerhaus.ch
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Immer noch werden die Ressourcen der Patient*innen in der Psychiatrie zu wenig beachtet. Psychiatrische Kliniken entstanden in der Schweiz ab Mitte des 19. Jahrhunderts als sogenannte Irrenanstalten oder Heil- und Pflegeanstalten. Die Menschen wurden geografisch dezentral, am Rand der Stadt, zur reinen Verwahrung weggesperrt, was auch signalisierte: Wer eine psychische Erkrankung hatte, lebte ausserhalb der Gesellschaft. Die Verwahrpsychiatrie ging mit geschlossenen Stationen, vergitterten Fenstern und fehlender Beschäftigung für die Patient*innen einher. Als Gegenbewegung entwickelte sich zwischen 1955 und 1975 die antipsychiatrische Bewegung. Sie kritisierte konkrete Methoden, wie etwa Zwangsmassnahmen, wandte sich aber gleichzeitig als politische und soziale Bewegung grundsätzlich gegen die Psychiatrie als «totale Institution», in der Ärzt*innen in einem Machtverhältnis über Patient*innen bestimmten. Eine zentrale Figur war der italienische Psychiater Franco Basaglia, der auf die katastrophalen Zustände in den Anstalten hinwies und 1978 in Italien deren Schliessung erwirkte. Ziel war die ambulante Behandlung psychisch kranker Menschen und damit ihre Rückführung in die Gesellschaft. Die Entwicklung führte 1978 auch zur Gründung der Schweizer Stiftung Pro Mente Sana, die sich heute für das Recovery- und Peer-Konzept starkmacht. Dabei geben «Peers» – selbst betroffene Menschen – ihr Erfahrungswissen an andere Betroffene in ähnlichen Situationen weiter. Beim Recovery-Gedanken stehen der Mensch, seine Ressourcen und sein soziales Umfeld im Zentrum. «Das hat auch eine politische Dimension. Es geht um Selbstvertretung und Selbstbestimmung», sagt ProMente-Sana Mitarbeiterin Rebeka Eckstein Kovács, die Psychiatrie-Erfahrung auch als Patientin hat. Die Veränderungen gehen in der Schweiz schleppend voran. Ein Schritt war 2013 das neue Kindesund Erwachsenenschutzrecht, das explizit die Würde schutzbedürftiger Menschen und das Selbstbestimmungsrecht gewährleisten soll. Während in Ländern wie Neuseeland, Australien und Grossbritannien mit nationalen Programmen und finanziellen Anreizen die Umsetzung von Recovery-Konzepten gefördert wurde, sind in der Schweiz laut Caroline Gurtner von Pro Mente Sana die komplizierten Tarifsysteme und Vergütungsmodelle im Gesundheitswesen hinderlich bei der Einführung von ressourcenorientierten Ansätzen. Politische Vorstösse wie Finanzierungsanreize für Firmen, die Menschen mit psychischer Beeinträchtigung einstellen, waren bislang nicht erfolgreich. DIF 23
«Es ist paradox, dass hier etwas Therapeutisches entsteht» Die Psychiatrie St. Gallen Nord betreibt das Living Museum Wil. Kunst in der Klinik ist keine Selbstverständlichkeit, aber therapeutisch sinnvoll. Chefarzt Thomas Maier erklärt, weshalb. INTERVIEW DIANA FREI
Herr Maier, muss man das Living Museum als Kunsttherapie verstehen? Das Konzept des Living Museum ist nicht dasselbe wie eine herkömmliche Kunsttherapie, die wir an unserer Klinik aber auch anbieten. In der Kunsttherapie werden die Patient*innen von Therapeut*innen angeleitet, und das, was entsteht, ist ein Instrument der Therapie. Das Living Museum hat einen ganz anderen Ansatz, der innerhalb von medizinischen Institutionen noch etwas sehr Spezielles ist. Die Ateliers kreieren erstmal einfach einen Raum in einem physischen, aber auch geistigen Sinn. Einen Open Space, in dem verschiedene Möglichkeiten zu kreativem Schaffen angeboten werden. Was hier entsteht, sind künstlerische Objekte, die zum Teil auch auf einem Kunstmarkt im Bereich der Outsider Art bestehen können und je nachdem auch verkauft werden. Das fertige Werk wird nicht zum Gegenstand einer Therapie.
