HEUREKA 5/21

Page 1

HEUREKA #52021 BILDUNG

NACH DER PANDEMIE

FOTO: KARIN WASNER

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2820/2021

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Anspruchsvoll scheitern Unser Bildungssystem, gut finanziert und ambitioniert, scheitert am Schulalltag Seite 12

Ist der Lehrplan erneuerbar? Schule bereitet auf eine ungewisse Zukun° vor – wie viel Experiment ist da möglich? Seite 14

Down and out an der Uni Viele der Studierenden haben ihre Universität oder FH noch nie von innen gesehen Seite 16


Das FALTER-Abo mit Würfeluhr Ab € 324,– inklusive Würfeluhr fürs Handgelenk. Verschiedene Ausführungen.

faltershop.at/abo


IN TRO D U K TIO N   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  3

CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

:  E D I TO R I A L

Erlebnis Uni Die Erde aus der Polposition  Seite 8 Der Klimawandel verändert die Erde – und eine neue Weltkarte unseren Blick auf sie

Big Data gegen Covid & Co.  Seite 9 Kopf im Bild  Seite 4

FOTOS: ANDREAS FRIEDLE, KARIN WASNER

Markus Möst vom Institut für Ökologie der Universität Innsbruck untersucht öko-evolutionäre Dynamik an Wasserflöhe

Eine mathematische Methode, um drohende ­Epidemien oder Pandemien frühzeitig aufzuspüren

Down and out an der Universität  Seite 16

Schule für eine ungewisse Zukunft  Seite 14 Lockdown und Distanz­ unterricht als Ansporn, den Lehrplan neu zu denken

Befragungen an Universitäten zeigen, dass sich Schüler*innen und Studierende seit Corona vermehrt psychologische Unterstützung wünschen

Hoffnung im Wintersemester  Seite 20 Ambitioniert, aber am Alltag scheiternd  Seite 12 Die Schulrealität und ihre ­Probleme werde durch die Pandemie nicht einfacher

Das Krisenmanagement der Hochschulen in der vierten Corona-Welle

Wissenschaft ist Politik   Seite 22

Über den gescheiterten ­Versuch, Wissenschaft und Politik sauber zu trennen

Die vierte Welle macht es schlimmer  Seite 18 Eine Studie über die CoronaFolgen bei jungen Menschen in der Schweiz

Ein neues Wort ist im tertiären Bildungsbereich aufgekommen: „Universitätserlebnis“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, es benennt lediglich den Wunsch der Studierenden und Lehrenden nach einer Begegnung in einem Hörsaal, um dort belehrt zu werden oder vortragen zu können. Früher hätten Studierende dies kaum als Erlebnis beschrieben, aber damals wusste man auch nichts von den Folgen einer Pandemie. Theoretisch schon, aber wer nimmt schon an, dass wissenschaftliche Theorie einmal Wirklichkeit werden und Universitäten oder Hochschulen betreffen könnte? So haben wir aus der Misere etwas gelernt. Tröstliches sogar: Wir schätzen den persönlichen Umgang miteinander auch beim Lernen und in Institutionen wie Schulen oder Hochschulen. Vielleicht wird uns wie vielen Wissenschaftler*innen die auf ihre Kongresse verzichten mussten, sogar klar, dass nicht die Wissensvermittlung, sondern der persönliche Austausch für den Fortschritt der Wissenschafte ­entscheidend ist. Nein, nicht widersprechen. Sonst kommt der nächste Lockdown mit Wissensvermittlung via Zoom und E-Mail und dauert so lange, dass schließlich nur noch künstliche Intelligenz sich über die Zukunft der Menschen austauscht.

:  G A ST KO M M E N TA R

Die Zukunft der Wissenschaftsberatung

FOTO: UNIVERSITÄT BASEL

ANTONIO LOPRIENO

Der Österreichische Wissenschaft rat befasst sich aktuell zum einen mit der Internationalisierung österreichischer Hochschulen im Sinne der Rahmenbedingungen und strategischen Ausrichtung sowie auf Ebene der Studierenden und Forschenden. Zum anderen beleuchtet er den Status quo der Informatik in Österreich, um daraus Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Feldes abzuleiten. Nicht zuletzt scheint mit dem Jahreswechsel der Zeitpunkt ­erreicht zu sein, die Beratungsstrukturen in Fragen der Wissenschaft, Forschung und Innovation neu zu ­regeln. ­Hierauf möchte ich im ­Folgenden eingehen. Institutionelle Änderungen in unserer Hochschullandschaft, vor allem aber die digitale Transformation und nun die Pandemie, haben dem klassischen Betrieb der Wissenschaftsberatung zugesetzt. Das traditionelle Modell eines regelmäßig

tagenden Gremiums von Fachleuten, die sich wie im Falle des ÖWR mit mittel- bis längerfristigen Fragen einer nationalen Wissenschafts oder Innovationslandschaft befassen, stößt an seine Grenzen, weil politische Entscheidungsträger*innen im ­nationalen wie europäischen ­Kontext auf raschere Reaktionszeiten angewiesen sind. Während der Pandemie hat sich etwa weithin das Modell einer interdisziplinären Taskforce durchgesetzt: Zur Vorbereitung und Begleitung politischer Entscheidungen werden Expert*innen in den einschlägiAntonio L­oprieno, Präsident des Österr. Wissenschaftsrates und der Akademien der Wiss. Schweiz

gen Bereichen zu einem temporären ­Gremium berufen. Somit stecken gegenwärtige Beratungsgremien in einem Dilemma: Zwar sollen Empfehlungen jene Standards der Qualitätssicherung einhalten, die bisher kennzeichnend für solche Gremien sind, jedoch ­erfordert dies Zeit für empirische Vorstudien sowie eine minimale Größe zur Durchführung einer Peer-Review, ohne die die formulierten Empfehlungen ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit einbüßen würden. Andererseits erwarten Öffentlichkeit und Politik von der wissenschaftlichen Community schnelle Reaktionszeiten, insbesondere für die Bewältigung einer Krise, gerade im Hinblick auf jene empirisch fundierten Entscheidungen, die für eine Wissensgesellschaft wie unsere fundamental sind. Worauf ich hinaus will: Das ideale Beratungs­ gremium benennt Handlungsbedarf

initiativ und ist stets ansprechbar; es hat das System im Auge, zeigt langfristige Perspektiven auf und kann zugleich unmittelbarer auf aktuelle Notwendigkeiten reagieren; es hat die Wissenschaft im Zentrum, ohne weitere Teilbereiche der Gesellschaft in seinen Arbeiten außen vor zu lassen; kurzum: ein Rat als eierlegende Wollmilchsau. So könnte eine Lösung in der Kombination beider Modelle bestehen: Ein potenzielles wissenschaftliches Beratungsorgan könnte aus ­einer relativ kleinen Zahl ständiger Mitglieder bestehen, die sich jedoch für die Formulierung ihrer Empfehlungen von Fall zu Fall von einem erweiterten Kreis wissenschaftliche (und ggf. wirtschaftlicher) Peers begleiten lassen. Zweifellos wäre damit nicht besagtes Tier geboren, doch wären damit wissenschaftliche Zuverlässigkeit, inhaltliche Flexibilität und zeitliche Agilität gewährleistet.


4  FALTER 39/21   H EUR EKA  5/21  :  P ERSÖNLIC H K E ITE N

:  KO P F I M B I L D

Wasserflöhe Für schlüssige Prognosen zum globalen Wandel und zur Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen braucht man mehr Wissen über das Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die das Ökosystem stressen. Dazu möchte Markus Möst vom Institut für Ökologie der Uni Innsbruck beitragen. Mit den Mitteln des START-Preises, mit dem ihn der Wissenschaftsfonds FWF im Juni auszeichnete, untersucht er öko-evolutionäre Dynamiken anhand von Wasserflöhen. „Diese Organismen sind ein zentrales Element des Nahrungsnetzes. Darum lassen ihre Reaktion auf Stressoren Rückschlüsse auf den Zustand aquatischer Ökosysteme zu“, sagt der Osttiroler. Entgegen ihrem Namen sind die Winzlinge Krebstiere. Wegen überdüngter Gewässer haben sich in der Vergangenheit unterschiedliche Arten gekreuzt, was zu genetischen Veränderungen führte. Nun sind sie Hitzewellen ausgesetzt. „Mich interessiert, wie diese ökologischen und evolutionären Prozesse einander im Lauf der Zeit beeinflussen.“

TEXT: USCHI SORZ FOTO: ANDREAS FRIEDLE

:  J U N G FO RS C H E R* I N N E N   USCHI SORZ

Jessica Schirl, 30 Wie hängen Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/ yperaktivitätsstörung (ADHS) und familiäre Konflikte zusammen? „ADHS gehört zu den häufig ten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter“, sagt die Oberösterreicherin. „Die damit einhergehende Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität wirken sich nicht nur auf das betroffene Kind, sondern die ganze Familie aus.“ In Hinblick auf die Entstehung und den Verlauf von ADHS lege die Forschung den Fokus auf genetische und neurobiologische Faktoren, während der Einflu s der Familie weniger Beachtung finde. „Ich möchte untersuchen, inwiefern familiäre Konflikte in Interaktion mit genetischer Veranlagung eine Rolle spielen.“ Die gewonnenen Erkenntnisse könnten familiäre Präventions- und Interventionsmaßnahmen ergänzen und Betroffene unterstützen.

