Reden, erinnern — Tobias Rüther über Yasmina Rezas jüngsten Roman »Serge«
Die Poppers, eine Pariser Familie: Marta, die Mutter, eine Budapester Jüdin, hat mit ihren Eltern als kleines Mädchen den Holocaust in Ungarn überlebt. Edgar, der Vater, ein Wiener Jude, hat seinen Vater, seine Großmutter und seine Tante in Theresienstadt verloren. Edgar träumt von Israel und malt es sich in den herrlichsten Farben aus. Marta will niemals
72
mehr Opfer sein und deswegen nichts von Israel wissen, weil es der Welt die unauslöschliche Narbe des Massenmords vorhalte. Serge, Jean und Nana, die Kinder von Marta und Edgar, wachsen mit Geschichten ihrer Familie auf, die sie entweder nicht mehr hören können oder nie gehört haben, weil die Eltern sie ihnen nicht erzählt haben. Andererseits haben die Kinder auch nicht danach gefragt, z. B. nach den ungarischen Verwandten ihrer Mutter, die in Auschwitz umgebracht wurden. Und als erst Edgar stirbt und später dann auch Marta, will deren Enkelin, Joséphine, Serges Tochter, mit ihrer ganzen Familie nach Auschwitz reisen. Was den Familiensinn der Poppers auf die Probe stellt. Und darum dreht sich, im Kern, Yasmina Rezas Roman, dem die französische Dramatikerin den Titel »Serge« gegeben hat. Er passt ja auch – weil dieser Serge für seinen jüngeren Bruder Jean, der uns diese Geschichte erzählt, die Hauptfigur in der eigenen Familie ist. Jean findet seinen Bruder Serge einfach interessant, diese hochfahrende Art, die Selbstsicherheit, das Unbelehrbare, die unterhaltsamen Fehler und den sex drive. Nana dagegen, die Schwester der beiden, hat einen spanischen Mann geheiratet, was ihre Brüder einfach nicht verwinden können, weil sie Ramos für einen Trottel halten, ihm aber auch nie eine Chance gegeben haben, dazuzugehören zu ihrer Familie. Der es zwar an Wärme mangelt, aber nicht an Hitzigkeit und Selbstbewusstsein. »Serge« also heißt dieser Roman. »Familie« h ätte auch zu den intelligenten Perspektivverschiebungen der Geschichte gepasst, die Reza mit autobiografischen Elementen angereichert hat. So wie sich in ihren gefeierten und oft gespielten Dramen, etwa in
Tobias Rüther studierte Geschichte und Literatur in Berlin und St. Louis. Er war Textchef des Magazins Monopol, Redakteur der F.A.Z. und leitet seit 2020 das Literaturressort der Frankfurter Allgemeinen Sonntags zeitung.