auf schwierige soziale Umstände sein können. Dieser Gedanke führte auch zur Enthospitalisierung im Zuge der antipsychiatrischen Bewegung, die zum Teil auch sehr radikal wurde. Man hat Kliniken verkleinert oder – in Italien – komplett geschlossen. In den letzten Jahren rückte die Sozialpsychiatrie wieder etwas in den Hintergrund, weil sich die Wissenschaft stark auf Neurobiologie und Pharmakologie fokussiert. Es gibt wieder eine Tendenz zur Biologisierung. Aber die breite Psychiatriebewegung ist grundsätzlich auf dem Weg, dass man ressourcenorientiert arbeitet.
«Das Living Museum fokussiert auf die Kreativität und Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Also auf die Seiten, die intakt sind.
Die sozialen Umstände werden heute mitgedacht? Ja, denn gesellschaftliche Bedingungen spielen im Umgang mit Krankheiten immer eine Rolle: Kann die Gesellschaft damit umgehen, dass jemand nicht ganz so angepasst lebt wie andere? Wenn die Gesellschaft nicht damit umgehen kann, entstehen Aber das Schaffen hat doch eine Urteile über die Menschen: «Da ist ja THOMAS MAIER, 54, krankhaft, das muss man behandeln.» therapeutische Wirkung? ist Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie Natürlich hat es eine therapeutische Oder: «Drogenabhängige auf der und Mitglied der Geschäftsleitung Wirkung, aber sie geschieht eher en Strasse, das geht doch nicht, das kann der Psychiatrie St. Gallen Nord. Sein passant. Oft haben wir hier Patiman doch nicht als Ressource anSchwerpunkt sind unter anderem ent*innen mit Depressionen, Angstschauen.» Der Blick auf Krankheiten Abhängigkeitserkrankungen. störungen oder Suchterkrankungen, ist von der gesellschaftlichen Stimmung abhängig. Insofern ist es nicht aber der Fokus liegt nicht auf der Pathologie. Das Living Museum fokussiert auf die Kreativität nur die Psychiatrie selbst, die dazu beitragen kann, dass und Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Also auf die sich der ressourcenorientierte Blick realisiert. Sondern Seiten, die intakt sind. Der therapeutische Nutzen ist, diese zum Beispiel auch Arbeitgeber*innen. Es stellt sich auch Ressourcen zu stärken. Es ist ein Paradox, dass eigentlich die Frage: Welche*r Arbeitgeber*in kann damit umgehen, etwas eminent Therapeutisches entsteht, indem man eben dass jemand nicht so leistungsfähig ist? gerade nicht Therapie macht. Die Menschen sind aber parallel in Behandlung auf einer Station und haben dort eine herkömmliche Therapie. Das Konzept Living Museum Seit wann gibt es diesen ressourcenorientierten Ansatz? Das Living Museum, ein freier Kunstraum für Menschen mit psychischen Erkrankungen, wurde 1983 in New Er kam im Umfeld der Sozialpsychiatrie in den 70er-JahYork entwickelt. Das Living Museum Wil besteht seit 2002, ren auf. Dabei wuchs das Bewusstsein, dass man den Mengegründet von der Erziehungswissenschaftlerin Rose schen in seinem sozialen Umfeld sehen sollte. Man muss Ehemann. Jetzt ist es zu Gast im Museum im Lagerhaus. die sozialen Bedingungen anschauen, in denen die Krankheiten entstehen. Die Tatsache, dass sie auch Reaktionen 24
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FOTO: JOANA HADJITHOMAS, KHALIL JOREIGE, COURTESY OF THE ARTISTS
Die Kreisläufe des Krieges Kino Mit einer Retrospektive würdigt die 10. Ausgabe des Bildrausch Filmfest Basel
das Werk des libanesischen Künstlerduos Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. TEXT MONIKA BETTSCHEN
Catherine Deneuve quasi als Stellvertreterin für uns selbst: «Jeu veux voir», «Ich will es sehen», sagt sie im gleichnamigen Film zum ihrem Schauspielerkollegen Rabih Mroué – und wird von ihm an die Schauplätze und in die Geschichte des Libanonkriegs 2006 geführt.
