MARCO PFEUTI «GÖLÄ»: ZIGEUNERHERZ (Kurzvorschau)

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GÖLÄ Dänu Wisler Zi geunerherz

GÖLÄ Zi geunerherz

GÖLÄ Dänu Wisler Zi geunerherz

Impressum Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. In haltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwor tung für etwaige Unstimmigkeiten. Alle Rechte vorbehalten, einschliess lich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wie dergabe. Autor Dänu Wisler, Oberhelfenschwil SG, www.daenuwisler.ch Werd & Weber Verlag AG Gestaltung und Satz Sarah Jakob Bildbearbeitung Adrian Aellig Lektorat Madeleine Hadorn Korrektorat Heinz Zürcher, Steffisburg Bildnachweis Seite 12: Keystone-SDA | Seiten 19, 22, 27, 43, 128: Privatarchiv Gottfried Pfeuti | Seiten 37, 73: Privatarchiv Marco Pfeuti | Seite 40: Heinz Friedli | Seiten 49, 91, 116: Dänu Wisler | Seiten 52, 55, 58, 59, 64, 68, 78, 81, 151: Gölä | Seiten 63, 64, 67: Thomas Hofer | Seiten 68, 88: Grafik Geri Brauchle | Seiten 84, 88: Hinkebein | Seiten 98, 99: Thomas Gyger | Seite 106: Mike Pfeuti | Seiten 122, 148, 158, 160: Zäppu Der Verlag Werd & Weber wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 2020 unterstützt. © 2020 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun | Gwatt, ISBN www.werdverlag.ch978-3-03818-298-6

Inhalt That’s it, Folks 6 Vorwort 8 Der 68er 11 Ein Engel für Gölä 15 Zigeunerherz 19 Ein Büezer namens Godi Pfeuti 24 Klein Amerika 28 Hinten links 32 Goldrausch in Klein Amerika 39 Glocken der Heimat 45 Rezept | Glocken der Heimat 50 Uf u dervo 51 Achtung, fertig, Gölä! 72 Hinkebein 76 Die Schwarzholzraspler 90 Schwan 94 Der Türsteher 101 Der Edle und das Biest 107 Rock’n’Roll 110 Spiel mir das Liedvon der Beiz 117 Der Stadtwolf 123 Heinrich, Gölä undder Geist 126 Heinrich von Strättligen 139 Ängu u Dämone 143 Rezept | Hagu-Hans’ Chässchnitte 153 Nachwort 154 Autoren 159

Eine beeindruckende Haltung für einen Mann mit seiner Geschichte. Im Backstage-Bereich waren überall alkoholfreie Getränke, Kaffee, Ingwer, Tee und Früchte verfügbar. Nach dem letzten Ton der drei Shows wurden die Kühlschränke mit Bier gefüllt. «Urchig2» gab mir die Möglichkeit, den Menschen hinter dem Mythos näher kennen zu lernen. Wir fuhren für einen SRF-Videodreh für den «Donnschtig-Jass» in seinem Wagen an den Louenesee, um das Lied mit dem Jodlerklub Lauenen in der richtigen Kulisse aufzu

1. Dezember 2018, ich stehe hinter der Bühne im Hallenstadion. 12 000 Leute feiern die «20-Jahre-Gölä-Jubiläumshow», die Stim mung ist bombastisch, ich bin hypernervös. Gölä kündigt mich mit meinem Song «Louenesee» an und ich stolpere überglücklich und mit hocherhobenem Haupt auf die Bühne. Eines meiner Lebensziele, einmal im Hallenstadion aufzutreten, ist wahr geworden. Das Pub likum ist mir gewogen und Tausende singen mit mir und der tolls ten Band, die man sich überhaupt vorstellen kann, mein Lied. WOW! Und das während zwei Tagen in drei ausverkauften HallenstadionShows vor etwa 38 000 begeisterten Leuten. Ich wurde aufgrund meiner Beteiligung an der Produktion von Göläs Album «Urchig2», nachdem Gölä meine Leadvocals mit dem Chor von Lauenen persönlich produziert hatte, an seine Jubiläums show eingeladen. «Meinsch es ärnscht, eifach richtig mit Gitarre u so?» – «Ja, genau so.» Mir blieb die Sprache weg. Was für eine Ehre –Ein Meilenstein in meinem Schaffen – Freude herrscht! «Aber Schöre, bi üs wird de a de Shows nüüt gsoffe! Das si Erfahrigswärte, einigi hesch ja früecher mängisch scho vor der Show nüm chönne bruuche.»

6 That’s it, Folks Von Schöre für Gölä.

7 zeichnen. Es herrschte schönstes Wetter, die 27 Sänger inklusive 1 Sängerin waren bester Laune und wir fanden sofort einen guten Draht zueinander. Als die Gesangstruppe während einer Drehpause spontan einen «Ur-Jodel» anstimmte, bekam ich feuchte Augen und Hühnerhaut, ich war total ergriffen. Man spürte förmlich die Ur schwingung und die mystische Kraft der Musik in der Luft und erst noch an diesem wunderbaren Kraftort. Genau darum geht es in der Musik, es geht um Schwingungen, Emotionen, Lebensfreude, Gefüh le und Magie. Nicht um Stile oder Klischees. Gölä hatte den Tag total im Griff und in der Mittagspause zückte er sein Sackmesser und schnipselte an einem Cervelat herum. Dauernd wurde er von Passanten oder Bauern aus der Gegend angesprochen, für Selfies oder ein paar nette Worte. Gölä blieb immer cool und auf geschlossen. Natürlich, unkompliziert, sympathisch.

