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Strassenmagazin Nr. 513 19. Nov bis 2. Dez 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Seenotrettung

Auf hoher See Europa versagt in der Migrationspolitik. Auf dem Mittelmeer sind es Zivile, die Leben retten. Seite 12

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BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN BACHENBÜLACH Kafi Linde IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | frühling | Haltestelle | FAZ Gundeli Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola Les Gareçons to go | L‘Ultimo Bacio | Didi Offensiv | Café Spalentor | HausBAR Markthalle Shöp | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth‘s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Marktgasse | Burgunderbar | Hallers brasserie Café Kairo | Café MARTA | Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer Lorraineladen | Luna Llena | Brasserie Lorraine | Dreigänger | Generationenhaus Löscher | Sous le Pont | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | Zentrum 44 | Café Paulus Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Bohnenrad | Specht IN CHUR Café Arcas | Calanda | Café Caluori Gansplatz | Giacometti | Kaffee Klatsch | Loë | Merz | Punctum Apérobar | Rätushof Sushi Restaurant Nayan | Café Zschaler IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer IN LUZERN Jazzkantine zum Graben Meyer Kulturbeiz & Mairübe | Blend Teehaus | Bistro & Restaurant & Märkte Quai4 Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig Arlecchino IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione | Bistro Sein IN ZUG Podium 41 IN ZÜRICH Café Noir | Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Quartiertreff Enge Quartierzentrum Schütze | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis


TITELBILD: SEBASTIAN SELE

Editorial

Menschliche Impulse Die Boote im Mittelmeer sind voll, aber es mangelt in Europa nach wie vor an politischem Willen und Kooperation zwischen den Staaten. Der neue Asyl- und Migrationspakt der EU-Kommission böte Ansätze für eine bessere Organisation an den Aussengrenzen, für beschleunigte Asylverfahren und einen solidarischeren Verteilmodus. Doch die Verhandlungen stocken, während weiterhin Menschen auf der Flucht ertrinken. In diesem Jahr waren es bis September etwa 1300 Tote. Derweil sind es vor allem zivile Seenotretter*innen, die sich vor Ort gegen das Sterben einsetzen (und im übrigen Seerecht anwenden, das dazu verpflichtet, Menschen aus Seenot zu retten). Offenbar können nicht alle einfach wegschauen. Ab Seite 12. Wer hilft jenen, die sich selbst nicht mehr helfen können? Das fragt sich, wer Peter Conraths Geschichte kennt. Der Zürcher Surprise-Verkäufer und Stadtführer ist ein jovialer, umtriebiger Typ. Nun hatte er

4 Aufgelesen

im Januar eine Hirnblutung. Und steckt fest. Im Rollstuhl. Im Leben. Seine Schwester besucht ihn oft, auch sein Freund und Stadtführerkollege von Surprise. Es ist ein kleines Netzwerk, das versucht, die Dinge wieder in Gang zu bringen. Was dringend nötig ist, denn es zeigt sich, dass Pflegeplätze für jüngere Menschen mit Behinderung rar sind. Conrath verbrachte Monate in einem Heim, das nicht auf Fälle wie den seinen ausgerichtet ist. Seite 8. Eine Ausstellung in München benennt die strukturellen Ursachen der Obdachlosigkeit, zeigt aber auch anhand von konkreten architektonischen Projekten, wie in den Städten reagiert werden kann. Ein SurpriseCover hat es übrigens auch in die Ausstellung geschafft: Strassenzeitungen werden als kleiner Teil der Lösung gezeigt. Was uns natürlich freut. Seite 20. DIANA FREI

Redaktorin

20 Stadtgesellschaft

Wohnen ist ein Menschenrecht

5 Was bedeutet eigentlich …?

Diversity

23 Audiovisuelle Bewegung

5 Vor Gericht

Filmend die eigene Kultur bewahren

Verbrechen für die Menschlichkeit

8 Pflege

Peter Conrath und die Einsamkeit

24 Kino

Zwischen zwei Welten

6 Verkäufer*innenkolumne

Brief an eine*n Unbekannte*n 7 Moumouni …

12 Seenotrettung

Gegen das Sterben im Mittelmeer

26 Veranstaltungen

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«In kleinen Dingen liegt der wahre Reichtum»

27 Tour de Suisse

Pörtner in Turbenthal

... geht es nicht um Brian

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Aufgelesen

FOTOS: FÁBIO SOARES

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Universelle Freude Nervosität, Enttäuschung, grenzenlose Freude – die Gefühle bei Fussballspielen rund um den Globus sind mannigfaltig und individuell –, und doch haben sie etwas Universelles, das zutiefst menschlich ist. Es geht um den Ausdruck elementarer Emotionen. Das jedenfalls ist die Meinung des brasilianischen Fotografen Fábio Soares, der seit 2011 über 500 Spiele dokumentiert hat. OCAS, SAO PAULO, BRAZIL

Erfolgsmodell Housing First

Documenta für mehr Gemeinschaft

Seit knapp 30 Jahren engagieren sich weltweit Organisationen für das Menschenrecht auf Wohnen. Housing First geht davon aus, dass die Beendigung von Wohnungslosigkeit eine zentrale Voraussetzung zur Lösung weiterer Probleme wie Suchtmittelabhängigkeit oder psychische Erkrankungen ist. 2006 startete ein Modellprojekt für Europa in Amsterdam. 2019 empfahl eine europaweite Studie mit über 500 Teilnehmer*innen aus sieben Ländern den Housing-First-Ansatz deutlich gegenüber klassischen Modellen der Obdachlosenhilfe.

Die Hannoveraner Strassenzeitung Asphalt ist offizielle Medienpartnerin der internationalen Kunstausstellung Documenta 15, die von Juni bis September 2022 in Kassel stattfindet. Diese steht diesmal unter dem Motto «Lumbung», einem indonesischen Begriff für einen kommunalen Reisspeicher. Er steht symbolhaft für ökonomische und künstlerische Werte wie Kollektivismus, gemeinschaftliche Ressourcenteilung und gleichmässige Verteilung. Hinter diesen Werten stehen auch die Macher*innen von Asphalt – die Medienpartnerschaft ist Teil des Ausstellungskonzeptes.

STRASSENKREUZER, NÜRNBERG

ASPHALT, HANNOVER

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Diversity Diversity oder Diversität bezeichnet die Vielfalt der Merkmale von Menschen. Damit sind weitgehend unveränderliche Eigenschaften gemeint wie Geschlecht, Herkunft, Alter, sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit sowie körperliche und geistige Fähigkeiten. In einem weiteren Sinn gehören dazu auch im Leben erworbene Merkmale wie Ausbildung, Wohnort, Familienstand oder Einkommen. Aus sozialer Sicht dient das DiversityKonzept hauptsächlich dazu, Diskriminierung von Einzelnen oder Gruppen zu verhindern. Da die Gesellschaft von Vielfalt gekennzeichnet ist, gilt Inklusion und soziale Integration als Aufgabe des Staates. Einige europäische Länder haben dafür eine Diversity-Charta verabschiedet. Die Schweiz hat im Jahr 2000 ein allgemeines Diskriminierungsverbot in der Schweizer Bundesverfassung verankert. Diversity stellt in der Schweiz zudem Fragen zur gesellschaftlichen Teilhabe (beispielsweise von Zugewanderten) sowie zum Sozialsystem. Letzteres baut auf einer lebenslangen und kontinuierlichen Vollzeiterwerbstätigkeit auf, die Situation vieler Frauen oder jüngeren Erwerbstätigen wird ausgeblendet. Auch im Personalwesen ist Diversity ein aktuelles Schlagwort. Vielfalt unter den Angestellten soll wirtschaftliche Vorteile bringen, so die Idee: Wenn das Arbeitsumfeld diskriminierungssensibel ist, werden Beschäftigte zufriedener, arbeiten besser und produktiver. Allerdings beschränken sich solche ökonomischen Überlegungen oft auf die Integration von Hochqualifizierten. Geringqualifizierte bleiben aussen vor, am härtesten trifft es Frauen mit Migrationsgeschichte (z.B. im CareBereich). EBA Brigitte Liebig: Diversity. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020.

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Vor Gericht

Verbrechen für die Menschlichkeit «Mir fehlen die Worte», sagte Domenico «Mimmo» Lucano nach dem Urteil. Das will etwas heissen, meist hat er viel zu sagen. Siebzig Minuten lang hatte der ehemalige Bürgermeister des kalabrischen Dorfes Riace bei der Prozesseröffnung 2019 gesprochen: Man habe gezeigt, dass es Lösungen gebe, um der Herausforderung der Einwanderung ohne Hass zu begegnen. Dass Migration ein positiver Vorgang sein könne. Der 63-Jährige steht für mehr als schöne Reden. Mit unkonventionellen Ansätzen schaffte er es ab 2004, den sterbenden Küstenort mit Geflüchteten aus aller Welt neu zu beleben. Tausende kamen, viele blieben. Die Gemeinde überliess ihnen die leeren Häuser, und sie erhielten ein monatliches Taschengeld. Im Gegenzug mussten sie Italienisch lernen und in den kommunalen Einrichtungen arbeiten. Die heimischen Rentnerinnen hüteten die Kinder der Zugezogenen. Neue Arbeitsplätze entstanden, für Lehrer*innen, Therapeut*innen, Laufbahnberater*innen. Man nannte es das «Wunder von Riace». Die Mittel dafür stammten aus Fördergeldern des Innenministeriums und regionalen Zuschüssen sowie EU-Beiträgen. Dem italienischen Staat aber war Riace schon bald ein Dorn im Auge. Immer wieder stellte Rom die Zahlungen wegen angeblicher Unregelmässigkeiten ein. 2018 folgte mit der Verhaftung Lucanos das jähe Ende der multikulturellen Idylle. Die Staatsan-

waltschaft warf ihm Korruption, Erpressung, Veruntreuung, Betrug vor – unter anderem. In insgesamt fünfzehn Punkten wollte sie Anklage erheben. Dreizehn davon verwarf schon der Untersuchungsrichter. Die zwei verbleibenden Vorwürfe: Begünstigung der illegalen Einwanderung, zudem seien Aufträge für die kommunale Müllabfuhr nicht korrekt ausgeschrieben worden. Von beidem wurde Lucano im April 2019 von Italiens höchster Rechtsinstanz entlastet. Nun ging es aber noch um den verhängten Hausarrest, gegen den Lucano geklagt hatte. In einem ordentlichen Prozess hätte der höchstrichterliche Entscheid Signalwirkung entfaltet – doch hier ist klar, dass es um mehr geht als einen Mann. Für die Mafia ist die bestehende Massenmigration gutes Geld. Sie schafft einen nie abreissenden Zustrom billigster Arbeitskräfte. Die Mafia betreibt auch viele Flüchtlingszentren und zweigt Millionen Fördergelder ab. Dass die Institutionen unterwandert sind, ist kein Geheimnis. Und so rollen die Justizbehörden von Reggio Calabria den Fall 2020 neu auf, ergänzen ihn mit neuen Strafpunkten und das Regionalgericht Locri verurteilt nun Lucano zu 13 Jahren Haft – ein Strafmass wie für einen Mord. Der ehemalige Bürgermeister tat im Laufe des Verfahrens etwas Bemerkenswertes: Ohne eine Schuld einzugestehen, räumte er ein, sich im Fall einer Nigerianerin um eine Eheschliessung bemüht zu haben. Wenn der Staat sich nicht mehr um die Opfer des Menschenhandels kümmern wolle, müssten es eben andere tun. Es sind Verbrechen für die Menschlichkeit – um die weiter gestritten werden wird: Lucanos Anwälte haben bereits Berufung eingelegt. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

