Wolkenschäume
NATUR- UND POLITISCHE
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GEDICHTE DES BAUERNPOETEN
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LOUIS GUT
Auswahl und Anordnung von Willi Bürgi
Louis Gut 1917 im Aktivdienst in Biel. Kohlezeichnung des Westschweizer Künstlers Albert Bütschi (1888–1960).
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Auswahl und Anordnung von Willi Bürgi
Louis Gut 1917 im Aktivdienst in Biel. Kohlezeichnung des Westschweizer Künstlers Albert Bütschi (1888–1960).
Es tönt wie ein Abenteuer, wenn Willi Bürgi beschreibt, wie er zu den Schriften von Louis Gut gekommen ist. Auf allen Vieren durch einen schmalen Gang kriechend, gelangt er durch eine Türe hinein in den Dachstock des Turmes im ehemaligen Haus des Dichters, in gespannter Erwartung, was er dort antreffen wird. Er entdeckt einen Schatz –mit Tüchern bedeckte Kartonschachteln voller Schriftstücke, Hefte, Fotos – und nimmt ihn mit sich. Während Jahren widmet sich Willi Bürgi dem Entdeckten, verbringt unzählige Stunden damit, die Schriften zu sichten und sich dabei dem Menschen Louis Gut anzunähern. So findet er auch heraus, dass zu Lebzeiten des Autors nie ein Buch mit seinen Texten veröffentlicht wurde. Uns – wie auch Willi Bürgi – ist es deshalb ein Anliegen, Teile dieses Schatzes der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Im nun vorliegenden Buch erscheinen vor allem Gedichte von Louis Gut, ergänzt mit Tagebucheinträgen und wenigen Briefen sowie Fotos, um das Bild des Dichters abzurunden. Für die Gedichte haben wir uns entschieden, weil sie dem Autor selber sehr am Herzen lagen; unzählige hat er im Laufe der Jahre verfasst, bei den hier publizierten handelt es sich um eine kleine Auswahl daraus.
Die Gedichte von Louis Gut zeugen von einem romantischen Naturverständnis. In den meisten davon geht es um Naturerscheinungen wie Pflanzen, Wald, Landschaften, See, Wind und Wetter, Sonne und Mond usw. Natur ist für ihn der Inbegriff des Lebens (und Sterbens, das zum Leben dazugehört) und durch und durch positiv gewertet. Dies ist vermutlich der romantischen Tradition geschuldet, in der sich Louis Gut als gebildeter Bürgerlicher aus eher wohlhabendem und politisch (im Freisinn) sehr aktivem Hause sieht. Dies im Gegensatz zu den zeitgenössischen Strömungen der Literatur, die die damals vorherrschenden weltpolitischen und gesellschaftlichen grossen Unruhen –Stichwort Weimarer Republik, kommunistische und faschistische Bewegungen, Industrialisierung etc. – widerspiegelten in ihrem experimentellen, innovativen Umgang mit Sprache. So könnte der Unterschied zwischen zerrissen wirkenden expressionistischen oder absur-
den dadaistischen Werken und den Naturgedichten des Bauernpoeten Louis Gut grösser kaum sein. Doch diese modernen Literaturströmungen waren Teil einer Avantgarde, während man sich in bürgerlichen Kreisen weiter an Klassik und Romantik orientierte. Louis Guts Gedichte entstammen aber nicht einfach nur einer sprachlichen und thematischen Tradition; vielmehr widerspiegeln sie das innere Erleben des Autors, der immer wieder erwähnt, wie er Ruhe, Zufriedenheit und Trost erlebt, wenn er sich in der Natur aufhält, wie er dort emotionale Geborgenheit findet. Dies kann bei manchen Gedichten dazu führen, dass man den Ton teilweise an Rührseligkeit grenzend empfindet. Andererseits spürt man die Gefühle des Dichters beim Betrachten der Welt da draussen und in sich drinnen beim Lesen seiner Gedichte deutlich nach, dank der von ihm gewählten Worte und Bilder.