Während der Fahrt unterhielten wir uns über Gott und die Welt, über unsere Kinder und deren Entwicklung oder Verhaltensweisen, über Recht und Unrecht, über Musik und deren Bedeutung früher und heute. Menschliche Themen, aus dem Leben gegriffen – nix Politik! So durfte ich Gölä als interessierten, sensiblen, kritischen, kanti gen und zielstrebigen Zeitgenossen kennen lernen. Hallo, der Mann hat nicht mal einen Fernseher zu Hause, wer kann das sonst von sich behaupten! Ich teile nicht seine politischen Ansichten, aber durch aus seine Freude an der Musik und seine direkte Art. Irgendwie ver bindet uns die unabhängige Sicht der Dinge aus der «Outlaw»-Ecke.

Wir lassen uns keinen Stuss aufschwatzen und lassen uns die Freude am Leben und an der Sache nicht verteufeln. That’s it, Folks!

Georges «Schöre» Müller, Gitarrist und Sänger der Berner Mundartrockband Span

Vorwort

Dieses Buch ist in einer eigenartigen Zeit entstanden. Ein noch nie dagewesener Reinheitskult hat sich breit gemacht. Physisch und mental. Wegen Corona haben wir uns andauernd die Hände gewa schen und mit Desinfektionsmittel eingeschmiert. Begegnungen fanden nur noch auf Distanz statt – wenn überhaupt. Politiker nannten das die neue Normalität. Auch unsere Sprache und Geschichte wurden einer moralischen Säuberung unterzogen. Alltagsworte wurden mit politischen Spreng köpfen versehen. Was man bis vor kurzem noch Wortklauberei nann te, wurde plötzlich zum Massstab für Gut und Böse. Käse und Anke haben wir zwar noch, aber lustig sind wir Schweizer nicht mehr so sehr. Denn auch der Humor steht in dieser neuen Nor malität unter Verdacht. Verständlich. Wenn es in allem immer gleich um das absolut Gute oder Böse, um schwarz oder weiss geht, wenn Zwischentöne schwarz sind, dann ist Lachen halt nicht mehr so lus tig. Was an Humor verloren gegangen ist, haben wir scheinbar an Korrektheit zugelegt.

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Göläs Normalität orientiert sich nicht an Modeerscheinungen, son dern an Erfahrung, Bauchgefühl und Verstand. Gölä hat mir einmal gesagt: «Wenn ich ein Haus baue, ziehe ich manchmal bewusst eine krumme Mauer. Das fördert die Kreativität und führt zu Ergebnis sen, wie sie kein Architekt planen würde.» Dieser Satz sagt viel über ihn aus. Bündiger könnte man Gölä kaum beschreiben. Das ist seine Normalität. Es ging mir bei diesem Buch nicht darum, einen lückenlosen Le benslauf zu erstellen. Ich wollte nicht mit Verkaufszahlen und Sen sationsberichten beeindrucken, nicht voyeuristische Gelüste befriedigen, sondern einfach erzählen. Geschichten, wie sie das Leben schreibt, wenn ein Mensch sich darauf einlässt. Ich schrieb in der Hoffnung, dass Gölä in diesen Geschichten als das spürbar wird, was er ist: Ein Mensch, der manches krumme Mäuerchen gebaut hat, und so zu einem Original geworden ist.

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Dänu Wisler, im September 2020

Das Buch über Gölä will nicht so recht in diese neue Normalität pas sen. Es geht nicht um Distanz, es ist eine Annäherung. Es geht um das Leben, um Ambivalenz, Humor und Zwischentöne. Es geht um ei nen Menschen, der nicht von der Idee besessen ist, keine Fehler zu machen, und nicht jedes Wort auf die Goldwaage legt.

Jimi10 Hendrix am Albisriederplatz.

11 Der 68er Gölä ist ein Held. Wie Elvis oder Abraham Lincoln hat er sich aus bescheidenen Verhältnissen heraufgearbeitet. In Amerika würde man sagen: vom Tellerwäscher zum Millionär. Als Sohn des Gast wirtpaares Gottfried und Rosmarie Pfeuti dürfte dem auf den Na men Marco getauften Sprössling das Tellerwaschen nicht unbekannt gewesen sein. Aber Amerika war weit weg. Verdammt weit weg. Und an dem, was 1968 von dort herüberschwappte, fand Vater «Godi» keinenSiebenGefallen.Tage,bevor Gölä das Licht der Welt erblickte, am 30. und 31. Mai 1968, gastierte Jimi Hendrix im Zürcher Hallenstadion. Ex perten zufolge erlebte das Publikum den Jahrhundertmusiker in Höchstform und mit grosser Wahrscheinlichkeit die Uraufführung von «Voodoo Child». Aber das interessierte Godi Pfeuti wenig. Im «Schützen» zu Oppligen1 bewegten andere Themen die Gemüter. Zum Beispiel die neue Militäruniform. Während der Sommerrekru tenschule sollte sie ausprobiert und anschliessend einer genauen Prüfung unterzogen werden. Die modischen Erneuerungen betra fen die Mützen und den Schnitt von Hosen und Jacken. Und dann war da noch die Milchschwemme. Nur unter Androhung einer Kontingentierung ging die Milchproduktion im Laufe des Jah res etwas zurück. Falls also in Oppligen am Stammtisch von den Zürcher Konzerten die Rede gewesen sein sollte, dann eher deshalb, weil nach dem Set von Hendrix ein paar Dutzend Klappstühle zu Bruch gingen und weil es am zweiten Konzerttag zu Ausschreitun 1 Gasthof zum Schütz in Oppligen BE.