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Verkäufer*innenkolumne

Brief an eine*n Unbekannte*n

ILLUSTRATION: JULIA DEMIERRE

Hallo. Ich bin der Nicolas. Ich denke an Sie. Ich schreibe Ihnen. Ich frage: Welche Worte sind die richtigen? Ihr gerade jetzt in meiner Seelenkammer aufleuchtender Impuls führt mich zu den 68ern, den Wilden mit dem grossen Herzen. Ich gehöre nicht dazu. Mein Opa hat uns liebevoll anders geschmiedet, uns Enkel. Aus mir wurde zwar auch ein Fragender (als Hermann-Hesse-Nahestehender). Die Antworten hat mir das Leben geliefert: Wenn Du Dir etwas wünschst, erbring den Einsatz, vertrau, dass Du zu Grossem geboren. Einem Gladiator gleich, der in den Kampf zieht, darfst Du Dir zuerst etwas gönnen, damals war’s ein üppiges Mahl. Sodann leg los. Das Ziel

liegt noch in weiter Ferne. Du wirst es aus den Augen verlieren. Möglicherweise toben und todunglücklich sein. Das ist der Zeitpunkt, indem jemand anders für Dich zu atmen beginnt! Ich stand vor siebzehn Jahren fast wie ein Neugeborener hungrig ohne Haus und Hemd. Über Afrika, Heirat und Romandie zurück in der Zürcher Heimat vor der magischen Tür: Surprise. Das war das Samenkorn, aus dem mein heutiger Reichtum spross. Dach, Brot und Liebe wurden mit den Jahren wahr. Ich bin jetzt 57. Den Glauben, liebe Leserin, lieber Leser, verliere nie. Träume werden auch für Sie irgendwann ewig wahr. NICOL AS GABRIEL verkauft Surprise auf der Achse Rudolf-Brun-Brücke/Urania-Sternwarte zu sehr unregelmässigen Zeiten. Liebt D/F, Literatur, Zeichnungen/Gemälde.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

häufig von einem eingewachsenen Zehennagel, den er nicht schneiden kann, weil er monatelang keinen Nagelklipper bekommt. Und von teils rassistischen Provokationen seitens seiner Wärter. Nun könnte man fragen, was Brian getan hat, dass er so behandelt wird. Es geht hier aber nicht um Brian oder dessen Schuld, sondern darum, dass eine Einzelhaft über drei Jahre laut dem UN-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer eben das ist: Folter. Und zudem geht es darum, dass genau das die zynische Präferenz ist von Leuten, die Wörter wie «Kuscheljustiz» benutzen, wenn es um einen Umgang mit Straftätern geht, der nicht allein auf Blutrache beruht. Was für ein archaisches Argument! Unsere Strafvollzugseinrichtungen sollen demnach also nicht dafür genutzt werden, dass der Mann niemandem mehr gefährlich wird (wie die 13 Monate in seinem Sondersetting), nein, unsere Steuergelder sollen lieber dazu benutzt werden, dass er auch bis in die Fussnägel spürt, was Macht und Stärke ist – in einem ziemlich teuren Sondersetting – wie dekadent!

Moumouni …

… geht es nicht um Brian In diesem Text geht es um Brian, aber irgendwie auch nicht. Es geht mehr darum, dass wir ihn «Carlos» genannt haben. Warum eigentlich? Brians Vater ist weisser Schweizer, aber «Carlos das Monster» klingt so schön abschiebbar! Das spiegelt sich zumindest in diversen Kommentarspalten wieder, in denen Carlos’ «eigentlich» brasilianische Nationalität heraufbeschworen wird. Die ethnisierte Wahl des Pseudonyms wirkt also. Carlos, das klingt nach importierter Gewalt und nicht etwa nach einer Person, gegen die mehrere Schweizer Institutionen menschenrechtlich fragwürdige Praktiken angewandt haben – was ihn wohl mehr geprägt hat als sein vermeintlicher Latino-Migrationshintergrund: Schon mit 10 Jahren wurde Brian wegen des später als falsch erwiesenen Verdachts auf BrandSurprise 513/21

stiftung in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen. Mit 12 wurde Brian für acht Monate in einer Einzelzelle gehalten, obwohl das normalerweise nur Praxis für erwachsene Straffällige ist. Mit 16 wurde Brian nach zwei Suizidversuchen in einer psychiatrischen Klinik dreizehn Tage lang ununterbrochen ans Bett fixiert, während ihm starke Medikamente zwangsverabreicht wurden. Im Bezirksgefängnis Pfäffikon schlief Brian über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, frierend in einer unterkühlten Zelle. Seit drei Jahren sitzt Brian heute in Isolationshaft, pro Tag 23 Stunden in einer speziell für ihn gebauten Zelle, eine Stunde wird ihm Ausgang gewährt – alleine und an Händen und Füssen gefesselt. Durch die Fesseln hat er offene Wunden. Brian schreibt in seinen Journaleinträgen

Und wann geht es um die Opfer? Es geht um die Opferhaltung eines Staates, der einerseits schon mit den grössten Verbrechern der Welt Geschäfte gemacht hat, aber seinen Bürger*innen andererseits allen Ernstes verklickern will, dass er naiv überfordert ist von einem einzelnen Jugendstraftäter. Für alle, die dachten, in der Schweiz sei ein Gefängnis wie ein Hotel: Passt gut auf! Denn die Schweiz ist in Bezug auf Brian ein Staat gewordenes Schaf. Ein Staat gewordener Wolf im Schafspelz. Wir dürfen nicht aufhören hinzuschauen. Es geht nämlich nicht einfach um Brian, sondern um die Schweiz (die mit den Menschenrechten).

FATIMA MOUMOUNI

verweist auf die Arbeit des Kollektivs #BigDreams, das auf dem Instagram-Account «mein_name_ist_brian» Journaleinträge von Brian veröffentlicht.

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«Peter ist sensibel, ein Melancholiker», sagt sein bester Freund Hans Rhyner, der ihn regelmässig im Pflegeheim in Schaffhausen besucht.

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Gefangen in der inneren Unruhe Pflege Früher hetzte Peter Conrath wegen seiner Schulden rastlos durchs Leben. Nun sitzt der Surprise-Stadtführer und -Verkäufer nach einer Hirnblutung halbseitig gelähmt im Rollstuhl. TEXT ANDRES EBERHARD

Eine Journalistin fasste Peter Conraths Biografie einmal mit dem Satz zusammen: «Er ist nach jedem Rückschlag wieder aufgestanden und hat weitergemacht.» Ein anderer bezeichnete das Lied «Steh auf, wenn du am Boden bist» von den Toten Hosen gar als passende Hymne für Peter Conraths Leben. Nun passt das Bild des Stehaufmännchens nicht mehr – beziehungsweise nicht mehr im wortwörtlichen Sinn. Anfang dieses Jahres erlitt Peter Conrath, 57, eine Hirnblutung. Seither ist er halbseitig gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Aufstehen, das geht vorläufig nicht mehr. Aber ein Kämpfer, der nicht aufgibt, ist er auch in dieser Zeit, der vielleicht schwierigsten seines Lebens. Wie er diesen erzwungenen «Lebenswandel» hingenommen hat, hat manchen in seinem Umfeld erstaunt. «Er war ein Schaffer, immer im Stress, immer unter Menschen», sagt Carmen Berchtold, bei Surprise für das Zürcher Team der sozialen Stadtführer*innen verantwortlich, in dem Conrath seit Jahren eine tragende Figur war. Jetzt hat Conrath viel Zeit, ist praktisch immer alleine und rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen. Trotzdem habe er seinen Lebensmut nicht verloren, schmiede bereits neue Pläne. «Sein Optimismus ist bewundernswert», sagt Berchtold. In seinem alten Leben war Conrath erst Koch, Securitas-Angestellter und dann Unternehmer mit eigener Firma in der Reinigungsbranche, ehe er durch einen Töffunfall in den Ferien alles verlor. Da er als Selbständiger nicht versichert war, geriet er in die Schuldenfalle. Doch schon weniger als ein Jahr nach dem Unfall stand Conrath bereits wieder an einem Wurststand und machte sich daran, sich eine neue Existenz aufzubauen. Später belegte er Sandwiches, verkaufte Maroni, verkaufte Surprise und zeigte als Stadtführer die Stadt aus der Perspektive armutsbetroffener Menschen. Über fünfzehn Jahre lang lebte er von den rund 2000 Franken im Monat, die er verdiente. Mithilfe von Surprise machte er eine Schuldensanierung und beglich alle noch ausstehenden Rechnungen. Zumindest vorübergehend war er schuldenfrei. Immer genügend Geld zu verdienen, um für sich selbst zu sorgen, blieb allerdings ein Kampf.

FOTOS ROLAND SCHMID

Seine Notlage – die Last des Schuldenbergs auf seinen Schultern – hatte Conrath gezeichnet. Er hetzte von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Seine Rastlosigkeit war auch der Grund dafür, dass Conrath etwas Tollpatschiges anhaftete. Seine Beine waren manchmal schneller als sein Kopf. Immer wieder liess er sein Handy liegen. «Einmal riefen wir ihn an, da klingelte es bei uns im Büro», erzählt Berchtold und lacht. Wenn er aber einmal zu wenig Arbeit hatte, wurde er sehr ungeduldig. Er sei der Typ, bei dem immer etwas laufen müsse, pflegte er dann zu sagen. Peter Conrath ist ein geselliger Typ. Berchtold hat ihn auch bei gemeinsamen Essen oder Kegelabenden mit dem SurpriseTeam erlebt. Für solche Gelegenheiten, bei denen er loslassen konnte, sei er immer sehr dankbar gewesen. Von sich aus gönnte er sich aber selten etwas. «Er hatte lange Zeit das Gefühl, dass ihm das nicht zusteht, solange er Schulden hat», sagt sie. Dass er sich selber vernachlässigte und zu wenig zu sich selbst schaute, zeigte sich auch darin, dass er seit Jahren seinen hohen Blutdruck nicht behandeln liess, obwohl er darüber Bescheid wusste. Am 24. Januar 2021, Peter Conrath war für ein paar Tage Ferien zu seinem Freund Ruedi Kälin nach Davos gefahren, brach er auf einem Spaziergang zusammen. Das nächste, woran er sich erinnern kann, ist ein Spitalbett in Chur. Es folgte eine wahre Odyssee, die ihn durch verschiedene Pflegebetten führte. Per Helikopter wurde er zunächst in seinen Wohnort Schaffhausen überführt. Nach dem Spital folgte eine Reha in Baden. Es schien aufwärts zu gehen, doch dann erlitt Conrath mehrere Lungenembolien. Zurück im Spital, dieses Mal in Zürich, hing sein Leben wieder an einem dünnen Faden. Conrath war nicht mehr ansprechbar, und weil er keine Patientenverfügung hatte, war es an seiner Schwester Monika zu entscheiden, ob man ihn im Falle eines Herzstillstands reanimieren sollte. «Ich entschied mich dagegen, aber das ist mir extrem schwergefallen», erzählt sie. Erinnerungen an ihre Mutter, die an einem Hirnschlag gestorben war, wurden wach. «Ich kam mir vor wie eine Mörderin.»