Geprägt vom libanesischen Bürgerkrieg, der ihre Jugend überschattete, bündeln Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, beide Jahrgang 1969, seit Jahrzehnten gemeinsam ihre kreative Energie, um in Film, Fotografie oder Installationen die Erinnerungen an die nationalen Traumata ihrer Heimat wachzuhalten. Mit grossem Erfolg: Viele ihrer Werke wurden an internationalen Festivals gezeigt und ausgezeichnet. So auch das Roadmovie «Je veux voir», einer von vier Filmen, die am diesjährigen Bildrausch Filmfest Basel in einer Retrospektive gezeigt werden. «Je veux voir», ich will es sehen, insistiert die französische Filmikone Catherine Deneuve zu Beginn dieses Films aus dem Jahr 2008, der mutig die Grenzen zwischen Drama, Dokumentation, Roadmovie und Kriegsfilm auslotet: Filmhandlung und Realität überlappen sich immer wieder. Deneuve spielt sich selbst, und der Film gibt nie ganz preis, was Doku ist und was Fiktion. Auch nicht, als sie sich während Dreharbeiten vor Ort von ihrem libanesischen Schauspielkollegen Rabih Mroué den vom Krieg gezeichneten Süden zeigen lassen will. Für Mroué ist das eine äusserst schmerzhafte Erfahrung. Zudem droht Gefahr wegen Landminen auf Nebenstrassen. Deneuves Bekanntheitsgrad verkompliziert die Sache zusätzlich, bei der Crew liegen die Nerven blank. Surprise 501/21
Im Zentrum von Beirut hat man die sichtbaren Spuren des Krieges bereits weitgehend getilgt. Und in den Vororten werden zerbombte Häuser abgetragen, um sie wieder neu aufzubauen. Einer Ebene entlang säumen Plakate von Märtyrern die Strasse. Passanten äugen durch die Autoscheiben hinein, sie erkennen den französischen Filmstar. Die Fahrt geht vorbei an der israelischen Grenze und an dem Dorf, in dem Mroué aufgewachsen ist, wo kein Stein mehr auf dem anderen steht und er das Haus seiner Grossmutter nicht mehr findet. Deneuves Bodyguard wird nervös, wann immer sie das Auto verlässt und vorsichtig über Schutthaufen balanciert. Durch Deneuves Augen Im Grunde reist Deneuve stellvertretend für uns durch das zerbombte Gebiet – ihre Perspektive ist die von Menschen, die dem Krieg aus sicherer Distanz via Newskanal zugeschaut haben. Um Haltung bemüht nimmt sie die verstörenden Eindrücke in sich auf. Und je länger die Fahrt dauert, desto mehr verschwindet ihre Distanz – bis sie es am Ende selbst sieht: das tiefsitzende Trauma, den Hunger nach Neubeginn und die Widerstandsfähigkeit der Menschen im Libanon. Die in Beirut und in den zerstörten Dörfern abgetragenen Kriegstrümmer werden ununterbrochen von Lastwagen
weiter südlich am Strand abgeladen. Gegen Ende ihres Tagesausfluges, der sich wie eine Expedition durch die jüngere Geschichte Libanons anfühlt, schauen Deneuve und Mroué stumm zu, wie das, was einst Tausenden Menschen ein Zuhause bot, zerstückelt dem Meer übergeben wird. Joana Hadjithomas und Khalil Joreige machen in ihrem Werk immer wieder Umwälzungen und Kreisläufe sichtbar, die Krieg und Bürgerkrieg in Gang setzen. So auch im Dokumentarfilm «Khiam» aus dem Jahr 2008. Der Film gibt sechs ehemaligen Insass*innen eines Gefängnisses im Südlibanon das Wort, in einem Abstand von je acht Jahren. Sie berichten von unmenschlichen Haftbedingungen, von Einzelhaft in schmutzigen, dunklen Löchern. Und davon, wie die erlebte Gewalt ihr Leben auch nach ihrer Befreiung im Jahr 2000 vergiftet hat. Das Haftzentrum Khiam, in dem Folter an der Tagesordnung war, wurde während des Kriegs 2006 zerstört. Hadjithomas und Joreige erinnern mit ihrem Film daran, dass das, was sich hinter diesen Mauern ereignet hat, zu einem Teil der Geschichte geworden ist. Und darum nicht in Vergessenheit geraten darf.
