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Belgrad Auf der Strasse

Wo gesellschaftliche Umbrüche sich in den Gesichtern von Menschen spiegeln.

Seite 14

Strassenmagazin Nr. 542 20. Jan. bis 2. Feb. 2023
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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

NEUE TOUR IN BERN

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NEUEN PERSPEKTIVE.

Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.

Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang

Mit Umbrüchen leben

Im Herbst 2021 war ich in Belgrad. Die Stadt erinnerte mich an die aserbaidschanische Hauptstadt Baku, wo ich studiert habe, vor allem wegen der architektonischen Mischung aus (wenigen) Überbleibseln islamischer Architektur, sozialistischen Grossgebäuden und bürgerlicheuropäischen Jahrhundertwendebauten. Ich habe mich an beiden Orten sehr wohl gefühlt, ich mag es, die historischen Schichten und politischen Umbrüche direkt vor Augen zu haben. Und es gefällt mir, dass in Belgrad (anders als in Aserbaidschan) nicht alles auf Hochglanz getrimmt wird, dass die Spuren der Vergangenheit noch sichtbar sind. Auch wenn einiges davon an brutale Einschnitte erinnert – die Auseinandersetzung damit ist wichtig.

Der in Knin im ehemaligen Jugoslawien geborene Fotograf Igor Čoko betrachtet Serbiens Hauptstadt nicht mit dem Blick auf Bauepochen, aber auch er macht die Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar:

Indem der studierte Anthropologe seine Linse auf die Menschen richtet, die er in und auf Belgrads Strassen trifft. Mit seinen Bildern, denen wir in dieser Ausgabe ab Seite 14 mit einem Fotoessay Raum geben, dokumentiert er die menschlichen Folgen der grossen Umbrüche der letzten Jahrzehnte.

Übrigens beschreibt der Titel des serbischen Strassenmagazins Liceulice dieselbe Idee: «Gesichter der Strasse» heisst die wunderbar gestaltete Zeitschrift übersetzt. Auch Strassenmagazine machen die Folgen von Umbrüchen sichtbar: individuellen und gesellschaftlichen. Damit wir Ihnen aufwendigere Recherchen und mehr journalistische Tiefe bieten können, hat Surprise letzten Herbst einen Recherchefonds lanciert. Die zweite Ausschreibung läuft bereits. Mehr dazu auf Seite 5.

Surprise 542/23 3 TITELBILD: IGOR ČOKO 4 Aufgelesen 5 Recherchefonds Neue Ausschreibung 5 Vor Gericht Eine erschreckende Idee 6 Verkäufer*innenkolumne Muss man wirklich? 7 Die Sozialzahl Die unbezahlte Wertschöpfung 8 Grundeinkommen Noch kann man unterschreiben 10 Inflation Was geschieht in der Sozialhilfe? 14 Fotoessay In Belgrad 20 Entkriminalisierung Obdachlose in San Francisco erringen Sieg 22 Kulturwandel Von Fotos verführt 24 Kino Nur für eine Nacht 25 Buch Lebensbilder 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Kaiseraugst 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Ich bin eine Kämpferin»
Editorial

Auf g elesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Wohnungslos mit Schizophrenie

In Denver, USA, leben immer mehr Menschen dauerhaft in Wohnmobilen und -wagen. Devine Carter und Cornelius Jenkin leben seit über 18 Monaten in einem knapp sieben Meter langen Wohnwagen. Als ihr Sohn mit Schizophrenie diagnostiziert wurde, waren sie bei ihm eingezogen, um ihm zu helfen. Alle drei wurden obdachlos, als ihr Sohn aufgrund einer psychischen Krise seine Wohnung verlor.

Kaputtgespart

Der britische Staatshaushalt leidet unter der Austeritätspolitik der Tories: Fast ein Fünftel der Bibliotheken in England, Schottland und Wales wurden von 2010 bis 2020 geschlossen, die öffentlichen Ausgaben in diesem Bereich sanken von einer Milliarde Pfund auf unter 750 Millionen. Die staatlichen Investitionen in Jugendarbeit fielen um 74 Prozent. 4500 Sozialarbeitsstellen im Bereich Jugend wurden gestrichen und 750 Jugendzentren geschlossen. Ausserdem wurden zwischen 2010 und 2019 die Ausgaben für Bildung um 8 Prozent reduziert. Auch die Ärmsten müssen zurückstecken: Heute gibt es 39 Prozent weniger Notunterkünfte für Obdachlose und 26 Prozent weniger Betten als noch 2010.

Nicht gespart

165 Millionen Euro Ausgleichssteuer zahlten österreichische Unternehmen 2021: Diese wurde fällig, weil Unternehmen mit 25 oder mehr Beschäftigten verpflichtet sind, je 25 Mitarbeitende einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Wer den Vorgaben des Behinderteneinstellungsgesetzes nicht nachkommt, zahlt pro versäumtem Anstellungsverhältnis eine Ausgleichstaxe, die sich zu obengenannter Summe addierte.

Ausgezeichnet

Als eine der Top 3 «Journalistinnen und Journalisten des Jahres» prämierte die Branchen-Zeitschrift Medium Magazin die Kölner Journalistin Christina Bacher in der Kategorie «Chefredaktion regional». «Strassenmagazine wie der Draussenseiter aus Köln wurden von der Pandemie besonders hart getroffen. Chefredakteurin Christina Bacher ist es jedoch auf bemerkenswerte Weise gelungen, das monatlich erscheinende Heft mit grossem Engagement durch das schwierige Jahr zu führen und zu stabilisieren», heisst es in der Begründung der Jury. Eine schöne Anerkennung für Deutschlands ältestes Strassenmagazin, das in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag feiert.

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FOTO: GILES CLASEN
DENVER VOICE  / INSP.NGO
THE BIG ISSUE, LONDON
DRAUSSENSEITER, KÖLN MEGAPHON, GRAZ

Recherchefonds

Neue Ausschreibung

Unabhängig, kritisch und mit unverkennbarer Stimme –so berichtet Surprise seit Jahrzehnten über Armut, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit und Migration. Die Themen sind von hoher gesellschaftlicher Relevanz in Zeiten sozialer Umbrüche, Krisen und Kriege, sie werden zunehmend komplexer, vieles liegt im Dunkeln, manches wird vertuscht oder totgeschwiegen.

Mit dem von uns im letzten Herbst lancierten Recherchefonds möchten wir die grossen Geschichten zu diesen relevanten Themen fördern –vorzugsweise mit Bezug zur Schweiz, in jedem Fall aber nahe an und mit den Betroffenen.

Bisher konnten wir zwei Projekte finanziell unterstützen: eine Recherche zur Geburtshilfe bei Asylsuchenden von Naomi Gregoris sowie eine Serie über Digitalisierung und Armut von Florian Wüstholz (Text) und Timo Lenzen (Illustration). Erste Texte erscheinen ab diesem Frühjahr.

Neue Anträge können bis zum 15. Februar 2023 eingereicht werden. Weitere Informationen zum Surprise Recherchefonds finden sich unter surprise.ngo/ recherchefonds.

Vor Gericht

Eine erschreckende Idee

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verfolgten die Nazis als «Lösung der Judenfrage» den sogenannten Madagaskarplan: Millionen europäische Jüd*innen sollten auf die Insel an der Ostküste Afrikas deportiert werden. Historiker*innen werten den Plan als psychologischen Meilenstein hin zum Holocaust, als entscheidenden Schritt in der Entschlussfassung zum Völkermord.

Im April 2022 verkündete die britische Regierung einen Deal mit Ruanda: Für 120 Millionen Pfund übernimmt das Land ab sofort Menschen, die «auf gefährlichem oder illegalem Weg oder unnötigerweise in das Vereinigte Königreich einreisen». Also die meisten Asylsuchenden. Ihnen wird praktisch von vornherein das Recht abgesprochen, überhaupt Asyl zu beantragen. Die Zahl dieser «illegal people», wie Ex-Premier Boris Johnson sie nannte, steigt seit dem Brexit an. Mehr als 44 000 sind 2022 über den Ärmelkanal nach Grossbritannien gelangt. Geht es nach dem Willen der Regierung, sollen sie künftig nach Afrika abgeschoben werden. Kirchenoberhäupter, Flüchtlingsorganisationen und britische Bürger*innen reagierten empört. King Charles, damals noch Prinz, nannte diesen Plan Gerüchten zufolge «eine erschreckende Idee». Ein südafrikanischer Politiker sagte, wenn Ruandas Präsident diesen Menschen ein neues Zuhause bieten wolle, solle er sie ohne Gegenleistung aufnehmen. Geld gegen Menschen wecke schmerzhafte Erinnerungen an den Sklavenhandel.

Ein erster, für Juni 2022 anberaumter Ausschaffungsflug nach Ruanda konnte in letzter Sekunde mit einer einstweiligen Verfügung des Europäischen Gerichtshofs für

Menschenrechte in Strasbourg gestoppt werden. Mehrere NGOs und die Gewerkschaft der britischen Grenzbeamt*innen sowie Betroffene hatten geklagt. Im Dezember ging der Prozess am Londoner High Court um den Ruandaplan in die zweite Runde. Diesmal geht es einerseits um übergeordnete Fragen, die sich um die Rechtmässigkeit dieser Asylpolitik drehen. Zum Beispiel, ob das «offshoring» unerwünschter Menschen gegen die Flüchtlingskonvention verstösst oder gegen beibehaltenes EU-Recht. Anderseits geht es um elf Einzelfälle, Geflüchtete aus Syrien, Iran, Irak, Vietnam, Sudan und Albanien, die sich gegen ihre Abschiebeentscheide wehren.

Die Richter kommen zu einem beklemmenden Ergebnis: Sie schmettern alle übergeordneten Klagen ab. Der Ruandaplan sei rechtmässig. Gleichzeitig heissen sie sämtliche individuellen Beschwerden gut. Die Umstände der auszuschaffenden Personen seien nicht ausreichend geprüft worden. Schon will auch Dänemark Asylbewerber*innen nach Ruanda schicken, und die SVP fordert, die Schweiz müsse dieses Vorgehen ebenfalls prüfen. In einer Online-Umfrage von Nau.ch unterstützen 80 Prozent der Teilnehmenden dieses Ansinnen.

Übrigens: Die Umsetzung des Madagaskarplans der Nazis scheiterte damals am Seekrieg gegen Grossbritannien und der fehlenden Hoheit über die Seewege. Stattdessen wurde schliesslich ein Grossteil der europäischen Juden im Holocaust vernichtet.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne

Muss man wirklich?

Man muss oder will von Punkt A nach Punkt B kommen.

Sei es zum Arbeiten, die Bestellung liefern, zum Einkaufen, ins Kino, Urlaub, jemand besuchen, ans Konzert, an die Sportveranstaltung, Training oder was auch immer.

Wie weit ist der Weg?

Weniger als 500 Meter? 18 km? 250 km? 800 km? 6000 km?

Welches Verkehrsmittel nehmt ihr?

Wir alle sind also Verkehr. Zu Fuss, Trottinett, Rollschuh, Velo, Pferd, Bus, S-Bahn, Intercity, TGV, Auto, Motorrad oder Flugzeug.

Muss man wirklich dorthin?

Muss ein Schweizer, der weder den Oeschinensee noch das Centovalli kennt, um alles in der Welt nach Thailand?