Gäbe es das Phänomen Gölä ohne das Phänomen 1968? Wenn man über diese Frage spekulieren will, muss man andere Fragen beant worten. Zum Beispiel die Frage, was den besonderen Geist von damals ausmachte. War die 1968er-Bewegung, diesseits aller Verklärung und aller Legenden, die Polit- und Kulturrevolte, die als Wegbereiterin der Schweizer Moderne gefeiert werden will?

Einschätzungen konnte es nichts Gutes sein. Die Welt stand in Flam men. Der Vietnamkrieg hatte seinen Höhepunkt erreicht. Im Früh ling wurde der Bürgerrechtler Martin Luther King erschossen und am 5. Juni 1968 feuerte ein palästinensischer Einwanderer dem Präsidentschaftsanwärter Robert Kennedy eine Revolvertrommel voll Kugeln in den Körper. Kennedy erlag seinen Verletzungen am folgenden Tag. Die Studenten in Prag, Paris und vier Wochen nach Hendrix in Zürich randalierten und demonstrierten gegen den Krieg und für neue Gesellschaftsformen. Pflastersteine flogen und es roch nach Tränengas. Am Berner Münster wurde die Vietcong-Fahne ge hisst und in der Universität Zürich hingen rote Sowjetflaggen mit Hammer und Sichel. So ging 1968 als Jahr des Umbruchs in die Ge schichte ein und die Geburt von Marco Pfeuti am 7. Juni blieb vor erst nur eine kleine Randnotiz in dieser Geschichte.

Sinnieren die in die Jahre gekommenen Protagonisten über die Zeiten vor über fünfzig Jahren, erzählen sie gerne, wie unangepasst sie waren, damals. Es gibt dieses Bild von Hendrix und seinem Bassisten Noel Red ding, aufgenommen am Albisriederplatz in Zürich. Die zwei Musi ker sind umgeben von ein paar Schweizer Jugendlichen, denen man einiges zutrauen würde, nur keine Revolution. Die bunt flammen den Klamotten von Hendrix und Redding wirken so psychedelisch,

12 Der 68er gen kam. Genauso wie ein Jahr zuvor beim Auftritt der Rolling Stones. Aber das war nur der Anfang. Ein heisser Sommer kündigte sich an. Es lag etwas in der Luft und niemand wusste genau, was. Nach Godis

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Ein Mann der ersten Stunde war Toni Vescoli. Zusammen mit seiner Band «Les Sauterelles» lieferte er einige Takte zum Soundtrack der Zeit. Rund dreissig Jahre später interpretierte er den Dylan-Klassiker «The Times They Are A Changin’» und resümierte: «Ufem ganze Planet isch d’Jugend uf d’Strass, doch hüt frögi mi mängmol schlussändli für was? Di Junge vo damals sind voll etabliert, und die wo’s nöd sind, händ lengscht resigniert.»

Tatsächlich sind die meisten 68er ganz rasch und sittsam auf ein Karriereleiterchen gesprungen und haben sich genauso wohlig in ihrem Eigenheim eingerichtet wie einst ihre als Spiesser verachte ten Eltern. Und bei jenen, die es politisch bis ganz hinauf gebracht haben, bei jenen, die jetzt auch elegante Anzüge tragen, beschleicht einen das dumpfe Gefühl, dass sie innerlich die geduckte Haltung nie wirklich aufgegeben haben. Sie haben sich zu höchst erfolgrei chen Anpassern entwickelt. Mehr noch. Sie sind selber Establish ment geworden. Mindestens so betonköpfig wie jene, die sie einst so energisch kritisierten.

13 als wären sie in LSD gewaschen worden. Und doch repräsentieren sie Stil, Eleganz und Selbstbewusstsein. Da können die beigen und braunen Strickpullover der Schweizer Rebellen nicht ganz mithalten.

Das «Wildeste» ist hier eine Wildlederjacke mit Fransen – getragen über einem bis zum zweitletzten Loch zugeknöpften karierten Hemd. Die Schweizer wirken behäbig. Nicht nur des Outfits wegen. Vor allem wegen der Körperhaltungen, die, im Gegensatz zu den ausländischen Paradiesvögeln, etwas geduckter ausfallen. Einige ziehen den Kopf ein und bei den anderen scheint es, als wüssten sie nicht, wofür man Hände hat, und vor allem nicht, was man mit ihnen macht, wenn man fotografiert wird. Wenn man nicht wüsste, dass dies Rebellen sind, würde man glatt auf die Idee kommen, es seien Anpasser.

14 Der 68er Vielleicht ist Gölä etwas vom Besten, was uns das Jahr 1968 gebracht hat. Er ist freilich nicht das, was man unter einem 68er versteht.

Aber er ist von diesem unangepassten, freiheitlichen Geist beseelt, der in den verklärten Erinnerungen der einstigen Spassguerillas so gerne beschworen wird. Er ist die Stimme derer, die heute unten stehen und von denen man verlangt, Lügen zu glauben, und die je den Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen, damit die Rechnungen derer bezahlt werden können, die so gerne auf den roten Teppichen wandeln und in die Kameras lächeln. Gölä sagt, was er denkt. Er eckt an. Er polarisiert. Dafür wird er geliebt und bewundert, aber auch belächelt, gehasst und für dumm verkauft.

