Science-Fiction aus China wird weltweit immer populärer. Zugleich bewegen sich die Autor_innen ständig am Rande verbotener Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Von Felix Lee
G
iftige Dämpfe steigen aus dem Müll auf. Es haben sich längst ganze Berge von alten Monitoren, Virtual-Reality-Brillen und Cyber-Implantaten gebildet, aus denen abgerissene Kabel hängen. Kinder in Lumpen durchsuchen die ölverschmierten Industrieabfälle nach verwertbaren Metallen und Mikrochips. Der Nachschub stockt nie, denn der Elektroschrott der gesamten Welt wird auf dieser Insel recycelt. Diese Vision entwirft der Science-Fiction-Autor Chen Qiufan in seinem Roman »Die Siliziuminsel«, der 2019 auf Deutsch erschienen ist. Die Insel, irgendwo im Südwesten Chinas, ist zwar ausgedacht, für den düsteren Schauplatz gibt es allerdings ein reales Vorbild. Es ist zwar keine Insel, liegt aber ebenfalls im Südwesten Chinas: In der Gemeinde Guiyu in Chens Heimatprovinz Guangdong befindet sich tatsächlich die größte Elektronikschrotthalde der Welt. Science-Fiction aus China wird derzeit weltweit viel gelesen. Das hat auch mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Genres zu tun. Die Handlung in Romanen wie dem von Chen Qiufan ist frei erfunden. Doch wie in den meisten Science-Fiction-Geschichten geht es um aktuelle und höchst irdische Probleme. Deren literarische Behandlung wird in China zwar durch die Zensur eingeschränkt. Doch im Kontext der Fantastik lässt sich doch manches thematisieren, was normalerweise nicht durch das Netz der Aufseher_innen käme. Die chinesische Science-Fiction fühlt sich besonders real an, denn das Land mit seinen vielen modernen Städten und technischen Neuerungen ist ein idealer Nährboden für futuristische Geschichten. Zugleich kämpfen viele der Charaktere, die etwa Chen in seinen Romanen beschreibt, mit dem rasanten technologischen Wandel und seinen gesellschaftlichen Folgen. Im Ausland werden diese Werke daher zuweilen auch als »Science-Fic-
Kritische Science-FictionRomane werden auch in der Volksrepublik millionenfach verkauft. 60
tion Reality« bezeichnet, auch wenn einige der Autor_innen dieses Label nicht mögen, weil sie befürchten müssen, ihre Werke könnten in ihrem Heimatland verboten werden. Chen ist nicht der einzige chinesische Science-Fiction-Autor, dessen Werke unter diese Bezeichnung fallen. In Liu Cixins berühmtem Roman »Die Drei Sonnen«, dem ersten Band der »Trisolaris«-Trilogie, geht es vordergründig um eine chinesische Astrophysikerin, die als erster Mensch einem außerirdischen Pazifisten vom Planeten Trisolaris begegnet. Weil dessen Zivilisation vor der Zerstörung steht, will sie die Erde zu seinem neuen Lebensraum machen. Der Hintergrund der Astrophysikerin ist aber äußert real, nämlich eingebettet in die Kulturrevolution in den späten 1960er Jahren. Die Protagonistin muss mit ansehen, wie ihr Vater, ein angesehener Akademiker, von vier Rotgardistinnen zu Tode geprügelt wird und sich sowohl ihre Mutter – aus Angst – wie auch ihre jüngere Schwester – aus Eifer – für seine Hinrichtung aussprechen. Was Autor Liu in seinem Roman beschreibt, hat es in der Volksrepublik so oder ähnlich zehntausendfach gegeben. Nachdem 2014 die englische Übersetzung erschien, erhielt Liu als erster asiatischer Autor überhaupt einen Hugo-Award, einen der wichtigsten Science-Fiction-Literaturpreise. Auch Barack Obama nannte den Roman eines seiner Lieblingsbücher. Liu Cixins Erfolg rückte die Subkultur der chinesischen Sci-FiAutor_innen ins Rampenlicht. Zu diesem Kreis gehört auch Hao Jingfang, die für ihre Erzählung »Peking falten« ebenfalls einen Hugo-Award gewann. Darin ist die chinesische Hauptstadt aus Platznot in drei Sektoren unterteilt, die sich mittels einer raffinierten Konstruktion zusammenfalten und in der Erde versenken lassen. Ein strenger Plan sorgt dafür, dass immer nur ein Sektor entfaltet wird, damit die Menschen darin ihren Tätigkeiten nachgehen können. Kontakte über die Sektorengrenzen hinweg sind streng verboten. Der Protagonist ist ein Müllarbeiter im dritten Sektor, der es wagt, in die abgeschirmte erste Zone – das Peking der Reichen – zu reisen. Ist das eine Anspielung auf die enorm gewachsene Ungleichheit in der Hauptstadt eines Landes, das sich offiziell noch als kommunistisch bezeichnet? Auch Hao Jingfang bringt in ihrem Werk erstaunlich viel Sozialkritik unter. Noch konkreter als Liu Cixin wird Wang Jinkang mit seinem jüngsten Roman »Die Kolonie«. Auch er greift die Zeit der Kulturrevolution auf. In seinem Roman trifft eine Studentin, die zur Umerziehung aufs Land geschickt wurde, erneut auf ihre Jugendliebe. Gemeinsam fassen sie einen Plan: Sie wollen ein Ameisenserum an den Menschen testen, um sie kooperativer zu machen und blutige Wirren zu beenden. Es überrascht, dass diese Science-Fiction-Romane auch in der Volksrepublik millionenfach verkauft werden dürfen. Ins-
AMNESTY JOURNAL | 04/2021
Foto: Patrick Durand / dpa / pa
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