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Kampf ums Erbe Festival Während drei Tagen zeigt «Kino Kosova»

neun Filme aus dem Kosovo. Sie sollen ein Spiegelbild für die Gesellschaft in der Schweiz sein.

Naveriani wurde 1985 in Georgien geboren und kam 2008 nach Genf, um das Master­studium an der Schule für Kunst und Design (HEAD) fortzusetzen und danach Film zu studieren. Naveriani identifiziert sich als nonbinär. Mit «Wet Sand» gewann die Regisseur*in an den Solothurner Filmtagen den «Prix de Soleure». Gia Agumava erhielt für seine Rolle als Amnon, Elikos grosse Liebe, 2021 in Locarno den Pardo Best Actor. MBE

schaft duldet keinen Homosexuellen auf ihrem Friedhof. Ist diese Entmenschlichung Ziel des Systems? Ich denke, das Ziel der konservativen Kräfte und damit auch der orthodoxen Priester im Land ist genau das: Die Bevölkerung soll zur Überzeugung gelangen, dass es Leute gibt, die nicht gleich menschlich sind. So können Machtstrukturen gefestigt werden, was für sehr viele Menschen mit viel Schmerz verbunden ist. So wie für Eliko und Amnon, die ihre Liebe 22 Jahre lang geheim halten mussten. Oder für Elikos Enkelin Moe, die nach seinem Suizid ins Dorf zurückkehrt und seine tragische Vergangenheit aufdeckt. Und auch andere leiden. Etwa Neli, eine Freundin von Moes Mutter. Zuerst wirkt sie angepasst und wie eine Mitläuferin, doch auch sie ist ein Opfer der Strukturen. Obwohl sie eine Nebenfigur ist, trägt sie viel zur Geschichte bei. Wie kam es dazu? Es war mir sehr wichtig, eine Figur wie Neli im Film zu haben. Sie steht für jene Menschen, die zwar zur Mehrheit gehören wollen, aber im Stillen darunter leiden. In ihr zeigt sich, dass es auch eine Bürde sein kann, der Mehrheit anzugehören. Sie kämpft zwar den Kampf der Mehrheit, doch im Inneren weiss sie, dass dieser nicht richtig ist. Die patriarchale Mentalität und der Stress, den hohen Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft zu genügen, lasten schwer auf ihr. Zudem steckt sie in einer lieblosen Ehe fest. Als Moe im Dorf ankommt, gibt Neli ihr zu erkennen, dass auch sie anders ist. Sie bewundert heimlich, wie die junge Moe Missstände und Bigotterie beim Namen nennt. Inspiriert davon findet sie am Ende die Kraft, selber einen ersten Schritt Richtung Freiheit zu tun.

«Wet Sand», Regie: Elene Naveriani, Drama, CH/GEO 2021, 115 Minuten. Läuft seit 5. Mai im Kino. Surprise 524/22

Zugehörigkeiten und Identitäten, Flucht und Exil, Arbeitslosigkeit und patriarchale Strukturen, Familienbeziehungen, die sich festigen, und andere, die sich auflösen: Die neun Filme, die das Festival «Kino Kosova» während drei Tagen in Zürich zeigt, verhandeln nicht nur die grossen Themen der kosovarischen Gesellschaft – dieses jungen Landes, das nach dem Kosovokrieg von 1998 und 1999 seit 2008 unabhängig ist. Die Spiel-, Dokumentar-, Animations- und Kurzfilme greifen auch universelle Themen auf, die Menschen an ganz unterschiedlichen Orten beschäftigen. In «Vera dreams of the sea» etwa begeht Veras Mann Suizid. Die Gebärdensprachdolmetscherin muss nicht nur diesen Verlust verarbeiten, sondern auch gegen patriarchale Bestimmungen kämpfen, denn das Erbe ihres Mannes steht eigentlich nicht ihr zu. Die kosovarische Regisseurin Kaltrina Krasniqi arbeitete sieben Jahre an diesem Film, für den sie in Göteborg den Ingmar-Bergman-Award gewann. Doch Filme wie dieser wurden mit einem sehr kleinen Budget produziert. 2021 sprach die kosovarische Filmförderung 600 000 Euro. Zum Vergleich: In der Schweiz betrug die Filmförderung im gleichen Jahr über 32 Millionen Franken. Die Filme der vorwiegend jungen Regisseur*innen – sechs sind Frauen, zwei Männer – sollen nicht nur Menschen mit einem persönlichen Bezug zum Kosovo ansprechen. Das betont Jonas Beer vom Verein Kulturalink, der «Kino Kosova» nach 2020 und 2021 zum dritten Mal organisiert. Darum habe Kulturalink bewusst Filme mit Themen ausgewählt, die auch in der Schweiz relevant sind. «Wir nutzen den Kosovo als Spiegelbild für die hiesige Gesellschaft», sagt Beer, «ist es manchmal doch einfacher, herausfordernde Themen in der Ferne zu entdecken und dann Parallelen zu sehen.» LEA BILD: HERETIC OUTREACH

BILD: SISTER DISTRIBUTION

BILD: ZVG

Elene Naveriani

Kino Kosova läuft vom 13. bis 15. Mai im Riffraff Kino in Zürich. Im Anschluss an die Filme gibt es Podiumsgespräche mit den Filmschaffenden, moderiert von Journalistin Aleksandra Hiltmann und Filmemacher Ilir Hasanaj. Vom 14. bis 18. September findet «Kino Kosova» dann in Bern unter anderem im Kino Rex, im Kino der Reitschule und in der Cinématte statt. kinokosova.com 25


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