Ich habe eingangs geschrieben, Gölä sei ein Held. Diese Aussage gilt es zu präzisieren. Damit ist gemeint, dass er weniger der gehorsame Bürger und Pflichterfüller ist, sondern vielmehr einer, der den Mut zu seinem eigenen Schicksal gefunden hat. Aber wir Schweizer mögen ja Helden nicht ganz so sehr wie die Amerikaner. Vor allem nicht, wenn sie aus den eigenen Reihen stammen. Darum ist Gölä für viele halt doch kein Held, sondern einfach einer, der Glück gehabt hat. Und zwar mehr Glück als Verstand.

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Ein Engel für Gölä Otto trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. Besser gesagt mit dem, was davon übriggeblieben war. Beruflich bediente er eine Metallstanzmaschine, wobei ihm die Finger der linken Hand im Laufe der Jahre scheibchenweise verkürzt worden waren. Das kam daher, dass Otto die Arbeitsvorgänge sehr präzise ausführte, wobei er die Finger mit penibler Genauigkeit knapp neben dem Stanz werkzeug platzierte. War er nicht ganz bei der Sache, konnte es vor kommen, dass auch ein Stück seines Fingers weggestanzt wurde. Sozusagen ein Flüchtigkeitsfehler, der ihm so alle drei bis vier Jahre einmal unterlief. An und für sich gar keine schlechte Bilanz. Nach einigen Jahrzehnten Berufserfahrung blieben ihm neben dem Dau men halt trotzdem nur noch der kleine Finger und ein paar küm merliche Stummel. Otto trommelte, sah nach der Decke, wo er eine Fliege eingehend beobachtete und wartete auf eine Portion Käse. Emmentaler musste es sein. Das wusste man in Oppligen und dieses Wissen gehörte beim Personal im «Schützen» zur Allgemeinbildung. Der Ablauf war immer derselbe. Die Serviertochter trug den Teller auf, Otto begann mit dem Messer am Käse herumzuhantieren und dann folgte sein Spruch: «Nichts als nur Löcher frässe …» Und alle lachten, als hätten sie den Witz zum ersten Mal gehört. Auch das gehörte zur Allgemeinbildung. Diesmal war es anders. Das Lachen von Rosmarie wirkte etwas ge zwängt. Sie stand hinter der Theke, mit voluminös hochgestylten, strohblonden Haaren und einem kugelrunden Bauch. Otto spürte, dass sie etwas bedrückte, und er ahnte, dass wohl etwas mit der Schwangerschaft nicht in Ordnung war. So war es auch. Der Geburts termin war schon seit zwei Wochen überfällig. Gerade heute war sie noch in Thun beim Arzt. Dieser schätzte die Situation nicht richtig ein

Nur wer keine Schwiegermutter hat, könnte dem Irrtum verfallen, dass vor allem Königinnen und Bürokraten keinen Widerspruch tole rieren. Ohne Widerrede beugte sich Godi Friedas Kommando. Der weinrote Kadett Kombi spuckte einige bedrohliche Wolken aus dem Auspuff, bevor das Gefährt getreulich seiner Aufgabe nachkam und sittsam Richtung Oberdiessbach rollte, wo sich Pfeutis kurz danach beim Empfang des Spitals meldeten. Kaum hatte Rosmarie ihr Zim mer bezogen, wurde eine Infusion gesteckt, welche die Geburt einlei ten sollte. Erst lief Godi unruhig im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich auf einen Stuhl, blätterte flüchtig in einer Zeitschrift, fragte Rosmarie nach ihrem Zustand, stand auf und setzte sich wieder. Ein Arzt trat ins Zimmer. Godi schoss der Gedanke durch den Kopf, dass dieser womöglich noch etwas Wichtiges vergessen hatte. Vielleicht brauchte der Arzt noch eine Information oder einen kleinen Ratschlag. Dieser wimmelte ihn ab und verliess das Zimmer. Godi blickte auf die Türe, durch die der Arzt verschwunden. Draussen hörte man Stim men. Godi spitzte die Ohren. Ausser ein paar Wortfetzen war nichts zu verstehen. Allerdings glaubte er, in dem Gemurmel das Wort «Tot geburt» gehört zu haben. Der Arzt kam im Geschwindschritt herein, zusammen mit der Hebamme. Godi sprang auf und fragte, ob er in ir gendeiner Weise behilflich sein könnte. «Nein», antwortete der Arzt kurzangebunden. Ein seltsam heiserer Unterton lag in seiner Stimme, als ob er etwas verheimlichen wollte. Der Arzt steckte sich die Abhör teile von seinem Stethoskop in die Ohren, welches er stets einsatzbe reit um seinen Hals zu tragen pflegte. Er begann, mit der Membrane den Bauch von Rosmarie abzutasten, kehrte zu verschiedenen Stellen

Ein Engel für Gölä und schickte sie wieder heim. Dann aber schaltete sich Frieda ein, die Schwiegermutter.

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Sie konnte sich das Ausbleiben der Wehen zwar auch nicht erklären, war sich jedoch sicher, dass die Frucht blase bereits geplatzt war: «Seid ihr eigentlich wahnsinnig? Das Kind stirbt, wenn jetzt nichts geschieht. Gödu, gang la der Charre a und dann bring Rosmarie sofort nach Oberdiessbach ins Spital!»