Peter Conrath ist an diesem Tag nahe am Wasser gebaut. Erst lacht er Tränen. Aber dann, als er über sein altes Leben spricht, zieht sich sein Gesicht zusammen.

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Doch Peter Conrath erholte sich. Er kam wieder zurück nach Baden, dann für eine weitere Reha nach Zurzach und schliesslich nach Schaffhausen in ein Pflegeheim. Dort hat ihn seine Schwester an einem Herbstmorgen abgeholt und ihn für ein Treffen auf die Terrasse einer Bäckerei in Schaffhausens Altstadt geschoben. Die Sonne scheint, steht aber noch nicht so hoch, dass sie die engen Gassen der Schaffhauser Altstadt erreichen könnte. Monika legt ihrem Bruder zwei wärmende Decken über die Beine und holt dreimal Kafi und Gipfeli. Peter Conrath nippt an seiner Tasse, doch er widersteht der Verlockung des frischen Gebäcks. «Ein einziges Gipfeli hat so viele Kalorien wie mehrere Brötli», sagt er. Dass er hier sitzen kann und wieder sprechen kann, ist ein erster Erfolg auf dem Weg zurück. Den Aufwärtstrend möchte er nicht mit einem Gipfeli gefährden. Conrath hat immer gerne währschaft gegessen, vor seinen Stadttouren etwa genehmigte er sich am Würstlistand Calypso im Zürcher Niederdorf oft einen Chäschlöpfer mit Ketchup und Mayonnaise. Doch nun schaut er aufs Gewicht, über dreissig Kilogramm hat er in der langen bettlägerigen Zeit bereits abgenommen. «Es dürfte noch mehr weg», sagt er. Übergewicht ist ein Risikofaktor für hohen Blutdruck. Und dieser könnte zu einer weiteren Hirnblutung führen. «Geraucht und gesoffen hat er aber nie», sagt seine Schwester, wie um zu verdeutlichen, dass man eben nur einen kleinen Teil seines Schicksals in der Hand hat. «Ab und zu ein Panaché, das ist alles.» Nur dass er in den letzten dreissig Jahren nie zum Arzt ging, selbst nach unerklärlichen Stürzen oder Schwindel nicht, das nimmt sie ihrem Bruder übel. Isoliert im Heim Peter Conrath ist an diesem Tag nahe am Wasser gebaut. Erst lacht er Tränen, etwa dann, als seine Schwester liebevoll über seinen Lieblings-Wollpullover herzieht, der bei jedem Waschen etwas kleiner geworden sei und den sie nun entsorgt habe. («Der war doch noch tipptopp», protestiert ihr Bruder.) Dann aber,

wenn er über sein altes Leben spricht, zieht sich sein Gesicht zusammen und er muss weinen. Sein Befinden pendelt im Minutentakt zwischen Dankbarkeit für die Hilfe seiner Nächsten und dem Bedauern, was alles gerade nicht möglich ist, hin und her. «Ich vermisse die Stadttouren», sagt er. «Wenn ich in Zürich unterwegs bin, Hefte verkaufe oder Touren mache, spreche ich ständig mit Menschen. Für manche bin ich der Seelentröster. Und auch mir fehlen diese Leute.» Conrath ist in Schaffhausen ziemlich alleine. Das liegt auch daran, dass er erst kurz vor der Hirnblutung hierhergezogen war. Davor hatte er in Zürich in einem einfachen Zimmer mit geteilter Küche und Bad gelebt, in einem Haus, das über kurz oder lang saniert worden wäre. Deshalb gründete er, als sich die Chance bot, gemeinsam mit einem anderen Surprise-Verkäufer in Schaffhausen eine WG. Abwegig war der Umzug nicht, denn in Schaffhausen verkauft Conrath schon seit vielen Jahren Surprise-Hefte vor der Migros. Sein Umfeld aber, die sozialen Kontakte, beschränkte sich auf die Menschen, die er auf der Strasse antraf. Das reichte ihm damals. Doch nun, isoliert in einem Heim und nicht imstande, eigenständig unter die Leute zu kommen, fehlen diese Begegnungen. Conrath selbst hat keine eigene Familie gründen können, Surprise ist für ihn so etwas wie ein Ersatz. Das zeigt sich auch jetzt, denn neben seinen Geschwistern besuchen ihn vor allem Freunde und Mitarbeitende – sein guter Freund und Stadtführer Hans Rhyner und die Sozialarbeiter*innen aus Zürich. Es ist seine Schwester, die sich nun hauptsächlich um Peter Conrath kümmert. Allerdings lebt Monika im Wallis. Mehr als ein- bis zweimal pro Woche durch die ganze Schweiz fahren liegt nicht drin. Wenn sie ihn besucht, geht sie mit ihm zum Arzt, bringt ihm Kleider, organisiert seine Termine, verhandelt mit der Heimleitung. Für den Rest hat sie die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) eingeschaltet. Von ihr erhofft sie sich unter anderem, dass sie sich dafür einsetzt, dass Conrath einen elektrischen Rollstuhl bekommt – die Voraussetzung dafür, dass ihr Bruder wieder selbständig Surprise-Hefte verkaufen und da-

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THEATER

BASEL

ADVENTSKALENDER 1. – 23. Dezember 2021, 17:00 Uhr, CHF 5.– Jeden Tag ein neuer Beitrag aus Oper, Schauspiel, Ballett, Junges Haus und Gästen des Theater Basel. Alle Einnahmen fliessen in den Topf ‹Eins mehr›. Sie schenken damit ein Ticket an Menschen, die sich einen Theaterbesuch gerade selbst nicht leisten können.

theater-basel.ch/einsmehr 10

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mit sein altes Leben zumindest teilweise zurückgewinnen kann. Auch bei der IV ist Conrath angemeldet. Bis zum Rentenentscheid überbrückt der Sozialdienst. Immer noch auf der Terrasse der Bäckerei, hebt Conrath die Schulter seiner weitgehend gelähmten linken Seite an, dann spreizt er die linke Hand, die auf einem Kissen über dem Rollstuhl liegt – die ersten Erfolge der Physiotherapie machen sich bemerkbar. Gesundheitlich geht es Peter Conrath langsam, aber stetig besser. Schmerzen habe er keine, sagt er an diesem Tag sowie Wochen später am Telefon. Und trotzdem, es plage ihn eine «innere Unruhe» und er vermisse sinnvolle Gespräche. In seinem Pflegeheim leben ausser ihm fast nur psychisch kranke Menschen. «Ich rede mit ihnen, aber es gibt oft kein richtiges Gespräch.» Seine Schwester Monika wird deutlich: «Er vereinsamt da drin, das macht ihn fertig. Er muss da raus.» Wenig geeignete Pflegeplätze Das Pflegeheim ist ausserdem nicht durchgehend rollstuhlgängig und die Besuchszeiten sind stark reglementiert. Dies allerdings nur teilweise darum, weil das Heim die Corona-Regeln sehr streng auslegt. Auch wurde ihm viel Ruhe verordnet, was seine Schwester nicht verstehen kann: «Die Besuche, die sozialen Kontakte, sie sind es, die Peter am Leben erhalten.» Aus diesem Grund sucht sie schon seit Monaten nach einer Alternative. Doch so einfach ist es nicht. Zwar gebe es grundsätzlich genügend Pflegeplätze, wie der Kanton Schaffhausen auf Anfrage mitteilt. Er verweist auf eine kürzlich durchgeführte Studie. Jedoch entfallen von den rund 1500 Pflegeplätzen im Kanton etwa 1200 auf die Alterspflege. Und von den restlichen 300 befinden sich rund zwei Drittel in Einrichtungen für Menschen mit psychischen Störungen. Jüngere Körperbehinderte sind seltener, die Platzsituation ist angespannt. Zumal eines der auf sie zugeschnittene Heime, das Pflegeheim «Hand in Hand», kürzlich nach Skandalen Konkurs ging und schliessen musste. Es bleiben rund 60 Plätze, die explizit für Menschen wie Peter Conrath vorgesehen sind, im Ilgenpark in Ramsen sowie im Lindli-Huus in Schaffhausen. Dass es zu wenige spezifische Pflegeplätze gibt für Menschen, die zwar pflegebedürftig, aber weder alt noch psychisch krank sind, ist ein schweizweites Problem. Julia Eugster von Fragile Suisse, der Patientenorganisation für Menschen mit Hirnverletzung und deren Angehörige, sagt: «Es bräuchte mehr Angebote und Unterstützungsmöglichkeiten, damit Betroffene eine Wahl haben.» In den meisten Kantonen gebe es zwar grundsätzlich genügend Pflegeplätze, jedoch zu wenige, die für jüngere Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen wie eben Hirnverletzungen geeignet sind. Im ambulanten Bereich sei zudem die Finanzierung ein Problem. Wer zuhause wohnen und versorgt werden möchte, bekommt zwar in vielen Kantonen Spitex-Leistungen bezahlt, nicht aber die notwendige zusätzliche Unterstützung wie etwa im Rahmen eines begleiteten Wohnens. Es geht gegen 12.30 Uhr an diesem Herbsttag, noch 45 Minuten, dann endet die Besuchszeit und Peter Conrath muss zurück ins Pflegeheim. Monika nimmt die Decken von den Knien ihres Bruders, legt sie über den Stuhl und schiebt den Rollstuhl Richtung Altstadt davon. «Wir müssen dir noch Schuhe kaufen», sagt sie zu ihm, als sie in die Einkaufsgasse einbiegt. Conraths Wohnung in Schaffhausen ist mittlerweile geräumt, seine Möbel sowie rund fünfzehn Kisten mit Kleidern und Material lagern in einem Container. Ins Heim hatte er nur das Nötigste mitgenommen, im Unwissen darüber, wie lange er dort bleiben würde. Surprise 513/21

Der Weg zurück in die Selbständigkeit: Peter Conrath darf dank der Hartnäckigkeit seiner Schwester im Lindli-Huus probewohnen, einem der wenigen geeigneten Pflegeheime für seinen Fall.