Braucht es in einem Land, das so viel gutes Wasser hat, San Pellegrino? Müssen Autorennen auf unseren

Strassen stattfinden? Müssen Karotten aus dem Aargau nach Holland gekarrt werden bloss zum Verpacken? Wenn neun Fussballfans, alle vom selben Club, zusammen an den Match wollen, muss dann jeder im eigenen Auto fahren? Braucht man in der Stadt Geländewagen? Muss man wegen 500 Metern das Auto nehmen?

Ich sage klar: Nein!

Welches Verkehrsmittel verursacht wie viel Umweltschaden?

Durchschnittlicher CO²-Ausstoss pro Person und Kilometer (Quelle: WWF):

– Schnellzug SBB 6,7 g

– Reisebus 51,8 g

– ICE-Hochgeschwindigkeitszug 62,1 g

– Personenwagen 195,3 g

– Interkontinentalflug 217,3 g

– Kurzstreckenflug 319 g

Autofahrer*innen brauchen massiv mehr Platz als Radler*innen oder ÖVBenutzer*innen. Ich fahre nicht Auto,

und was ich in meinem Leben geflogen bin, lässt sich an einer Hand abzählen.

Ich fahre Velo, manchmal auch nur als Training, und gehe zu Fuss einkaufen.

Motorisierter Verkehr lärmt, Verkehr nervt, Verkehr kostet die Allgemeinheit viel Geld, motorisierter Verkehr stösst Schadstoffe aus, Verkehr verursacht Unfälle, Verkehr tötet.

Gerade der ÖV schafft aber auch viele Arbeitsplätze. Verkehr ist manchmal notwendig, hat aber auch viele Nachteile.

MICHAEL HOFER, 42, verkauft Surprise vor dem Neumarkt Oerlikon. Von seinem Wohnort Winterthur aus gelangt er mit dem Zug zur Arbeit. Zwei S-Bahnen fahren in regelmässigen Abständen direkt, dazu einmal pro Stunde ein Intercity und ein Interregio.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

6 Surprise 542/23 ILLUSTRATION: ADELINA LAHR

Die unbezahlte Wertschöpfung

2020 betrug das Zeitvolumen der unbezahlten Arbeit in der Schweiz 9,8 Milliarden Stunden. 60 Prozent dieser Arbeit, die in keiner volkswirtschaftlichen Statistik zu finden ist, haben Frauen erbracht. Blickt man auf die letzten zwanzig Jahre zurück, zeigen sich zwei gegenläufige Entwicklungen. Die Männer haben ihren Aufwand bei der Haushaltsführung und der Familienarbeit kontinuierlich ausgebaut und dafür ihr berufliches Engagement etwas reduziert. Frauen hingegen leisten heute mehr Erwerbsarbeit, ohne dass sich ihr Einsatz im Haushalt verkleinert hätte. Sie haben nach wie vor mit einer Doppelbelastung zu kämpfen. Frauen wie Männer leisten am meisten unbezahlte Arbeit im Haushalt. Dann folgen mit deutlichem Abstand die Betreuungsarbeit für Kinder und für ältere Angehörige sowie die organisierte und informelle Freiwilligenarbeit.

Der monetäre Wert der unbezahlten Arbeit lässt sich schätzen. Dazu verwendet das Bundesamt für Statistik die Marktkostenmethode. Die Frage ist, was es kosten würde, wenn Personen für die verschiedenen Tätigkeiten wie die Hausarbeit, die Betreuung oder das freiwillige Engagement bezahlt werden müssten. Bei der Berechnung der Kosten werden nicht nur die Löhne berücksichtigt, sondern alle Aufwendungen, die ein Arbeitgeber leisten müsste, also auch Sozialbeiträge und sonstigen Aufwendungen, etwa für eine berufliche Weiterbildung. Eine Stunde Abwaschen, Geschirrversorgen und Tischdecken kostet nach dieser Berechnungsmethode 36 Franken, administrative Tätigkeiten 50 Franken. Die wertvollste unbezahlte Arbeit ist die Betreuung der Kinder, die für rund

56 Franken pro Stunde verbucht wird. Das ergibt dann einen Gesamtwert der unbezahlten Arbeit für das Jahr 2020 von 434 Milliarden Franken. Wäre die unbezahlte Arbeit Teil der erfassten Wertschöpfung in der Schweiz, würde sie rund 40 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen.

Wie sollte diese unbezahlte Arbeit abgegolten werden? Schliesslich würde die bezahlte Arbeit nicht zu leisten sein, würde nicht auch die unbezahlte Arbeit erbracht werden. Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, ob die unbezahlte Arbeit durch den Staat subventioniert oder zumindest durch steuerliche Anreize aufgewertet werden sollte. Die einen argumentieren, dass damit die finanzielle Benachteiligung der Frauen reduziert werden könnte. Andere warnen vor einer solchen «Herdprämie» und befürchten, dass damit erst recht die traditionelle Rollenverteilung in Familien zementiert würde. Bezeichnenderweise hat die SVP Genf unlängst eine kantonale Initiative lanciert; sie verlangt, dass Familien jedes Jahr 30 000 Franken erhalten, wenn mindestens ein Elternteil nicht erwerbstätig ist. Der Betrag soll den Kosten entsprechen, die beim Kanton für einen Platz in einer Kindertagesstätte anfallen. Die Alternative dazu liegt auf der Hand: die einvernehmliche und gleichmässige Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit in den Familien. Man darf auf das Abstimmungsresultat gespannt sein.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Monetäre Bewertung der unbezahlten Arbeit, 2020, in Millionen Franken pro Jahr

Surprise 542/23 7 Freiwilligenarbeit Betreuungsarbeit Hausarbeit 258 630 190 889 127 982 31 917 50 205 17 535 15 699 175 598 Total unbezahlte Arbeit INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BFS (2022) : 2020 WAR UNBEZAHLTE ARBEIT 434 MILLIARDEN FRANKEN WERT. MEDIENMITTEILUNG VOM 5.12.2022. LORENZ HONEGGER (2022) : DER WERT VON EINER STUNDE ABWASCHEN. NZZ VOM 12.12.22 Die Sozialzahl

Grundeinkommen 2016 an der Urne ab gelehnt, droht die zweite Initiative nun bereits an der Unterschriftensammlung zu scheitern. Was meint das Grundeinkommen selbst dazu? Ein fiktives Gespräch.

Und was hat sich an dir seither verändert?

Nicht ich, die Welt hat sich verändert! Ich bin ein alter Hut, vergleichbare Ideen kursieren bereits seit dem 16. Jahrhundert. Spätestens aber seit der Corona­Krise und der Inflation bin ich wieder hochaktuell. Überall haben Stress und Ängste zugenommen, Entschleunigung würde helfen. Sprach nicht Oswald Sigg allen aus dem Herzen, als er sagte: «Wir brauchen eine Wirtschaft für die Menschen und nicht Menschen für die Wirtschaft»? Ich möchte es jeder Person in der Schweiz ermög­

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«Mit mir wird nicht weniger gearbeitet»
TEXT LEA STUBER UND SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATION
BODARA

lichen, auch ohne Erwerbsarbeit ein menschenwürdiges Dasein zu führen und nicht in Existenzangst zu leben.

Das klingt schon sehr idealistisch, um nicht zu sagen utopisch. Ja, das ist es auch. Aber mal ehrlich: So wie bisher geht es doch nicht weiter. Meine Idee ist, allen Menschen ein Leben in Würde und ohne Angst zu ermöglichen. Diese elenden Bittgänge zu den verschiedenen Ämtern der Sozialversicherungen und die damit verbundene Stigmatisierung sollen aufhören. Dazu braucht es einen grossen Umbau – Elli von Planta aus meinem Initiativkomitee nennt dies «den nächsten logischen Schritt» und bezieht sich dabei auf die Schweizer Geschichte: Wer hat denn entgegen dem europäischen Trend 1848 die Demokratie eingeführt? Von Planta glaubt fest an den Pragmatismus der Schweizer*innen, selbst wenn es wie beim Frauenstimmrecht oder der AHV­Einführung von der Idee bis zur Umsetzung manchmal recht lange dauert.

Entscheidend bleibt wohl die Frage: Wie sollst du finanziert werden? 2016 liess der Initiativtext offen, wie ich finanziert werden sollte – was nicht gut ankam. Heute sagen meine Unterstützer*innen offen: Ja, es würde teuer. Wenn ich 2500 Franken im Monat für einen Er­

wachsenen und 625 für Kinder betragen würde, rechnet das Initiativkomitee mit jährlichen Mehrkosten von 25 bis 40 Milliarden Franken. Dieses zusätzliche Geld sollte solidarisch aufgebracht werden: Nämlich von jenen, die derzeit vom heutigen Steuersystem profitieren – beispielsweise vom Finanzsektor und den multinationalen Tech­Firmen. Wir haben nachgerechnet: Im Finanzsektor könnten 40 bis 60 Milliarden Franken mögliche Steuereinnahmen abgerufen werden, bei den Tech­Firmen sind es geschätzte 10 bis 20 Milliarden Franken. Google, Apple, Facebook oder Amazon zahlen bisher keine angemessenen Steuern.

Wie wollt ihr bloss die Wirtschaft und den Finanzsektor davon überzeugen? Ich halte es hierbei wieder mit Elli von Planta: Warum dort anfangen, wo der Widerstand am grössten sein wird? Zunächst möchten wir all diejenigen mobilisieren, die interessiert, aufgeschlossen bis wohlgesonnen sind, damit sich eine Art breite Bewegung formiert. Auch solche, die nur die Debatte weiterdenken wollen, sollten unterschreiben. Eine Unterschrift bedeutet schliesslich noch keine Zustimmung, sondern bloss Interesse an einer Diskussion des Themas. Sobald sich dann ein gewisser politischer Wille rund um mich formiert, kann ich auch mit Skeptiker*innen und Gegner*innen in den Ring steigen.

Immerhin: Unternehmer wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg äusserten sich schon positiv über dich. Die beiden gehören nicht gerade zu den klassischen Fürsprechern des Sozialstaats. Wie würdest du verhindern, dass soziale Errungenschaften eher ab- als ausgebaut würden?

Tatsächlich habe ich Freund*innen in allen politischen Lagern. Ich will auch nicht die Sozialversicherungen abschaffen. Nur wer kein Einkommen hat oder zu wenig verdient, um die Lebenshaltungskosten decken zu können, kann sich mich auszahlen lassen. Also Hausfrauen und ­männer, Ausgesteuerte, Arbeitslose, Menschen am Rande der Gesellschaft, Kinder, Jugendliche, Lernende, Studierende oder Kulturschaffende – immerhin ein Viertel der Bevölkerung. Auch Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen würden mit mir finanziell besser dastehen als heute. Und endlich würde mit mir auch die bisher un­

bezahlte Betreuungs­ und Freiwilligenarbeit gewürdigt – mit 40 Prozent der geleisteten Arbeit (2020) euer grösster Wirtschaftszweig. Gleichzeitig prognostiziere ich euch abnehmende Gesundheitskosten und weniger Bürokratie.

Gesetzt den Fall, du würdest eingeführt: Warum sollten die Menschen weiterhin unangenehme oder gesundheitsgefährdende Jobs machen – auf dem Bau, in der Fabrik, in der Reinigung, auch in der Gastronomie?

Eine gute Frage. Möglicherweise ist dies der Moment, wo ihr darüber nachdenken müsst, wie ihr systemrelevante Arbeit angemessen würdigt. Denn dass es nicht reicht, für das Spitalpersonal zu klatschen, das haben wir gesehen. Bisher ist aber kaum etwas geschehen, es fehlt weiter an Entlastung, an fairen, wertschätzenden und sinnstiftenden Arbeitsmodellen. Das sind Diskussionen, die wir führen müssen – wir kommen nicht daran vorbei.