V. l. n. r.: Schwester Andrea, Vater Godi, Gölä.

Immer

Familienweihnacht im «Schützen».

V. l. n. r.: Gölä, Grossmutter Johanna Winkelmann, Schwester Andrea, Mutter Rosmarie, Vater Godi. in Bewegung: Gölä.

17 Familienferien in Tunesien.

18 Ein Engel für Gölä mehrmals zurück. Dabei drückte er sein Kinn ernst auf die Brust, so dass ein wulstiges Doppelkinn den Hals unsichtbar machte. Mit einer der Hebamme zugewandten Kopfbewegung gab er dieser zu verste hen, ebenfalls zu einem Stethoskop zu greifen, was sie auch unver züglich tat. «Hören Sie?», fragte der Doktor, worauf die Hebamme durch Kopfschütteln bekundete, dass sie nichts hörte. Noch bevor Godi etwas fragen konnte, huschte der Arzt wieder aus dem Zimmer. Godi setzte sich. Alles würde gut gehen, versuchte er sich einzureden. Sein Kind würde gesund sein. Gesund und lebhaft. Es würde in die Schule gehen, später vielleicht studieren und, wer weiss, vielleicht so gar Bundesrat werden. Man durfte diese Möglichkeit nicht ganz aus schliessen … Eine Schwester kam herein. Ob es etwas Neues gebe, wollte Godi wissen. Die Angesprochene machte sich nicht einmal die Mühe, eine kultivierte Antwort zu geben. Sie schüttelte den Kopf. Ei gentlich schüttelte sie ihn nicht einmal, sondern drehte ihn genervt ab, tippte mit dem Zeigefinger auf die Infusionsflasche, notierte et was in einen Block und schon war sie wieder weg. Es wurde eine lange Nacht. Kurz vor dem Morgengrauen setzten bei Rosmarie die Wehen ein. Um 06.30 Uhr kündigte Marco Pfeuti mit einem Schrei seine Ankunft auf der Erde an. Es war Freitag. Otto war am Stanzen. Auch er hatte eine Nachtschicht hinter sich. Im «Schützen» roch es nach Kaffee und Gipfeli. Godi musste los. Zu erst nach Wileroltigen, um Rosmaries Eltern die Neuigkeiten zu melden, danach zur Arbeit. Wileroltigen, ein paar Tage später: Der Sprössling lag in Windeln gewickelt auf dem Doppelbett seiner Grosseltern, zwecks genauer Begutachtung. Auf dem Gemälde über dem Bett begleitete ein mächtiger Schutzengel ein Kind über eine Brücke. Grossvater Hans warf dem Kleinen mit einem Augenzwinkern ein 10er-Goldvreneli auf den Bauch: «Es söu dir Glück bringe!» Der Engel auf dem Bild schien zu wissen, was er zu tun hatte, und zwinkerte zurück.

Die See funkelte im Lichte des Vollmondes. Das Leben schien still zu stehen. Die Segel hingen schlaff an den Masten, schwerfällig schaukelte das Schiff auf der spiegelglatten Fläche. Der Mann am Steuer pfiff leise vor sich hin. Ein alter Seemannsbrauch – durch Pfei fen glaubte man, den Wind herbeirufen zu können. Es half nichts, der Wind blieb aus. Der Steuermann umschlang das Rad, die Ellbo gen auf den seitlichen Griffspeichen abstützend, beugte sich vorne über und schlief ein. Ab und zu zuckte er auf. Immer, wenn eine Woge ans Ruder schlug und das Steuerrad einen Ruck tat, oder wenn ihm einfiel, dass er Wache halten musste.

Zigeunerherz

Ja, Windstille ist das Schlimmste für ein Segelschiff. Aber es hat auch sein Gutes, überlegte der Matrose. Hätte sich das Schiff im mer bei günstiger Brise mit zwölf Knoten pro Stunde seinen Weg durch die See gepflügt, wären ihm manche aus der Ruhe geborene Erkenntnisse entgangen. Wie lange es ihn selber schon über die Weltmeere getrieben hatte, wusste Jack nicht mehr so recht. Auf den Schiffen konnte man immer tüchtige Burschen gebrauchen. Sie kamen und gingen. Jack hatte viele von ihnen gesehen. Einige davon hatte Neptun zu sich gerufen,

Windstille ist das Schlimmste für ein Segelschiff, dachte Matrose Jack, der sich an die Schanzkleidung lehnte und seine Augen in die Weite schweifen liess. Drei Tage Windstille ruinierten die Segel tat sächlich mehr als zwei Wochen scharfes Segeln. Durch das stetige Schwanken des Schiffes schlugen die locker hängenden Taue an die Segel, diese wiederum an die Masten, was zusammen mit der Feuch tigkeit von Tau oder einem nächtlichen Regen eine starke Abnützung zur Folge hatte.

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20 Zigeunerherz Jakob Röthlisberger mit Emma. Weltenbummler: Urgrossvater Jakob Röthlisberger.

An den Namen Jack hatte er sich längst gewöhnt. Man sah ihm nicht mehr an, dass er eigentlich eine Landratte war, vom unteren Frittenbach bei Langnau im Emmental stammte und Röthlisberger hiess. Jakob Röthlisberger. Hätte jemand hier an Bord diesen Namen aussprechen wollen, dem hätte es wohl Risse in seine ausgetrock neten Lippen gesprengt.