Als Bauer stand Louis Gut in täglichem Kontakt mit der konkreten, nicht immer nur idyllischen Natur. Diese kann brutal, rücksichtslos blind wütend, destruktiv sein. Gerade als Landwirt (und in seiner späteren Tätigkeit als Hagelschatzer) hat er diese Seiten der Natur auf jeden Fall auch erlebt. In seinen Gedichten beweist Louis Gut eine genaue Beobachtungsgabe, ein Auge für Details, die sich beispielsweise in Beschreibungen von Pflanzen, Landschaften oder Wetterphänomenen niederschlagen. Diesen scharfen Blick verdankt er den unzähligen Stunden, die er – als Bauer – draussen verbracht hat. So wurde er zum Bauernpoeten. Als Mensch war Louis Gut Teil von verschiedenen Welten: sowohl der bäuerlichen wie der bildungsbürgerlichen Welt. Wie er versucht, diese Welten zu verbinden, wird in seinem Leben und in seinen Texten deutlich.
Neben den Gedichten schreibt er fleissig Tagebücher, in denen er andere Themen als in den Gedichten behandelt. Reflexionen über die Weltlage, politische Analysen, Geschichtliches zur Region, in der er lebt, Reiseberichte, wirtschaftliche Überlegungen und Sorgen, selbst den Verlust seiner Frau verarbeitet er schreibend. Die Briefe, die erhalten sind, sind Teil des Schriftverkehrs mit seiner Frau. Auch hier kann historisch Interessantes erfahren werden, zum Beispiel zum Generalstreik in der Schweiz 1918, anlässlich dessen Gut zum Abschluss des Aktivdienstes einberufen worden war und seiner Frau aus dem Dienst schrieb. Vielleicht werden Tagebücher, Briefe und weitere Schriften künftig einmal weiter ausgewertet werden, denn sie halten
noch viel Spannendes über sein Leben, seine Zeit und die damaligen Verhältnisse bereit. Das Material liegt inzwischen jedenfalls im Archiv der Stadt Sursee und steht der Öffentlichkeit zur Verfügung, auch dank der grossen Arbeit, die Willi Bürgi mit diesem Nachlass auf sich genommen hat.
Sämtliche Texte von Louis Gut wurden durch den Herausgeber transkribiert, zum grössten Teil ab handschriftlichen Vorlagen. Dabei wurde die damalige Schreibweise beibehalten. Hinweise, weiterführende Informationen und Anmerkungen des Herausgebers sind kursiv gesetzt.
Seit Anfang der 1910er-Jahre schrieb Louis Gut Gedichte. Seit 1913 scheint es, er hätte in Gedichten gedacht. Alles machte er zu Versen: Stimmungen, die Natur, sein Mitleid mit einer Selbstmörderin, die ach so menschlichen Schwächen seiner Zeitgenossen, seinen Zorn über den menschenverachtenden Krieg. In den Jahren 1913 bis 1916 entwarf und korrigierte er seine Texte in den blauen Heften, später notierte er sie handschriftlich oder mit der Hermes auf lose Blätter.
Im Grunde war es nur ein Spiel Für mich allein und ohne Ziel, Vielleicht ein Bild, das mir gedieh, Vielleicht bloss eine Melodie.
Dann einmal nahm der Wind es mit. Mir bangte, als es mir entglitt. Ich hab ihm ängstlich nachgelauscht, Und alsobald war es verrauscht.
Doch ferne rührt’ es flüchtig zart An eine Seele gleicher Art. Still nahm ein Herz davon Gewinn, Da war erfüllt des Liedes Sinn.
31.Januar 1956, loses Blatt
Es geht ein Sterben durch den Wald, Ein gelbes, rotes Sterben.
Und Nebel rufen trüb und kalt
Zum bunten Todeswerben.
Wie durch das welke Laubgezelt
Ein Bangen rauscht und Beben
Und Blatt um Blättlein leise fällt, Geht müde aus dem Leben.
Schon viele sind, beachtet kaum, Vom Wind verweht und modern.
Mit jedem, jedem starb ein Traum, Nur letzte Gluten lodern.
Ein Sterben geht durch Flur und Hang, Und aus den stillen Weiten Hör mit düster leisem Klang
Ich Totenglocken läuten.
18. Oktober 1914, im fünften blauen Heft
Eine Rose blüht vor meinem Haus, Sie schaut verdutzt ins Tal hinaus.
