Dimensions 1/2021

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DIMENSIONS 1 2021 | WISSENSCHAFT

WISSENSCHAF T

Studie:

Wenn das Immunsystem ­altert Mit zunehmendem Alter fällt es dem Immunsystem immer schwerer, Krankheitserregern und Krebszellen Paroli zu bieten. Gleichzeitig treten vermehrt Autoimmunerkrankungen auf. Die Covid-19-Pandemie führt es drastisch vor Augen: Ältere Menschen haben eine geringere Immunkompetenz als jüngere. Der Begriff Immunoseneszenz beschreibt die abnehmende funktionelle Kapazität des angeborenen und vor allem des erworbenen Immunsystems. Folgen der nachlassenden Abwehrkräfte sind vermehrte Infektanfälligkeit, reduzierte Impfantwort und erhöhtes Krebsrisiko. Altersabhängig kommt es zu quantitativen ­Verschiebungen innerhalb der T-Zell-Subpopulationen sowie der B-Zellen und langlebigen ­Plasmazellen, erklären Professor Dr. Elisabeth Märker-Hermann und Dr. Christian von Kiel von den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden. Zudem verändert sich die funktionelle Kapazität des erworbenen Immunsystems. Die Zahl naiver, d.h. bisher noch nicht aktivierten T-Lymphozyten nimmt mit zunehmendem Alter ab. Diese sind wichtig für spezifische Immunantworten auf Erreger, mit denen das Immunsystem zum ersten Mal in Kontakt kommt. Die Reaktionsfähigkeit von B-Lymphozyten ist bei Senioren ebenfalls reduziert. Daher lässt die Bildung von Immunglobulinen nach, und der Immunglobulin-Klassenwechsel der gebildeten Antikörper von IgM zu IgG ist gestört. Begleiterkrankungen verstärken ­Infektneigung Als Folge dieser Veränderungen kommt es zu beeinträchtigten oder verzögerten spezifischen Immunreaktionen gegen bisher unbekannte Viren, Bakterien, Pilze oder Tumorantigene. Hinzu kommt, dass latente chronische Infektionen z.B. durch das Epstein-Barr- oder das Zytomegalievirus negative Auswirkungen auf das Immunsystem haben können. Die erhöhte Infektneigung im Alter wird durch Begleiterkrankungen wie

Diabetes mellitus, COPD oder Niereninsuffizienz verstärkt. Neben der Immunoseneszenz wird bei Senioren eine chronisch schwelende Entzündungsreaktion beobachtet, das sogenannte Inflammaging. Im Lauf des Alterungsprozesses kommt es zur vermehrten Freisetzung von Entzündungs­ mediatoren wie Interleukin(IL)-6, TFN-α, IL-1β und Prostaglandin E; viele ältere Menschen weisen im Serum anhaltend erhöhte CRP-Werte auf. Man vermutet, dass die proinflammatorischen Zytokine aus dem im Alter reichlicher vorhandenen oder veränderten Fettgewebe stammen oder auf eine durchlässigere Darmbarriere zurückzuführen sind. Im Zusammenhang mit dem Inflammaging werden Krankheiten wie Alzheimer-Demenz, Arteriosklerose und Diabetes beobachtet, aber auch Autoimmunerkrankungen wie die Riesenzellarteriitis oder die ANCA-assoziierten Vaskulitiden, die auch zu einem Nierenbefall führen können. Senioren, die an einer solchen Vaskulitis erkranken, sterben signifikant häufiger an Infektionen als jüngere Patienten. Systemische Vaskulitiden erfordern i.d.R. eine Immunsuppression. Prognose und Letalität ­systemischer Vaskulitiden hängen u.a. von infektionsbedingten Komplikationen während der ersten sechs Monate der Immunsuppression ab. Durch Studien belegte Empfehlungen zur individualisierten immunsuppressiven Therapie von Vaskulitiden und anderen rheumatischen Systemerkrankungen im Alter liegen aktuell nicht vor. 60 % der Nierentransplantierten sind mindestens 60 Jahre alt. Bei ihnen sollte die Immunsuppression vorsichtig erfolgen, um die Transplantatabstossung zu vermeiden und die bei älteren Menschen oft ausgeprägteren Nebenwirkungen gering zu halten.

Artikel erschienen in Medical Tribune, 53.Jahrgang, Nr. 38, 18. September 2020 (gekürzte Fassung) Märker-Hermann E, von Kiel C. Hessisches Aerzteblatt 2020; 6; 347-354


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