Das Meer zog Jack in seinen Bann. Prachtvoll glitzerte die Fläche im Licht von Mond und tausend Sternen. Ein unerklärlicher Sog wirkte aus der Tiefe. Geheimnisvoll regte sich darin des Nachts un bekanntes Leben. Manchmal sprang ein Fisch, einmal schoss ein Hai vorbei, dessen Rückenflosse eine kleine, silberglänzende Schaum furche in das Wasser schnitt.

Jack tat es leid, er wollte heim, zu Emma.

21 andere blieben irgendwo in einem Hafen hängen. Jack segelte immer weiter. Freilich, zu seiner Zeit waren auch schon Dampfer unterwegs, aber die Reise mit dem Wind passte besser zu seiner Natur.

Jack dachte an Emma. An ihre dunklen Augen, die ihn auf einmal an die Tiefe des Meeres erinnerten. Musste er um die halbe Welt reisen, um das zu sehen? An jedem Hafen warteten die leichten Mädchen, fast überall liess er sich ein neues Tattoo stechen. Sein Körper war voll davon. Musste das sein, um zu begreifen, dass er am Ende einzig und allein Emma liebte? Vielleicht. Das Meer hatte ihn erweckt, die Frauen haben ihn wissend gemacht, die Stürme haben den Flaum von ihm gefegt.

Damals hatte es ihn einfach in die Ferne gezogen. Warum? Er wuss te es nicht. Es gab keine Worte dafür. Emma liess ihn gewähren. Sie sah ihn an, mit Augen so dunkel und tief wie der Ozean. Er war hart zu ihr, oder wie es sein Urenkel Gölä rund hundert Jahre später in einem Lied singen würde: Er hatte eine Seele wie ein Winterkleid.

22 Zigeunerherz Was wir über Jakob Röthlisberger wissen, ist bruchstückhaft. Mehr Mythos als historische Überlieferung. Sicher ist, dass aus seiner Ehe mit Emma sieben Kinder entsprungen waren. Eine davon hiess Frie da, die Grossmutter von Gölä. Sicher ist auch, dass Deutschland am 1. August 1914 Frankreich und Russland den Krieg erklärte. Die Schweiz reagierte sofort und mach te mobil. Ulrich Wille wurde zum General ernannt. Am 4. August wurde im Kanton Solothurn das Infanterieregiment 11 aufgeboten und damit das Füsilierbataillon 50. Auf der Schützenmatt in Solo thurn gelobten die Soldaten, das Vaterland zu verteidigen. 5000 Schwurhände reckten in die Höhe, eine davon gehörte Füsilier Röthlisberger. Vier Tage später marschierte das Regiment in brü tender Augusthitze über den Weissenstein zur französischen Grenze. Südlich von Ederswiler hoben die Soldaten Schützengräben aus und brachten sich in Stellung.2 Nach dem Krieg arbeitete Jakob in einer Ziegelei in Pieterlen. Das Herumstreifen und die Unabhängigkeit hatte er aufgegeben. Er starb 1929 im Alter von 49 Jahren. Sein Zigeunerherz hörte auf zu schla gen, der Wind zog weiter.

2 Das Bataillon wurde am 21. August abgelöst und ins Schwarzbubenland versetzt, danach in den Berner Jura und später in die Nähe von Fribourg zur weiteren Ge fechtsausbildung. In den folgenden Kriegsjahren wurde das Bat. 50 in Basel, im Tessin und bei klirrender Kälte und Tiefschnee in Saignelégier und St-Ursanne eingesetzt. Danach waren sie in Grenchen, Delémont und Stein am Rhein stationiert. Feindkontakt hatten sie nicht, beschossen aber hin und wieder feindliche Flugzeuge, die die Grenze missachteten. Am 26. Juni 1915 nahmen sie in Solothurn an einem Defilee vor General Wille teil. Jeder Angehörige des Bat. 50 leistete im Ersten Welt krieg durchschnittlich 500 Diensttage.

In Göläs Stammbaum gibt es noch mehr zu entdecken. Aus welchem Holz er geschnitzt ist, sehen wir nicht nur bei Jack, sondern auch beim alten Pfeuti, dem Wagner von Muri.

23 Man wird den Eindruck nicht los, das genetische Erbe von Jakob Röthlisberger spiele bei Gölä eine ganz besondere Rolle. Die Ver wandtschaft ist offensichtlich. Äusserlich sichtbar am tätowierten Körper, innerlich spürbar am Freiheitsdrang und biografisch nach vollziehbar an vielen Reisen.

In früheren Zeiten hatten die Menschen ein feineres Gespür für ihre familiäre Herkunft. Die Kenntnis der eigenen Geschichte, der bewusste Umgang damit und der Respekt derselben gegenüber war in einigen Kulturen sogar Teil der Religion. Auch in der christlichen Tradition, die die Schweiz geprägt hat. Zu wissen, woher man kam, bedeutete zu spüren, wer man war. Zu spüren, wer man war, bedeutete zu sehen, wo man hinwollte. Man verstand, dass, abgeschnitten von seinen Wurzeln, ein Mensch sich selbst und ein Volk seine Heimat verliert.