Die meisten Menschen würden mit dir sicher weniger arbeiten.

Die meisten Studien sprechen eine andere Sprache. Praktisch alle Experimente mit Grundeinkommensmodellen weltweit zeigen: Die Menschen arbeiten nicht weniger. Nur junge Leute zwischen 20 und 30 reduzieren ihre Arbeitszeit und investieren mich in eine Ausbildung. Selbst die Weltbank kommt zum Schluss, dass ich zu keinen signifikanten Fehlanreizen bei der Arbeit führe.

Wären mit dir in der Schweiz weniger Menschen arm?

In Alaska konnte ich die Armut um einen Fünftel reduzieren, gleichzeitig stieg interessanterweise die Geburtenrate. In Kanada beobachtete man signifikant weniger Hospitalisierungen und Arztbesuche. In Spanien lassen sich positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit nachweisen. In Namibia und Indien führten Experimente mit mir ebenfalls zu besserer Gesundheit und mehr Schulbesuchen, auch die armutsbedingte Kriminalität ging zurück. Und Studien aus einem Projekt in Kenia zeigen: Ich konnte die Armut bekämpfen, und die Wirtschaft insgesamt profitierte von mir. Denn wer mehr Geld hatte, gab mehr Geld aus. Somit beweist die Wissenschaft meinen Nutzen bei der Verringerung der Armut.

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«Eine Unterschrift für die Initiative bedeutet noch keine Zustimmung, nur Interesse an der Diskussion des Themas.»

«Der Rahmen ist eng gesteckt»

Inflation Markus Kaufmann ist Geschäftsführer der SKOS. Diese Fachkonferenz für Sozialhilfe hat sich klar für einen Teuerungsausgleich aus g es p rochen, andere Probleme aber bleiben bestehen.

INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

Herr Kaufmann, stimmt es, dass die Teuerung Armutsbetroffene ganz besonders schwer trifft? Und wenn ja, warum?

Markus Kaufmann: Das stimmt auf jeden Fall. Armutsbetroffene haben keine Reserven. Sie haben schon jetzt nur knappe Mittel zum Leben, und wenn die Preise steigen, spüren sie das sofort.

Ist die Teuerung denn dramatisch?

Hier muss ich ein wenig relativieren, da die Teuerung in den umliegenden Ländern viel höher ist. Wir schauen uns die Angaben des Bundesamtes für Statistik ganz genau an, und machen eine Schätzung, was diese Angaben für Leute in der Sozialhilfe bedeuten. Ein Teil der Kosten, vor allem im Bereich Wohnen und Heizen, wird nicht über den sogenannten Grundbedarf abgerechnet, sondern im Rahmen der übernommenen Miet- und Wohnkosten.

Was bedeutet das konkret für Sozialhilfeempfänger*innen?

Derzeit empfehlen wir, dass die Sozialhilfe die teuerungsbedingt höheren Nebenkosten vollumfänglich übernimmt. Bei den Stromkosten haben wir versucht, eine Extralösung zu finden, das ist sehr komplex. In Dreivierteln der Gemeinden ist der Strompreis kein Problem, aber dann gibt es Gemeinden, in denen plötzlich eine Verdoppelung oder sogar Verdreifachung ansteht. Da muss man mit den richtigen Massnahmen reagieren.

Glauben Sie, dass alle Kantone da mitziehen werden?

Uns wurde bisher zurückgemeldet, dass dies in den allermeisten Fällen so umgesetzt werden wird.

Was heisst in den allermeisten Fällen?

Wir haben 750 Sozialdienste, und diese sind autonom. Wir können nur von den

Rückmeldungen ausgehen, die wir bekommen. Ausschlaggebend sind stets die kantonalen und kommunalen Bestimmungen. Wenn diese nicht eingehalten werden, können Sozialhilfebeziehende eine Verfügung verlangen und diese anfechten.

Können Sie mir noch mal erklären, wie genau sich die Unterstützung durch die Sozialhilfe zusammensetzt?

Finanziell gibt es die drei Hauptelemente: den Grundbedarf für den Lebensunterhalt, über den der tägliche Bedarf gedeckt werden muss, sowie Gesundheits- und Wohnkosten. Die Gesundheitskosten werden per Definition und Gesetz voll übernommen. Bei den Wohn- und Nebenkosten gibt es die sogenannte Limite: Wenn man in einer Wohnung lebt, die über dem Limit liegt, kann der Sozialdienst verlangen, dass man in eine billigere Wohnung umzieht.

Warenkorb: Positionen und Richtgrössen

Der Grundbedarf für den Lebensunterhalt wird als Pauschalbetrag ausbezahlt. Die Höhe orientiert sich an einem eingeschränkten Warenkorb an Gütern und Dienstleistungen der einkommensschwächsten zehn Prozent der Schweizer Haushalte.

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Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren Bekleidung und Schuhe 41,3 % 9.8 %

Wenn Sie sagen, die Sozialhilfe übernehme auch die Gesundheitskosten voll, da meinen Sie die Obligatorische Grundversicherung, richtig?

Genau, damit meine ich die Krankenkassenprämie, die Franchise und den Selbstbehalt – das wird von der Sozialhilfe übernommen, in Ergänzung zur individuellen Prämienverbilligung. Zusatzversicherungen werden in der Regel nicht übernommen. In Einzelfällen, wenn es gesundheitlich angezeigt ist, können jedoch auch diese übernommen werden.

Und der Grundbedarf ist der Teil der Sozialhilfeleistungen, der den Klient*-innen direkt ausgezahlt wird. Davon kaufen sie ein.

Genau. Wir haben ausgerechnet, dass die Teuerung auf dem Warenkorb (siehe untenstehende Grafik), über den der Grundbedarf errechnet wird, in der Schweiz derzeit bei etwa 2 Prozent liegt, also unter der ausgewiesenen allgemeinen Teuerung von knapp 3 Prozent. Das spürt man, aber es ist weniger dramatisch als in den umliegenden Ländern. Da liegt die Teuerung teilweise bei mehr als 10 Prozent.

Wird denn auch der Grundbedarf an die Teuerung angeglichen?

Ja, der Grundbedarf wird von der SKOS im gleichen Masse wie die AHV-Renten und die Ergänzungsleistungen an die Teuerung angeglichen. Für das nächste

Energieverbrauch (ohne Wohnnebenkosten)

Jahr empfehlen wir 1031 Franken, die Konferenz der kantonalen Sozialdirektor*innen SODK hat diese Empfehlung bestätigt. Bis heute haben 20 Kantone beschlossen, dies zu übernehmen (siehe Karte auf Seite 12). Bei zweien ist die Diskussion noch offen, zwei weitere bleiben bei der Empfehlung von 2022 und der Kanton Bern hat seit 2011 die Teuerung nicht mehr ausgeglichen. Das ist eine Frage des politischen Willens.

Also wird die Teuerung in den meisten Kantonen vollumfänglich aufgefangen, auch wenn einzelne nicht mitziehen. Hab ich das richtig verstanden?

Ja, wenn es mit der Teuerung so bleibt wie bisher, wird diese mit den Massnahmen, die schon beschlossen sind, vollumfänglich aufgefangen werden. Sollte sie jedoch weiter steigen, sieht das anders aus. Das subjektive Empfinden, das die Leute bereits haben, wird aber bleiben: Alles wird teurer und wir haben weniger zur Verfügung, so fühlt es sich an. Auch

Unterschied: SKOS und SODK

wenn die Menschen in vielen Kantonen nächstes Jahr 25 Franken mehr pro Monat bekommen, bleibt die Situation für diejenigen, die knapp bei Kasse sind, belastend.

Warum?

Die ganzen Meldungen darüber, dass die Preise steigen, sind für diejenigen, die keine Reserven haben, ein enormer psychischer Druck. Viele haben Angst vor den Rechnungen, noch bevor sie kommen.

Mein Eindruck ist, dass die Zusammensetzung der individuellen Sozialhilfe so komplex ist, dass sie sich immer undurchsichtig und dadurch vielleicht auch etwas willkürlich anfühlt. Man kann das auch als Vorteil des Systems sehen. Es wird genau hingeschaut: Wie teuer sind die Wohnkosten vor Ort, was kostet die Krankenkasse, dazu kommt der kantonal einheitlich geregelte Grundbedarf – und die sogenannten Situationsbedingten Leistungen.

In der SODK sitzen die gewählten Regierungsräte und fällen die politischen Entscheide. In der SKOS hingegen diskutieren die angestellten Fachleute, die Amtsleitenden und Sozialdienstleitenden aus Kantonen, Gemeinden und Städten. Sie ist die fachliche Organisation, die die Richtlinien wie die Höhe des Grundbedarfs erarbeitet, dazu Vorschläge macht, die die SODK dann ggf. genehmigt. Seit 2015 ist vertraglich geregelt, was die SKOS in Eigenregie macht und welche Dossiers der SODK vorgelegt werden.

Bildung, Freizeit, Sport, Unterhaltung Übriges Persönliche Pflege

Verkehrsauslagen (örtlicher Nahverkehr)

Internet, Radio/TV

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Allgemeine Haushaltsführung Nachrichtenübermittlung,
6,4 % 4,2 % 9,6 % 6,1 % 8,8 % 13,3 % 2,2 % INFOGRAFIK: BODARA; QUELLE: HTTPS://SKOS.CH/FILEADMIN/USER_UPLOAD/SKOS_MAIN/PUBLIC/PDF/RECHT_UND_BERATUNG/ MERKBLAETTER/2019_11__SKOS-WARENKORB.PDF

Situationsbedingte Leistungen?

Wenn jemand Kinderbetreuung braucht, weil beispielsweise die alleinerziehende Mutter 50 Prozent arbeitet, dann können diese separat gezahlt werden. Es können auch Berufskosten gezahlt werden oder mal ein Ferienlager für die Kinder. All dies kann man über die Situationsbedingten Leistungen abwickeln. Die drei Hauptelemente bieten mit den jeweiligen Ergänzungen die Möglichkeit, genau hinzuschauen. Das macht es einerseits komplex, andererseits ermöglicht es auch, die Leute sehr spezifisch zu unterstützen.

Da liegt der Ermessensspielraum jeweils bei den Berater*innen des Sozialdienstes. Macht das die Klient*innen nicht sehr abhängig von deren gutem Willen?

Natürlich, Ermessen hat zwei Seiten. Das kann auch in Willkür abdriften. Gleichzeitig kann es dazu beitragen, dass man auf die dringenden Bedürfnisse einer Person eingehen kann. Natürlich muss die Grundsicherung so definiert sein,

dass man mit dem Ermessen nicht druntergehen darf. Und dann gibt es ja noch den Bereich der Sanktionen. Nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung gibt es Vereinbarungen und Auflagen für die Klient*innen, zum Beispiel im Bereich der Stellensuche oder der Teilnahme an einem Ausbildungskurs. Da ist es klar definiert, inwieweit ein Sozialdienst den Grundbedarf kürzen kann, wenn die Auflagen nicht eingehalten werden. Für uns ist zudem wichtig, dass solche Entscheide zeitlich befristet sind und auch angefochten werden können.

Wir hören bei Surprise von Klient*innen-Seite oft Klagen über die fehlende Menschlichkeit im System. Diskutieren Sie in der SKOS eigentlich auch über die emotionale Belastung der Klient*innen?