Achilleas TsarpalisFragkoulidis, 27 Der gebürtige Athener wusste schon mit 13, dass er Psychologie studieren wollte. „Es ist spannend, wie viele Faktoren unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten beeinflu sen“, sagt er. „Die Forschung ermöglicht es, sie systematisch zu analysieren und so anderen zu helfen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.“ Nach dem Bachelor und Master an der Universität Wien beschäftigt er sich in der Dissertation mit sozialer Angst in der Adoleszenz. Sein Interesse an der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde bei Praktika in einer psychiatrischen Abteilung und im klinisch-psychologischen Bereich geweckt. „Ob Kritik oder Komplimente, sozial ängstliche Personen fürchten sich vor Bewertung. Ich möchte besser verstehen, wie die Ängste ent­ stehen und den Umgang mit Gefühlen prägen.“

Rahel Lea van Eickels, 28 „Meine Forschung dreht sich um die Entwicklung über­ mäßigen Schamgefühls bei Jugendlichen“, erklärt die aus Deutschland stammende Doktorandin. „Ein wenig beachtetes Thema, das aber in der klinischen Praxis wichtig ist.“ Besonders interessiert sie, welche Aspekte der Familien­ beziehungen zu Scham führen, wie diese soziales Denken beeinflu st und zu psychischen Problemen beiträgt. „In geringem Maß ist Scham ja nützlich, quasi als Rückmeldung über unser Verhalten in einem sozialen Gefüge aus Normen und Regeln“, unterstreicht sie. „Empfinde man sie aber übertrieben oft, leidet das Selbstbild schwer darunter.“ Für ihr Fach entschied sie sich, weil sie verstehen wollte, was Menschen bewegt. „Warum denken wir, wie wir denken? Warum handeln wir manchmal irrational? Und warum entsteht psychisches Leid?“

FOTOS: PRIVAT, ALEXANDER RAUSCHER

Am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien erforschen diese drei Doktorand*innen psychosoziale Risikofaktoren im Kindes- und Jugendalter


KO M M E N TA R E   :   H EU R EKA  5/21   FALTER 39/21  5

CHRISTOPH PONAK

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Windbeutel

Was zu lernen ist

Wahrscheinlich

Würden Sie den Kommentar lesen, wenn er mit „Der Weltklimarat veröffentlichte …“ begonnen hätte? Zu vertraut klingt dieser Start einer Kolumne, auf paradoxe Weise akut und repetitiv zugleich. Das Problem ist bekannt, das Tempo, mit dem es auf uns zukommt, die Schwere, Häufigkei und teils auch die Natur der bereits eingetretenen und noch zu erwartenden Folgen werden laufend angepasst. Entscheidungsträger*innen sind flexibel: Jedes Mal, wenn wir fünf Jahre später dran sind, um entschieden gegen den Klimawandel vorzugehen, werden auch unsere Ambitionen um den entsprechenden Betrag ambitionierter. Unter anderem in Österreich stellt man sich zu einem großen Teil hinter einen Aspekt der Technik, der allen Österreicher*innen Absolution verspricht, was ihren eigenen Lebensstil betrifft: erneuerbare Energieformen. Das Erneuerbaren-Ausbau-­ Gesetz sieht vor, dass 27 TWh/a zusätzlich erneuerbar bereitgestellt werden – und das bis 2030. 10 TWh/a davon sollen aus Windkraft stammen. Das entspricht bei ca. 2.000 Volllaststunden einer Leistung von etwa 5.000 MW und damit knapp 1.700 Windrädern – mehr als der heutige Bestand in Österreich. Und nur unter der Annahme, dass die durchschnittliche Leistung der neu gebauten Anlagen bei drei MW liegt. Bei der momentanen Ausbaurate (74 Anlagen sind 2021 geplant, sieben Anlagen wurden 2020 gebaut) würde man dafür 23 Jahre benötigen, mit dem Ausbautempo von 2020 240 Jahre. Die Zahlen weisen eine enorme Divergenz zur Realität auf. Es ist nicht absehbar, dass die Ambitionen Wirklichkeit werden, wenn die Ernsthaftigkeit, mit der ihre Umsetzung erfolgt, nicht massiv ausgebaut wird. In einem größeren Kontext geht es jedoch darum, dass 27 TWh Erneuerbare ein netter Beitrag wären, jedoch weder der Größenordnung des Problems noch den Möglichkeiten Österreichs entsprechen. Wir können es uns nicht leisten, selbst sehr niedrig gesteckte Ziele zu verfehlen. Technik und Innovation werden ihren Beitrag liefern müssen, ­darunter auch Erneuerbare. Wir sind jedoch so tief in der Krise, dass es Disruptionen technischer Lösungen und einen begleitenden Systemwandel braucht. Gefährlich ist, wenn wir uns auf einzelne Lösungen als „silver bullets“ konzentrieren und das Problem des fortschreitenden Klimawandels schon als durch sie gelöst betrachten.

„Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“, skandierten einst die DDR-Kommunisten, um ihrem großen Vorbild Stalin nachzueifern. Und sie haben gesiegt – auf einer sehr komplexen Ebene. Denn mag auch die Luftburg des realen Sozialismus in Europa eingestürzt sein, so leben seine Ideen seit dem Zivilisationsbruch von 1917 ff. munter fort und tun das in verschiedenen Aberrationen wohl auch noch in der Zukunft „Meine letzte Hoffnung ist China“, hörte ich anno 2017 in einem intimen Kreis einen hochbetagten österreichischen Wirtschaft experten einem ebensolchen Sozialwissenschaftler zuraunen, der als ­Antwort eifrig nickte. Auf ihre ­alten Tage blieb den zwei antiken Marxisten nichts anderes mehr als die Sehnsucht nach einem perfide totalitären System, dem kapitalistisch getarnten Mao-Aufguss, nur um die verhasste freie Marktwirtschaft fallen zu sehen. Solche Reflexe werden unseren Schülern und Studenten jederlei Geschlechts weiter antrainiert, und die Pandemie begünstigt es noch, da in der digital gestützten Vereinzelung der Jugend die Begehrlichkeit nach radikalen Kulturrevolutionen umso leichter genährt werden kann. Dabei wird die Erinnerung an systemimmanente Verbrechen des Kommunismus von seinen ­Adepten bewusst ausgeblendet  –

: K L I M AT EC H N O LO G I E

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

:  F R E I B R I E F

unter Diskreditierung jener, die noch wissen, wovon sie reden. Aber was muss man schon wissen, was erinnern? Was ist zu lernen, gerade in Krisen? Eine solche herrschte sicherlich schon irgendwann in Urzeiten unter den hungrigen Hominiden, bis ein Schlaukopf draufkam, dass man die ­Kanten des Faustkeils scharf statt rund anlegen muss – Krise vorbei! Die alten Griechen gaben ­während der Perserkriege über Generationen das Wissen weiter, dass Freiheit (Eleutheria) darin besteht, ­ungestört nach den Sitten der ­Alten leben zu dürfen, und sie richteten sich danach. Den Enzyklopädisten um Diderot und D’Alembert war klar, dass ihr Nachschlagewerk ­neben Gesellschaftskritik im Absolutismus auch die Anleitung zum Knüpfen von Schiffsknoten enthalten muss, die Allgemeinbildung war geboren – Wachstums­potenzial unbegrenzt! So merkte der österreichische Computerpionier und Schöpfer des „Mailüfterls , Heinz Zemanek, einmal so trefflic an, dass wir eigentlich nichts wissen, sondern uns nur daran gewöhnt haben. Das Lernen in und nach der ­Corona-Pandemie wird genauso spektakulär glücken und misslingen wie alle Krisenprogramme. Wär’ halt fein, wenn es in humanistischen Bahnen und frei von verqueren Ideologien ablaufen würde.

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

:  F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

Wenn ich im Kaffeehaus erwähne, dass es wahrscheinlich sonnig wird, ist das nicht sonderlich interessant, aber zumindest keine schwer zu verstehende Aussage. Wenn aber der Weltklimarat in seinem aktuellen Sachstandsbericht schreibt, dass jedes der Jahre zwischen 2015 und 2020 wahrscheinlich wärmer war als irgendein anderes Jahr seit Beginn der Messungen, ist das nicht nur eine sehr relevante Aussage, sondern auch eine, die man analysieren muss. Das „wahrscheinlich“ (im Original „likely“) hat in den Sachstandsberichten des Weltklimarates nämlich eine sehr viel spezifi chere Bedeutung als in unserer Alltagssprache. Wird dort das Wort „likely“ ­verwendet, haben zuvor ­Hunderte Forscher*innen die entsprechenden Daten untersucht, statistisch evaluiert und sind gemeinsam zu dem Schluss gekommen, dass die Aussage mit einer Wahrscheinlichkeit von 66 bis hundert Prozent korrekt ist. Hätte die Bewertung eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 95 Prozent ergeben, ­würde ­„extremely likely“ im Text stehen, bei weniger als 33 Prozent hätte man „unlikely“ verwendet. Es gibt insgesamt zehn entsprechende Begriffe, um Wahrscheinlichkeiten ­auszudrücken, und dazu noch fünf weitere, die das ebenfalls ­evaluierte Vertrauen in die den Aussagen zugrundeliegenden ­Daten beschreiben. Diese kalibrierte Sprache macht die Berichte des Weltklimarates ­bedeutend. Dort steht nichts einfach nur so. Jede Aussage basiert auf ­einem langen Bewertungsprozess und ist das Resultat eines Konsens der gesamten Klimaforschung. Die Wissenschaft spricht hier mit einer Stimme. Wenn diese Stimme aber auch außerhalb der Forschung gehört werden will, darf sie nicht darauf vertrauen, dass die Öffentlichkei ihre Sprache ohne Weiteres versteht. Im Alltag stellen wir keine Berechnungen an, wenn wir sagen, dass etwas „wahrscheinlich“ ist. So wertvoll das Wissen über den Zustand unseres Klimas, das der Weltklimarat auf den Tausenden Seiten seines Berichts veröffen licht hat, auch ist: Wenn man keine Strategie entwickelt, es den Menschen auch verständlich zu machen, wird es nicht helfen. Die Notwendigkeit einer umfassenden Klimabildung der Bevölkerung muss man nicht erst in Zahlen fassen. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6  FALTER 39/21   H EUR EKA  5/21  :  NAC H R I C H TE N

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

:  STA AT S P R E I S

Ausgezeichnete Lehrende Die Preisträger*innen des Staatspreises Ars docendi 2021 JOHANNES MÖRTH

Um exzellente ­Hochschullehrende für ihre Leistungen zu würdigen, wurde 2013 der Preis Ars docendi eingerichtet. An seiner Ausrichtung sind neben dem Wissenschaftsmini terium die Universitätenkonferenz, die Fachhochschul-Konferenz, die Privatuniversitäten-Konferenz, die Rektorinnen- und Rektorenkonferenz der Pädagogischen Hochschulen und die Hochschüler*innenschaft beteiligt. Jährlich werden in fünf thematischen Kategorien Lehrkonzepte ausgeschrieben. Das Preisgeld beträgt pro Kategorie 7.000 Euro. 2021 haben gewonnen: Kategorie „Lernergebnisorientierte Lehr- und Prüfungskultur“: Denis Weger, Universität Wien. Kategorie „Digitale Transformation in der Lehre“: Michaela Nettekoven, Maria Krakovsky und Lukas Kowarsch, WU Wien. Kategorie: „Methoden des Distance Learning und deren nachhaltiger Einsatz“: Bernhard Spangl, Universität für Bodenkultur Wien. Kategorie „Kooperative Lehrund Arbeitsformen“: Johannes Nikolaus ­Rauer, Corinna Engelhardt-Nowitzki, Maria Cecilia Perroni, Horst Orsolits, FH Technikum Wien. Kategorie „Qualitätsverbesserung von Lehre und Studierbarkeit“: Paul Baumgartner, Sophie Steger, Dominik Mayrhofer, Christian Manfred Riener, Clemens Hagenbuchner, Daniela Hell, Ema Saletovic, Michael Christoph Kolm, Julia Christina Maier, Alexander Matteo Palmisano, Wendelin Angermann, Markus Embacher, Christoph Griesbacher, Maximilian Huber, Benedikt Joachim Kantz, Sophie Lennkh, ­Johannes Nieder­wieser, Reinhard Pichler, Anna Masiero, TU Graz.