Unter der Blätter gekräuseltem Saum
Träumt sie noch ihren Sommertraum.
Deine Schwestern gestorben sind, Es hat ihre Träume entblättert der Wind. Du bist die Jüngste, weisst nicht, wie es kam, Dass sie schon modern rings um den Stamm.
Am See dort unten der Nebel schleicht. Du zitterst leise, dein Antlitz bleicht. Es fiel eine Träne zur Erdenruh –Leb wohl, letzte Rose, bald gehst auch du.
27.September 1924, loses Blatt
Ihr lustigen Winde, ihr frisch- und freien, Wie treibt ihr so lustig durch alle Welt, Mit schwankenden Wipfeln zu Berg und Tale Treibt ihr die Spiele, wie’s euch gefällt.
Jubelnd und singend aus allen Kehlen Jagen die Geister frei durch die Luft, Und aus der Ferne von Blustgefilden Bringt ihr mir jauchzend den süssen Duft.
Ihr lustigen Winde, ihr meine Freunde. O könnt’ ich mit euch durch alle Welt. Da könnte ich treiben durch Berge und Täler, Könnt dichten und singen, wie’s mir gefällt.
8. März 1914, im vierten blauen Heft
Blätter fallen von den Bäumen, Wirbeln durch die Winde fort.
Tote Wünsche, welkes Träumen
Liegen hier am Weg und dort.
Niemand achtet dieser Toten, Schaut ihr fahles Angesicht.
Niemand ahnt, was dieser Boten Tiefes, grosses Schweigen spricht.
Ach, wie kurz sind Blühn und Hoffen, Schreitet schon der Tod daher.
Alles sinkt, ins Herz getroffen –Wenn es doch schon Winter wär.
8.Oktober 1913, im zweiten blauen Heft
Der Wald ist licht und kahl geworden, Die muntern Schattenspiele schweigen, Und herbe Winde aus dem Norden Harfen auf den dürren Zweigen.
Nur noch wenig gelbe Fähnlein Müde flattern im Geäste, Fallen bald als letzte Tränlein Auf das Grab der Sommerfeste.
Aber auf dem Waldweg stille Liegt das dürre Laub gebreitet, Wird im Licht zu goldner Fülle, Raschelt beim Darüberschreiten.
Träumend, wie sie’s gerne übte, Wandelt schweigsam mir zur Seite, Die dies Blätterrauschen liebte; Schweigend dank ich für’s Geleite.
10. November 1951, loses Blatt
Der Nordwind weht
Und treibt die Nebel
Übers Tal.
Durch meine Seel es Schaudernd zieht.
Dürr sind die Matten.
Kein Baum noch treibt.
Die Vögel schweigen.
Der Haselstrauch
Nur öffnet Blüten.
Im rauhen Wind
Die Kätzchen stieben, Und purpurrot
Die Blüten glühen
Am frost’gen Tag.
Wie magst du blühen, Wenn der Nordwind weht.
Seine Sehnsucht nach dem warmen Herd drückt er in seinem Gedicht
«Ein Spiel im Wind» aus. Zehn Jahre später wird sie erfüllt, er zieht in sein eigenes Haus ein und erntet, was er im Dezember 1913 beschwört: «Ein wenig Liebe nur, ein wenig Sonne». Das Bild zeigt die Eingangstür zu seinem neuen Heim. Auf dem Türsturz liess Gut vom Surseer Künstler
Paul Amlehn die schlichte Hoffnung an den Eintretenden einmeisseln: «bring Freud».
Hier sass ich oft am Waldesrand, Wenn still und leise durch das Land
Der Frühling kam, die Knospen Schwellten und die Gräser sprossen. Hab oft die heisse Stirn gekühlt
Auf dieser Bank, die lind umspült
Von Fichten und der Buchen Schatten, Den buntgeschmückten grünen Matten.
Hier träumt ich meinen Jugendtraum.
Ein Schloss erstand im weiten Raum, Von hellem Sonnenschein umflossen.
Wie Ströme sich ins Meer ergossen, So wogte der Gedanken Flut Und quoll des Herzens heisses Blut. Und hört ich von des Hauses Stufen
Die Mutter ängstlich nach mir rufen, So hüpft’ ich fort ins traute Heim, Das Lieb’ durchglüht wie Sonnenschein.