«10. Bildrausch Filmfest Basel», Mi, 16. bis So, 20. Juni. www.bildrausch-basel.ch
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Auf Tour «Aller Tage Abend», Kabarett, auf Tour in der Deutschschweiz, Di, 8. bis Sa, 12. Juni, jeweils 20 Uhr, La Cappella, Bern; Di und Mi, 29. und 30. Juni, jeweils 20.30 Uhr, Schauwerk im Haberhaus, Schaffhausen, und viele weitere Orte, Spielplan online. schoenundgut.ch
Schön&gut sind Anna-Katharina Rickert und Ralf Schlatter (zu empfehlen: sein neuster Roman «Muttertag»). Seit 2003 machen sie poetisch-politisches Kabarett und haben schon so manchen Preis dafür bekommen, vom Salzburger Stier bis zum Schweizer Kleinkunstpreis. The place to be ist bei ihnen Grosshöchstetten. Und Gemeindepräsident Kellenberger ist am Rotieren. Auf der Schönmatt oben liegt die Zukunft in der Luft: drei wuchtige Windräder. Das Volk hat er mit Würsten und Aktien so gut wie im Sack, wäre da nicht eine ominöse Aktivistin, die drauf und dran ist, ihm den Wind aus den Rädern zu nehmen. Die Segel setzt Matrosentochter Katharina Gut, während Metzgerssohn Georg Schön seit Neustem auf Tofu steht. Kurz und gut: Grosshöchstetten dreht am Rad. Klug und lustig: Wortwitz, Gesang und geistreiche Satire, Regie: Roland Suter vom Basler DIF Kabarettduo touche ma bouche.