24 Ein Büezer namens Godi Pfeuti

So kam es, dass am Samstag, noch bevor der Hahn krähte, zwei Gestalten mit Körben von Muri nach Bern marschierten. Anfangs machte Gödeli ein zufriedenes Gesicht. Aber schon nach dem drit

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Eher hätte ein Samstag im Kalender gefehlt als an einem Samstag der Korber Willy am Berner Märit. Ein pfiffiges Männchen mit drei grauen Haaren und vier gelben Zähnen. Die Körbe band er jeweils mit einem Seil zu einer riesigen Traube zusammen, packte sie auf seinen Buckel und noch ehe in Muri der erste Hahn krähte, mar schierte er in Richtung Bern. Sein Angebot reichte von Krämerkör ben mit und ohne Deckel bis hin zu Widlichörb und Chriesichrätte. Der Widlichorb galt einen Franken, das Chriesichrättli fünf oder sechs Batzen, also 50 bis 60 Rappen. Die Nachfrage war gross. Manchmal fast grösser als die Traube, die er auf seinem Buckel zu tragen vermochte. «Du könntest mir eigentlich albe helfen zu tragen», meinte Willy zu dem Buben, der einmal neugierig stehen blieb, als er an einem Son nentag vor seinem Häuschen sass und an einem Korb arbeitete. «Das wäre ömu gescheiter als nur dumm herumzustehen und Gewunderna sen zu füttern», fuhr er fort, und als er dem Buben einen Batzen Lohn in Aussicht stellte, liess dieser seine mit den Daumen nach vorne ge spannten Hosenträger auf seine Brust zurückspicken, dass es nur so tätschte. Das Interesse war geweckt. Die Abmachung wurde ohne verzwickte diplomatische Verhandlung getroffen. Die Eltern liessen ihren Gödeli machen, zumal sie der Meinung waren, die Jungen kön nen gar nicht früh genug lernen, ehrliches Geld zu verdienen.

25 Gottfried Pfeuti mit drei seiner Kinder vor der Wagnerei-Werkstatt in Muri bei Bern. V. l. n. r.: Gottfried (1910), Marie (1916), Hans (1912).

Ein Büezer namens Godi Pfeuti ten Markttag begann er zu mucken. Als ihn Willy fragte, was denn los sei, brach es aus dem Buben heraus: «Das ist doch dummes Zeug! Wir würden gescheiter ein Wägeli nehmen!» «Aha, du meinst, ich sollte jetzt wegen dir noch ein Wägeli kaufen? Mach doch selber eines.» Gö deli schaute Willy mit grossen Augen an. Es war ihm, als geschehe ihm gerade ein grosses Unrecht. Das Weinen war ihm zuvorderst, als er stammelte: «Das kann ich doch nicht. Ich habe noch nie so etwas gemacht.» Willy liess nicht locker: «Das spielt doch keine Rolle. Alles beginnt mit dem ersten Mal. Ich schaue für das Holz und für die Rä der. Den Rest bringst du selber zustande. Und wenn es etwas wird, kaufe ich es dir ab. Zuerst musst du das Wägeli zeichnen.»

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Von da an begutachtete Gödeli die Fuhrwerke eingehender. Be sondere Aufmerksamkeit galt den kleinen Leiterwagen, die man von Hand ziehen konnte. Er studierte, zählte und mass deren Teile und zeichnete sie sorgfältig auf ein Stück Papier. Gödeli hatte Glück. Sein Vater stand auf gutem Fusse mit dem Wagner und so durfte er in dessen Werkstatt arbeiten. Zuerst begann er mit den Brettern für die Ladefläche, das Brügeli. Das gelang ihm ganz gut. Dann kamen die Sprossen an die Reihe, die in regelmässigen Abständen senk recht an den Rändern der Ladefläche angebracht und oben mit ei nem Rundholz verbunden wurden. Zum ersten Mal arbeitete Gödeli an einer Drehbank. Wenn die Späne flogen, kniff er die Augen zu sammen. Manchmal war er mit Holzstaub so voll gepudert, dass er fast aussah wie ein Schneemann. Er war ein eifriger Geselle, liebte den Geruch von trockenem Holz, von bissigem Riemenharz und das aufsteigende Räuchlein, wenn der Meister einen erhitzten Eisenreif über eine Felge schlug. Es machte ihm Spass, seine Hände zu ge brauchen. Er lernte leicht, musste aber auch Enttäuschungen in Kauf nehmen, dieses oder jenes Stück Holz zuschanden hauen und sich mehrmals in die Finger schneiden. Unter Gödelis Fingern und des Meisters Augen entstanden nach und nach alle Teile für sein Leiterwägeli. Ausser die Räder. Dass durch Menschenhände über

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Die gerundeten Elemente der Felgen wurden einzeln ausgesägt und danachGödelizusammengefügt.warfroh,dassder

27 haupt solche Kunstwerke entstehen konnten, kam für Gödeli einem Wunder gleich. Um diese Kunst zu erlernen, brauchte es viel Ge schick, Augenmass und Geduld. Schon die Dreharbeiten für die Nabe aus Eichenholz verlangten nach einer Fingerfertigkeit, die für man chen studierten Plagöri so unerreichbar gewesen wären wie der Mond für einen Hund. Mochte er bellen, wie er wollte. Die rechtecki gen Vertiefungen für die Speichenverankerungen mussten haarge nau passen und in exakten Winkeln von Hand eingearbeitet werden.