Zwei Wochen nach dem Treffen macht sich die Hartnäckigkeit seiner Schwester bezahlt. Peter Conrath darf im Lindli-Huus, einem der wenigen geeigneten Pflegeheime im Kanton, probewohnen. Ein Zimmer mit eigener Küche und Bad, das mit den eigenen Möbeln eingerichtet werden kann. Im Heim befindet sich zudem eine grosse Werkstatt, wo jede*r eine Arbeit findet. Und Besuch dürfen die Bewohner*innen empfangen, wann sie wollen. Klappt es, wäre das ein grosser Schritt zurück in Richtung selbstbestimmtes Leben. Der nächste wäre ein Elektrorollstuhl, der es ihm erlaubt, wieder mobil zu sein. Noch wartet er auf eine Kostengutsprache dafür. Bis Peter Conrath wieder auf die Strasse zu den Menschen kann, ist er darauf angewiesen, dass die Menschen zu ihm kommen. So wie etwa Hans Rhyner, einer seiner besten Freunde und ebenfalls Surprise-Stadtführer in Zürich. An manchen Tagen holt er Conrath im Heim ab und isst mit ihm Zmittag im Manor-Restaurant. Dass er seinen Freund in dessen dunkelsten Stunden regelmässig besucht, schulde er nicht nur Peter, sondern auch sich selbst. «Er fehlt mir sehr.» 11


Normal wird es nie Seenotrettung Im Mittelmeer sterben wieder mehr Flüchtende. Die europäischen

Staaten halten sich weitgehend heraus, vor Ort sind vor allem zivilgesellschaftlich organisierte Seenotretter*innen. Ralph ist einer von ihnen. TEXT UND FOTOS SEBASTIAN SELE

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«All Station, all Station», rauscht es blechern aus den Funkgeräten: «Bereit zur Rettung.» Ralph streift sich die wasserdichte Hose über, ebenso die Schwimmweste und die Handschuhe. Er setzt seinen Helm auf und geht behäbig, aber zielstrebig die Treppen hoch. Sein Ziel ist das Deck der «Ocean Viking». Dort trifft er auf sein Team. «Was wissen wir über das Boot?», heisst es in einem kurzen Briefing. Und spätestens ab diesem Moment werden Ralph und sein Team zu Funktionen. Tanguy, der ehemalige Soldat, wird zum Anführer des Suchund Rettungsteams. Lisa, die ehemalige Weltenbummlerin, wird zu Crew 2. Amine, der ehemalige Erzieher, wird zu Crew 1. Und Ralph, er wird zum Fahrer. Dass sie alle funktionieren, kann darüber entscheiden, ob Menschen sterben oder leben. Die «Ocean Viking» ist ein Seenotrettungsschiff, das im Auftrag der NGO SOS Méditerranée fährt. Seit 2016 hat die Organisation nach Eigenangaben mehr als 34 000 Migrant*innen zwischen Libyen und Lampedusa das Leben gerettet. Und trotzdem haben seit 2014 mehr als 22 700 im Mittelmeer ihr Leben verloren. Allein in diesem Jahr waren es bisher mehr als 1300, rund 1200 davon im zentralen Mittelmeer. Es ist die tödlichste Grenze der Welt. Man könnte sagen, es ist Europas Friedhof der Namenlosen. Doch diese grossen Zusammenhänge stehen für Ralph nicht im Vordergrund. «Ich bin Vater», erzählt der 43-jährige Philippiner im September auf dem Deck des Seenotrettungsschiffes. «Ich muss für meine Kinder sorgen. Das ist mein Fokus.» Als einer der 25 Köpfe der Crew tut er also, was getan werden muss. Er steigt nach dem Briefing in eines der zwei Schnellboote. Er wartet, bis dieses vom Kran ins Wasser gelassen wurde. Und er warnt Tanguy, Lisa und Amine vor, wenn er mit den zwei 115-PS-starken Motoren beschleunigt. So lange, bis sie draussen sind, bei dem Boot, das in Seenot geraten ist, und dem schmalen Grat, der zwischen Leben und Tod liegt. Zum ersten Mal fuhr Ralph 1999 auf See, gleich nach dem Abschluss der Academy. Ralph war jung, er war unabhängig und er lebte für den Job. «Ich dachte wirklich nur an die Arbeit», erinnert er sich. «Einmal war ich vierzehn Monate lang auf See.» Und so landete er irgendwann auch auf einem Schiff mit dem Namen «Aquarius». Die «Aquarius», in deutschem Besitz aber unter gibraltischer Flagge unterwegs, bot dem Wartungspersonal von Windparks ein temporäres Daheim. Ralph und sein Team fuh14

ren die Arbeiter morgens vom Mutterschiff zum Windpark und abends wieder zurück. Bis irgendjemand irgendwann auf die Idee kam, dass dort, wo die Arbeiter schliefen, auch Migrant*innen schlafen könnten. Jene, die bisher im Mittelmeer ertranken. Ralph fährt trotzdem raus Die «Aquarius» wurde von der neu gegründeten NGO SOS Méditerranée gechartert, inklusive der Crew. Als Ralph zum ersten Mal von der neuen Mission hörte, dachte er bloss: «Ich habe Angst davor, tote Menschen zu sehen.» Als der Inhaber der «Aquarius» vor dem ersten Einsatz noch einmal betonte, dass nicht dabei sein müsse, wer nicht dabei sein wolle, fällte er aber eine Entscheidung: «Ich wollte es zumindest versuchen.» Das war vor fünf Jahren. Wie viele Tote Ralph seither gesehen hat? Schwierig zu sagen. Doch das erste Mal, das wird für immer in seinem Gedächtnis bleiben. «Ich konnte zwei Nächte lang nicht schlafen», erzählt Ralph. Seine Stimme bleibt dabei kontrolliert. Aber sein Blick wird bohrender, seine Augen kleiner. «Ständig sah ich sein Gesicht. Ich sah, wie die Luftblasen aus seinem Mund kamen, wie er ertrank und ich nichts tun konnte. Der Seegang war schwierig, etliche andere Leute hingen am Schnellboot. Ich konnte es nicht drehen.» Im Anschluss sei es zu einer Diskussion zwischen ihm und dem Kapitän gekommen. Ralph, habe der Captain gefragt, wie geht es dir. Captain, habe Ralph geantwortet, dieser Mann ist während meines Einsatzes gestorben. Ja, habe der Captain entgegnet, aber 180 andere haben überlebt. «Aber Captain, der Mann ist tot.» Warum fährt Ralph trotzdem noch raus, auf ein Meer, das nicht seines ist, wo Menschen sterben, für die er keine Verantwor-

1

1 Der Philippiner Ralph kam zum Geldverdienen an Bord, heute sieht er mehr in seinem Job. 2 Auf den Schnellbooten hat jede Person eine Funktion mit klaren Aufgaben.

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Das Budget der europäischen Grenzschutzagentur Frontex verdoppelte sich seit 2016 auf

543

Millionen Euro.

Die Schweiz erhöht ihre Beteiligung an der europäischen Grenzschutzagentur Frontex von

14 auf 16 Millionen Franken. Das Referendum dagegen läuft.

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ITALIEN

ALBANIEN

GRIECHENLAND

ITALIENISCHE SAR-ZONE

TUNESISCHE SAR-ZONE

Sizilien

Catania

MALTA Valletta

«Ich sah, wie die Lu bläschen aus seinem Mund kamen, wie er ertrank und ich nichts tun konnte.»

GRIECHISCHE SAR-ZONE

R ALPH

TUNESIEN

M A LT ES I S C H E SA R-ZO N E

Trypolis Sabratha

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LIBYEN

So sind die Search-and-Rescue-Zonen (SAR) zwischen Italien, Tunesien, Malta und Griechenland aufgeteilt.

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50

%

Fast jeder Zweite, der auf der Flucht von Libyen nach Italien übersetzen möchte, wird von der Küstenwache abgefangen. Sie werden in die Internierungslager des ehemaligen Bürgerkriegslandes zurückgebracht.

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«Ich bin Vater. Ich muss für meine Kinder sorgen, das ist mein Fokus.» R ALPH

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20 300 80 000 Geflüchtete sind seit 2014 sind im Mittelmeer fast gestorben oder verschollen.

Flüchtende wählten allein in diesem Jahr die Route über das zentrale Mittelmeer.

3 Die Geretteten finden zum Gebet zusammen, nachdem sie erfahren haben, dass die italienischen Behörden der «Ocean Viking» einen sicheren Hafen zugewiesen haben. 4 Eine Mutter macht ihr Kind bereit, um in Augusta (Sizilien) von Bord der «Ocean Viking» zu gehen. 5 Die 129 Geretteten schlafen in zwei weissen Containern: einer für Männer, einer für Frauen und Kinder. 6 Zwei Gerettete haben ihre Sachen gepackt. Sie sind bereit, nach sechs Tagen die «Ocean Viking» zu verlassen. 6

Eine Fahrt über das Meer kostet zwischen

700 2500 und

US-Dollar.

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8

«Rettet man Leben, verändert man etwas. Rette ich Menschen, fühle ich mich anders.»

7

R ALPH

7 Tanguy, Leiter des «Search and Rescue»-Teams, nimmt ein Baby entgegen. 8 Bereits Gerettete beobachten von der «Ocean Viking» aus, wie das «Search and Rescue»-Team arbeitet.