:  G E N E T I K

:  M AT H E M AT I K

Wenn Mäusemänner mitten in der Schlafenszeit plötzlich Futter kriegen …

Die Analyse kleiner Studien

… und sich dann mit Partnerinnen paaren, sieht es für den Tagesrhythmus der Söhne schlecht aus

Aus wenigen Daten holt Georg Zimmermann viel Information

JOCHEN STADLER

USCHI SORZ

Die Samenflüssigkeit lässt nicht nur die männlichen Spermien zur weiblichen Eizelle strömen, sondern beeinflu st sogar das Verhalten der Nachkommen, fand der österreichische Biologe Maximilian Lassi bei Mäusen heraus. Ist die „innere Uhr“ bei den Vätern verstellt, haben nämlich auch ihre Jungen einen gestörten Tagesrhythmus, und das liegt nicht an den Samenzellen, berichtet er mit Kollegen im Fachjournal „Science Advances“. Lassi brachte bei Mäusemännern die innere Uhr durcheinander, indem er ihnen einen Monat lang mitten in der Schlafenszeit Futter gab. Dann ließ er sie mit Mausdamen paaren und untersuchte den Tagesrhythmus der Nachkommen. Vor allem bei den Söhnen war die innere Uhr verstellt. „Sie aßen oft in der Zeit, in der sie normalerweise schlafen, also genau um die gleiche Zeit, als ihre Väter immer gegessen hatten“, erklärte Lassi, der am

Institut für Experimentelle Genetik am Helmholtz Zentrum in München forscht. Je nach Uhrzeit unterschiedlich stark abgelesene Gene waren bei ihnen mit einer Zeitverschiebung von ungefähr sechs Stunden aktiv. Dadurch hatten sie einen veränderten

Maximilian Lassi, Helmholtz Zentrum München Tagesrhythmus. „Bei künstlich befruchteten Söhnen, wo wir die Samenflü sigkeit entfernt hatten und nur die Spermienzellen verwendeten, konnten wir diese Ergebnisse nicht bestätigen“, so Lassi. Das bedeutet, dass nicht die Spermien, sondern Substanzen in der Samenflü sigkeit den Jetlag verursachten.

:  FO RST W I SS E N S C H A F T

Der Klimawandel lässt die Wälder der Welt brennen Laut Modellberechnungen steigt die Waldbrandgefahr weltweit in den kommenden Jahrzehnten stark an JOCHEN STADLER

Der heurige Sommer brannte sich in viele Erinnerungen ein. Unkontrollierbare Feuer fraßen sich durch Baumlandschaften in Italien, Griechenland, Spanien, der Türkei, Sibirien und Kalifornien und wüten dort teils immer noch. Der Klimawandel wird die Brände in Zukunft weiter eskalieren lassen, sagt der Forstsystemexperte Florian Kraxner. Laut Modellberechnungen steigt die Waldbrandgefahr weltweit in den kommenden Jahrzehnten stark an. Zusätzlich werden die Feuer immer intensiver ausfallen. Vermindern könnte man solche Desaster nur, wenn man die Klimaziele von Paris endlich ernst nimmt und erfüllt. Kraxner hat mit Kolleg*innen am Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien ein Computermodell namens FLAM entwickelt. Die Wissenschaftler*innen berechnen damit bei verschiedensten Klimaszena-

rien und Bewirtschaftungsformen die Wahrscheinlichkeit für Waldbrände in den jeweiligen Regionen weltweit und schätzen ihre mögliche Ausdehnung, Intensität und Emissionen ab. Auch in Österreich steigt die Gefahr: „Laut unseren Berechnungen

Florian Kraxner, IIASA, Laxenburg nehmen die Wahrscheinlichkeiten, dass Feuer ausbrechen, als auch deren Brandfläche kontinuierlich zu“, berichtet Kraxner. In der alpinen Landschaft sind sie oft schwer zu bekämpfen. Reduzieren könne man die Gefahr durch Klimaschutz und angepasste Waldbewirtschaftung, unterstützt durch verbesserte Aufklärung

„Bei der Suche nach innovativen Behandlungen für seltene Erkrankungen gibt es Hürden zu überwinden“, sagt Georg Zimmermann. „Und natürlich gehört zu diesem interdisziplinären Unterfangen mehr als Statistik.“ Aber sie ist ein wesentlicher

Georg Zimmermann, Paracelsus Universität Salzburg Teil im medizinischen Forschungsund Entwicklungsprozess. „Zahlen sind letztlich die Basis dafür, dass die Fachwelt die Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Therapien beurteilen kann.“ Der 31-Jährige ist Biostatistiker und leitet ein Team am Intelligent Data Analytics (IDA) Lab Salzburg an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, einem Kompetenzzentrum für die Bereiche Data Science, maschinelles Lernen, Artificial Intelligence und Statistik. Sein Fokus liegt auf der Verbesserung statistischer Analysemethoden. Bei den seltenen Erkrankungen etwa besteht die Herausforderung darin, aus sehr wenigen Daten möglichst viel nutzbare Information zu gewinnen. „An Studien zu bestimmten Epilepsieformen oder zum Gendefekt Epidermolysis bullosa, an dem die Schmetterlingskinder leiden, nehmen oft nur zehn bis 15 Personen teil. Zur Auswertung derart geringer Datenmengen sind klassische statistische Methoden aber nicht gut geeignet.“ Zimmermann und seine Arbeitsgruppe entwickeln sie da­rum weiter oder schlagen in Fällen, wo die verfügbaren Verfahren unzureichend sind, neue Ansätze vor. „So wollen wir die Studien­ergebnisse belastbarer machen.“ Schon während des Mathematikstudiums war der Bad Ischler, der übrigens auch einen Bachelorabschluss in Altertumswissenschaften besitzt, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Statistik an der Universitätsklinik für Neurologie in Salzburg. „Die langjährige Kooperation mit Medizinern und anderen angewandten Wissenschaftlern hat mir die praktische Relevanz der Statistik vor Augen geführt. Mich als Grundlagenforscher fasziniert diese starke Interaktion zwischen Theorie und Praxis.“

FOTOS: FOTO HELMHOLTZ, PRIVAT, MATTHIAS SILVERI

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  5/21   FALTER 39/21  7

:  T EC H N O LO G I E U N D K L I M AWA N D E L

Erfolgreiche Technologie braucht Verbote Technologie soll uns im Klimawandel retten – aber sie verlangt eben auch einen Systemwandel, Einschränkungen und Verzicht JOHANNES SCHMIDL

Die Utopie vom guten Leben durch Technologie Der Begriff „Utopie“ bezieht seinen Namen vom kommunistischen Verzichts- und Gleichheitspamphlet „Utopia“ des Thomas Morus aus 1516. Es gibt aber noch einen zweiten Strang utopischen Denkens, der auf Francis Bacons Schrift „Nova Atlantis“ von 1627 zurückgeht. Deren Prinzip lautet: Wissen ist Macht, die Nutzung der Naturwissenschaften durch Technik wird uns allen materiellen Überflu s bescheren. Diese Idee war historisch wirkmächtiger als jene von Morus. Sie hat sich seit der industriellen Revolution durch technologische Entwicklungen erfüllt und den Menschen in den industrialisierten Ländern Wohlstand beschert. Ihre wichtigste Basis sind Technologien zur Nutzung fossiler Energieträger. Angesichts ihres historischen Erfolges ist es nicht verwunderlich, dass man auch die Lösungen für die Klimakrise von neuen Technologien erwartet. Politiker*innen werden nicht müde, deren entscheidende Rolle zu betonen. Im politischen Diskurs wird fallweise ein Scheinwiderspruch zwischen technischen Erfindungen und den Rahmenbedingungen konstruiert, die diese für die Marktentwicklung benötigen. Man wolle keine Einschränkungen und Verbote, keine verordnete Askese, sondern Innovation und Technologie, heißt es dann gern. Diese Aussage beruht auf einem grundsätzlichen Missverständnis. Denn Technologien bestehen nicht nur aus technischen Entwicklungen Johannes Schmidl, „Energie und Utopie“, zweite, aktualisierte Auflage, Sonderzahl. https://sonderzahl.at/product/ energie-und-­ utopie-2

und Innovationen, sondern wesentlich auch aus einer ermöglichenden Infrastruktur, aus Gesetzen, Regulierungen und, ja, Verboten. Um das Auto zu einem dominierenden Verkehrsmittel zu machen reichte die Erfindung des Diesel- oder Ottomotors nicht. Es brauchte mehr: Man baute Straßen, schuf das Verkehrsrecht, verbot das Fahren unter zu viel Alkoholeinflu s und mit zu hoher Geschwindigkeit, baute Straßenbahnnetze zurück und scheute für den Straßenbau nicht einmal Enteignungen. Verbote und Zwangsmaßnahmen für das Auto und seine Infrastruktur schränkten die Freiheit der Menschen ein, ermöglichten zugleich aber vielen auch ein Gefühl von Freiheit. Erfolg der Fotovoltaik auch durch Zwangsmaßnahmen Die Fotovoltaik, um zu einer Technologie des Klimaschutzes zurückzukehren, die man seit dem 19. Jahrhundert als physikalisches Phänomen kennt, wurde ab den 1950er-Jahren auf Satelliten eingesetzt. Dort war es egal, wie viel sie kostete: ein schachbrettgroßes Element viele Millionen Dollar. Dann folgten Taschenrechner und Armbanduhren, Spielzeug und netzferne Standorte auf Almhütten – alles ohne energiewirtschaftliche Relevanz. Erst die „deutsche Energiewende“ ließ ab der Jahrtausendwende viele Akteure einen stabilen Markt erwarten. Nun stiegen Industrie und Gewerbe weltweit in die Herstellung und die Installation der Module ein. Dazu kam ein gesetzlicher Rahmen, der Monopole aufbrach, Wirtschaftlichkeit durch verordnete Einspeisetarife ermöglichte usw. Ohne diese „Zwangsmaßnahmen“ würden heute nicht weltweit Solarkraft erke gebaut, die man vom Weltall aus sehen kann. Strom aus fotovoltaischen Großkraft erken ist wie der aus Windkraft erken heute günstiger als der aus Kohlekraft erken – lauter „alte“ Technologien. Ihnen ist auch gemein, dass ihnen erst maßgeschneiderte Rahmenbedingungen einen Markt für ihr Wachstum schufen. Technologien brauchen sichere Rahmenbedingungen, die den Akteuren in der Wirtschaft einen Markt versprechen. Bei der Verbreitung innovativer Technologien einen Gegensatz zwischen technischer Innovation und Regelungen und Verboten zu konstruieren, verkennt die Komplexität von Technologiediffusionen Die Hoffnung, innovative Technik würde unsere Probleme ohne begleitende Verhaltensänderungen und Rah-