Nun sitz ich hier am Waldesrand Nach Jahren wieder. Durch das Land
Seh ich den Spätherbst leise schreiten. Vom Kirchturm kommt ein Glockenläuten. Der Friedhof steht vor mir im Traum,
Ein Hügel wölbt sich über’m engen Raum. Das Elterngrab. Die Trauerweiden Stumm die kahlen Zweige neigen.
Ein Blättchen hängt noch, ein verwaistes Kind, Und wieget hin und her, ein Spiel im Wind.
Da fühl ich, wie sich in mein Herz
Die Wehmut schleicht und banger Schmerz. Die Welt ist fremd, wohin ich komme.
Ein wenig Liebe nur, ein wenig Sonne, Ich wollte dafür dankbar sein.
Lasst an den warmen Herd mich ein, Dass nicht des Herzens Glut verglimme. Die Welt ist kalt, und eine Stimme
Klagt in mir: du bist ein Waisenkind, Wie jenes Weidenblatt, ein Spiel im Wind.
28. Dezember 1913, im dritten blauen Heft
Der Winter kommt mit lautem Wind, Malt an Fensterscheiben; Ist ein loses wildes Kind, Lässt die Flocken treiben.
Wirft den Schnee ins weite Land. Wipfel, die sich sträuben, Schüttelt es mit trotzger Hand, Lässt die Flocken treiben.
Ist nur herzlos nicht sein Spiel, Lasst es tun und leiben, Alles drängt zum guten Ziel. Lasst die Flocken treiben.
Gönnt dem Winterkind die Freud, Immer kann’s nicht bleiben, Einmal zähmt es eignes Leid –Lasst die Flocken treiben.
14.Januar 1916, aus dem siebten blauen Heft, im Brief an Waldburga Heusser, auch in: «Heidebauer»
Du wilder Sturm, was rennst du um die Fenster Und schüttelst an den Tannen Ast um Ast?
Mir wird nicht bang, ich glaub nicht an Gespenster.
Du bist, willst lieb sein, mir willkommner Gast. Du bist so schnell wie niemand, hast ja Flügel. Jetzt bist du da, im Nu schon wieder fort, Mit Blitzeseil durch Täler, über Hügel
Geht deine Fahrt und kennst auch jeden Ort. So gib ein Ziel für diesmal deinen Fahrten. Nimm meinen Auftrag, doch vergiss es nicht. Flieg vor das Haus im stillen Garten, Klopf an, wo durch das Fenster grüsst ein Licht. Dort halte Rast. Nimm dann zur Hand die Geigen, Vom Wandern singst und fidelst du dein Lied, Dass mächtig schwillt und braust der Töne Reigen.
Wenn nach dem Sänger dann ein holdes Antlitz sieht, So grüss und küss es, doch nicht allzu heiss, In meinem Namen, hörst du, zart und leis.
13. Dezember 1918, bei den rekonvaleszenten Soldaten auf dem Uetliberg, loses Blatt
In blauen Höhen die Wolken jagen. Sie treiben vergnüglich ihr luftiges Spiel. Sie fliehen so leichthin dahin getragen Und keine nur kennt ihr flüchtiges Ziel.
In blauen Höhen die Wolken jagen. Die Wünsche und Träume auf ihnen stehn. Da löst sich die eine, um mir zu sagen: Wir sind nur Schäume, die schnell vergehn.
28.Februar 1914, im dritten blauen Heft
Der stille See konnte auch recht laut aufbegehren, wenn der Sturm über ihn fegte.
Die Nacht ist schwarz. Nacht ist’s in meinem Herzen. Des Sturmes aufgepeitschte Geister gehen
Laut heulend durch das Land. Des Donners Rollen
Rollt unheimlich hin und blendend wirft
Der Blitz sein grelles Leuchten.
Und Regen, Regen rauscht und fällt herab;
Und wo ich hinschau, grinst nur Nacht und Schauer
Und unaufhörlich lautes Weinen tropft.
Und der Gedanken Unruh wälzt mich
Auf dem Lager hin und her:
Ob entschwunden all mein Glück.