Korber Willy noch vier ausgediente Rä der im Schuppen hatte und ihm zur Verfügung stellte. Aber eines Tages würde er, Gödeli Pfeuti, selber ein Rad bauen. Dessen war er sich sicher. Es kam die Stunde, in der das Wägeli fertig wurde. Gödeli be trachtete es, erfüllt von einem Gefühl, wie es ein Mann am Tage des Ritterschlages verspürt haben mochte. Auch Willy staunte nicht schlecht, als er am Vortag des Marktes sein neues Gefährt geliefert bekam. Mit zusammengezogenen Brauen und gespitzten Lippen be gutachtete er das Werk. Dabei wippte er mit dem Kopf auf und ab, als hätte hier jemand das Rad neu erfunden.

Aus Gödeli wurde Gottfried, der Wagner von Muri. Ein Büezer, wie ihn Gölä nicht besser hätte beschreiben können. Auf dem goldenen Boden seines Handwerks konnten später sogar noch seine Nach kommen weiter bauen. Er kaufte nämlich für seine Söhne, Gottfried den Zweiten und Hans, den «Schützen», den Gasthof zum Schütz in Oppligen. Dort wurde 1938 Gottfried der Dritte geboren, Göläs Vater.

Belanglosigkeiten, wenn man das Auge darauf

Auf der ganzen Welt wird geträumt. Träume werden geboren, ge hegt und gepflegt. Manche werden still gehütet, andere laut hinaus posaunt. Träume müssen schweben wie Seifenblasen, sonst platzen sie. Die meisten platzen irgendwann. Nur wenige werden wahr. In Amerika scheinen Träume besser zu überleben als andernorts und wer wissen will, weshalb Marco Pfeutis Traum überlebt hat, der sollte nach Oppligen gehen. Denn Amerika fängt gleich hinter Opp ligen an, East Riverside, bei der Autobahn. Mindestens für Gölä. Dort ist er aufgewachsen, in einem Gasthof an der Landstrasse, aus serhalb des kleinen Nestes zwischen Thun und Bern. Fast wie ein Truck-Stop oder ein einsames Motel irgendwo an einem amerikani schen Highway. Dort haute sein Vater einst die XXL-Steaks in die Pfanne und seine Mutter füllte die Gläser. Dort spülten die Lastwagenfahrer den Staub aus der Kehle und manchmal auch von der Seele. Auf der anderen Seite der Strasse, gegenüber vom Restau rant, war der Parkplatz. Ein Abstellplatz mit festgefahrenem Natur boden und Schotter. Bei Regen matschig und voller Pfützen, bei Trockenheit eine Staubwüste. Hier standen Brummer, die Buben herzen höher schlagen liessen. Der Stoff, aus dem Träume wurden. Langhauber wie der legendäre Saurer 2DM, Kipper, Holztrans porter, solche mit Betonmulden, aber auch modernere Fahrzeuge wie Sattelschlepper. Seit frühster Kindheit hatte Gölä Lastwagen gesehen. Sie waren unterwegs zu Baustellen oder zu fernen Gren zen und darüber hinaus. Sie gehörten zu seinem kleinen Amerika, waren Symbole für Aufbruch, Unterwegssein und Bewegung. Un zählige Geschichten gingen dort vor sich. Alle auf einmal. Drinnen in der Gaststube, draussen auf dem Parkplatz und auf der Strasse. Bedeutungsvolle

28 Klein Amerika

29 richten wollte. Gölä wollte. Zu verlockend waren die Versprechen der Landstrasse, der man nur folgen musste, wenn man auf die an dere Seite kommen wollte. Das hatte er von den Fahrern gelernt. Aber auch von den Liedern, die drinnen aus der Jukebox tönten, wenn einer eine Münze einwarf. Die Lieder waren irgendwie auch Strassen, nahmen einen mit auf die Reise. Zum Beispiel Elvis. Bei ihm ging es immer ums Ganze. Er sang wie vom Olymp herab und es war ihm ernst. Seine Stimme brachte die Wände zum Wackeln. Er konnte fies klingen wie ein Berufsverbrecher und dann wieder sanft wie ein Tautropfen auf einem Rosenblatt. Es wird erzählt, dass sich Klein Gölä jeweils ganz dicht vor dem Radio hinkniete, wenn ein Elvis-Song gespielt wurde. Bob Dylan wiederum wies jenen den Weg, die keinen Ausweg mehr sahen: Highway 61. Dorthin, wo einst Robert Johnson dem Teufel begegnete. Man musste Dylan nicht ver stehen, um ihn zu verstehen.

Die Jukebox bot alles, was damals musikalisch von Bedeutung war. Rock, Pop, Schlager, Country und Ländler. Monatlich kam ein Typ vorbei und wechselte das Sortiment der Jukebox. Gölä erhielt die al ten Platten, die dann in seinem Zimmer auf und ab gespielt wurden. Mit einer deutschen Version des Bellamy-Brothers-Hits «Let your love flow» stürmte Jürgen Drews 1976 die Schweizer Hitparade. Auch da wieder die Strasse: «Sommerabend, über blühendem Land, schon seit Mittag stand ich am Strassenrand. Bei jedem Wagen, der vorüberfuhr, hob ich den Daumen. Auf einem Fahrrad kam da ein Mädchen her …»

Dann gab es noch Les Étoiles, die Tanzkapelle aus Oppligen. Einmal im Jahr wurde hinter dem «Schützen» ein Festzelt aufgestellt. Tra ditionsgemäss spielten dort Les Étoiles auf. Uniformiert in lila Hemden aus Seide und mit schwarzen Bügelfaltenhosen, versuchten sich die

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