menbedingungen lösen, erfüllt sich nur in Utopien. Utopisten aller Zeiten haben ideale Welten beschrieben, dabei aber wenig Aufwand betrieben, um zu zeigen, wie man dorthin gelangt: Die utopische Welt ist immer schon fertig. Ignoriert man Begleitmaßnahmen und Rahmenbedingungen für den Übergang in die bessere Welt, kommt man dort nie an, sondern bleibt in der Utopiefalle stecken. Dem australischen Coal ­Institute gelang es 2006, mit einem utopischen Technologieversprechen die Regierung von Regulierungen abzuhalten: Bis 2020, hieß es, würde etwa ein Viertel der CO2-Emissionen aus Kohlekraft erken durch Carbon-DioxidRemoval­-Technologien gesammelt und sicher in der Erdkruste gelagert werden. Kohle würde irgendwann klimaneutral, wenn man von Zwangsmaßnahmen gegen die Kohleindus­ trie absehe. Es waren dann 2020 statt dem versprochenen Viertel symbolische 0,2 Prozent: Politik in der Utopiefalle der Kohleindustrie.

Keine Zeit mehr, auf das Rettende zu warten Wir müssen bekannten und vielfach bewährten Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energie und der Energieeffizien so schnell wie möglich den Weg in den Markt eröffnen. Dafür braucht es entsprechende Gesetze und Verordnungen, Finanzierungsund Unterstützungsregime, begleitende Ausbildungs- und Beschäft gungsprogramme – und Verbote. Natürlich wird es neue technische Entwicklungen geben, die CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernen (Carbon Dioxid Removal) und im Laufe des 21. Jahrhunderts das 1,5°C-Szenario unterstützen. Doch für die Ziele, die wir bis 2030 erreichen müssen, kommen sie zu spät. Noch stammen 79 Prozent der weltweit verbrauchten Energie aus Kohle, Öl und Erdgas, die fossilen Energieträger erzeugen 87 Prozent der CO2-Emissionen. Wir haben keine Zeit mehr, auf rettende Innovationen zu warten. Daher ist ein Systemwandel notwendig.

Wissenschaft als Partner und Begleiter Um sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen, braucht es nicht nur Technologien, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen – soziale Innovationen. Das Team von POLICIES – Institut für Wirtschaftsund Innovationsforschung begleitet und evaluiert soziale Innovationen und unterzieht sie einem »Reality Check«. Das ist gerade für Programme, die Bildung und Forschung betreffen, enorm wichtig. Kontakt: juergen.streicher@joanneum.at | sybille.reidl@joanneum.at

www.joanneum.at/policies

prm ins 21618

Der neue Bericht des Weltklimarates IPCC stellt klar: Um die Erde nicht einer Erhitzung von über 1,5 °C auszuliefern, müssen die globalen CO2Emissionen – gemessen an denen von 2010 – bis 2030 um 45 Prozent sinken und 2050 bei null landen. Dazu muss ein seit 200 Jahren etabliertes System der Nutzung fossiler Energie durch ein anderes ersetzt werden, das auf Sonne, Wind und Wasser, Bioenergie und Geothermie basiert.


8  FALTER 39/21   H EUR EKA  5/21  :  NAC H R I C H TE N

Die Erde aus der Polposition Der Klimawandel verändert die Erde – und eine neue Weltkarte unseren Blick auf sie INTERVIEW: LISA KRAMMER

arel Kriz, Professor für Kartographie und Geoinformation, und Alexander Pucher, Lektor in diesen Fachgebieten, arbeiten am Institut für Geographie und Regionalforschung an der Universität Wien. Herr Kriz, welche Bedeutung haben Kartographie und Geokommunikation in der Informationsgesellschaft? Karel Kriz: Praktisch alle Nachrichtenmeldungen über kriegerische Auseinandersetzungen, Migrationsströme oder globale Wirtschaft dynamiken sind eng an eine räumliche Verortung gekoppelt. So macht der Blick auf eine Karte ein Problem oft erst verständlich. Man geht heute davon aus, dass mehr als neunzig Prozent der Informationen, mit denen wir Tag für Tag konfrontiert werden, einen räumlichen Bezug haben. Die zwischenmenschliche Kommunikation ebenso wie die Interaktion zwischen Mensch und Maschine beruhen auf dem Austausch von Informationen mit inhaltlichen, aber auch räumlichen und zeitlichen Aspekten. Um der Bedeutung dieser Tatsache in der Informationsgesellschaft gerecht zu werden, spricht man von Geokommunikation, also der Vermittlung von Informationen unter Berücksichtigung des räumlichen Kontextes.

die ­Realität unter Berücksichtigung einer maßstäblichen Verkleinerung auf eine Zeichenfläche abzubilden. Hierfür werden Objekte der Realität geometrisch erfasst, also vermessen, und in einem geometrischen Modell abgelegt. Diese häufig als Geodaten bezeichneten Informationen werden in einem weiteren Arbeitsschritt attributiert, um ein Objektmodell zu erhalten. Dieses Modell ist weitgehend maßstabslos und wird erst im Schritt der kartographischen Modellierung in eine konkrete Darstellung überführt. Im Rahmen dieses Arbeitsschrittes sind entsprechend Aspekte wie Abbildungsverfahren, Grad der Generalisierung sowie kartographische Gestaltung zu berücksichtigen.

Neue doppelseitige Karte der Erde aus dem Jahr 2021 von Gott, Goldberg und Vanderbei, ­Universität Princeton

Welche Methoden zur Visualisierung von Geodaten gibt es? Alexander Pucher: Die Informationsund Kommunikationstechnologie hat das methodische Spektrum enorm erweitert. Erwähnt werden muss allerdings, dass diese neuen Technologien nicht explizit für die Kartographie und Geokommunikation entwickelt wurden. Vielmehr bedienen wir uns der Entwicklungen, um Informationen nutzeradäquat zu vermitteln. Multimedia, 3-D, Virtual Reality sowie neue Endgeräte haben in letzter Zeit dazu geführt, dass die Vermittlung von Geodaten nicht mehr ausschließlich klassisch visuell erfolgt. Aus der Geodatenvisualisierung wird vermehrt eine multimediale Geodatenkommunikation. Man könnte das so beschreiben: Die Werkzeuge haben sich verbessert, die grundlegenden Arbeiten sind aber gleich geblieben.

Karel Kriz, Universität Wien

Wie sehen die einzelnen Schritte für die Erstellung einer Weltkarte aus? Kriz: Konzipierung und Umsetzung einer kleinmaßstäbigen Weltkarte unterscheiden sich in ihren zentralen Arbeitsschritten nur unwesentlich von mittel- oder großmaßstäbigen Karten. Es gilt ganz allgemein,

Alexander Pucher, Universität Wien

Welche Herausforderungen gibt es bei der Erstellung von Weltkarten? Pucher: Bei der Abbildung der gesamten Erdoberfläche auf eine zweidimensionale Zeichenfläche kommt es zwangsläufig zu Verzerrungen der Darstellung. Eine exakte Darstellung der Land- und Seeflächen der Erde ist somit nur auf einem Globus möglich. Nur hier sind Längen-, Flächen- und Winkeltreue gegeben. Jede Abbildung in Form einer Weltkarte verliert gegenüber dem Globus Treueeigenschaften. Die wesentliche Fragestellung bei der Erstellung einer Weltkarte betriff somit die Wahl des Abbildungsverfahrens, da jede dieser Projektionen die Erhaltung unterschiedlicher Treueeigenschaften berücksichtigen kann. So sind Karten im Bereich der Navigation im Regelfall winkeltreu. Thematische Weltkarten hingegen haben die Aufgabe, globale Größenunterschiede sichtbar zu machen, und sollten somit eine flächent eue Darstellungsform aufweisen. Nur so ist ein direkter Vergleich von Flächen zulässig und führt nicht zu einer Überbetonung eines statistischen Wertes, nur weil die Repräsentationsfläche fälschlicherweise größer dargestellt wird. Welche Vorteile bietet die neue doppelseitige Karte der Erde? Kriz: Unsere Vorstellung der Welt sowie unsere Einschätzung der Größenunterschiede und Entfernungen auf der Erde werden sehr stark von uns geläufigen Weltkarten beeinflu st. Die sehr häufig verwendete Mercator-Projektion weist jedoch keine Flächentreue, sondern Winkeltreue auf. Dies führt dazu, dass die Gebiete der Nordhemisphäre überproportional vergrößert dargestellt werden. Zudem sind die Weltkarten traditionell im Regelfall auf den Nullmeridian in Green-

wich bei London zentriert. Beide Tatsachen sind historisch bedingt und bilden den Zeitgeist und die globalen Machtverhältnisse ab. Das Bestreben gegenwärtiger Forschung ist, die „wahre“ Gestalt der Erde in ein zeitgemäßes Licht zu rücken. Die doppelseitige Weltkarte der Forschergruppe verwendet eine stereographische Projektion. Das führt zu einer klaren Strukturierung mit dem Nordpol im Zentrum der oberen Scheibe sowie dem Südpol im Zentrum der unteren Scheibe. Damit werden die Pole nicht mehr als Linien dargestellt, was eine deutliche topologische Verbesserung darstellt. Zudem wird die Flächentreue deutlich erhöht, bei gleichzeitiger Reduktion der Verzerrungen. Somit stellt diese Weltkarte eine Abbildung der Erde dar, die geometrisch dem Globus näherkommt als bisherige Visualisierungen. Es bleibt jedoch fraglich, ob diese uns ungewohnte Darstellung der Erde Einzug in die Bildung, die Medien­ berichterstattung sowie das tägliche Leben finden wird. Gibt es praktische Beispiele für den Einsatz von modernen Geomedien im Geografie- und Wirtschaftskundeunterricht, um den Schüler*innen präzisere Bilder und Materialien zur Verfügung zu stellen? Pucher: In Österreich stellt der klassische Schulatlas noch immer ein wesentliches Basiswerkzeug des GWUnterrichts dar. Insbesondere die Tatsache, dass österreichische Schulatlanten für den entsprechenden Lehrplan approbiert werden müssen, führt zu einer hohen didaktischen Eignung dieser Produkte. Darüber hinaus bietet das Internet zahlreiche Unterrichtsmaterialien in guter Qualität, um das regionale, nationale wie auch globale Bild der Erde zu schärfen. In den letzten Jahren wurden vermehrt Nationalatlanten wie auch Themenatlanten öffentlich und frei zur Verfügung gestellt.