Ja, da sprechen Sie ein ganz zentrales Thema an. Es geht immer auch um persönliche Hilfe. Um Beratung, menschliche Hilfe und gegenseitigen Respekt. Das ist eine riesige Herausforderung: In

der Sozialhilfe treffen Menschen in sehr schwierigen Situationen auf Sozialarbeiter*innen mit teilweise bis zu 100 Dossiers, dahinter stecken 100 Familien oder Einzelpersonen. Wenn man das ausrechnet, ist man durchschnittlich bei einem halben Tag, den ein*e Berater*in pro Dossier an Beratung pro Jahr aufwenden kann. Der Rahmen ist sehr eng gesteckt.

Denkt denn auch jemand an die menschlichen Kosten, die hier den finanziellen nachgeordnet werden?

Es gibt sicher Orte, an denen mehr Druck auf die Klient*innen ausgeübt wird als an anderen. Gerade hatten wir eine Tagung zur persönlichen Hilfe, dazu wie man diese besser gestalten könnte. Dabei ging es auch um Partizipation und wie man die Anliegen der Klient*innen besser wahrnehmen kann. Spannend ist hierbei das Pilotprojekt in der Stadt Zürich, bei dem in vierwöchigen Abklärungsphasen genau angeschaut wird: Was kann eine Person wirklich leisten? Sanktionen sollten immer das letzte Mittel sein.

Höhe des Grundbedarfs für den Lebensunterhalt (GBL) Monatlich empfohlener Pauschalbetrag (in CHF) für einen Einpersonenhaushalt

Empfehlung 2011: CHF 977.–

Empfehlung 2020 1: CHF 1006.–

Empfehlung 2022: CHF 1006.–Empfehlung 2023 2: CHF 1031.–

Provisorisch (inkl. IZU 3): CHF 1138.–in Diskussion 4: CHF 1031.–

1 +2.5% Teuerung

2 in der Regel ab 1.1.2023, NE ab 1.4.2023

3 IZU = Integrationszulage für Bemühungen, die die Chance auf berufl.-soz. Wiedereingl. erhöhen

4 Aktuell: FR CHF 986.–, SO CHF 1006.–

12 Surprise 542/23 INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: HTTPS://SKOS.CH/SKOS-RICHTLINIEN/GRUNDBEDARF-FUER-DEN-LEBENSUNTERHALT
SG GL UR FR LU NW BE OW GR VS TI AR AI SH TG ZH AG ZG SZ BS BL SO JU GE VD ND

Werden denn die Menschen immer von Fachperson beraten? Nicht immer. In verschiedenen Kantonen ist es vorgeschrieben, dass man eine entsprechende Ausbildung haben muss. An anderen Orten ist dies nicht der Fall, vor allem in kleineren Gemeinden. Wir diskutieren schon lange, dass es eigentlich eine gewisse Grösse bräuchte, um die Qualität eines Sozialdienstes zu sichern.

In kleinen Gemeinden kennen sich Berater*innen und Klient*innen gegebenenfalls bereits aus dem Gemeindeleben. Da ist der Bezug von Sozialhilfe sicher noch einmal weniger angenehm.

Ja, vielleicht ist es ein Faktor, dass in ländlichen Gebieten die Leute weniger schnell Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Aber man muss sagen, dass es auch im ländlichen Raum super Berater*innen gibt, die sich sehr für ihre Klient*innen einsetzen. In der Sozialhilfe zu sein, ist sicher nicht einfach. Von manchen Orten hören wir auch, dass sie für die Sozialdienste fast kein Personal finden, da sie unter der hohen Falllast leiden. Und es sind auch mancherorts Entscheide gefällt worden sowohl zum Nachteil der Mitarbeitenden und der Klient*innen, die eigentlich nicht mehr mit der Menschenwürde vereinbar sind.

Nun ist die Schweizer Sozialhilfequote vergleichsweise gering und sogar am Sinken. Was spricht dagegen, diese wenigen Menschen, die es betrifft, menschenwürdig mitzutragen?

Einerseits muss man sagen: Die Sozialhilfe funktioniert. Wir sind nah an den Leuten, wir erbringen die Leistungen, sie sind sozial abgesichert. Andererseits führen wir seit es die Sozialhilfe gibt, eine grosse Debatte darüber, dass Menschen, die arbeiten, nicht schlechter gestellt sein dürfen als jene, die durch die Sozialhilfe unterstützt werden.

Sie sprechen von sogenannten Working Poor.

Das ist ein Gerechtigkeitsthema und das wird bleiben. Wir können Sozialhilfeempfänger*innen keinen Durchschnittslohn auszahlen. Das wäre die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Momentan arbeiten wir in dem System, das wir haben, und das beruht auf Leistung und Gegenleistung. Es wird von den

Menschen, die Sozialhilfe beziehen, erwartet, dass sie dafür etwas tun. In diesem Rahmen diskutieren wir.

Liegt dann das Problem überhaupt bei der Sozialhilfe, sind nicht einfach die Löhne zu tief? Beteiligen Sie sich als SKOS auch an solchen Debatten? Wir sind keine politische Partei. Wir halten aber gerechtere Löhne für ein wichtiges Mittel, um Sozialhilfe zu verhindern. Der Lohn einer Einzelperson muss existenzsichernd sein. Was ein Problem bleiben wird, sind Familiensituationen. Es ist völlig unrealistisch, dass man den Mindestlohn für eine Person so hoch ansetzen kann, dass damit eine vierköpfige Familie zu ernähren wäre. Da braucht es vom Staat Ausgleichsmechanismen. Daher unterstützen wir das Element der Familienergänzungsleistungen, die es in manchen Kantonen gibt. Weitere sogenannte vorgelagerte Leistungen wie diese sind die Kinderzulagen oder auch die Prämienverbilligung. Diese Elemente müssen natürlich alle zusammen funktionieren. Die Sozialhilfequote sollte dabei nur ein geringer Teil sein. Derzeit sind wir wieder bei etwa 3 Prozent der Bevölkerung, die Sozialhilfe bezieht. Die vorgelagerten Leistungen werden nie alle Personen auffangen können. Dafür bräuchte es einen grossen Umbau des ganzen Systems der sozialen Sicherung.

Nun gibt es ja in der Sozialhilfe auch Menschen, die nicht mehr in den Arbeitsmarkt vermittelbar sind – weil der Arbeitsmarkt sich wandelt, oder aus Alters- und gesundheitlichen Gründen. Wie wirkt sich denn das System von Leistung und Gegenleistung auf diese Personen aus?

Für dieses Problem gibt es wiederum verschiedene Zugänge. Einerseits haben wir

eine Weiterbildungsoffensive lanciert, da Studien zeigen, dass bereits gut ausgebildete Menschen sich in der Tendenz stetig weiterbilden, während Geringqualifizierte sich weniger häufig um Weiterbildung bemühen. Dem möchten wir gerne entgegenwirken, gerade bei jungen Menschen.

Und die wachsende Gruppe der sogenannten Abgehängten?

Es ist schwierig auszumachen, ob sie wirklich wächst. Wir nehmen wahr, dass es eine Verschiebung gegeben hat von der Invalidenversicherung in die Sozialhilfe. Sobald die Invalidenversicherung restriktiver agiert, gibt es Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können und ohne eine IV auf Sozialhilfe angewiesen sind. Momentan wirkt der Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel auf allen Stufen. Das führt auch dazu, dass wir im Moment abnehmende Sozialhilfezahlen haben. Aber es gibt Menschen, die es trotzdem nicht schaffen. Es gibt auch eine grosse Zahl junger Menschen mit psychischen Erkrankungen. Für sie muss die Sozialhilfe stärker gesellschaftlich und sozial integrierend wirken.

MARKUS KAUFMANN, 61, ist seit sechs Jahren Geschäftsführer der SKOS. Er wohnt in Köniz und hat an der Uni Fribourg Sozialarbeit und Soziologie studiert. Nach dem Studium war er über viele Jahre in der Jugendarbeit. Anschliessend übernahm er Funktionen in verschiedenen Organisationen im Gesundheitsbereich mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung und Prävention.

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FOTO: ZVG
«Wir können Sozialhilfeempfänger*innen keinen Durchschnittslohn auszahlen. Das wäre die Debatte ums bedingungslose Grundeinkommen.»

Auf den Strassen Belgrads

Fotoessay Der Fotograf Igor Čoko spürt auf den Strassen von Belgrad Armut und Ausgrenzung nach – und stösst dabei auf eine «subversive Schönheit».

TEXT KLAUS PETRUS FOTOS IGOR ČOKO

Von den 6,9 Millionen Einwohner*innen Serbiens leben 2,5 Millionen an der Armutsgrenze, mehr als Zweidrittel wohnen in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Besonders betroffen sind Langzeitarbeitslose sowie ältere Menschen. Sie prägen das Stadtbild – und verleihen den Strassen eine besondere «visuelle Ästhetik», findet Igor Čoko.

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Es war vor gut zehn Jahren, als der im kroatischen Teil Jugoslawiens geborene Anthropologe und Fotograf Igor Čoko damit begann, das Leben auf den Strassen von Belgrad zu dokumentieren. Es ging ihm von Anfang an darum, all die mannigfaltigen Prozesse fotografisch einzufangen, die eine Gesellschaft durchmacht, die einschneidenden Veränderungen unterworfen ist. Im Falle von Serbien gehören dazu der Zusammenbruch Jugoslawiens, der darauffolgende Balkankrieg sowie der Krieg im Kosovo, aber auch der immer wieder aufflammende Nationalismus, Auswanderung, Armut sowie, seit 2015, die Migration in die EU-Länder. «Diese Veränderungen haben nicht allein politische Folgen, sondern auch Auswirkungen auf die Entwicklung und das Aussehen von Städten», sagt Igor Čoko. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer «visuellen Ästhetik der Strassen», denn in Čokos Augen haben diese zum Teil extremen Veränderungen durchaus auch ihre Schönheit; und genau diese versucht er mit seiner Strassenfotografie einzufangen.

Auf den ersten Blick mögen sich die Bilder über all die Jahre ähneln. Doch bei genauerem Hinsehen, so Igor Čoko, werde deutlich, wie sich in der serbischen Gesellschaft je länger je mehr Parallelwelten herausbilden und viele Menschen sich zunehmend in eine Realität flüchten würden, die mehr auf Legenden und Mythen beruht als auf den harten politischen und sozialen Fakten.

Igor Čoko hat bereits zwei Bücher über die, wie er sie nennt, «subversive Strassenästhetik Belgrads» veröffentlicht. Der erste Band deckt die Jahre 2013 bis 2017 ab, der zweite 2017 bis 2021; derzeit arbeitet der studierte Anthropologe am letzten Teil seiner Trilogie, sie soll 2025 abgeschlossen werden.

IGOR ČOKO, 48, hat in Belgrad Anthropologie studiert. Seine Arbeit kreist um Menschen am sogenannten Rand der Gesellschaft. Als erster Fotograf überhaupt hat Čoko uneingeschränkten Zugang zu serbischen Gefängnissen erhalten, die Arbeit ist als Buch «Living Behind Bars» erschienen. Mehr unter: igorcoko.net

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist

Simon Berginz spricht mit Redaktor Klaus Petrus zum journalistischen Format des Fotoessays. surprise.ngo/talk

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Obdachlose erringen Etappensieg

Entkriminalisierung Aktivist*innen für die Rechte von Obdachlosen haben die Stadt San Francisco verklagt und gewonnen. «Unfreiwillig Obdachlose» dürfen vorerst nicht mehr drangsaliert werden, so das Urteil.