Ein Traum, ein böser, quälet mich, Ob keiner Hoffnung tröstend Bild mehr blühe. Was ich fühl, es sind nicht Schmerzen. Und doch sitzt da ein Schmerz unfassbar tief,
Ein schleichend Weh, das nagt an meiner Seele
Und Nacht und Düster sät in meinen Sinn.
Würd es doch Tag!
Und dann? Auch dieser eine ginge fröhlich auf
Mit Sonnenschein und Lust. Und immer Noch umwogt mich Geistersturm und Grauen, Beherrscht mich Nacht – in Herz und Seele Nacht.
Ein Blendwerk ist das Licht der Sonnen, Der blauen Lüfte zart bewegtes Spiel –
Der Tag vergeht, was bleibt, das sind die Schatten
Und was die Seele sinnt, es bleibt ein Traum.
28.August 1917, im Brief an Waldburga
aus dem Aktivdienst in Biel
Ich weiss nicht, was in meinem Herzen, Ein Brüten dumpf und schwer. Es ist nicht Freud, es sind nicht Schmerzen. Es treibt mich hin und her.
Die Arbeit, die mich stets gefreut. Ich mag nicht, was sie sei. Die Unruh fasst mich immer heut. Wär nur der Tag vorbei.
Und zwing ich wohl auch meinen Geist Zum Werke fest heran –Umsonst, er sträubet sich und reisst Sich fort von fester Bahn.
Zu allem, was es immer sei, An allem mir gebricht’s. Ich weiss es und gesteh es frei: Ich tauge heut zu nichts.
25. Jänner 1914, L. G. ist soeben 28-jährig geworden. Sein Vater möchte ihm den Hof überlassen, aber er weiss nicht, ob er das wirklich will.
Wieder fuhr ich heut wie weiland Nach der Insel grünem Eiland. Kaum betrat ich seinen Raum, Klagt mir schon ein Erlenbaum.
War am Leibe wundgeschlagen. Mich verdross sein stummes Klagen. Und dem Frevler unbekannt Strafe schwor ich seiner Hand.
Viele Narben alter Wunden Hab ich noch am Stamm gefunden, Aber grün und vollbelaubt Trägt er immer noch sein Haupt.
Möchte, starker Baum, dich fragen, Kannst du mir die Antwort sagen: Wieviel Wunden, wieviel Schmerz, Bis es stirbt, verträgt dein Herz?
Aus dem Album «Mein stiller See», 1924
Etwas treibt mich durch die Räume Lässt nicht Ruhe mir und Rast, Unbewusst, als ob durch Träume Trüg ich eine süsse Last.
Ist es nur die alte Unrast, Die beherrschet meinen Geist, Und als altgewohnter Leibgast Immerfort mich rühren heisst?
Oder ist in Seelentiefen Irgendetwas, so mir fehlt –Dass die Geister doch entschliefen, Deren Sippe heut mich quält!
Oder ist’s ein still Verlangen Nach dem fernen teuren Lieb, Seinen Worten, die verklangen Wie ein lieblich süsses Lied?
22. Oktober 1914, im fünften blauen Heft.
Verrauscht sind des Vorfrühlings goldene Tage. Die Knospen des Flieders sind rund geschwellt Und zittern in bang verhaltener Klage, Derweil auf die Fluren der Märzschnee fällt.
Noch manch eine Knospen sehe ich stehen, Zum Treiben, Blühen und Duften bereit, Und alle mich fragen mit schüchternem Flehen: Ach wann, ach wann nur kommt unsere Zeit?
28.März 1915, im sechsten blauen Heft
Heute Nacht warst du hier
Im Traum. Deines Atems Hauch
Fühlt’ ich über mir.
Ich strich dein Haar und auch
In deiner Augen Licht
Las ich die alte, warme Liebe treu und schlicht Und innig wie vor Zeiten.
Ich fühlte deine Arme
Zärtlich um mich breiten.
Dann war ich aufgewacht, Noch traumbeglückt. Doch du Warst fort, in deine Nacht Entrückt und deine Ruh.
Wie zwischen Glück und Leid Noch mein Gemüte schwankt, Grüsst aus der Dunkelheit
In meiner Seele Licht, Erinnerungumrankt, Wahrhaft dein lieb Gesicht.
19. Dezember 1954, loses Blatt