Spannende Atlanten Kartendarstellungen, Grafiken und weiterführende raumbezogene ­Informationen über Österreich: www.statistik.at/atlas und: www.oerok-atlas.at Covid-19 in Österreich: map.geo.univie.ac.at/virus_atlas Unterschiedliche Darstellungsgrößen von Staaten auf der Weltkarte: thetruesize.com Unterrichtsmaterialien zum besseren Verständnis der Welt: www.gapminder.org

FOTOS: PRIVAT

K


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  5/21   FALTER 39/21  9

:  A N G E WA N DT E M AT H E M AT I K

Big Data gegen Covid & Co. Künstliche Intelligenz erkennt im Blutbild großer Bevölkerungsgruppen ein Muster. Ändert es sich, könnte das auf eine Pandemie hinweisen USCHI SORZ

„Anwendungen, die im Dialog zwischen Mathematik und Medizin entstehen, haben ein riesiges Potenzial“, sagt Carola-Bibiane Schönlieb. „Unser Pandemie-Frühwarnsystem ,BloodCounts!‘ ist dafür das beste Beispiel.“ Die in Salzburg aufgewachsene Wienerin ist Professorin für angewandte Mathematik in Cambridge (UK) und dort Direktorin des Cantab Capital Institute for the Mathematics of Information und Ko-Direktorin des EPSRC Centre for Mathematical and Statistical Analysis of Multimodal Clinical Imaging. In dem von ihr geleiteten interdisziplinären Projekt BloudCounts! werden Algorithmen auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) darauf trainiert, pandemierelevante Muster in der Bevölkerung in Routineblutbildern aufzuspüren. Eine Pilotstudie mit Daten der Universitätskliniken in Cambridge hat sich als vielversprechend erwiesen. Im Juni wurde das Forscher*innenteam dafür mit dem zweiten Preis der Trinity Challenge ausgezeichnet.

Es war der erste Durchgang des Wettbewerbs, den Englands ehemalige Chief Medical Officer Sally ­Davies eingerichtet hat, um datenbasierte Lösungen zur Pandemiebekämpfung und -vorsorge voranzutreiben. 42 fördernde Organisationen stehen dahinter. Neben finanzi llen Mitteln zur Umsetzung ihres Projekts dient die Trinity Challenge den Teilnehmer*innen auch als Plattform zur Vernetzung mit öffentlichen, privaten, philanthropischen und akademischen Akteuren. BloodCounts! ist eines von acht Projekten, die von einer internationalen Jury ausgewählt wurden. „Ein Blutbild ist der häufig te medizinische Test überhaupt“, sagt Schönlieb. „Weltweit wird etwa 3,6  Milliarden Mal pro Jahr eines gemacht.“ Am Department für Hämatologie in Cambridge habe man beobachtet, dass nur ein Teil der Informationen aus den Messungen der Blutanalysemaschinen verwendet wird. „Viele der dabei anfallenden Daten werden weggeschmissen. Auf KI basierende

mathematische Methoden eröffne die Möglichkeit, sie nutzbringend einzusetzen.“ So kann ihre Arbeitsgruppe damit den Zustand des Blutes großer Bevölkerungsgruppen abbilden. „Man kann sich das vorstellen wie einen Fingerabdruck von einer ganzen Stadt oder Region“, erklärt Schönlieb. „Da wir vor Corona Studien dazu gemacht haben, konnten wir für BloodCounts! einen solchen Fingerabdruck der Stadt Cambridge von 2019 als Ausgangspunkt nehmen.“ Der Mi­krobiologe Nicholas Gleadall und der Mathematiker Michael Roberts hatten die Idee, diesen in Bezug auf Covid-19 zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass sich der Normalzustand des Blutes, also der Vor-Corona-

Carola-Bibiane Schönlieb, Universität Cambridge

Finger­abdruck, durch die Pandemie signifikant geändert hatte. „In großem Maßstab eignen sich Blutdaten gut als Frühwarnsystem für neuartige Krankheitsausbrüche. Die Abweichung gibt den Hinweis, dass etwas nicht stimmt. Das Gesundheitswesen kann dann sehr früh die Ursache suchen und handeln. Die Methode schlägt schon an, bevor ein Problem sichtbar wird.“ Da Blut­ daten überall vorhanden sind, biete das auch Entwicklungsländern eine Perspektive, um Pandemien in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren wird Schönliebs Team Modelle entwickeln, um herauszufinden, wie groß die Aussagekraft der Abweichungen vom definierten Normalzustand in diversen Regionen und mit unterschiedlichen Bevölkerungen ist. „Dabei sind unsere Kooperationen mit Blutanalyse­ geräte-Unternehmen essenziell“, so die Mathematikerin. „Durch die Trinity Challenge können wir mehr internationale Partner ins Boot holen.“ Etwa das US-amerikanische Rote Kreuz, eine große Blutspendeorganisation.

:  P SYC H O LO G I E

Ganz entscheidend im Studium: Hingehen Wem das bei einer Abschlussarbeit oder großen Prüfung schwerfällt, findet bei der Psychologischen Studierendenberatung Hilfe

FOTOS: CAMBRIDGE UNIVERSITY, PRIVAT

MARGRET SCHOPF

Vom Hörsaal ins eigene Zimmer: Das hat vielen Studierenden einen Dämpfer verpasst. Wer beim Studium schon unter „normalen“ Umständen Schwierigkeiten hat, sich zum Lernen aufzuraffen, spürt dies seit Ausbruch der Corona-Pandemie umso mehr: In der eigenen Wohnung oder in der WG am Schreibtisch ist Selbstmotivation eine Kunst, die nur wenigen liegt. Die Zunahme an persönlichen Problemen beschäftigt die Psychologische Studierendenberatung (PSB), bei der die Anfragen deutlich zugenommen haben. Zahlen für das aktuelle Studienjahr 2020/21 liegen noch nicht vor. Im Wissenschaftsmini terium rechnet man mit einem Anstieg an Anfragen für Einzelberatungen um bis zu zwanzig Prozent. Das ist die gegenteilige Entwicklung zu jener im ersten Coronajahr 2019/20. Damals hatte die PSB einen deutlichen Rückgang der Beratungskontakte von 46.500 auf 36.000 verzeichnet. Im Ministerium hat man auf die steigende Nachfrage reagiert und die

PSB finanziell und personell massiv

ausgebaut. Eine Million Euro wird ab 2021 zusätzlich pro Jahr in die PSB investiert und damit um vierzig Prozent mehr Personal beschäftigt. Insgesamt sind 66 Klinische und Gesundheitspsycholog*innen für Studierende im Einsatz. Dazu kommen zehn Sekretariatskräfte. Die sechs PSB-Beratungsstellen in Wien, Graz, Linz, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt erhalten knapp 6,4 Millionen Euro vom Ministerium. Die PSB besteht seit 51 Jahren und bietet ein niederschwelliges Angebot in Einzel- oder Gruppenberatungen. Es geht um kostenlose Hilfestellung bei der Bewältigung persönlicher Probleme, auf Wunsch auch ano­nym. Auch bei Fragen rund um die Studienwahl und das Studium steht die PSB mit ihrer Expertise zur Verfügung, etwa in Form des vom Ministerium finanzierten Programms „18plus“, das Schüler*innen bei der Berufs- und Studienwahl unterstützt. Neben vereinbarten Terminen gibt es für Akut-

situationen einen Bereitschaftsdienst. Seit 2014 kann man von der PSB per Chat beraten werden. Gerade Letztere haben sich in der Coronapandemie besonders bewährt, ebenso wie die Unterstützung via EMail und per Telefon, da persönliche Beratungen während der Lockdowns nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen werden konnten. So kam die neue Form der digitalen Einzelberatung via Videotelefonie dazu. Sie soll auch in Zukunft beibehalten werden. „Diese Kanäle verstärken die Niederschwelligkeit des bestehenden Angebots und erlauben es, dass Beratungen zeitlich und örtlich unabhängig stattfinde “, heißt es dazu aus dem Ministerium.

Franz ­Oberlehner, Psychologische Studierenden­ beratung Wien

„An die PSB wenden sich mehr als zwei Drittel Frauen“, sagt der Leiter der Wiener PSB, Franz Ober­lehner. Der Großteil der Ratsuchenden, nämlich achtzig Prozent, ist zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Studienbeginn und Studienabschluss sind die „heißen Phasen“ in der Beratung. Vor allem Prokrastination, also das Aufschieben, sei ein großes Thema, sagt Oberlehner: etwa bei Studien­ fächern wie Architektur, wo ein Abschlussprojekt auszuarbeiten ist, aber auch bei Fächern, bei denen in größeren Abständen größere Prüfungen absolviert werden müssen. Was rät er? „Pragmatisch angehen! Wir haben ein Gruppenformat, wo ein realistischer Rahmen ausgearbeitet wird, was in welchem Zeitraum zu schaffen ist – durch motivationsunabhängige Routinen.“ Also indem man etwa regelmäßig auf die ­Bibliothek geht, so wie in die Arbeit. „Da überlege ich ja auch nicht in der Früh, ob es mich heute freut oder nicht, sondern ich stehe auf und gehe hin.“


10  FALTER 39/21   H EUR EKA 5/21  :   T I T ELT H E M A

T I T E LT H E M A BILDUNG NACH DER PAN DE M I E Seiten 10–21 Über das Titelthema dieser Ausgabe, die Bildung, wird immer schon und besonders jetzt viel nachgedacht, diskutiert und geforscht, aber selten werden die gefragt, die es direkt betrifft. Die Fotografin Karin Wasner hat Kinder an ihrem Schulstart in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen getroffen und nach der Schule der Zukunft gefragt. Was sind ihre Vorstellungen und Träume? Wie sieht für sie die perfekte Schule aus? Was wünschen sie sich für ihr Leben in zehn, zwanzig Jahren? Den Moment, wenn zukünftige Erwachsene über ihre Zukunft nachdenken, hat sie mit der Kamera eingefangen.

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN

Unterrichtsstunden sieht der Lehrplan der AHS, aber auch des Polytechnikums vor. Mit Hausübungs- und Lernzeiten ist man schnell bei einer Vollzeitstelle. In der HTL (Maschinenbau) sind es mehr als 35 Unterrichtsstunden, im dritten Jahrgang sogar 39.