700

Millionen Euro

flossen mindestens seit 2014 aus der EU nach Libyen. Mehr als

90 Millionen davon in die libysche Küstenwache.

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tung trägt? «Fuck», sagt er, er habe gemerkt, dass er es wieder tun möchte. Er spricht von den Umarmungen der Geretteten, von ihrem Applaus und ihren Tränen. «Rettet man Leben, verändert man etwas», sagt er. Und ergänzt: «Rette ich Menschen, fühle ich mich anders.» Manchmal, da empfinde er sogar etwas Stolz auf das, was er hier tue. Die ersten Einsätze fuhr Ralph noch als Teil der Marine Crew, der Wartungscrew. Von 6 Uhr morgens bis 18 Uhr abends kümmerte er sich sieben Tage die Woche um den Unterhalt des Schiffs. Und wenn die Menschen auf dem Meer auftauchten, liess er sich wecken, egal wann, egal wie wenig Schlaf, egal wie hoch die Wellen. Er fuhr raus. Seine Situation veränderte sich, als sich auch die Lage der Seenotrettung als Ganzes veränderte. Europa lässt Libyen machen Europas Politiker*innen und Behörden begannen, die zivilen Seenotretter*innen vor Gerichte zu zerren und ihre Schiffe in Häfen zu blockieren. Die Seenotrettung musste sich professionalisieren, um weiterarbeiten zu können. Ralph hatte inzwischen eine Ausbildung zum Offizier absolviert und wechselte von der Wartungscrew, die nebenbei Rettungen fuhr, zum Rettungsfahrer, der nebenbei der Wartungscrew hilft. «Manchmal vermisse ich meinen alten Job», sagt er. Die meisten in der Wartungscrew sind, wie er, Philippiner. Mehr als jeder vierte Angestellte in der Hochseefahrt kam vor Corona von den Philippinen. 2019 spülten diese Seefahrer*innen mehr als sechs Milliarden US-Dollar in die philippinische Wirtschaft. Europas setzte derweil immer mehr auf Abschottung. Im östlichen Mittelmeer wurde der Grenzschutz in die Türkei ausgelagert, während in Griechenland das Lager Moria abschreckte. Im Westen stehen die hochgerüsteten Zäune von Spanien und im zentralen Mittelmeer übernahm Libyen: Europa intensivierte die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache. Es lieferte Geld, Boote und Informationen und zog sich mit den eigenen Schiffen vom Meer zurück – obwohl bekannt ist, dass die libysche Küstenwache schon mal auf Migrant*innen schiesst, statt sie zu retten. Inzwischen fängt die libysche Küstenwache fast jede*n Zweite*n, der*die von Libyen nach Italien übersetzen möchte. Sie bringt sie zurück in Internierungslager, in denen Gewalt zur Tagesordnung gehört, körperliche, sexuelle und psychische. Kürzlich zogen sich selbst die Médecins Surprise 513/21

sans frontières aus diesen Lagern zurück. Die Gewalt in den Camps und die damit einhergehenden Risiken für ihr Personal seien nicht weiter tragbar. Drei Worte werden an Bord der «Ocean Viking» immer wieder wiederholt: nie wieder Libyen. Für dieses Versprechen, die Migrant*innen nicht zurück nach Libyen zu bringen, werden Seenotretter*innen wie Ralph von europäischen Regierungen schon mal als «Taxis der Meere» gebrandmarkt, als Schlepper. Sie entgegnen darauf, dass Seenotrettung nichts mit Politik zu tun hat. Es ist eine rechtliche Frage: Das Seerecht verpflichtet dazu, Menschen aus Seenot zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen. Dass Libyen kein sicherer Hafen ist, darüber sind sich alle einig – selbst die Europäische Union. «Ich wusste nicht, was in Europa los ist», sagt Ralph. «Ich lese keine europäischen Nachrichten.» Aber er hörte zu, wenn an Bord über Politik gesprochen wurde. Darüber, wie die Europäer mit den Libyern zusammenarbeiten. Über den Angriff der 22 Rechtsextremen auf das Hauptbüro seines Arbeitgebers in Marseille. Und darüber, dass die maltesischen Behörden nicht einmal mehr das Telefon beantworten, wenn die «Ocean Viking» anruft. Ralph hat so auch gelernt, mit den Toten zu leben. Jeweils vor dem Schlafengehen spricht er mit Gott. «Danke, Gott», sagt er an manchen Tagen, «dass du mich hierher geschickt hast.» Vielleicht bekomme sein Leben so einen Sinn. Und an anderen: «Danke, Gott, aber ein Mensch ist gestorben.» Man gewöhne sich daran, die Leichen zu sehen. Aber normal werde es nie. Die Monate zwischen den Einsätzen verbringt Ralph auf den Philippinen. «Ich bleibe einfach daheim, esse, trinke und spiele mit den Kindern», sagt er. Solange, bis er wieder draussen ist, auf dem Meer, das nicht seines ist, wo er zu einer Funktion wird und zwei 115 PS starke Motoren so lange durchdrückt, bis seine Crew am schmalen Grat zwischen Leben und Tod angekommen ist. Und während er das tut, trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift SOS, save our souls. Darüber baumelt ein Kreuz. Der Container, der zur Lagerung der Leichen bestimmt ist, thront ganz oben auf der «Ocean Viking». Seit einem rechtsextremen Angriff auf ihr Hauptbüro in Marseille verzichtet SOS Méditerranée darauf, die vollen Namen ihres Personals zu veröffentlichen.

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Lebensraum o16 Ostpark. Wohnheim am Rande des Ostparks in Frankfurt am Main. Früher stand hier eine Notunterkunft aus Zelten, die in der Presse stark kritisiert wurde. Die schimmernde Fassade umschliesst das Wohnheim in Richtung Park und somit zum öffentlichen Raum. Das skulpturenähnliche Äussere bietet Parkbesucher*innen ein beeindruckendes Bild.

Shinjuku, Tokio 2003. In Tokio werden nur diejenigen Menschen statistisch erfasst, die ihr tägliches Leben in Parks, auf der Strasse und anderen öffentlichen Orten verbringen. Ihre Zahl ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung äusserst gering. Dies aber auch, weil Wohnungslose, die in Not- und Obdachlosenunterkünften leben oder bei Familie und Freunden und an anderen Orten unterkommen, vollständig aus der Zählung ausgeklammert werden. Befristetes Zeltlager für Obdachlose, Fulton St., San Francisco 2020. Lange versuchten viele Städte, Obdachlose aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen – angeblich, um sie zu schützen. Seit der Pandemie 2020 tauchten weltweit vermehrt Bilder von Massnahmen im Zentrum auf. In der Fulton Street wurden Zelte auf einem aufgemalten Raster von Rechtecken aufgestellt – unmittelbar vor dem Rathaus von San Francisco.

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Keine Belohnung, sondern Menschenrecht Stadtgesellschaft Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist ein strukturelles Problem,

das nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden kann. Die Ausstellung «Who’s Next?» in München stellt die Frage, welchen Beitrag Architekt*innen leisten können. TEXT GIULIA BERNARDI

Laut dem EU-Forschungsprojekt «Homelessness as Unfairness» leben in Europa rund drei Millionen Menschen ohne feste Bleibe. Ursachen dafür sind die wachsende Ungleichheit der Einkommen und die sinkende Anzahl von Sozialwohnungen. Somit handelt es sich bei Wohnungs- oder Obdachlosigkeit in der Regel nicht um individuelle, sondern um strukturelle Probleme, die verheerende Folgen für die betroffenen Menschen haben. Dass sich Wohnungs- und Obdachlosigkeit nur gesamtgesellschaftlich erfassen lassen, betont auch Daniel Talesnik, Kurator der Ausstellung «Who’s Next?» im Architekturmuseum der Technischen Universität München. «Obdachlosigkeit ist die Auswirkung eines kapitalistischen Systems. Das zeigt sich etwa an der Liberalisierung des Marktes. Sie verunmöglicht Menschen mit geringem Einkommen in vielen Städten, eine erschwingliche Wohnung zu finden.» Die daraus resultierende steigende Obdachlosigkeit sei auch der ausschlaggebende Punkt für die Ausstellung gewesen. «Darin beschäftigen wir uns mit der Frage, welche Rolle Architektur dabei spielt und welchen Beitrag sie leisten kann.»

Obdachlose in der Schweiz Nach Angaben der Sozialwerke gibt es auch auf Schweizer Strassen immer mehr Menschen ohne festes Dach über dem Kopf. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz von 2019 hat ergeben, dass allein in Basel rund 100 Menschen obdachlos und weitere 200 Personen wohnungslos sind, also in Notunterkünften, Heimen oder bei Bekannten übernachten. Die Studie hält verschiedene Gründe fest: finanzielle Schwierigkeiten, Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Sucht- oder Beziehungsprobleme. Waren früher vor allem arbeitslose und drogensüchtige Menschen obdachlos, so sind es heute vermehrt auch Personen mit psychischen Problemen, Sans-Papiers oder Asylsuchende.

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Es werden unter anderem Modelle und Fotografien von neunzehn internationalen Wohnprojekten gezeigt. Ein Beispiel ist das Projekt «Holmes Road Studios». Die Sozialwohnungen, die sich im Nordwesten von London um einen gemeinschaftlich nutzbaren Garten organisieren, sind mit Ausbildungs- und Beratungsmöglichkeiten kombiniert, die für die rund fünfzig Bewohner*innen bereitstehen. Das Wiener Projekt «VinziRast-mittendrin» wiederum wurde durch eine studentische Initiative initiiert und beherbergt heute ehemals Obdachlose und Student*innen gleichermassen. Ein besonderes Augenmerk in der Entwicklung lag auf dem Problem der sozialen Ausgrenzung und räumlichen Segregation, dem mit gemeinsamen Aufenthaltsräumen begegnet werden soll. Neben den Wohnprojekten, die Fragen der architektonischen und räumlichen Planung aufgreifen, sind in der Ausstellung mehrere Dokumentarfilme zu sehen, welche die Lebensrealitäten von wohnungs- und obdachlosen Personen thematisieren. Andere künstlerische Projekte verweisen auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, darunter etwa die öffentliche Installation «The Glowing Homeless» von Fanny Allié. Sie besteht aus einer Neonröhre, die auf einer Parkbank in Brooklyn platziert wurde und einem liegenden Menschen ähnelt. Mit dieser leeren, leuchtenden Silhouette thematisiert die in New York lebende Künstlerin die Unsichtbarkeit obdachloser Personen, ihre Entmenschlichung und die bewussten oder unbewussten Vorurteile, die damit einhergehen. Gesamtgesellschaftliche Fragen Das Ausmass der weltweiten Wohnungs- und Obdachlosigkeit stellt die Ausstellung mittels einer umfangreichen Recherche dar, welche die Lage in acht Städten genauer analysiert: Dabei untersuchten lokale Expert*innen etwa die Bevölkerungsdichte oder ermittelten, wie viele Personen unterhalb der Armutsgrenze leben oder täglich in Notunterkünften übernachten. «Wir haben uns auf Städte fokussiert, die einen gewissen urbanen Wohlstand erreicht 21


The Glowing Homeless, Greenpoint, Brooklyn, 2011. Neonskulptur der Künstlerin Fanny Allié, die sich mit der Entmenschlchung von Obdachlosen in New York auseinandersetzt. In New York City schliefen im Jahr 2020 einer Statistik der «Coalition for the Homeless» zufolge rund 120 000 Männer, Frauen und Kinder in städtischen Unterkünften.