Bern /Korrigendum «Ich sehe was, das du nicht siehst», Fotoausstellung, ab Mi, 29. September, Berner Generationenhaus, Bahnhofplatz 2, 3011 Bern; weitere Ausstellungsorte geplant, siehe: ich-sehe-was-das-dunicht-siehst.ch/neue-events
«Als meine Tochter 7-jährig die Diagnose frühkindlicher Autismus bekam, wusste ich sehr wenig über das Thema», sagt die Fotografin Eline Keller-Sørensen. In Kooperation mit dem Verein Autismus
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Deutsche Schweiz (ads) hat sie das Fotoprojekt «Ich sehe was, das du nicht siehst» umgesetzt. Dazu hat sie Menschen mit der Diagnose Autismus porträtiert und sie gebeten, mit einer Spiegelkonstruktion und einem Selbstauslöser Bilder von sich selber zu inszenieren. Wir hatten im Heft 498 eine ausführliche Vorschau auf die Ausstellung (siehe surprise.ngo/angebote/strassenmagazin/archiv/archiv-2021/surprise-49821/), nun musste sie wegen der CoronaMassnahmen auf September verschoben werden. DIF
Den Fotografen und Fotokünstler Rob Lewis führt seine Arbeit immer wieder in die Berge, nun hat er die Schweizer Alpenpässe in den Blick genommen. Um sein Vorhaben dialogisch zu erweitern, fragte er den Schriftsteller und Lyriker Jürg Halter, ob er ihn auf die Pässe begleiten möge. So brachen Lewis und Halter zusammen zum Susten (2260 m ü. M.), Grimsel (2164 m), Gotthard (2106 m) und Nufenen (2439 m) auf. Festgehalten hat Lewis die Eindrücke mit einer Phase One 150MP Mittelformat-Kamera, die speziell detailreiche Bilder macht. Zu neun ausgesuchten Bildern verdichtete Halter seine Notizen von unterwegs zu poetisch-philosophischen Miniaturen. Die Texte sind im Siebdruckverfahren mit transparenter Farbe auf die Gläser gedruckt, quasi «vor» die Fotografien. Es entsteht ein Dialog zwischen Bild, Text und Raum – je nachdem, wie und wo genau man vor den Bildern steht, tauchen Halters Gedichte auf den Gläsern auf oder verschwinden wieder. DIF
Zürich «Auf Granit», Theater, So, 13. Juni, 17 Uhr; Mo, 14. Juni, 19 Uhr; Mi, 16. Juni, 19 Uhr; Do, 17. Juni, 19 Uhr; Sa, 19. Juni, 17 Uhr, sogar theater, Josefstrasse 106 (im Innenhof). sogar.ch Die Autorin Martina Clavadetscher wagt ein Experiment, formal, inhaltlich und sprachlich. Es ist ein Versuch der Reduktion: ein Raum, ein Mann, eine Frau, mit wenigen Worten wird eine Situation skizziert. Es geht um Abschottung und Geborgenheit, um Nähe und Distanz. Der Text: fast ein Libretto. Mit
Anna Trauffer am Kontrabass wird aus Sprache Musik und aus der Theatervorstellung ein Konzert. «Auf Granit» ist eine Parabel auf Politik, Heimat und die Liebe. Zwei Menschen reden aneinander vorbei: Man kann das Stück als Beziehungsdrama lesen oder als Parabel auf die internationalen Beziehungen zweier Nationen. Und wie heisst es zu Beginn? Jede Beziehung zu einem Land, insbesondere zum Heimatland, gleicht einer unglücklichen Liebesbeziehung. DIF
Basel «Looking Forward», Fotoausstellung mit Patrick Blank, Mischa Christen, Stephan Wittmer, bis So, 27. Juni, Sa/So 11 bis 17 Uhr, BelleVue – Ort für Fotografie, Breisacherstrasse 50 (im Hinterhof). bellevue-fotografie.ch Die Luzerner Künstler und Fotografen Patrick Blank, Mischa Christen und Stephan Wittmer arbeiten immer wieder zusammen, oft tauchen da die USA auf. Auch für 2020 waren eigentlich Reisen geplant. Aus den durch Corona verhinderten Trips wurde eine (Selbst-)Befragung über die USA, von politisch bis persönlich-biografisch. DIF
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Bern «home over time», Ausstellung von Rob Lewis mit Jürg Halter, Do, 10. bis So, 27. Juni, Do bis Fr 16.30 bis 21 Uhr, Sa/ So 13.30 bis 17 Uhr, Finissage So, 27. Juni mit Konzert Mich Gerber, Kornboden, Schloss Holligen Bern, Holligenstrasse 44 (Haltestelle «Loryplatz»). schlossholligen.ch
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BILD(1): CHRISTIAN REICHENBACH, BILD(2): ELINE KELLER-SØRENSEN BILD(3): STEPHAN WITTMER
Veranstaltungen
lich die Tourist*innen, die sonst busladungsweise herangekarrt würden. Die Einheimischen sitzen auf der Terrasse ihres schmucken Hauses und scheinen die Wärme zu geniessen. Vielleicht sind sie aber auch zur Untätigkeit verdammt und würden lieber ihrer Arbeit im Gastgewerbe oder Fremdenverkehr nachgehen. Von keinen Sorgen geplagt werden die Kinder auf dem Spielplatz. Spielplätze gibt es alle naslang, dazwischen Kunstinstallationen oder ist es die zusammen mit «Café to Go» – das ein vorbeischlendernder Mann seiner Frau als Kaffee «Togo» vorliest – auf einer davor angebrachten Schiefertafel angekündigte Osterdekoration einer nahen Boutique? Ein einziger Neubau steht am Seeufer, gegenüber einem Tätowierstudio mit dem etwas unglücklich gewählten Namen «Doubt Tattoos».