4.655 Volksschulen gab es 1923/24 in Österreich. Knapp 100 Jahre später (2019/20) sind es 3.014. Die meisten Hauptschulen gab es mit 1.266 im Schuljahr 1978/79. Die Zahl der BHS wuchs von 34 (1923/24) auf 354 (2019/20). Spitzenreiter ist NÖ (73), gefolgt von OÖ (62) und Wien (49).

Dioptrien schlechter wurde die durchschnittliche Sehkraft der S chs- bis Achtjährigen im Coronajahr 2020 – durch Homeschooling, viel Medienkonsum und rare Aufenthalte im Freien. Das zeigte eine Reihenuntersuchung an 123.000 chinesischen Schulkindern.

1.200

auf ihre didaktische Tauglichkeit geprüfte Lern Tools und -Apps für den Unterricht listet das digitale Schulportal www.schule.at auf: von der Pflan enbestimmungsapp „Flora incognita“ bis hin zum Fußballsticker-Generator für zum Beispiel Tiere oder Pflan en.

Euro müssen Eltern für ein Schulkind im Schnitt pro Schuljahr aufbringen. or fünf Jahren waren es noch 855 Euro. Der Großteil entfällt auf Computer, Tablets und EDV. Eine armutsbetroffene Familie muss fast doppelt so viel vom Haushaltseinkommen ausgeben wie der Durchschnitt.

1658

und etliche Waldorfschulen gibt es weltweit, davon 238 in Deutschland. In Österreich sind es 21. Hier haben vom ersten Abschlussjahrgang 1974/75 bis 2016 rund 4.200 Schüler*innen den Waldorfabschluss gemacht. Jährlich kommen 150 hinzu. Achtzig Prozent von ihnen legen nach der Waldorfschulzeit die Matura ab.

105

1.468

erschien in Johann Amos Comenius’ „Sichtbarer Welt“ die Illustration eines Klassenzimmers mit kreidebeschrift ter Schultafel. Die Erfindung der bu ten Tafelkreide wird dem Schotten James Pillans zugeschrieben: In „Elements of physical and classical geography“ (1864) preist er ihre Anwendung im Geografieu terricht.

20

Prozent weniger Gedächtnisleistung durch hohe Geräuschpegel in akustisch ungünstigen Klassenräumen. Durch den Halleffekt sprechen Lehrkräfte zu l ut, und die daraus folgende Unruhe bewirkt, dass noch lauter gesprochen wird: Die Geräuschbelastung steigt weiter. Da die Stimme bei normalem Sprechen einen Schalldruckpegel von 50– 55  dB(A) erzeugt, sollte der Störgeräuschpegel nur 35–40 dB(A) betragen. Tatsächlich liegt er im Unterricht meist bei 50 dB(A)).

FOTOS: KARIN WASNER

32

0,3


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  11

Jonas, 9 „In der perfekten Schule würden wir nicht die ganze Zeit nur herumsitzen, sondern uns viel mehr bewegen beim Lernen. Im Schulhof gäbe es ­Tiergehege, bei denen wir unsere Pausen verbringen könnten. Ich möchte später einmal Bauer oder Feuerwehrmann werden. Oder beides. Da arbeitet man draußen mit Tieren und in der Natur und kann anderen Menschen helfen.“


12  FALTER 39/21   H EUR EKA 5/21  :   T I T ELT H E M A

Ambitioniert, aber am Alltag scheiternd Die Schulrealität und ihre Probleme werde durch die Pandemie nicht einfacher er Bildungsauftrag der österreichischen Schulen ist ambitioniert. Schüler*innen sollen ihren Anlagen entsprechend in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung gefördert und mit den für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Kompetenzen ausgestattet werden, um als aufgeschlossene, selbstständig urteilsfähige und sozial verständnisvolle Glieder der Gesellschaft an gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitwirken zu können. So sieht es § 2 des Schulorganisationsgesetzes vor. Die Realität beschreibt der Bildungsexperte Stefan Hopmann anhand ­eines Beispiels so: „Menschen hatten noch nie so viel naturwissenschaftlichen Unterricht wie heute, und trotzdem folgen so viele wie noch nie abenteuerlichen Verschwörungstheorien.“ Viel Geld für Bildung und doch Ungerechtigkeit Österreich lässt sich Bildung viel kosten. Von der Volks- bis zur Hochschule pro Schüler*in/Studierendem*r 14.672 Dollar, weit über dem OECD-Schnitt von 10.103 Dollar. Doch diese Mittel kommen nicht überall gleich an: Ein überproportional hohes Ausmaß an Bildungsungleichheit prägt das österreichische Schulsystem. Das potenziert sich letztlich zu Bildungsungerechtigkeit: Die schulischen Leistungen österreichischer Kinder und Jugendlicher spiegeln das Bildungsniveau der Eltern wider. „In allen Standardüberprüfungen zeigt sich unabhängig vom Schulfach der gleiche Zusammenhang: Der Unterschied beim Erreichen der Bildungsstandards zwischen Schüler*innen, deren Eltern maximal Pflicht chulabschluss haben, zu universitär ausgebildeten Eltern liegt zwischen 44 und 51 Prozent“, steht im aktuellen „Nationalen Bildungsbericht des Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens“ (BIFIE). Eltern haben ein Interesse an differenzierten Schulen „Bildungsungleichheit“, sagt Stefan Hopmann, Professor für Bildungswissenschaft an der Universität Wien, „gibt es überall. Die Frage ist nur, in welcher Form. Österreich und Deutschland sind reiche Länder mit relativ gutem Schulwesen, die der Bildung früh einen institutionalisierten Rahmen gegeben haben. Hier erfolgt die Differenzierung zum Teil über die Gliederung des Schulwesens. In anderen westlichen Ländern, die die Bildung später institutionalisiert haben, wie Großbritannien oder die USA, erfolgt die Diffe enzierung über Binnenstrukturen und den Status einer Bildungsinstitution. Auch in Skandinavien gibt es starke Diffe enzierungsmerkmale. Da kommt man etwa in bestimmte Schulen nur hi­nein, wenn man mindestens zwei Sprachen spricht und Instrumente spielt.

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Österreichs Schulsystem ist monolingual. Doch wird den Kindern in der ersten Klasse nicht Deutsch beigebracht“ BARBARA ROTHMÜLLER, SOZIOLOGIN

Claudia Schreiner, Universität Innbruck

Stefan Hopmann, Universität Wien

Das stärkste Diffe enzierungsmerkmal ist freilich immer noch: öffentliche versus private Schulen.“ Eltern hätten ein zwingendes Interesse, die Segregation aufrechtzuerhalten: „Jeder Teil der Gesellschaft versucht, Vorteile weiterzugeben. Das Einzige, was man als Mittelstand vererben kann, ist Bildung. Es ärgert mich, wenn auf Privatschuleltern eingehämmert wird. Es ist legitim, dass Eltern versuchen, das Beste für ihre Kinder zu machen.“ Widerstand seitens der Eltern ist nicht die einzige Hürde für ein egalitäreres Bildungssystem. Seit den 1980er-Jahren habe sich, so Hopmann, vom angloamerikanischen Raum aus der Trend zur Überfrachtung von Lehrplänen durchgesetzt. Tendenziell setze das sozial benachteiligten Kindern mehr zu als besser gestellten. „Wir haben durch PISA ,gelernt‘, Schüler*innen mit Stoff vollzustopfen. Das hat es ,geschafft , soziale Unterschiede zu vertiefen und auf Dauer zu stellen. Was es nicht geschafft hat, ist, die Leistung zu steigern. Die Leistung wird nicht mehr, aber die Gerechtigkeit nimmt ab. Das ist Klassenkampf von oben“, befindet Hopmann, der Argumente von „bildungsfernen Milieus“ für einen Vorwand hält: „Das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft auf Chancengleichheit wird gebrochen. Der Bruch des Versprechens muss legitimiert werden. Das geschieht, indem man jene, die eine geforderte Leistung nicht erbringen, als faul, unfähig und bildungsunwillig denunziert.“ Mittelschichtsorientierung des Lehrkörpers – ein Problem? Tatsächlich sei das System Schule defekt, konstatiert Hopmann. Er steht mit diesem Befund nicht allein da. Vor allem bei Migranten, erklärt die Soziologin ­Barbara ­Rothmüller, fördere die Schulkultur Ungleichheit, indem sie bei Kindern Fähigkeiten und Leistungen voraussetzt, die sie nicht selbst vermittelt: „Das beginnt bei Deutsch als Unterrichtssprache. Das Schulsystem in Österreich ist monolingual, doch den Kindern wird in der ersten Klasse nicht Deutsch beigebracht. Das gilt ebenso für das Sozialverhalten und die Einstellung zu Bildung. Das sind Eigenschaften, die Kinder nur von zu Hause aus mitbringen, die in der Schule aber – wenigstens indirekt – auch bewertet werden.“ Ein weiteres Problem des Systems Schule sieht sie in der Mittelschichtsorientierung des Lehrkörpers, die bei Schüler*innen mit einem anderen „Habitus“ Widerstand auslösen kann: „Dann werden die Kinder oft als nicht motiviert wahrgenommen – und schon beginnt eine Schulkarriere mit Reibungspunkten. Während Kinder aus der oberen Mittelschicht sich mit den Lehrpersonen leichter tun. Ihre Eltern sind bei ­Elternsprechtagen präsent und verstehen sich mit den Lehrenden gut.“