Blick in eins der privaten Zimmer im VinziRast Mittendrin. In diesem dauerhaften Wohnprojekt in Wien hat jede Wohnung eine eigene Küche, weiter gibt es einen Aufenthaltsraum, Werkstätten, einen Studienraum, ein öffentliches Restaurant und einen Dachgarten. Das Aussergewöhnliche ist die Zusammensetzung der Bewohner*innen: je zur Hälfte Student*innen und Ex-Obdachlose.

haben, der wiederum mit extremer Armut kollidiert», erklärt Talesnik. Er spricht von Metropolen wie New York, São Paulo oder Tokio. «Die Auswahl fiel auf nicht-europäische Städte, weil Europa noch über ein Sozialhilfesystem verfügt, wenngleich auch ein mangelhaftes, das dringend gestärkt werden sollte.» Während der Pandemie hat sich die ohnehin schon prekäre Lage von Obdachlosen weiter verschärft. Die meisten Notunterkünfte waren aufgrund der neu eingeführten Hygienemassnahmen nur eingeschränkt oder gar nicht nutzbar. Vielerorts wurden Hotelzimmer umgenutzt oder andere kreative Massnahmen getroffen: Im befristet genehmigten Zeltlager in der Fulton Street in San Francisco beispielsweise stellte man die Zelte innerhalb von vordefinierten Markierungen auf dem Asphalt auf, um den Abstand zu gewährleisten und weitere Ansteckungen zu verhindern. Dass die steigende Obdachlosigkeit eine globale Herausforderung ist, wird nun während der Pandemie besonders sichtbar und wird sich zunehmend auch in weiteren Krisenphänomenen zeigen, wie Talesnik im Ausstellungskatalog schreibt: Er nennt Bürgerkriege, die Klimakrise oder systemische Probleme wie häusliche Gewalt, Homo- oder Transfeindlichkeit, welche die Menschen dazu zwingen, aus ihren Ländern zu flüchten. Wohnungsund Obdachlosigkeit sind auch eine Folge jener gesamtgesellschaftlichen Fragen, die uns alle umtreiben. Bedingungsloses Wohnen «Die Art und Weise, wie Wohnraum in Städten verteilt ist, muss sich ändern.» Talesnik bezieht sich auf «Housing First», das Anfang der 1980er-Jahre in den Vereinigten Staaten aufkam und wohnungslosen Menschen dauerhaft und in der Regel bedingungslos Wohnraum zur Verfügung stellt. Als Projekt enthält es vielerorts zusätzliche Unterstützungsangebote, an denen freiwillig teilgenommen werden kann. Dass nicht wie in vielen Resozialisierungsprogrammen zuerst die eigene «Wohnfähigkeit» nachgewiesen werden muss, um ein Dach über dem Kopf zu bekommen, verdeutlicht: Wohnen soll keine Belohnung sein, es ist ein Menschenrecht. Problematisch sei allerdings, dass sich «Housing First» ausschliesslich an Personen richte, die als «chronisch obdachlos» gälten, sagt Talesnik. Entsprechend kann das Modell nur wirken, wenn es in eine umfassende Strategie eingebettet wird. Wie diese gestaltet sein könnte, wird auch in der Ausstellung reflektiert. «Wir stellen einerseits die Frage, was Architektur erreichen kann, verdeutlichen andererseits aber auch, dass sich ein systemisch angelegtes Problem nicht nur mit Architekt*innen lösen lässt, sondern nur gemeinsam mit anderen Disziplinen bewältigt werden kann.»

«Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt», Ausstellung, Di bis So, 10 bis 18 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, bis So, 6. Februar, Architekturmuseum der TUM, Barer Strasse 40, München. www.architekturmuseum.de Die gleichnamige Ausstellungspublikation (Hg. Daniel Talesnik und Andres Lepik) ist im Buchhandel erhältlich.

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FOTO: VIDEO NAS ALDEIAS

Das Filmkollektiv Vídeo nas Aldeias zeigt seine Filme an Festivals und im brasilianischen Fernsehen.

Filmend die eigene Kultur bewahren Audiovisuelle Bewegung Seit dreissig Jahren dokumentieren Indigene in Brasilien

ihren eigenen Alltag – organisiert im Filmkollektiv Vídeo nas Aldeias. TEXT MONIKA BETTSCHEN

«Schon viele Filmschaffende sind zu uns gekommen, aber nie haben sie uns gut dargestellt», sagt der indigene Filmemacher Takumã Kuikuro im Dokumentarfilm «Cineastas indígenas» von Vincent Carelli, dem Regisseur, der 1986 das Kollektiv Vídeo nas Aldeias, zu deutsch: Video in den Dörfern, gegründet hat. Er wollte den Gemeinschaften im Amazonas ermöglichen, selber Filme zu drehen. «Die Kamera wurde bei Vídeo nas Aldeias zu einem Mittel der Selbstermächtigung. Die Indigenen können endlich selber ihre Geschichte erzählen, nachdem sie viel zu lange oft unvorteilhaft dargestellt wurden», sagt Annette Amberg, Kuratorin der Videoausstellung «Vídeo nas Aldeias». Das brasilianische Filmkollektiv arbeitet seit der Gründung 1986 mit interessierten indigenen Gemeinschaften zusammen, damit sie sich untereinander austauschen und später mit selber produzierten Filmen das oft verzerrte Bild, das die weisse Gesellschaft von ihnen hat, revidieren konnten. Die Videos eröffneten ihnen auch einen kreativen Weg, um auf ihre politischen Anliegen aufmerksam zu machen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Ausbildung der indigenen Filmemacher*innen. Es werden ästhetische Entscheidungen diskutiert und die filmende Perspektive wirft immer auch ethische Fragen auf: Wer zeigt wie wen oder was (und auch: wem)? «Es begann experimentell. Ich kam mit einem Monitor, einem Generator und einem Videoplayer in den Amazonas. Die Anführer der Indigenen verstanden sofort auch die politische BeSurprise 513/21

deutung, in diesem kleinen Bildschirm sichtbar zu sein», erzählt Carelli einem indigenen Filmemacher, der ihn mit der Kamera in der Hand nach den Anfängen des Projekts befragt. Mittlerweile produziert Vídeo nas Aldeias Bildungsmaterialien, macht Vorführungen in indigenen Gemeinden und zeigt seine Filme an Festivals und im brasilianischen Fernsehen. «Die indigenen Filmschaffenden tauschen sich eng mit ihren Gemeinschaften aus, um zu besprechen, wie sie ihre Kultur zeigen werden, und um auch auf ihre politische Situation hinzuweisen, zum Beispiel auf ihre von der Regierung bedrohten Landrechte», sagt Annette Amberg. Manche Filmschaffende verlassen auch den Amazonas, um sich mit anderen Menschen auszutauschen. So flog etwa Zezinho Yube, Angehöriger der Ashaninka, nach Rio de Janeiro, um sich das Kunstprojekt Morrinho anzuschauen: ein von Jugendlichen geschaffener Nachbau der Favelas im Kleinformat, wo die Kinder spielerisch ihrem Alltag entfliehen können. Das Kollektiv macht klar, dass Indigene keine Projektionsfläche für weisse Fantasien sind, sondern die Kamera selbst in die Hand nehmen.

«Vídeo nas Aldeias», Videoausstellung mit 12 Werken des gleichnamigen Kollektivs, bis 21. Januar, Coalmine Winterthur, in Kooperation mit Culturescapes Amazonia 2021. www.coalmine.ch

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Zwischen zwei Welten Kino In Paraguay werden immer mehr Ayoreo von ihrem Land vertrieben. Der Dokumentarfilm «Apenas el sol» zeigt, wie das indigene Volk um seine Rechte und den Erhalt der eigenen Kultur kämpft. TEXT GIULIA BERNARDI

Arami Ullón, in Ihrem Dokumentarfilm geht es um die Lebensrealität der Ayoreo, die immer wieder dagegen ankämpfen müssen, überhaupt kontaktiert oder von ihrem Land vertrieben zu werden. Sie sind keine Ayoreo. Wie sind Sie auf deren Situation aufmerksam geworden? Durch einen Artikel in einer Schweizer Zeitung, den ich zufällig las. Darin wurde von einer Gruppe von Ayoreo berichtet, die in den 1970er-Jahren von christlichen Missionar*innen vertrieben wurde. Ihr Land wurde verpachtet, abgeholzt oder verkauft. Ich war wütend und überrascht, nichts darüber gewusst zu haben, obwohl ich in Paraguay geboren und aufgewachsen bin. Anschliessend machte ich eine Umfrage in meinem Umfeld, und es kam dabei heraus, dass ich mit diesem Unwissen nicht allein war. So begann ich mit meiner Recherche, die über drei Jahre dauerte. Wie erklären Sie sich, dass niemand von der Tragödie wusste? Ich beobachte einen ausgeprägten Rassismus, der sich gegen die indigene Bevölke24

rung richtet und folglich gegen die eigenen Wurzeln. Etwa 80 Prozent der Paraguayer*innen haben einen indigenen Hintergrund, was oft ignoriert oder verleugnet wird. Seitdem Paraguay kolonisiert wurde, hat Weiss-sein einen hohen Stellenwert, da es immer mit Privilegien einherging. Entsprechend werden jene diskriminiert, die als nicht-weiss und als vermeintlich unzivilisiert gelten. Dies führt letztlich auch zu mangelndem Interesse und Ignoranz gegenüber der Lebensrealität dieser Menschen. So werden koloniale Strukturen aufrechterhalten. Wie hat sich die politische Haltung gegenüber den Ayoreo in den letzten Jahrzehnten entwickelt? Es gibt insgesamt neunzehn indigene Völker, die in jenem Land leben, das heute als Paraguay bezeichnet wird. In den 1940er-Jahren entschied sich die Regierung, diesen Sachverhalt zu vereinfachen und entwarf ein Narrativ, gemäss dem alle Paraguayer*innen einen gemeinsamen Ursprung haben, der angeblich auf die Guaraní zurückgeht, die

bevölkerungsreichste indigene Gruppe. Ihre Kultur wurde anerkannt und Guaraní zur zweiten offiziellen Sprache Paraguays erklärt. Diese Vereinfachung liess alle anderen Indigenen aussen vor. Noch heute werden ihnen die eigenen Rechte aberkannt, was gewaltsame Vertreibungen und wirtschaftliche Ausbeutung zur Folge hat. Die Ayoreo sind das letzte indigene Volk ausserhalb von Amazonien, das zum Teil noch nicht kontaktiert wurde. Dies gilt es zu respektieren. Denn jene Menschen, die bereits kontaktiert wurden, sehen sich gezwungen, jeden Tag mit den Konsequenzen zu leben, die wir ihnen auferlegt haben. Sie leben segregiert und in prekären Verhältnissen. Sie befinden sich «zwischen zwei Welten», wie ein Protagonist gleich zu Beginn des Filmes schildert. Die Region Chaco, die einst dicht bewaldet war, gleicht heute einer Wüste. Auch vieles aus der Kultur der Ayoreo ging verloren. Ihr Film zeigt, wie der Ayoreo Mateo Sobode Chiqueno Gespräche mit Menschen seiner Community führt, Surprise 513/21