Ein Zusammenschluss aus Anwält*innen vom «Lawyers’ Committee on Civil Rights (LCCR)» und den Bürgerrechtsorganisationen «American Civil Liberties (ACLU)» sowie «Coalition on Homelessness» haben die Stadt und das County San Francisco vor Gericht gezogen: Die Kläger*innen warfen den Behörden vor, Obdachlosigkeit wie eine Straftat zu behandeln. Der leitende Anwalt Zal Shroff und seine Kollegin Hadley Rood von der University of California in Berkeley sowie Obdachlosigkeitsaktivist und Mitkläger Toro Castano berichten im Podcast der dortigen Strassenzeitung Street Sheet, warum es einen Kurswechsel brauchte.

Zal Shroff: Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was die Stadt verspricht und dem, was tatsächlich getan wird. Der Öffentlichkeit wird vermittelt, San Francisco verhalte sich

progressiv. Die Stadt reklamiert für sich eine «Service-First»-Haltung und behauptet, dass jeder, der Leistungen oder Obdach benötige, diese auch erhalte. Zudem wird argumentiert, dass Personen, die weiterhin auf der Strasse leben, dies aus freiem Willen tun. Deshalb dürfe man sie auch bestrafen, da sie die Dienstleistungen, die ihnen angeboten werden, nicht in Anspruch nehmen. So wird es der Öffentlichkeit erklärt – die Betroffenen werden für ihre Obdachlosigkeit selbst verantwortlich gemacht. Aber San Francisco hat jahrzehntelang zu wenig in bezahlbaren Wohnraum investiert. Die daraus resultierende Wohnraum-Krise hat zur Folge, dass jedes Jahr rund 20 000 Menschen zeitweise oder langfristig auf der Strasse landen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Jahr sind etwa 8000 Personen in der Stadt konkret obdachlos. Anders als die Stadt es darstellt, gibt es aber nur etwa

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TEXT STREET SHEET UND SARA WINTER SAYILIR Zeltlager von Obdachlosen sind zum Alltag geworden auf San Franciscos Strassen.

4000 Notschlafplätze. Die Hälfte der Betroffenen ist also dazu gezwungen, im Freien zu schlafen, da sie keinen Zugang zu Dienstleistungen oder Unterkünften haben. Die Stadt behauptet jedoch, dass es genügend Unterkünfte für alle gebe, diese aber von den Obdachlosen nicht genutzt würden. Wir haben dazu drei Jahre lang Daten gesammelt. Sie alle haben gezeigt, dass Obdachlose, die von den Behörden angehalten, gebüsst und verhaftet werden, lediglich von einem Strassenabschnitt zum nächsten verfrachtet werden. Die Polizei bringt sie einfach ausser Sichtweite. Dazu kommt die massive Sachbeschädigung durch die Sicherheitskräfte bei den Räumungen der Zeltlagerstätten. Diese Zerstörungen sind grausam und unüblich.

Toro Castano: Bei den ganz grossen Räumungsaktionen sind mehrere Behörden anwesend: Da ist das «Homelessness Outreach Team», das ausschliesslich fürs Räumen zuständig ist. Sie bieten Notschlafplätze an, aber wissen selbst oft nicht genau, wo was frei ist. Dann ist das «Public Works Department (DPW)» vor Ort, um den Menschen so viel persönliche Habe wegzunehmen wie möglich. Gerüchten zufolge verkaufen sie die Sachen auf Flohmärkten weiter, was dazu passen würde, wenn man sich anschaut, welche Dinge sie in der Regel mitnehmen (technische Geräte wie Laptops und Mobiltelefone, Schlafsäcke, Zelte, Gaskocher, Decken, Anm. d. Red.). Die Polizei ist meistens auch da, damit alles ordnungsgemäss abläuft. Ich wurde einmal während einer Räumung verhaftet; das kommt aber selten vor. Normalerweise sind sie nur daran interessiert, die Leute zu vertreiben.

Hadley Rood: Das Vorgehen ist entmenschlichend, abwertend und macht es den Betroffenen schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Einer unserer Kläger berichtete, die Stadt habe ihm sein Zelt so oft weggenommen, dass er sich letztlich dazu entschied, in einer Kartonschachtel zu leben, weil es sich für ihn nicht lohnte, sein Zelt immer wieder zu ersetzen. Viele Menschen, mit denen wir gesprochen haben, haben Angst, zu Arztterminen, Wohnungsbesichtigungen oder beruflichen Terminen zu gehen und ihr Hab und Gut mehr als ein paar Minuten unbeaufsichtigt zu lassen. Sie leben in der ständigen Angst, dass etwas passieren könnte.

Das Anwaltsteam focht in seiner Klage die Rechtmässigkeit der Räumungen an und stellte fest, dass die Stadt die verfassungsmässigen Rechte der Betroffenen verletze. Die Jurist*innen beziehen sich dabei unter anderem auf den 8. Verfassungszusatz (amendment), der vor grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung schützt. Er besagt, dass niemand für etwas bestraft werden kann, für das er*sie nichts kann. Im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit heisst dies, dass man die Betroffenen nicht für das Schlafen oder das Aufstellen eines Zeltes im Freien bestrafen darf, wenn sie in ihrer Heimatgemeinde nirgendwo anders hinkönnen, keine Unterkunft oder Wohnung haben. Auch im Falle der Zerstörung von persönlichem Eigentum ohne

Durchsuchungsbefehl und ohne ausreichende Vorankündigung sehen die Anwälte einen Verstoss, diesmal gegen den 4. und 14. Verfassungszusatz, welche die unangemessene Beschlagnahme und die Verletzung des Rechts auf ein ordnungsgemässes Gerichtsverfahren regeln. Darüber hinaus werde nach Ansicht der Anwält*innen auch gegen staatliche Behindertengesetze verstossen. Menschen mit Einschränkungen sind in zweierlei Hinsicht unverhältnismässig stark von den Räumungen betroffen. Die Stadt gibt sich keine Mühe, Behinderten bei Räumungen ausreichend Zeit für das Einsammeln ihrer Habseligkeiten einzuräumen, während die angebotenen Unterkünfte oft nicht behindertenkonform sind.

Hadley Rood: Die Stadt vernichtet wertvolle und lebenswichtige medizinische Gegenstände. Einer unserer Klägerinnen wurden die Beinprothesen weggenommen. Sie ist beidseitig amputiert und muss entweder einen Rollstuhl oder Prothesen benutzen. Auch andere Dinge wie Gehhilfen oder lebenswichtige Medikamente, die Betroffene täglich für ihre chronischen Beschwerden brauchen, wurden beschlagnahmt oder weggeworfen.

Am 23. Dezember gab das zuständige Gericht den Kläger*innen recht und entschied, dass Räumungen von Lagerstätten «unfreiwillig obdachloser Menschen» einzustellen seien, solange die Stadt nicht ausreichend Notschlafplätze zur Verfügung stellen könne. Der Anwalt der Stadt forderte Anfang Januar eine weitere Ausdifferenzierung dieses Urteils in dem Sinne, ob damit alle Obdachlosen-Zeltlager gemeint seien und erkundigte wie der Gerichtsentscheid mit einem früheren Urteil zu vereinbaren sei, das den Behörden geradezu ein strikteres Durchgreifen im Stadtteil Tenderloin auferlegte, wenn Personen sich einer Unterbringung verweigerten. (Zur speziellen Lage in diesem Quartier, wo eine massive Drogenkrise zahlreiche Tote fordert, siehe SurpriseAusgabe 537.) Zudem verwies der Anwalt auf die hohen Kosten für den Bau neuer Unterkünfte (über 1 Milliarde US-Dollar) und die Zeit, die es dauern wird, bis diese fertiggestellt würden. Bleibt zu hoffen, dass die Betroffenen bis zur weiteren Klärung dieser Fragen die Zeit der schlimmsten Kälte ohne weitere Räumungen durchstehen können.

Dieser Artikel basiert u.a. auf einer Episode von «Street Speak», dem Podcast von Street Sheet: streetsheet.org/street-speak-podcast

Übersetzt aus dem Englischen von Translators without Borders. Überarbeitet und ergänzt von Sara Winter Sayilir. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Street Sheet (US) / International Network of Street Papers.

Surprise 542/23 21 FOTO: GABRIELLE LURIE

Von Fotos verführt

Kulturwandel Digitale Bilder wirken tagtäglich unmittelbar auf uns ein. Das führt zu neuen Formen der Beschäftigung mit dem Medium Fotografie. Zum Beispiel im Fotomuseum Winterthur.

Bildkulturen wandeln sich. Die Zeiten, in denen sich die Auseinandersetzung mit Fotografie darin erschöpfte, eine Aufnahme in einem Rahmen an die Wand zu hängen, um dann Bildaufbau und Motiv zu diskutieren, sind vorbei. Fotos zirkulieren heute ständig. Menschen schiessen laufend Bilder mit ihren Smartphones, bearbeiten sie, versehen sie mit Text, veröffentlichen sie, kommentieren diejenigen von anderen, teilen sie. Bilder im digitalen Zeitalter haben viel mit unserem Leben zu tun. Mit der Gesellschaft, in der wir leben, mit unserem Blick auf die Welt. Mit uns selbst.

Das Fotomuseum Winterthur hat darauf bereits vor Jahren mit dem Format SITUATIONS reagiert, das die jeweiligen Ausstellungen online begleitete. [permanent beta] ist nun die Weiterführung: eine Plattform auf der Museumswebsite, die

den Rechercheprozess hinter einer Ausstellung von Anfang an offenlegt – und erst mal einfach Materialien zu einem Thema versammelt. In ungefähr zwei Jahren sollen daraus dann eine Ausstellung und eine Publikation entstehen.

«Etwa ab 2014 gab es im Bereich der Fotoinstitutionen grosse Unsicherheiten, weil man einerseits spürte, dass das Medium Fotografie in seiner bisherigen Form an Bedeutung verliert und anderseits eine Fotografie entstanden ist, die aktiv zirkuliert wie nie zuvor», sagt Doris Gassert, Research Curator am Fotomuseum Winterthur. «Wir sind als Institution, das auf das Medium spezialisiert ist, der Meinung, dass wir diesen Bildkulturwandel ernst nehmen müssen.» Neu gefragt werden muss also: Wie wirkt sich unser Bildgebrauch auf unser soziales Verhalten aus, auf unser ge­

sellschaftliches Miteinander? Auf politische Handlungen, soziale Strukturen, auf gesellschaftliche Prozesse?

Das Thema, dem die Kurator*innen von [permanent beta] zusammen mit eingeladenen Künstler*innen und Theoretiker*innen nun quasi unter öffentlicher Beobachtung online nachgehen, heisst «The Lure of the Image» (die Verlockung des Bildes). Wie werden wir von digitalen Bildern verführt oder gesteuert, geködert oder auch getäuscht? Apps, Plattformen, Programme, Kanäle und deren Algorithmen spiegeln gesellschaftliche Prämissen und verstärken sie. «Ich sehe immer mehr Frauen mit aufgespritzten Lippen, bei denen man überspitzt formuliert den Eindruck bekommt, sie hätten sich den Bildfilter einer App ins Gesicht operieren lassen», sagt Gassert. «Ich behaupte, die Dynamik fängt

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tatsächlich beim Filter und den digitalen Möglichkeiten an, Gesichter formen zu können. Diese Vorgaben beginnen sich in der Realität zu manifestieren.»

Auch die Bilder, die in Programme zur Gesichtserkennung eingespeist werden, formen den Menschen, der als Norm gilt. So entstehen mitunter feine Ausschlussmechanismen und Diskriminierungen, Bildprozesse werden gesellschaftlich relevant.