Tour de Suisse
Pörtner in Murten/Morat Surprise-Standort: Bahnhof Einwohner*innen: 8239 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 19,0 Sozialhilfequote in Prozent: 3,4 Tiefste Stelle im See: 44 m (Genfersee 310 m, Bodensee 251 m)
Rechts das Hotel Bahnhof, links der Medic Integral. Murten ist zweisprachig. Hier fand – lange ist es her – ein Teil der Expo statt, als das Land sich fragte, ob und wie es modern sein wollte und die Kulturschaffenden irgendwie mitmachten und irgendwie dagegen waren und es irgendwo nicht mit rechten Dingen zuging und die Führung ausgewechselt wurde oder war das an der 700-Jahr-Feier? Selbstbewusst zeigt der Wegweiser Richtung City, ein Ausdruck, der so gar nicht zu dem stadtmauerumwehrten Städtchen passen will, in dem es neben 7 Hotels und 25 Restaurants auch noch 1 Tabakladen gibt. Vor dem Geschäft für Espressomaschinen stehen Gestelle mit einem «Gratis»-Zettel daran. Tatsächlich sind Interessent*innen mit einem Lieferwagen vorgefahren. Surprise 501/21
Oft sind solche «Gratis- oder «Zum Mitnehmen»-Zettel nicht viel mehr als schlechte Tarnung für illegal entsorgtes Sperrgut, hier aber handelt es sich offenbar um brauchbare Ware. Die Innenstadt zeugt von Konstanz, und «Constanten» sind denn auch auf einer Säule vermerkt, die der Verkehrsverein vor 117 Jahren errichtet hat. Die mittlere Jahrestemperatur wird mit 8,8 Grad angegeben. Möglich, dass sie inzwischen gestiegen ist. An diesem Frühlingstag nach Abflauen der Bise ist es deutlich wärmer, 15 Grad zeigt das in die Säule eingelassene Thermometer. Wahrscheinlich immer noch gleich hoch ist der Stand des Sees, der mit den sanften Hügeln und Schneebergen einen beliebten und durchaus reizvollen Hintergrund für Selfies und Ausflugsfotos bildet. Es fehlen ganz offensicht-
Wenig Zweifel besteht daran, dass Murten ein hübsches Städtchen ist, da stört nicht einmal der plötzlich aufkreischende Baulärm. So hübsch, dass es leichtfällt, sich diese Gegend als Feriendestination vorzustellen, sollten Reisen ins Ausland auch diesen Sommer nicht möglich sein. Von der Entspanntheit des Städtchens zeugen die Boulespieler vor dem Schloss und der Aufkleber der «Hängerz Murten» auf dem öffentlichen Papierkorb. Ihr Maskottchen ist das faszinierende und seine Energie vorbildlich sparsam nutzende Faultier. Die Bäume sind mit Bändern verziert. Sie sind Teil eines Licht-Rundganges, der erst in der Nacht zur Geltung kommt und zu einer Zeit geplant wurde, als man noch zuversichtlich war, dass bald wieder alles seinen gewohnten Gang gehen würde.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Wir alle sind Surprise #Strassenmagazin
#492: Nachruf Barkad Umar
«Angesprochen und inkludiert»
«Sehr berührt»
Ganz vielen herzlichen Dank und Gratulation für Eure Schreibweise mit Gendersternchen! Ich fühle mich als non-binärer Mensch gesehen, angesprochen, inkludiert! Das ist total schön. Werde wieder vermehrt Euer tolles Magazin lesen, das ich inhaltlich hammergut und nun auch sprachlich sehr ansprechend finde.