FOTOS: CINEWORX

Wie haben Sie sich kennengelernt? Während meiner Recherche wurde ich auf Benno Glauser aufmerksam, einen Schweizer Ethnologen, der seit vierzig Jahren in Paraguay lebt und sich für die Rechte der Ayoreo engagiert. Er brachte mir viel über ihre Lebensweisen bei, über den historischen und politischen Hintergrund, was mir half, ihre gegenwärtige Situation zu verstehen. Er war auch derjenige, der mich Mateo vorstellte. Wie hat sich die Zusammenarbeit mit Mateo gestaltet? Mateo war von Anfang an unsere Ansprechperson, was auch sprachlich bedingt war: Ich verstehe kein Ayoreo und Mateo war einer der wenigen, der Spanisch spricht. Er hat entschieden, mit welchen Personen er sprechen möchte, da er sie gut Surprise 513/21

kennt und genau wusste, welche Perspektive sie in den Film einbringen können. Sein Wissen war sehr wertvoll für uns. So kollaborativ Dreharbeiten auch gestaltet sind, bringt die Kamera dennoch ein Machtgefälle mit sich, Hierarchien, die nur schwer zu überwinden sind. Wie sind Sie damit umgegangen? Ich versuche nicht, meine Machtposition zu verbergen. Mir ist bewusst, dass unsere Crew weiss und privilegiert ist, dass wir mit teurem Equipment an einem Ort drehen, an dem Menschen in armen und prekären Verhältnissen leben. Auch ist mir bewusst, dass unsere Arbeit invasiv ist, dass wir damit eine andere Dynamik in das Leben dieser Menschen bringen, Tagesabläufe und Stimmungen verändern. Es gibt keinen Weg, diesen Umständen zu entgehen. Daher stehen wir als Filmemacher*innen umso mehr in der Verantwortung, sie zu reflektieren und ihre Auswirkungen so gut es geht zu minimieren. Dennoch bleibt unumstritten, dass wir in der Community viel verändert haben – nicht nur während der Dreharbeiten, sondern auch danach. Wir wissen nicht, welche Folgen daraus entstehen können, dass wir uns so lange auf eine Person fokussiert haben. Wir wissen nicht, welche Auseinandersetzungen wir ausgelöst haben, die sich auf Mateo auswirken werden. Vielleicht wird auch die Veröffentlichung des Filmes Folgen für ihn haben. Wir haben mögliche Szenarien immer wieder gemeinsam besprochen, können aber unmöglich alle voraussehen.

«Apenas el sol» läuft nun hierzulande im Kino. Sehen Sie den Film als Möglichkeit, auch die koloniale Vergangenheit der Schweiz zu reflektieren? Auf jeden Fall. Es hat mich immer wieder überrascht, wie sehr hierzulande betont wird, dass die Schweiz keine Kolonien hatte und folglich auch nicht in der Verantwortung steht, die eigene koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Ich wünsche mir, dass der Film dazu veranlasst, über das Selbstverständnis der Schweiz nachzudenken – etwa über das Konzept der Neutralität, das mir ohnehin oft absurd erscheint. Alles, was wir tun, ist politisch motiviert. «Apenas el sol», Regie: Arami Ullón, Dokumentarfilm, CH/PAR 2020, 75 Min. Läuft ab 25. November im Kino.

FOTO: PATRICK OSER

um individuelle und kollektive Erinnerungen am Leben zu halten. Mateo hat sich seit vielen Jahren der Aufgabe verschrieben, die Kultur der Ayoreo mit Ton- oder Videoaufnahmen zu dokumentieren. Seine Arbeit ist aktivistisch motiviert, da er nicht nur Erzählungen aufzeichnet, sondern auch die paraguayische Regierung sensibilisiert und die Rechte der Ayoreo einfordert. Ich hatte den Eindruck, dass vielen Ayoreo bewusst ist, dass es ohne Mateo kein Zeugnis von ihnen mehr geben würde. Jedes Gespräch mit ihm ist eine Möglichkeit, etwas von sich selbst zu hinterlassen. Es geht darum, die Erinnerung lebendig zu halten und jenes Unrecht, das ihnen wiederfahren ist, zu verarbeiten.

Arami Ullón wurde 1978 in Asunción geboren. Die paraguayische Filmregisseurin hat seit den späten 1990er-Jahren etliche Kurz- und Dokumentarfilme veröffentlicht («El tiempo nublado», 2014). «Apenas el sol» geht als offizieller Beitrag von Paraguay ins OscarRennen 2022. Ullón lebt in der Schweiz und in Paraguay.

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BILD(1): BHAVYAA PARASHAR, BILD(2): FORUM WUERTH THOMAS KERN , BILD(3): ZVG

Veranstaltungen

Zürich «Urbane Räume: 4 Perspektiven», bis So, 13. März, ZAZ Bellerive Zentrum Architektur Zürich, Höschgasse 3. zaz-bellerive.ch

Schweiz «TiM – Tandem im Museum», diverse Museen in der Schweiz. www.tim-tam.ch Ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich oft allein, besonders in der Adventszeit. Und die Pandemie hat die Einsamkeit zusätzlich verstärkt. Das Projekt «TiM – Tandem im Museum» ermöglicht persönliche Begegnungen und soll mehr Menschen dafür begeistern, ins Museum zu gehen: Über 100 Freiwillige begleiten eine ihnen fremde oder nur flüchtig bekannte Person bei einem Museumsbesuch. In einer Adventsaktion finden nun fast täglich Schnupperanlässe in der ganzen Schweiz statt, an denen Guides und neue Museumsbesucher*innen zusammenfinden können. Über 30 Museen beteiligen

Das ZAZ Bellerive Zentrum Architektur thematisiert anhand von vier sehr unterschiedlichen Arbeiten Herausforderungen der Stadtentwicklung. Mit «Mapping Delhi – Arbeit, Stadtraum und Erinnerung auf Textil» etwa werden im Medium der Tapisserie die Verbindungen zwischen urbanen Lebenswelten und sozial engagierter Kunst sichtbar gemacht. Das Kunstprojekt von Studio Otherworlds ist in Kapashera entstanden, einem industriellen Randgebiet Delhis. Am Projekt mitgearbeitet hat ein Kollektiv von Arbeitsmigrantinnen, die in der dortigen Textilindustrie unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten und in verdichteten Mietskasernenvierteln leben. Die Kabinettausstellung des Kollektiv 8000.agency wiederum guckt sich Zürich an, genauer das Verschwinden einer Plattenbausiedlung im Triemli-Quartier. Die Welle an Ersatzneubauten in Zürich scheint nachvollziehbar: Sie bieten einen sicheren Anlagewert, die Nachverdichtung schafft mehr stadtnahen Wohnraum und die Sanierung bestehender Substanz ist herausfordernd – doch die Potenziale, die im Weiterbauen liegen würden, bleiben oft aussen vor. Die Arbeit zeichnet nach, was eine Transformation im konkreten Fall für den urbanen Raum hätte bedeuten können. DIF

Zürich «die vogelfreien», Benefizkonzerte, Fr, 26. Nov., 19.30 Uhr (zugunsten FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration) und So, 28. Nov., 18 Uhr (zugunsten Stiftung Frauenhaus Zürich), Johanneskirche, Limmatstrasse 114; «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», verschiedene Veranstaltungen schweizweit. dievogelfreien.ch 16tage.ch Der politisch engagierte Frauenchor «die vogelfreien» hat anläss-

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lich des 50-Jahr-Jubiläums des Frauenstimmrechts in der Schweiz und des eigenen 20-Jährigen ein Best-of-Programm zusammengestellt. Und berücksichtigt mit einem weiteren Konzert gleich noch ein Jubiläum: 40 Jahre Stiftung Frauenhaus Zürich. Im Rahmen der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» thematisiert dieser Abend sexualisierte Gewalt (soeben hat eine neue Studie ergeben, dass fast jede zweite Frau und rund ein Drittel der Bevölkerung in der Schweiz bereits Gewalt in der Beziehung erlebt hat). Weitere Veranstaltungen von «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» finden bis Mitte Dezember in der ganzen Schweiz statt. DIF

sich schweizweit daran, vom Musée Visionnaire in Zürich über das Klostermuseum St. Johann in Müstair bis hin zum Museum Verzasca Sonogno. Wer mit einem Guide zusammengebracht werden möchte, geht einfach zu einem der Schnupperevents in einem der teilnehmenden Museen. Die Anlässe sind online zu finden. DIF

Online «Tito – vom Obdachlosen zum Stadtführer», Podcast, auf Spotify, Apple Podcasts und allen gängigen Podcastportalen. surprise.ngo/tito

Tersito «Tito» Ries ist der neue Surprise Stadtführer in Basel. Den Weg bis zur Premiere seines Stadtrundgangs erzählt nun ein fünfteiliger Podcast: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie stand am Anfang – diese erzählbar zu machen, aber auch selber vielleicht zum ersten Mal rote Fäden darin zu erkennen, persönliche Bruchstellen und strukturelle gesellschaftliche Probleme, mit denen das eigene Schicksal verknüpft ist. Tito hatte bisher ein bewegtes Leben, behütet aufgewachsen, erlebte er mit der Scheidung der Eltern in der Kindheit einen ersten Bruch im Leben. Er arbeitete sich später zum Unternehmer hoch und stürzte ab. In Schulden, Alkoholsucht und Obdachlosigkeit. Der Podcast erzählt von seiner Geschichte und gibt einen Einblick hinter die Kulissen der Arbeit von Surprise mit armutsbetroffenen Menschen. Episode 1, «Absturz« jetzt zu hören, Episode 2 «Aufstieg» folgt am Mi, 25. Nov. DIF

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Wir sind für Sie da. grundsätzlich ganzheitlich

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ist das Rauschen der Töss, die dem schönen Tal, nicht aber der Ortschaft ihren Namen gab. Auf der Landkarte sind ein Chämi-, ein Chatzen- und ein Hutzikerbach auszumachen, aber weit und breit keine Turbe. Möglich, dass sie verschwunden ist, wie das Schloss, das nicht mehr steht, an das aber noch die Stiftung Schloss Turbenthal erinnert, die ein Gehörlosendorf betreibt. Diesem zu verdanken ist auch das selten gesehene Verkehrsschild, das auf Gehörlose aufmerksam macht. Bestimmt gibt es Menschen, die durchs Land fahren, seltene Verkehrsschilder fotografieren und auf einer Karte vermerken. Wenn nicht, wäre das ein exklusives Hobby, das einen zum verschrobenen Exzentriker stempeln würde.