Repetition schafft Realität

«Wir merken alle, dass wir beeinflusst werden. Als Fotomuseum wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, wie viele Faktoren daran beteiligt sind» sagt Gassert. «Von Interesse sind also Algorithmen, Strukturen von Plattformen und Methoden, wie Affekte gesteuert und Botschaften gezielt verbreitet werden.» Seien es Social­Media­Beiträge oder Phänomene wie Hatewatching (das Vergnügen, sich etwas anzuschauen, um es zu hassen) oder Clickbaiting (das gezielte Ködern von Aufmerksamkeit, oft verbunden mit Formen des Etikettenschwindels): Es geht im Kern oft um die Herstellung von Emotionen. «Viele Informationen, die Menschen mobilisieren sollen, werden so gestreut, dass sie affekthaft wirken. Mit Bildern kann man viel bewirken, was man mit Wörtern allein nicht schafft», sagt Gassert.

Damit können sie schnell zur politischen Kraft werden. Zugehörigkeitsgefühle werden von Bildern beeinflusst, die eigene Identität, die Bildung von Communitys.

«Wir untersuchen unter anderem die Logik dieser Prozesse, und wir merken, dass zum Beispiel die Repetition dabei ein wichtiger Faktor ist. Gerade auf TikTok ist sie offensichtlich: Menschen machen stundenlang dieselbe Wischbewegung auf dem Smartphone, um sich Clips anzusehen, die nach dem immer gleichen Muster – mit kleinen Abweichungen – funktionieren. Offenbar erzeugt Repetition Wohlgefühl. Entsprechend werden in der Politik Inhalte, die keinerlei Wahrheitsgehalt haben, einfach wiederholt, bis sie sich zu einer Art von eigener Wahrheit verfestigen und mit der Zeit immer breiter akzeptiert werden. Die Repetition ist also eine solche Logik der Verführung.»

[permanent beta] ist in Sektionen unterteilt wie «cheated by an image», «accidental discoveries», «unfinished thoughts»; die Beiträge sind auf Englisch und bestehen aus losen Notizen, kurzen Podcasts oder Chatverläufen zum Mitlesen. «Cheated by an image» (getäuscht von einem Bild) ist eine Serie von kurzen Podcasts, in denen Menschen von Alltagserfahrungen berichten, wie sie auf Bilder «hereingefallen»

sind. «Und unter ‹Marginalia› geben wir Einblick in Texte, die wir lesen», sagt Gassert. «Wir verarbeiten die Texte durch unsere Notizen am Rand und teilen sie dann. So legen wir unseren Forschungs­ und Rechercheprozess offen.»

Das Prozesshafte steht auf [permanent beta] grundsätzlich im Vordergrund. So teilen auch Künstler*innen ihren Arbeitsprozess. Unter der Rubrik «Sponge Project» kann man dabei zusehen, wie die Künstlerin Dina Kelberman sogenannte ASMRVideos (die mittels bestimmter Materialien, Geräusche und Bewegungen eine sensorische Erfahrung bei Zuschauer*innen auslösen sollen) online sammelt und kategorisiert, um eine eigene Videoarbeit daraus zu formen. Ein spielerisches Unternehmen, das aber doch systematisch dem Phänomen nachgeht, wie sich Massen von Menschen von bestimmten Reizen gefangen nehmen lassen.

«Dass Museen verstärkt Arbeitsprozesse mit dem Publikum teilen, ist sicher auch pandemiebedingt nochmals stärker ins Zentrum gerückt», sagt Gassert. «Weil die Institutionen geschlossen waren, hat man Einblicke in Dinge gegeben, zu denen das Publikum in der Regel keinen Zugang hat.» Das Prozesshafte in der Kultur rückt damit immer stärker in den Vordergrund.

1 Dina Kelbermans «Sponge Project».

2 «Marginalia»: Notizen aus dem Forschungsprozess.

3 Für die einen klar erkennbar eine Salamischeibe. Für die anderen Fake News, weil dabeisteht, es handle sich um einen Stern im All.

4 Chatverlauf: Kurator*innen diskutieren (nicht mehr ganz) unter sich.

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Nur für eine Nacht

Kino Um ihr uneheliches Kind vor ihren Eltern zu verstecken, muss eine Iranerin für eine Nacht eine*n Babysitter*in finden. Keine leichte Aufgabe.

Die Zeit drängt. Fereshtehs Eltern haben kurzfristig ihren Besuch angekündigt, weil sie in Teheran einen Verwandten im Spital besuchen wollen. Der jungen Frau, die neben dem Studium versucht, sich mit einem Job in einer Druckerei über Wasser zu halten, bleiben nur wenige Stunden, um jemanden zu finden, der für eine Nacht auf ihr uneheliches Baby aufpasst. Doch damit ist es noch lange nicht getan: Damit die Eltern keinen Verdacht schöpfen, müssen auch alle Spielsachen, Windeln und Kinderkleider aus ihrer Wohnung verschwinden. Unter dem Vorwand, dass ein Kammerjäger komme, fragt sie Nachbarinnen, ob sie bei ihnen Babysachen zwischenlagern dürfe. Doch diese haben nicht Platz für alle Taschen und Koffer. Fereshtehs Freundin Atefeh hilft ihr dabei, die übrigen Sachen einzusammeln. Erstaunt fragt diese beim Anblick der vielen Windelpackungen, ob denn gerade Knappheit herrsche. «Als der Dollarkurs anstieg, hatte ich Angst, keine mehr zu kriegen. Ich habe auf Vorrat gekauft», antwortet Fereshteh, die neben ihrer persönlichen Notlage auch der anhaltenden Wirtschaftskrise im Iran mit Pragmatismus beizukommen versucht. Mit vereinten Kräften schleppen die beiden Frauen die letzten Spuren, welche die Existenz eines Babys verraten könnten, durch das Treppenhaus und deponieren das riesige Bündel auf dem Dach.

Danach machen sie sich auf den Weg zu einer befreundeten Anwältin, die sich dazu bereit erklärt hat, das Baby zu hüten. Doch in deren Wohnung ist niemand und übers Handy ist sie

auch nicht erreichbar. Verunsichert fahren sie mit dem Taxi zu deren Kanzlei, wo ein Polizeisiegel an der Tür klebt und ihnen eine verängstigte Nachbarin erzählt, die Anwältin sei ohne weitere Erklärung verhaftet worden.

Szenen, in denen Systemkritik steckt

Spätestens in dieser Szene im jüngsten Film des iranischen Regisseurs Ali Asgari (geboren 1982 in Teheran) lässt sich das Schicksal der Studentin Mahsa Amini, die am 16. September 2022 in Polizeigewahrsam ums Leben kam, nicht mehr länger ausblenden. Die Bilder von mehrheitlich jungen Menschen, die seit Monaten landesweit gegen das autoritäre Regime protestieren, von Frauen, die öffentlich ihre Kopftücher ablegen, gehen um die Welt. Asgari fängt in seinem Filmschaffen mit sicherem Gespür für berührende Einzelschicksale die wachsende Unruhe und Unzufriedenheit ein, die seit Jahren tief in Teilen der Bevölkerung rumort und sich nun in der aktuellen Protestbewegung entlädt –mitunter schon hoffnungsvoll Revolution genannt. Und er weiss seine Systemkritik in spannende Geschichten zu verpacken. So zum Beispiel auch in seinem Film «Disappearance» aus dem Jahr 2017, in dem ein unverheiratetes Paar verzweifelt von Spital zu Spital fährt, um die «Ehre» der jungen Frau wiederherzustellen. In beiden Filmen kann sich die Regie auf die Ausdrucksstärke seiner Hauptdarstellerin Sadaf Asgari verlassen. Durch sie erhält der Druck, der von Gesellschaft und Regierung auf der Generation

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TEXT MONIKA BETTSCHEN

der Millennials im Iran lastet, ein Gesicht, dessen Intensität man sich kaum entziehen kann. Wenn ihre Augen rastlos die Umgebung mustern, um bei Gefahr sofort fliehen zu können, werden der Klammergriff starrer Traditionen, die allgegenwärtige Angst vor Polizeiwillkür und auch die wirtschaftliche Unsicherheit auf beklemmende Weise spürbar. Gefangen in einem totalitären politischen System, das Frauen Freiheit und Entfaltung verwehrt, leidet man mit, wenn sich vor Fereshteh Türen schliessen, und verspürt Erleichterung, wenn einer jener raren Momente eintritt, in denen positive Kräfte in das Geschehen eingreifen. Fereshteh muss mit ihrer besten Freundin Atefeh und dem Baby aus einem Krankenhaus fliehen, wo ihnen eine Krankenschwester zuvor zugesichert hat, sie könne das Kind während ihrer Nachtschicht hüten. Doch der Chefarzt kommt dahinter und verlangt von Fereshteh eine körperliche Gefälligkeit, damit er sie nicht an die Polizei verrät. Als sie nun in der Tiefgarage verzweifelt den Ausgang suchen, erkennt ein älterer Sanitäter die Not des Trios und verhilft ihnen in einem Krankenwagen zur Flucht. Es ist eine Szene voller Hoffnung, denn sie drückt aus, dass auch viele ältere Menschen, und auch Männer, nicht mit dem Regime einverstanden sind. Menschen, die vielleicht noch den Sturz des Shahs 1979 miterlebt haben und die blutigen Zeiten danach.

Auch im Film hat es Fereshteh irgendwann satt, sich und ihre kleine Tochter zu verstecken. «Until Tomorrow» gipfelt in einem kraftvollen stillen Moment, in dem sie den Mut findet, den Tatsachen ins Auge zu blicken.

Lebensbilder

Buch In «Vor aller Augen» gibt Martina Clavadetscher den stummen Frauen auf berühmten Gemälden ihre Stimme zurück.

Auf der Suche nach einem Bild für einen Theatertext entscheidet sich die 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Autorin und Dramatikerin Martina Clavadetscher für «Auf dem Rücken liegende Frau» von Egon Schiele – und entdeckt dadurch die darauf dargestellte Waldburga Neuzil. Eine Frau, die wie viele andere porträtierte Frauen zwar «vor aller Augen» ausgestellt ist, deren Leben aber hinter der Historie der Künstler*innen zurücksteht, unsichtbar bleibt. Die Autorin forscht daraufhin nach weiteren dieser stummen Frauen und entschliesst sich, ihnen eine Stimme zu geben, sie «vom Fluch der reinen Körperlichkeit» zu befreien. Sie wählt dafür die Perspektive der Dargestellten und lässt die Frauen «zwischen überlieferten Fakten und gestalteter Fiktion» selber zu Wort kommen. Neunzehn Geschichten sind es schliesslich, in deren Zentrum jeweils «die Erweckung eines in Vergessenheit geratenen Lebens» steht.

Die Bandbreite dieser Lebensbilder ist gross. Sie reicht von der Sklavin über das Waisenkind, die Prostituierte oder das Dienstmädchen bis zur Adeligen oder erfolgreichen Künstlerin. Die Frauen sind alt und jung, stammen aus Tahiti, Florenz oder Harlem, sind Geliebte oder Mütter, die Geschichten geprägt von traditionellen Rollenmustern und mitunter von tragischen Schicksalen. Und immer wieder erzählen sie von Versuchen, sich aus dem gesellschaftlichen Korsett von Zwängen und Konventionen zu befreien.