Weil Bildungsungleichheit in der Ausbildung nur marginal thematisiert werde, fehle es dem Lehrpersonal meist an Sensibilität dafür. Zu überdenken sei fallweise auch der frontale Unterricht. „Je heterogener Klassen sind, desto schwieriger wird es in diesem Modus. Besser wären hier Ansätze, die in Richtung eines projektorientierten Modus gehen“, schlägt Rothmüller vor. Für eine gemeinsame Mittelstufe fehlen noch gute pädagogische Konzepte Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass die Bildungswegentscheidung am Ende der Grundschule, wenn die Kinder um die zehn Jahre alt sind, die Bildungsungerechtigkeit verstärkt. „Je später diese Entscheidung getroffen wird, desto klarer werden spezifi che Interessen. Wir wissen aus der Forschung dazu, dass die Bedeutung der Eltern für Entscheidungen mit steigendem Alter der Kinder abnimmt“, sagt Claudia ­Schreiner vom Institut für Lehrer*innenbildung und Schulforschung der Universität Innsbruck. Man muss sich aber, relativiert Schreiner, bewusst sein, dass es mit der Aufhebung der Trennung von Mittelschule und Gymnasium allein nicht getan ist. „Es bräuchte gute Konzepte, wie man eine gemeinsame Mittelstufe anlegen und pädagogisch sowie organisatorisch umsetzen kann. Aufzuzeigen, dass die frühe Trennung unerwünschte Effekte hat, ist einfacher als der Rest.“ Ob das Modell Gesamtschule imstande ist, zum Abbau von Bildungsungerechtigkeit beizutragen, ist mangels eindeutiger Forschungsergebnisse umstritten. Fest steht, wie Rothmüller bemerkt, nur, dass eine Mehrheit von Menschen, die für Bildungsgerechtigkeit eintreten, die Gesamtschule oder wenigstens die Ganztagsschule befürwortet. „Es hat sich allerdings gezeigt“ ergänzt Schreiner, „dass zumindest wahlweise Angebote ganztägiger Schulen vor allem für gut gebildete Eltern attraktiv sind. Sie erfüllen eher die Aufgabe eines ganztägigen Betreuungsangebots. Eine kompensatorische Wirkung in Bezug auf Bildungsungleichheit konnte im Kontext deutschsprachiger Schulsysteme meines Wissens bis dato nicht gezeigt werden.“ Recht klar stellen sich für die Expert*innen dagegen die Folgen der Pandemie dar: Sie verstärkt die Bildungsungleichheit drastisch. „Das hat nicht nur mit elterlicher Unterstützung oder technischer Ausstattung zu tun“, erläutert Schreiner, „sondern teils auch mit den Wohnverhältnissen und insbesondere mit dem Ausmaß an Lernmotivation und Leistungsniveau vor der Krise. So können wir zum Beispiel anhand einer regionalen Stichprobe zeigen, dass Schüler*innen mit vergleichsweise höherer Lernmotivation und höheren Leistungen vor Ausbruch der Pandemie mit den selbstregulatorischen Anforderungen des Distanzunterrichts deutlich besser zurechtgekommen sind.“

FOTOS: TERESA WEY, PRIVAT, FOTO WILKE

D


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  13

Elisa, 8 „Schule sollte sein wie Riesenrad oder Achterbahn. Aufregend und etwas, das Spaß macht und nicht so langweilig ist. In der perfekten Schule wären die Pausen länger als die Unterrichtsstunden, und es gäbe dort Einhörner zum Daraufreiten in der Pause. Denn wenn ich groß bin, wäre ich gern Reitlehrerin.“


14  FALTER 39/21   H EUR EKA 5/21  :   T I T ELT H E M A

Schule für eine ungewisse Zukunft Lockdown und Distanzunterricht als Ansporn, den Lehrplan neu zu denken ir haben zwei Stunden online gehäkelt – urfad!“ So der Befund der 11-jährigen Gymnasiastin Vivia über einen Lockdown-Schultag. Auch der Turnunterricht als Klopapierrollen-Balancieren im Jugendzimmer war mäßig spannend. Wie wäre es, Schule in Form von Projekten abzuhalten? Ein Paar Socken, einen Schal, eine Haube zu stricken – oder, im Fall von „Bewegung & Sport“: die Besteigung des Mount Everest? Letzteres geht so: 17 Zentimeter ist eine Treppenstufe hoch. Wer auf den Everest will, muss 8.848 dividiert durch 0,17 = 52.047 Stufen steigen. Warum hält man am 50-MinutenSchulstunden-Schema fest? Wie wäre es, wenn sich die Schüler*innen mit ihren Lehrpersonen nur am Montag und am Freitag treffen und dazwischen in Eigenregie lernen? Oder geblockt, oder es wird pro Vormittag nur ein Fach unterrichtet? Warum hält man am 50-MinutenSchulstunden-Schema fest? „Es ist bequem“, liefert Henning Schluß vom Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien die plausibelste Erklärung. Man könne dadurch den Lehrstoff aufteilen, und es komme begrenzten Aufmerksamkeitsspannen entgegen. Einen Schritt zur Aufweichung habe die Laborschule Bielefeld in Nordrhein-Westfalen gemacht – zumindest akustisch: Sie hat die Schulglocke abgeschafft Was, wenn nur ein Fach pro Vormittag oder Nachmittag unterrichtet würde? „Es ginge, aber wenn ein Schüler die Lehrerin nicht mag, könnte es Probleme geben“, so Schluß. Über einen Vormittag kann sich einiges aufstauen. „Und wer einen einzigen Tag fehlt, versäumt jede Menge“, gibt Schluß zu bedenken. Nachsatz: „Wir haben es mit Menschen zu tun. Die einen sind besser bei Projekten, andere rattern ihr Schulbuch herunter. Dann können auch fünfzig Minuten lang sein.“ Die Chemie der Kochkunst in der eigenen Küche Ließen sich einzelne Fächer auf sinnvolle Kombinationen eindampfen, etwa die Chemie mit der Kochkunst? Ein Labor hat keiner, aber eine Küche. Es hätte auch gesundheitliche Vorteile: Wer kocht, isst kein Fast Food. Und warum man dabei das Fenster aufmacht, ließe sich in einer chemischen Gleichung erklären. Physik ebenso wie Mathematik könnte man mit Bewegung und Sport kombinieren. Der Gedanke ist nicht neu, er ist sogar ziemlich alt: Hennig Schluß verweist auf die Philanthropen, die Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung. „Sie haben Bildungsreisen gemacht, sich jeweils in der Sprache des betrachteten Gegenstandes unterhalten, etwa bei der Pflanzenbestimmung auf Latein, und haben Bauern am Land besucht, sind schwimmen gegangen – doch bei ­dieser

TEXT: SABINE EDITH BRAUN

„Programmiersprachen zu beherrschen ist auf dem globalen Arbeitsmarkt entscheidend“ CHRISTIN REISENHOFER, UNIVERSITÄT WIEN

Henning Schluß, Universität Wien

Art von Unterricht ist dann eben um zwölf Uhr nicht die Schule aus.“ In Österreich sei es leichter, in alternativen Formen zu unterrichten als etwa in Deutschland. „Viele Eltern tun sich zusammen, was teils auch religiöse Gründe hat. Die Frage ist, warum alternative Formen nicht in den Regelunterricht übergehen?“ Dann würde die klassische Klassenfahrt zur Wanderung durch die Umgebung im Philantropen-Stil. „Ich glaube, dass vieles schon da ist und auch ausprobiert wird“, sagt Schluß. „aber erst nach Notenschluss Ende Juni.“ Eine Form der Bündelung wäre der Unterricht in Epochen: Jede Zeitepoche lässt sich mit der dazugehörigen Musik, Literatur und Kunst oder geografi chen Entdeckungen verbinden. Dass man hierfür die pädagogische Ausbildung umstellen müsste, ist klar. In der Schule lernt man eines: Frustrationstoleranz Aber in der Schule geht es nicht allein um Wissensvermittlung. „Wir lernen Frustrations­toleranz“, sagt Henning Schluß. Die rigide Zeiteinteilung sei der „heimliche Lehrplan“ der Schule. Der Begriff ist abgeleitet von „hidden curriculum“, einem Begriff des US-Kulturanthropologen ­Philip W. Jackson (1968). „Man lernt, dass man vielleicht nicht drankommt, selbst wenn man die Antwort weiß. Die Kunst ist, das nicht in Frustration umschlagen zu lassen.“ Auch Kooperationsbereitschaft stünde auf dem heimlichen Lehrplan – aber dazu besteht ein Paradox: die Notengebung. „Noten erzeugen Konkurrenz“, sagt Schluß, „faktisch ist das wie Marktwirtschaft “ Im Gruppenunterricht kann nur einer reden. Eine Lösung wäre die Auft ilung auf Kleingruppen. „Die Volksschulen sind da viel weiter als Gymnasien“, meint der Experte, man müsse sich nur die räumliche Gruppierung im Klassenzimmer in Volksschulen und in Gymnasien anschauen. „Der Bildungs- und Erziehungsprozess erfolgt vor dem Hintergrund rascher gesellschaftlicher Veränderungen insbesondere in den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft Technik, Umwelt und Recht“, besagen die Leitlinien der Lehrpläne. Was meint die Bildungswissenschaft zu neuen Fächern? „Es sind jeweils die Medien, IT, Straßenverkehr oder Umwelt, die diskuiert werden, aber was uns nicht klar ist: Schule soll auf eine ungewisse Zukunft vorbereiten!“, so Henning Schluß. Ein Bedarf, den wir heute sehen, ist ein paar Jahre später vielleicht keiner mehr. Die Schule solle Grundlagen vermitteln, aber nicht jedes aufpoppende gesellschaftl che Problem als Schulfach sehen. Ebenso die Klimakrise: „Das, was da passiert, sind physikalische Grundlagen: Mathe, Physik, Chemie. Was macht das CO2 in der Atmosphäre? Dazu brauche ich kein Schulfach ‚Klimakrise‘.“ Es gehe darum, Einzelfächer intelligent

zu verbinden. Überhaupt, Programmieren: „Nicht notwendig“, sagt Schluß. Kollegin Christin Reisenhofer sieht dies anders. „Neben den Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen wird die Fähigkeit, Programmiersprachen zu beherrschen, auf dem globalen Arbeitsmarkt immer entscheidender“, meint die Expertin für Games. Kann man mit und von Computerspielen lernen? Games sind für Reisenhofer eine Möglichkeit, den Unterricht abwechslungs­­reicher, kreativer und partizipativer zu gestalten: „Sie stellen einen wesentlichen Teil der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen dar.“ Es bräuchte die prinzipielle Anerkennung von digitalen Spielen als Kulturgut und nicht zuletzt „aufgeschlossene, technisch versierte und spielaffin Lehrkräfte“. Gamification heißt das: das Anreichern spielfremder Systeme mit Spielelementen. Was kann man von Computerspielen lernen? „Je nach Genre fördern Games durch ihre soziale und kommunikative Komponente Teamfähigkeit, Kompromissbereitschaft, Kooperationsfähigkeit, moralische Urteilskompetenz und Hilfsbereitschaft “ Wer sich nicht an Regeln halte, sich anderen gegenüber unfreundlich oder beleidigend zeige, werde von der Community nicht geduldet, in Chats zurechtgewiesen oder mit der härtesten Saktion bedacht: dem Ausschluss aus Spieler-Clans oder -Gilden. Eine „Games-Stunde“ sieht Reisenhofer nicht im klassischen 50-Minuten-Schema, sondern projektbezogen, fächerübergreifend und als längerfristiges Unterrichtskonzept angelegt. Das Wichtigste sei, „dass Spiele nicht zum Selbstzweck, sondern mit didaktischen Zielvorstellungen verknüpft in den Unterricht eingebunden werden“. Aber was machen wir mit den in der Corona-Zeit so stiefmütterlich behandelten Fächern wie Häkeln, Musik, Sport, ­Religion etc.? Darauf zu verzichten würde sich rächen, so Henning Schluß, denn es gehöre zum menschlichen Leben dazu. Übrigens fördere gedankenloses Herumkritzeln, das „Doodeling“, die Konzentrationsfähigkeit. Vielleicht kann man ja Handarbeiten künftig unter diesem Aspekt betrachten: als Mittel, die Konzentration zu fördern. Welche Altersstufe spielt welche Games? Jüngere Kinder spielen eher „Story Games“ und Open-World-Spiele sowie Konsolenspiele, meist im Einzelspielermodus: Minecraft (im späteren Alter auch im Multiplayermodus), Super Mario, Legend of Zelda oder Brawl Stars fürs Smartphone. Mit Eintritt in die Pubertät werden Spiele, die man miteinander oder gegeneinander online spielt, bevorzugt. Nun stehen das gemeinsame Spielen am Computer, der Austausch, das Soziale, das Miteinander, der Wettkampf und das Sich-Beweisen im Fokus.