Sie beziehen als Heft, als Organisation ganz klar eine impfbefürwortende Haltung. Von einem Magazin wie dem Ihrigen verlange ich aber eine neutrale Haltung, die alle Sichtweisen und Facts beherzigt. Leider folgen Sie dem Mainstream-Blabla, sodass ich Ihr Heft fortan nicht mehr kaufen werde.
Über Jahre ging ich oft im Coop Frenkendorf einkaufen. Beim Eingang sass immer Herr Barkad und verkaufte Surprise. Ich kaufte jeweils ein Surprise und bezahlte mit einer 10erNote, was er sehr schätzte. Unsere Gespräche beschränkten sich auf gute Wünsche fürs Wochenende. Plötzlich war sein Stuhl verwaist. Gleichzeitig sind wir weggezogen, und dann lese ich den Nachruf bei Ihnen. Hat mich sehr berührt. Was bin ich für ein Glückspilz: Vor zwei Tagen bin ich nochmals Vater geworden des vierten gesunden Kindes. Die Geschichte von Herrn Lacatus (siehe Surprise 491) geht mir auch sehr nahe. Wiederum frage ich mich, warum das Leben es mit mir bis jetzt immer so gut meint und andere eher die Schattenseite dieser Welt sehen.
C. FERR AR A, Zürich
C. SCHNYDER, Arlesheim
MI, ohne Ort
#499: Moumouni ... ist verrückt
#490: «Der Impfstoff allein löst nicht das Problem»
«Alles wird zerstört» Nun ist es an mir, hässig zu sein: Die heutige Jugend ist so krass, voll tabula rasa. Zerstörung für immer und ewig durch Hausfriedensbruch, und die Stadt Bern duldet das. Gnadenlose Urteile. Spätere Generationen können sich nie mehr ein Bild über frühere Zeiten machen, da alles zerstört sein wird. Den heutigen Kindern mute ich es doch zu, mit entsprechenden Erläuterungen zu den Wandbildern und auch mit Unterstützung durch das Lehrpersonal den ganzen Kontext zu verstehen. CH. ALBRECHT, Dietikon
«Mainstream-Blabla»
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Astrid Benölken, Anette Metzner, Karin Pacozzi, Filipa Peixeira, Sarah Weishaupt, Dinah Wernli, Tobias Zuttmann Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
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FOTO: ZVG
Nachruf
Mohammad Daoud Haidari 1. Januar 1955 bis 17. April 2021
«Sein Stuhl, auf dem er beim Verkaufen sass, steht immer noch da vor dem Ladeneingang, und ich werde traurig, wenn ich ihn leer dastehen sehe», sagt sein Sohn Abbas. Mit ihm zusammen war Mohammad Daoud Haidari seit Juni 2018 als Surprise-Verkäufer unterwegs, im aargauischen Muri vor dem Coop und der Migros. Abbas, der Sohn, leitet für Surprise als Chancenarbeitsplatzmitarbeiter die Heftausgabe in Aarau. Sein Vater hat das Heft gerne verkauft. Geboren wurde Mohammad in Afghanistan, seit neun Jahren wohnte er mit seiner Frau und den vier Kindern in Aristau. «Mein Vater liebte Fussball», sagt Abbas. «Und insbesondere war er Fan des FC Muri.» Jedes Wochenende spielten sie zusammen Fussball. «Mein Vater war mein Held. Er stand wie ein Krieger vor uns, seiner Familie, und hat sich sowohl im Iran als auch hier für uns eingesetzt, um uns durchzubringen.» Mohammad war ein sehr kontaktfreudiger Mensch, und entsprechend mochten ihn seine Kund*innen. Kam Abbas in den letzten Tagen und Wochen an seinem Verkaufsort vorbei, sprachen ihn die Leute