Tour de Suisse

Pörtner in Turbenthal Surprise-Standorte: Bahnhof Einwohner*innen: 4949 Sozialhilfequote in Prozent: 5,5 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 19,5 Besonderheit: rund 100 km von Turbenthal sind Bachläufe

Nahezu gespenstisch still ist es hier um die Mittagszeit. Passenderweise empfängt am Bahnhof das Hotel Schwanen mit einer Dracula Bar. Wahrscheinlich ist diese nicht ganz so exklusiv wie der Dracula Club in St. Moritz, aber hoch zu und her gehen kann es hier genauso gut, wie der Aushang für einen ins Haus stehenden Auftritt verheisst: «100 % Tanz Musik» werden garantiert. Eine Sängerin wird mit «Made in Italia» angepriesen. Tatsächlich hat sie etwas Italienisches, diese Mittagsruhe, in der die Parkplätze leer, die Perrons verwaist, die Post- und Bankfilialen geschlossen sind. Vor dem Kino sitzt man auf aus Metallkisten gefertigten Loungesofas, die sich bei schlechtem Wetter zuklappen und im Winter irgendwo stapeln lassen. Aber an schlechtes Wetter denkt hier niemand, das ist vorbei, und der Winter, Surprise 513/21

der ist noch fern. Getrunken wird Cappuccino, geschwitzt in den am Morgen angezogenen Jacken, denn es scheint und wärmt die Sonne immer noch, unbenutzt bleiben die bereitgelegten Felle und Wolldecken. Im Haus ist ein Gesundheitszentrum untergebracht, gleich gegenüber liegt ein Praxiszentrum, das sogar eine Tierarztpraxis umfasst.

Ein durchaus weitverbreitetes Hobby hat der Mann, der auf einem Motorrad vorbeiknattert und winkt. Offenbar kennt man ihn. «Der geht jetzt einfach geniessen», so der Kommentar. Es wird ihm gegönnt. 3G wird im Café als «genossen getrunken gezahlt» interpretiert. Als 4G kommt noch «glücklich» hinzu. Ein fünftes präsentiert man wohlweislich nicht, weil das nur zu Diskussionen führen würde. Nicht mehr über diese berichten wird vermutlich die Lokalzeitung «Der Tösstaler». Das Gebäude, auf dem der Name dieser Zeitung steht, wirkt verlassen, die Diskussionen finden woanders statt, im Internet, das so mancher Zeitung das Ende bereitet hat. Langsam aber sicher neigt sich die Mittagspause ihrem Ende zu. «Zahlen!», rufen alle gleichzeitig.

Zwischen alternativer und klassischer Medizin liegen nur ein Parkplatz und eine Strasse. So unterschiedlich die Behandlungsmethoden sein mögen, Einigkeit herrscht darüber, dass das Einhalten einer Mittagsruhe der Gesundheit förderlich ist.

STEPHAN PÖRTNER

In einem Wintergarten stehen drei Nackte, es handelt sich um graue Schaufensterpuppen neben einem Stapel Paletten. Es könnte eine Installation sein, ist aber bloss ein Aussenlager. Zu hören

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Gemeinnützige Frauen Aarau

02

Breite-Apotheke, Basel

03

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

04

spielraum.ch – Freiraumplanung für alle!

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Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

06

wag GmbH, www.wag-buelach.ch

07

Martina Brassel – Graphic Design

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.flowScope gmbh.

09

engler.design, Grafikdesign, Baden

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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Coop Genossenschaft, Basel

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbank, Zürich

13

Omanut. Forum für jüdische Kunst & Kultur

14

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

15

hervorragend.ch | Grusskartenshop

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Irma Kohli, Sozialarbeiterin, Bern

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Anwaltskanzlei Fraefel, Zürich

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

22

Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Cantienica AG, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise #511: Ruedi fehlt

#Strassenmagazin

«Gern gekauft»

«***»

Beim Coop in Cham verkauft eine sehr fleissige, freundliche und stets adrett gekleidete Surprise-Verkäuferin ihre Hefte. Es ist mir ein Anliegen, Ihnen mitzuteilen, dass man Surprise gerne bei ihr kauft. Und deshalb flattern die Hefte fast alle vierzehn Tage in unsere Wohnung. Und nun noch ein Wort zum Strassenmagazin Nr. 511: Diese Nummer finden wir ausgezeichnet, und wir haben das Heft von vorn bis hinten und von hinten bis vorn gelesen. Ein grosses Kompliment! H. UND D. STUCK Y, Cham

Wenn ich eine/n Verkäufer/in des Magazins «Surprise» gesehen habe, habe ich jeweils ein Exemplar gekauft. Doch inzwischen sind die Texte im Magazin unleserlich geworden. In der deutschen Sprache gibt es diesen * gar nicht, aber weil man mit der Zeit gehen will, macht man es einfach. Ich persönlich finde es schade. In Zukunft verzichte ich auf den Kauf des Magazins und die Unterstützung sozial schlecht gestellter Menschen, dank der hervorragenden Idee *! BLUM, Limmattal

Anm. d. Red.:

Der Duden führt den * als eine Variante gendergerechter Rechtschreibung auf. #511: Pörtner in Grenchen

«Zum Flughafen!» Lieber Herr Pörtner, als Ur-Grenchnerin frage ich mich, ob Sie jeweils recherchieren, wenn Sie irgendwo anhalten? Ich liebe Grenchen und bin so weit einverstanden mit Ihrem Bericht, inkl. dr füdliblutt Obrecht. Man gewöhnt sich dran. Aber der Flughafenbus: Der fährt nicht nach Biel und auch nicht nach Solothurn, sondern: zum Flughafen in Grenchen! Jawohl, zusätzlich zu der superschönen Lage haben wir nebst 2 Bahnhöfen sogar einen sehr gut frequentierten Flugplatz. E. SCHÜTZ, Grenchen

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Giulia Bernardi, Monika Bettschen, Julia Demierre, Nicolas Gabriel, Sara Ristić, Roland Schmid, Sebastian Sele, Milica Terzić Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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FOTO: SARA RISTIĆ

Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«In kleinen Dingen liegt der wahre Reichtum» «Ich hatte eine gute Kindheit, musste aber schon früh arbeiten. Meinen ersten Job hatte ich, als ich noch auf die Sekundarschule ging. Es war hart, aber auch schön, sein eigenes Geld zu verdienen. Ich bin immer umsichtig mit Geld umgegangen, habe mir nur wenig geleistet – bis auf einen Haufen Kassetten, denn ich liebe Musik. Irgendwann verkauften wir unser Haus auf dem Land und zogen in einen Vorort von Belgrad. Das Geld aus dem Verkauf war schnell ausgegeben – und dann begannen die Probleme. Der Vater ging, meine Mutter und ich blieben alleine zurück. Wir konnten Miete und Rechnungen nicht mehr bezahlen und waren gezwungen, unser Haus aufzugeben und uns zu trennen: Meine Mutter, sie war inzwischen krank geworden, kam in ein Pflegeheim, und ich musste ins Jugendheim. Im Heim fragten mich zwei Mädchen, ob ich die Strassenzeitung Liceulice verkaufen und dabei ein bisschen Geld verdienen möchte. Ich hatte vorher noch nie von Liceulice gehört und wusste gar nicht, dass es Strassenmagazine überhaupt gibt. Aber sie überzeugten mich, und so begann ich 2011 das Heft auf den Strassen von Belgrad zu verkaufen. Es lief von Anfang an sehr gut, ich bin einfach durch die Stadt gelaufen und habe meine Exemplare verkauft. Später fragte ich einen Freund, ob wir die Zeitschrift zusammen verkaufen und uns einen festen Standort teilen wollen. Das machen wir bis heute so. Inzwischen habe ich meine Stammkunden, und wenn ich mal weg bin, fragen sie nach mir. Das freut mich und gibt mir Kraft. Die Zeit im Jugendheim war hart. Es lebten dort ganz unterschiedliche Leute, mit einigen hatte ich meine Mühe. Ich musste so lange dort bleiben – insgesamt neun Jahre –, weil ich keinen gesetzlichen Vormund hatte und als arbeitsunfähig galt. Das Schlimmste war, dass sich die ganze Zeit niemand bei mir meldete, weder Verwandte noch Freunde. Immer war ich derjenige, der anrief. Dann kam die Corona-Pandemie. Ich wusste zu Beginn gar nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte. Auch durfte ich meine Mutter im Pflegeheim nicht besuchen. Inzwischen hat sich das zum Glück wieder geändert, und ich gehe einmal pro Woche hin. Ich verkaufe die Strassenzeitung gerne, Liceulice hat mir in schwierigen Zeiten den Rücken gestärkt und mir die Kraft zum Weitermachen gegeben. Vielleicht können meine Mutter und ich schon bald wieder eine eigene Wohnung beziehen. Wenn ich dann endlich eine zusätzliche Arbeit habe, werde ich auch einen anständigen Lohn kriegen und wir können wieder ein normales Leben leben. Es sind die kleinen Dinge, die mich jeden Tag aufs Neue motivieren. Vormittags besuche ich meine Mutter, später verkaufe ich die Zeitschrift. Jeden Morgen stehe ich früh auf, um zu arbeiten, so kann ich mir zwischendurch ein Getränk oder Essen 30

David Janković verkauft das Strassenmagazin Liceulice in Belgrad. Er musste sich als Kind von seiner Mutter trennen – besucht sie aber jeden Tag.

leisten. Ich erhalte zudem etwas Geld vom Staat, davon kaufe ich mir Kleider. Ich habe jetzt sogar angefangen, ein wenig Geld auf die Seite zu legen, um mir irgendwann ein Telefon leisten zu können. Ich hatte trotz allem viele schöne Momente in meinem Leben. Im Jugendheim hatte ich eine Freundin – sie hat mich zuerst geküsst! Ich war völlig überrascht, doch sie sagte mir, ich sei ein guter Mensch und dass sie mich deshalb liebe. Sie fragte mich, ob ich ihr Freund sein wolle, und ich sagte ja. Wir sind bis heute Freunde geblieben, obwohl wir keine Liebesbeziehung mehr haben. Manchmal legen wir unser Geld zusammen und gehen gemeinsam einen Burger essen. Sobald ich ein richtiges Zuhause habe, hätte ich gern wieder eine feste Freundin – zuerst nur, um miteinander auszugehen und ein bisschen Zeit zu verbringen, später könnten wir vielleicht, wenn sie das auch möchte, heiraten. Man braucht keinen Luxus, um ein schönes Leben zu haben. In kleinen Dingen liegt der wahre Reichtum. Deswegen darf ich von mir selbst sagen, dass ich ein glücklicher Mensch bin.»

Aufgezeichnet von MILICA TERZIĆ Mit freundlicher Genehmigung von Liceulice / INSP.ngo

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So schützen wir uns beim Magazinkauf Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Wo nötig tragen wir Masken.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen. Surprise511/21 511/21 Surprise

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo 31 31


EINE PODCASTSERIE VON SURPRISE IN FÜNF TEILEN

VOM OBDACHLOSEN ZUM STADTFÜHRER

TITO

JETZT N RE Ö H N I RE

Episode 1 | 10.11.21

ABSTURZ Episode 2 | 24.11.21

AUFSTIEG Episode 3 | 08.12.21

CHEFIN Episode 4 | 22.12.21

KOMPLIMENT Episode 5 | 05.01.22

PREMIERE 3Auf 32 2 Spotify, Apple Podcasts und www.surprise.ngo/tito

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