Manche dieser Befreiungsversuche sind belegt oder lassen sich zumindest aus den Belegen herauslesen. Andere entstehen durch die Imagination der Autorin, die stellvertretend das Aufbegehren inszeniert, indem sie die in den Bildern gefangenen Biografien wiederbelebt. Es wird förmlich spürbar, wie aus den Gemälden Leidenschaft, Liebe und Freiheitsdrang hervorbrechen.

Die Bilder werden dadurch auf eine neue, andere, nicht nur dem Kanon der Kunstgeschichte verpflichtete Weise erlebbar. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Autorin in unterschiedlichen Stilen schreibt, erzählend, lyrisch, im Dialog, und so jeder der Frauen eine eigene Stimme gibt. So werden diese Frauen unverwechselbar, nicht nur weil die Gemälde einzigartig sind, sondern weil das Leben der Porträtierten es nicht weniger war. Und weil es diese Ikonen der Kunstgeschichte ohne sie nie gegeben hätte. Vielleicht geht dies in Zukunft beim Betrachten der Bilder weniger vergessen, auch dank dieses lesenswerten Buches.

Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Unionsverlag 2022

«Until Tomorrow», Regie: Ali Asgari, Iran, France, Qatar 2022, 86 Min, mit Sadaf Asgari, Ghazal Shojaei, Babak Karimi u. a. Läuft ab 26. Januar im Kino.

CHF 33.90

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FOTO: ZVG
BILDER: ZVG

Veranstaltungen

Susch GR

«Hannah Villiger: Amaze Me», Ausstellung, bis So, 2. Juli, Mi bis So, 11 bis 17 Uhr, Muzeum Susch, Surpunt 78, 7542 Susch. muzeumsusch.ch

Basel / Münchenstein

«Anne Duk Hee Jordan –I must alter myself into a life-form which can exist on this planet», Ausstellung, bis So, 19. März, Mi bis So, 12 bis 18 Uhr (Mi bis Fr jeweils 12 bis 13 Uhr freier Eintritt); Haus der Elektronischen Künste HEK, Freilager-Platz 9. hek.ch

ein Atelier für nachhaltige Szenografie betreiben). Es wurden Wände von kurzen Messeauftritten eines Internetgiganten übernommen und neu verbaut, IT- und AV-Hardware leiht sich das Museum aus oder verwendet ältere Modelle aus anderen Projekten. Die Schüler*innen vom benachbarten Gymnasium stellten ihre Turnschuhe für die Szenografie zur Verfügung, bis auf wenige Materialien und Geräte wurde alles secondhand besorgt. Der Kurator hält fest: «Der Aufwand war dadurch aber deutlich grösser. Und Geld gespart haben wir mit diesem Vorgehen keines.» Ein wichtiges Eingeständnis, scheint uns, weil man es eben trotzdem so machen sollte. Weitere Ideen für den Hausgebrauch gibt es in der Ausstellung. DIF

Die früh verstorbene Schweizer Künstlerin Hannah Villiger (1951 – 1997) ist für die fragmentarischen Nahaufnahmen ihres eigenen Körpers bekannt, stark vergrössert und auf Aluminium aufgezogen. Sie fügen sich zu raumbezogenen Ensembles und zeigen die fast unendlichen Möglichkeiten von teils spektakulären Blicken auf den Körper. In Susch sind bisher unbekannte Einzelarbeiten sowie grossformatige Assemblagen von bis zu 15 quadratischen Bildtafeln zu sehen. Die Ausstellung schlägt den Bogen von Villigers in den 1970er-Jahren entstandenen Zeichnungen zu ihren Schwarz-Weiss-Fotografien und Werken mit der Polaroidkamera, die sie ab den 1980er-Jahren schuf. Die Themen könnten gegenwärtiger nicht sein: die Repräsentation des weiblichen Körpers, die Fremd- und Eigenperspektive auf die Physis, die Einordnung in den Mediendiskurs, Fragen von Oberfläche, Raum und Körper und dessen Objektivierung. Villigers Werke werden in der Ausstellung denn auch in Dialog gebracht mit Arbeiten der jüngeren zeitgenössischen Künstlerinnen Alexandra Bachzetsis, Lou Masduraud und Manon Wertenbroek. DIF

Moutier JU

«A Gaze of One’s Own» an der Cantonale Berne Jura, bis So, 29. Jan., Di bis So, 14 bis 18 Uhr, Mi 16 bis 20 Uhr, Musée Jurassien des Arts, 4, rue Centrale. musee-moutier.ch

Habe ich überhaupt einen eigenen Blick auf meinen eigenen Körper?

Die Arbeit «A Gaze of One’s Own» ist eine Reise mitten in diese Frage hinein. Das Projekt der Fotografin Brigitte Lustenberger reflektiert die Beziehung zum eigenen Körper im 21. Jahrhundert – in Zeiten, die widersprüchlich sein können: Oft wird der Blick auf den eigenen Körper zurückgefordert, gleichzeitig wird wieder eine neue Form der (Selbst-)Repräsentation hergestellt. Lustenberger lässt sich auf einen Prozess der Emanzipation ihres eigenen Blicks ein. Dieser ist geprägt von den jahrhundertelang vorwiegend männlichen Darstellungen des nackten weiblichen

Körpers, aber auch davon befreit, indem die Künstlerin festhält: «Ich fotografiere mich selbst, weil ich mich nicht objektivieren kann.»

A Gaze of One’s Own ist Teil der jährlich stattfindenden kantonsübergreifenden Gruppenausstellung Cantonale Berne Jura am Standort Moutier. Eine Führung findet am Mittwoch, 25. Jan., um 18.30 Uhr statt. DIF

Das Universum der deutsch-koreanischen Künstlerin Anne Duk Hee Jordan ist bevölkert von lustigen Robotern, mittels derer sie Verbindungen zu anderen Spezies und Ökosystemen untersucht. Ihre Werke nehmen auch Bezug auf die Theorien eines Post-Anthropozäns – wenn also der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern Teil vernetzter Ökosysteme geworden ist. Ihre Welten haben etwas Sinnliches und Spielerisches und propagieren neue Modelle von Gemeinschaft zwischen allen Lebewesen. 2016 begann Jordan etwa unter dem Titel «Artificial Stupidity» eine Serie von Robotern zu entwickeln: Die motorisierte Kreaturen begegnen uns als fröhliche Maschinen, deren Funktionalität nicht auf Effizienz ausgerichtet ist. So sucht etwa die «Robotic Waste Crab» den Ausstellungsraum unermüdlich – aber wenig erfolgreich – nach Abfällen ab. DIF

Bern

«Planetopia – Raum für Weltwandel», Ausstellung, bis So, 23. Juli, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16. mfk.ch

Klimawandel, Artensterben, Hitze, extremes Wetter: Die ökologischen Krisen werden immer stärker sichtund spürbar. Das Museum für Kommunikation versucht greifbar zu machen, wie verantwortungsvolles Leben in Zukunft aussehen kann. Konsequenterweise ist denn auch die Ausstellung selbst zu rund 90 Prozent aus wiederverwertetem Material gebaut (dafür gibt es die Materialmärke OFFCUT, die auch

St. Gallen

«Sheila Hicks – a little bit of a lot of things», Ausstellung, Sa, 4. Feb. bis So, 14. Mai 2023, Mo bis Sa, 13 bis 20 Uhr, So 11 bis 18 Uhr, LOK, Kunstmuseum St. Gallen, Museumstrasse 32. kunstmuseumsg.ch

Handarbeitsunterricht bei Sheila Hicks wäre sicher eine freudvolle Angelegenheit gewesen. Die seit 1964 in Paris lebende Amerikanerin knüpft, webt oder spinnt mit Wolle, Leinen oder Seide immer wieder neue Formen. Zum einen ist sie dabei durch ihr Studium der Malerei bei Bauhaus-Meister Josef Albers von der Moderne beeinflusst, zum anderen ist sie vom traditionellen Kunsthandwerk geprägt, das ihr auf Reisen und während längerer Aufenthalte etwa in Chile, Mexiko, Indien und Marokko begegnet ist. In der LOK des Kunstmuseum St. Gallen wechseln sich nun grossformatige Arbeiten mit kleinen Webereien ab, welche die Künstlerin auf einem Handrahmen immer wieder «zwischendurch» bearbeitet – als ob es ein Zeichenblock wäre. Hicks baut mit ihrem Material, der farbigen Wolle, die Welt neu zusammen, bunt und einfallsreich.

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DIF BILD(1): FOUNDATION THE ESTATE OF HANNAH VILLIGER, COURTESY OF HERZOG AND DE MEURON KABINETT, BASEL BILD(2): BRIGITTE LUSTENBERGER, BILD(3): MARCUS MEYER BILD(4): JOANNE CRAWFORD, COURTESY THE HEPWORTH WAKEFIELD

Pörtner in Kaiseraugst

Surprise-Standorte: Bahnhof

Einwohner*innen: 5498

Sozialhilfequote in Prozent: 1,9

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 29,5

Protest: Um das in Kaiseraugst geplante Atomkraftwerk zu verhindern, wurde 1975 das Baugelände während elf Wochen besetzt.

«Willkommen in Kaiseraugst», werden die Reisenden am Bahnhof begrüsst. «Leben. Arbeiten. Zuhause sein» lautet das Motto, das sich an die Einheimischen richtet oder jene, die es werden wollen. Es wurde schon vor der Pandemie erfunden, obwohl erst seit da alles am selben Ort stattfindet. Nicht stattgefunden haben wahrscheinlich die Tanzpartys, die für das Frühjahr 2020 geplant waren und die noch immer mit einem Plakat im Fenster der Bahnhofsremise beworben werden.

Für Besucher*innen steht die Orientierungstafel «Willkommen in Augusta Raurica» bereit. So hiess der Ort früher. Wie zu lesen ist, liegen die ganz grossen Zeiten desselben etwas zurück, sie dauerten ca. vom Jahr 44 vor unserer Zeitrechnung bis ins siebte Jahrhundert,

von da an übernahm das aufstrebende Basel die Rolle der Lokal-Metropole. Der vergangene Ruhm und vor allem die davon zurückgebliebenen Ruinen sind es, welche Besucher*innen anlocken.

Das Städtchen selber ist recht verschlafen, schön, aber ruhig, obwohl der Weg vom Bahnhof den Musigweg.ch entlang führt. Auch hier sind noch Mauern des alten Kastells zu sehen, zweitausend Jahre alte Trümmer, dahinter ein Spielplatz und ein Schulhaus, gegenüber hübsche Einfamilienhäuser mit Doppelgarage. Die Prognose ist zu wagen, dass sie nicht 2000 Jahre lang erhalten bleiben werden. Auf der Terrasse des Landgasthofes sitzt ein einziger Gast in der Sonne. Nur das Putzwägeli, das den nicht zu sehenden Dreck beseitigt, stört kurz die Stille; um die Ecke fliesst,

ebenso still, der Rhein. Auf der anderen Seite der Geleise findet sich ein Einkaufszentrum namens Kaiserhof, dahinter liegen Block- und Hochhaussiedlungen. Ein starker Gegensatz zum historischen Dorfkern.

Der noch historischere Dorfkern, das alte Augusta Raurica, liegt ebenfalls auf dieser Seite der Geleise. Der Weg dorthin führt an einem weiteren Einkaufszentrum vorbei, unter einer wuchtigen Fussgängerüberführung aus Beton hindurch.