an, sie wollten wissen, wo der Vater sei – und mussten erfahren, dass er an Covid-19 gestorben ist. Mohammad hatte viele Stammkund*innen und stand jeden Tag an seinem Verkaufsort. Es bedeutete für ihn, ein Teil der Gesellschaft zu sein. «Dadurch bekam er eine innere Zufriedenheit und Anerkennung, das machte ihn sehr glücklich», sagt seine Tochter. Er konnte die Familie damit finanziell unterstützen und sich selbst ab und zu was gönnen. Die halbe Stunde von Aristau nach Muri ist er jeweils geradelt, auch bei Wind und Wetter. Mohammad Daoud Haidari kam 1955 zur Welt, sein genaues Geburtsdatum weiss niemand genau, und wie bei vielen geflüchteten Menschen wurde es dann in der Schweiz offiziell auf den 1. Januar festgelegt. Geboren wurde er in Kabul, Afghanistan, wo er später als Elektroingenieur arbeitete. Wegen des Bürgerkriegs flüchtete er im Alter von 22 Jahren in den Iran. «Er hat sein Herkunftsland geliebt», sagt sein Sohn, «aber er musste ins Militär, als junger Mann mit Frau und zwei Kindern. Er wurde dort schikaniert, lief aus dem Militär weg und floh in den Iran.» Seine Frau und Kinder kamen drei Jahre später nach. Zwei weitere Kinder kamen im Iran zur Welt. Mohammad arbeitete in Teheran illegal als Blumenverkäufer – später zusammen mit dem Sohn. «Als Geflüchteter im Iran hast du keine Bildungschancen», sagt Abbas. «Du bist ein Mensch zweiter 30
«Mein Vater war mein Held», sagt sein Sohn Abbas. Mohammad Daoud Haidari verkaufte Surprise im aargauischen Muri, nun ist er mit 66 Jahren gestorben.
Klasse, du musst dich verstecken vor der Polizei, du hast keinen Pass. Wir Kinder konnten nicht zur Schule. Die Iraner*innen sind die Privilegierten, und wir waren die Unterdrückten.» Mohammad wollte für seine Kinder eine bessere Welt und mehr Chancen im Leben. So floh er 2012 mit der Familie in die Schweiz. «Er erzählte uns oft von Afghanistan, von seiner Kindheit und der Zeit im Militär, die sehr schlimm war. Er hatte Sehnsucht nach seinem Land.» Abbas und seine Schwester kennen die Heimat ihres Vaters nicht. Sie studiert nun in der Schweiz: «Das wäre im Iran nie möglich gewesen.» Mohammads grösster Wunsch war es, die B-Bewilligung zu bekommen, um noch einmal nach Afghanistan reisen zu können. Doch dann kam die Covid-19-Pandemie. Mohammad erkrankte schwer und verstarb im April im Alter von 66 Jahren. In Muri steht nun ein leerer Stuhl. Der Mann, dem er gehörte, hinterlässt eine schmerzliche Lücke. Er war eine Bereicherung für Surprise. Wir behalten Mohammad als sehr charmanten, humorvollen, grossväterlichen Mann mit warmen Augen in Erinnerung.
Recherche ANET TE METZNER, Text DIANA FREI
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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir sind froh, dass Sie auch in dieser schwierigen Zeit das Strassenmagazin kaufen. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank! Wo nötig tragen wir Masken.
Halten Sie Abstand.
Wir haben Desinfektionsmittel dabei.
Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.
Zahlen Sie möglichst passend.
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