Weil Ruinen zwar respektheischend, aber so spektakulär nun doch wieder nicht sind, wurde die Grabungsstätte mit einem Tierpark kombiniert. Damit Kinder und Jugendliche nicht enttäuscht werden, sind sie doch aufregende Unterhaltungsparks gewohnt. Das Panorama der Grabstätte ist ein Gemälde, wie es rundherum an einem Markttag ausgesehen haben könnte. Draussen braust unter Hochspannungsleitungen die Autobahn vorbei, was den mentalen Ausflug in die Vergangenheit leicht erschwert. Ansonsten aber ist es eine schöne Anlage; weil aber die damals gehaltenen Tiere, Esel, Ziegen und Schweine auch heute noch verbreitet sind, gehen die Kinder mässig interessiert an ihnen vorbei. Auf den Turmruinen lässt sich ein wenig herumklettern, sich für einen Moment vorstellen, die Stadt gegen das Land zu verteidigen.

Die grösste Attraktion ist das Amphitheater, in dem das Herumklettern hingegen verboten ist. Auffällig, dass die Bühne im Gegensatz zur Zuschauertribüne sehr klein ist. Da eine Bedachung fehlt und es bei den Römern keine Plastikpelerinen mit Sponsorenaufdruck oder Regenschirme gab, ist davon auszugehen, dass nur bei schönem Wetter gespielt wurde, an warmen Abenden im Sommer. Also dann, wenn heute die Theater Pause machen.

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse STEPHAN PÖRTNER

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel

Tochter auf Zeit. Winterthur

Barth Real AG, Zürich

flowscope. B. & D. Steiner-Staub

Lebensraum Interlaken. Coaching & Therapie

Infopower GmbH, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Be Shaping the Future AG

Hofstetter Holding AG, Bern

Fontarocca Natursteine, Liestal

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

iris-schaad.ch Qigong in Goldau

Automation Partner AG, Rheinau

FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch

Maya-Recordings, Oberstammheim

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Femisanum – natürliche Intimpflege, Zuzwil

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Breite-Apotheke, Basel

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Kaiser Software GmbH, Bern

Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur

Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg

Liberty Specialty Markets, Zürich

Schwungkraft GmbH, Feusisberg

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

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Surprise, 4051 Basel

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Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.

Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.

Einer von ihnen ist Negussie Weldai

«In meinem Alter und mit meiner Fluchtgeschichte habe ich schlechte Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Darum bin ich froh, bei Surprise eine Festanstellung gefunden zu haben. Hier verantworte ich etwa die Heftausgabe oder übernehme diverse Übersetzungsarbeiten. Mit dieser Anstellung ging ein grosser Wunsch in Erfüllung: Meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können.»

Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.

Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.

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Dank fürIhrenwichtigen Beitrag!

#538: Meine lieben Schwestern

«Dranbleiben, nicht aufgeben»

Zum Thema Rassismus: Ich finde all das, was im Surprise beschrieben ist, richtig, wichtig und absolut immer wieder diskussionswürdig. Das Thema ist unerschöpflich, da es oft auch mit Sexismus verbunden ist. Ich weiss heute mit 72 Jahren, dass nicht ich die bin, die ein Problem mit dem Diskriminiertwerden hat, sondern diejenigen, die mich diskriminieren. Es ist so hueregäbig, seinen eigenen Frust, seinen eigenen Minderwertigkeitskomplex auf einen dunkelhäutigen Menschen zu projizieren. Das ist einfacher, als bei sich selber genau hinzuschauen. Ich war auch selbst schon in Seminaren zum Thema Rassismus. Der Seminarleiter sagte zu uns Teilnehmer*innen: Wir triefen alle vor Rassismus. Leider eine Tatsache. Und obwohl ich seit Jahrzehnten übe, mir bewusst zu werden, wann ich rassistisch handle, passiert es mir immer wieder, dass ich mich bei rassistischen Gedanken ertappe, beim Werten eben. Grusig isch söttigs, u leider wahr. Dranbleiben, nicht aufgeben.

#539: Fensterchen zur Welt «Ein ganz besonderes Geschenk»

Die Weihnachtsausgabe zur ersten Adventshälfte hat mir sehr gut gefallen! Das Interview von Diana Frei mit den Mitgliedern vom Theater Hora ist sehr lesenswert und informativ. Zum 6. Dezember habe ich auch eine Anekdote, die meinem Mann – excüsi, Samichlaus – in diesem Jahr passiert ist. Wie jedes Jahr besuchte er eine Waldspielgruppe mit Stab, Laterne und mit schwerem Sack. Während er den Waldweg hinunterstieg spürte er, dass sich die Sohle eines Winterstiefels löste. Nr. 2 war ebenso betroffen und nur «häb, chläb» schaffte es der Samichlaus im Anschluss in ein Haus in der Nähe, wo er sich umziehen konnte. Nicht auszudenken, wenn der Samichlaus plötzlich in Socken auf dem feuchten Waldboden vor den Kindern gestanden hätte.Zu Maria Empfängnis denke ich, dass jede Empfängnis ein ganz besonderes Geschenk ist, ganz natürlich und artgerecht gezeugt, und gewiss nicht selbstverständlich! Und bei Nr. 11 hat sich ein Fehler eingeschlichen: Nehmt für Fensterbilder kein Krepppapier. Damit lassen sich wunderschöne Papierblumen formen, aber keine transparenten Fensterbilder herstellen. Holt euch Transparentpapier. Das gibt es in diversen Farben, und wenn ihr zwei verschiedene Farben auf die ausgeschnittenen Lücken des schwarzen Fotokartons übereinander klebt, entstehen neue Farbkombinationen. (Vor dem Licht ausprobieren.) Der Energieknappheit wegen das Licht einfach weniger lang brennen lassen.

M. GISLER-HUBER, Luzern

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Igor Čoko, Michael Hofer, Adelina Lahr

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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Surprise 542/23 29 Wir alle sind Surprise
B. ZBINDEN, ohne Ort

«Ich bin eine Kämpferin»

«Ich heisse Hiwot Semere Sokir und stamme aus einem kleinen Dorf in Eritrea. Im Alter von 14 Jahren habe ich mich der eritreischen Unabhängigkeitsbewegung angeschlossen und wurde zur Kämpferin ausgebildet. Ich wollte in einem freien Land leben. Dafür habe ich 14 Jahre lang gestritten. Leider wurde mit der Unabhängigkeit Eritreas die Situation für die Bevölkerung nicht besser. Es gab keine Jobs, keine Lebensperspektive. Dies war insbesondere für uns Kämpfer*innen sehr hart. Ich fragte mich immer wieder, für was wir unsere Jugend geopfert haben!

Ich verliess Eritrea im Jahr 1996. In Beirut wurde mir eine Stelle als Hausangestellte angeboten. Fast zehn Jahre lang habe ich für eine reiche Familie geputzt, gekocht und auf die Kinder aufgepasst. Mein Vertrag wurde jedoch immer wieder gebrochen. Als ich mich zu wehren begann, landete ich im Gefängnis. Im Libanon ist es keine Seltenheit, dass die Behörden und die Polizei gegen eine kleine Zuwendung mit reichen Personen kooperieren und so die Arbeitenden kleingehalten werden. Da ich mich weigerte, in dieses rechtswidrige Arbeitsverhältnis zurückzukehren, blieb ich insgesamt für vier Jahre eingesperrt. Dann brach der Krieg zwischen dem Libanon und Israel aus. Ich war in einem Gefängnis nahe der Grenze zu Israel inhaftiert und wurde daher im Laufe des Krieges freigelassen.

Gerne wäre ich zu meinem Mann und meinen Kindern nach Eritrea zurückgekehrt, doch dort war die Situation nicht besser. Als ehemalige Freiheitskämpferin und Regimekritikerin wäre ich wahrscheinlich gleich wieder im Gefängnis gelandet. Also floh ich über Syrien in die Türkei. Ich versuchte eine Arbeit zu finden, um meine Familie zu unterstützten, erhielt jedoch keine Aufenthalts­ und Arbeitsbewilligung. Da ich aus eigener Erfahrung wusste, wie ausgeliefert du als illegal eingereiste Person in einem Land mit tiefen Menschenrechtsstandards bist, floh ich schliesslich nach Europa.

In die Schweiz kam ich im Jahr 2011. Zum Glück wurde ich als politische Geflüchtete anerkannt und erhielt eine Aufenthalts­ und Arbeitsbewilligung. Hier konnte ich auch einen Teil meiner Familie wiedersehen. Mein Mann und meine beiden jüngsten Kinder durften in die Schweiz kommen. Meine beiden älteren Kinder waren zu alt für den Familiennachzug. Mein ältester Sohn lebt als Flüchtling in Libyen, mein zweitältester Sohn ist im Militär in Eritrea. Leider bin ich meiner Familie nicht so nahe, wie ich es gerne wäre. Wir waren über Jahre getrennt, daher ist unsere Beziehung nicht einfach.

Nach all dem, was ich erlebt habe, bin ich sehr glücklich in der Schweiz. Es ist ruhig hier und es gibt Gesetze, die eingehalten werden. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind nicht so gross wie in anderen Ländern. Hier habe ich ein Leben und sogar Hobbys. Ich gehe zum Beispiel regemässig ins Hallenbad, denn schwimmen macht mir grosse Freude. Gerne würde ich ab und zu ans Meer fahren, doch leider reicht für solche Ausflüge das Geld meistens nicht.

Seit fast zehn Jahren verkaufe ich das Strassenmagazin. Der Kontakt mit den Menschen tut mir gut. Durch meine Kundschaft konnte ich auch mein Deutsch über die Jahre hinweg verbessern. Ich habe nur fünf Jahre die Schule besucht, daher fiel mir das Deutschlernen zu Beginn sehr schwer. Ich habe auch nie eine berufliche Ausbildung gemacht. Doch einen anderen Job zu finden, ist in meinem Alter sowieso fast nicht mehr möglich.

Mein Traum wäre es, einen eigenen Kiosk zu führen. Ich wollte schon immer einen Laden haben, denn so bist du unabhängig und deine eigene Chefin. Meine Freunde raten mir zwar immer wieder davon ab, selbständig zu werden. Ich mache mir diesbezüglich aber wenig Sorgen, denn ich war und bin eine Kämpferin. Wenn ich irgendwann genügend gespart habe, nehme ich diese Herausforderung in Angriff.»

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Surp rise-Porträt Hiwot Semere Sokir, 58, verkauft Surprise bei der Migros in Seebach und schwimmt fürs Leben gern.
FOTO: BODARA
Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

Entlastung

Sozialwerke

STRASSENCHOR

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl

Unterstützung

STRASSENMAGAZIN

SURPRISE WIRKT

Entwicklungsmöglichkeiten

Perspektivenwechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Die Surprise-Regionalstelle Bern muss umziehen und sucht preisgünstige

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Neues Büro

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gesucht

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Büroräumlichkeiten (min. 100m2) in der Stadt Bern zur Miete:

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– 2–3 Büroräume mit Platz für insgesamt

– 2–3 Büroräume mit Platz für insgesamt 5–6 Arbeitsplätze

5–6 Arbeitsplätze

– Verkaufsraum mit Schaufenster

– Verkaufsraum mit Schaufenster

– Kochmöglichkeit und Lagerraum

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– gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr

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– Einzug nach Vereinbarung

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Für Angebote und Hinweise sind wir Ihnen sehr dankbar:

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031 332 53 93 oder bern@surprise.ngo

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Surprise 000/22 31
Expertenrolle Job
Solidaritätsgeste Erlebnis
Kultur
CAFÉ SURPRISE SOZIALE
Information BEGLEITUNG UND BERATUNG STRASSENFUSSBALL
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Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.

Ein Strassenmagazin kostet 6 Franken. Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.

Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.

Alle Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.

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