FOTOS: PRIVAT

W


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  15

Tobe, 8 „Ich würde mir eine Schule wünschen, in der viele verschiedene Sportkurse angeboten werden – und viel Mathe. Ich stelle mir ein großes weißes Haus mit Steintreppen vor, und rundherum spielen Kinder Fußball, Basketball und Tennis. Später will ich einmal beruflich irgendetwas Technisches machen. Zuerst daran forschen, was man bauen könnte, und es dann bauen.“


16  FALTER 39/21   H EUR EKA 5/21  :   T I T ELT H E M A

Down and out an der Uni D

u loggst dich auf Moodle ein und gehst in deine Vorlesung über Zoom, dann sind da 600 andere Leute, von denen du nichts mitbekommst, und das war’s“, sagt Helena Guschlbauer über die Anfänge ­ihres Studiums. Die mittlerweile 21-Jährige hat im Wintersemester 2019/20 ihr Bachelorstudium Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien begonnen. Das Studierendenleben hat sie sich aber anders vorgestellt. „Was man sich typischerweise vom Studium erwartet, alle kennenlernen und sich austauschen, hat man plötzlich nur mehr über WhatsApp-Gruppen. Aber das ist nicht das Wahre.“ Nach einem Monat hieß es dann im Herbst 2020: Alles auf Distance Learning. Wie unzählige andere Studierende hat auch Helena sich über Gruppenchats organisiert und sich mit anderen vernetzt. Bei bis zu 600 Erstsemestrigen, die dann im virtuellen Raum aufeinandertreffen, hält sich die Begeisterung in Grenzen. „Das Gemeinschaftsge ühl war nicht wirklich berauschend. In großen Gruppen hat man gemerkt, dass es vielen einfach keinen Spaß gemacht hat.“ Zu viel Technik, aber zu wenig Pädagogik? Damit junge Menschen einer doch sehr komplexen Welt nicht nur ausgeliefert sind, sondern sie mitgestalten können, braucht es viel. Zum einen natürlich Wissen, um Strukturen und Zusammenhänge zu verstehen. Zum anderen aber auch Mut, um die eigene Zukunft mitzubestimmen. Daher stellt sich die Frage: Bereiten Schulen und Hochschulen die nächste Generation ausreichend auf eine Zukunft vor, die nicht allzu rosig aussieht? Denn spätestens seit der Fridays-for-Future-Bewegung ist klar, dass junge Menschen ahnen, was sie erwartet und dass sie das nicht einfach hinnehmen möchten. Corona hat rasches Handeln verlangt. „Weder die Schulen noch die Hochschulen waren auf Fernunterricht vorbereitet“, sagt Christiane Spiel, Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation an der Universität Wien. „Zum einen in Hinsicht auf die digitale Ausstattung, und zum anderen die didaktisch-pädagogischen Kompetenzen der Lehrpersonen. Die derzeit getroffenen Maßnahmen insbesondere in Schulen fokussieren auf die technische Ausstattung und zu wenig auf den didaktisch-pädagogisch sinnvollen Einsatz.“ Laborübungen, Musikunterricht an Kunstuniversitäten, Gesprächsführung sowie Präsentations- und Moderationstechniken haben während des vergangenen Winter- und Sommersemesters nur vereinzelt in Präsenz und hauptsächlich online stattgefunden. Obwohl genau diese Seminare digital wenig Sinn machen. „Es ist nicht für alle easy. In Gruppenarbeiten hat man gemerkt, dass alle einfach keine Lust mehr

TEXT: MONA SAIDI

„Studierende müssen miteinander sprechen und sich als Gruppe erleben“ JULIA HOLZER, UNIVERSITÄT WIEN

Christiane Spiel, Universität Wien

Helena Guschlbauer studiert Publizistik an der Universität Wien

auf Corona haben. Das zieht die Stimmung runter“, sagt Helena. Sie ist mittlerweile im dritten Semester und hat seit genau einem Jahr keine Vorlesung in einem Hörsaal der Universität Wien erlebt. Die Jungen brauchen mehr psychologische Unterstützung Befragungen an Universitäten zeigen, dass sich Schüler*innen und Studierende seit Corona vermehrt psychologische Unterstützung wünschen. Sie nennen depressive Symptome wie Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen oder den Verlust von Interessen und Freude als Folge der ­Isolation und Fernlehre. Nicht nur die Studierenden hatten Schwierigkeiten mit der bestehenden Dis­ tance-Learning-Situation, auch Lehrende waren überfordert. Neben passiven Vortragenden, die teilweise nur Skripten zum Selbststudium hochgeladen haben, fanden andere wiederum kreative Wege, um ihre Studierenden auch online zu begeistern. „Die Studierenden müssen miteinander sprechen und sich als Gruppe erleben. Statt nur eine Interaktion mit mir als Lehrende zu haben, geben sie einander Feedback und lernen miteinander. Es ist wichtig, dass sie miteinander einen fachlichen Diskurs führen“ sagt Julia Holzer, Lehrende an der Fakultät für Psychologie. In ihren Vorlesungen teilt sie die Studierenden in kleinere Gruppen ein, die während der Dauer des Semesters zusammenarbeiten. Mit der Präsenzlehre gehen auch die Diskurse verloren. Diese versucht Holzer im virtuellen Raum zu fördern und mit Kompetenzentwicklung zu verknüpfen: „Die Studierenden sollen ihre Gedanken zu den Inhalten äußern dürfen und nicht das Gefühl haben, dass sie dabei in einer Prüfungssituation stecken. Denn neues Wissen wird verarbeitet und neue Ideen entstehen, wenn man frei miteinander sprechen kann.“ Gemeinsam mit Professor*innen und anderen Projektmitarbeiter*innen des Arbeitsbereichs Bildungspsychologie forscht sie zu „Lernen unter Covid-19-Bedingungen“. Befragungen haben gezeigt, wie wichtig die Erfüllung der psychologischen Grundbedürfnisse nach Kompetenzerleben, Autonomie und sozialer Eingebundenheit für Schüler*innen, Lehrende und Studierende ist. An starren Frontalunterricht über Zoom glaubt die Bildungsforscherin nicht. Sie gibt gestaffelte Feedbackschleifen und nimmt ihre Inputeinheiten als Videostreams auf. Angst, dass die Studierenden später gar nicht mehr zum Präsenzunterricht kommen, hat sie keine. „Den meisten fehlt die Universität als sozialer Ort. Aber es ist auch wichtig, dass wir digitale Alternativen weiterhin ermöglichen. Es wird auch nach Corona Menschen geben, die auf hybride Lehre angewiesen sind, sei es aus örtlichen, zeitlichen oder beruflichen Gründen“, sagt ­Holzer aus eigener Erfahrung.

Wer will mich? Was bringt ein Studium nun? Erstsemestrige ziehen fürs Studium manchmal aus einem anderen Bundesland oder dem Ausland in eine neue Stadt. „Viele sind im Lockdown auch einfach wieder nach Hause gezogen. Es war für sie nicht möglich, Anschluss zu finden, wenn sie keine Mitbewohner oder Partner in Wien haben. Einige sind gar nicht erst hergezogen, weil alles, selbst die Prüfungen, online stattgefunden hat“, beschreibt Helena die Situa­ tion von Studienkolleg*innen. Ganz selbstverständlich sind neben dem Studium erste Praktika und Jobs. Auf vielen Fachhochschulen ist Praxiserfahrung ein Hauptbestandteil der Lehre und für den Abschluss erforderlich. Obwohl Helena in ihrem Studium kein Pflichtpraktiku absolvieren muss, weiß sie, „dass man nur mit dem Bachelortitel schwer einen Job bekommt. Meine Studienkollegen haben Probleme gehabt, Praktika zu finden, die auch passen. Seitens der Universität gab es wenig Unterstützung, da es ja nicht verpflic tend ist. Aber in der Arbeitswelt braucht man Praxiserfahrung. Und Corona hat die Situation verschlechtert.“ „Unsere Studien vor Covid haben schon gezeigt, dass Studierende zwar mehr Lernstrategien kennen als Schüler*innen, aber nur wenige sie auch anwenden. Das bedeutet, dass nur wenige in der Lage sind, ein Faktenwissen in ein Handlungswissen umzusetzen“, sagt Bildungsforscherin Spiel. Im Elementarbereich stand während der Pandemie primär die Betreuung der Kinder im Mittelpunkt und nicht ihre Bildung. Welche Schwierigkeiten diese Kinder haben werden, sich Lerninhalte selbstständig anzueignen, werden die kommenden Jahre zeigen. Bereits im Nationalen Bildungsbericht 2018 steht, dass es Veränderungen im Bereich neue (digitale) Technologien geben muss. Ganz besonders sind die Auswirkungen auf Bildungseinrichtungen und ihre Möglichkeiten zur Gestaltung oder Auslagerung von Lehr-Lern-Arrangements zu ändern. „In den Schulen liegt der Fokus nun jetzt vor allem darauf, dass jedes Kind ein Tablet besitzt. Das ist natürlich wichtig, um am digitalen Unterricht teilzunehmen, doch werden die Kinder auch dabei unterstützt, mit den Technologien selbstständig und verantwortungsvoll umzugehen?“, fragt Spiel. Junge Menschen, die in die Welt hinauswollen, sollten nicht nur einen Titel haben, sondern auch die notwendigen Skills, um etwas umzusetzen. Das klappt, wenn auf die Person eingegangen wird. „Es kommt selten vor, dass auch wir etwas fordern dürfen“, sagt Helena zum Corona-Diskurs der letzten Monate, der Studierende beinahe ausgeblendet hat. Dabei muss genau diese Generation nicht nur die Schulden, die durch die Pandemie entstanden sind, begleichen, sondern auch die Gesellschaft und ihre Gewohnheiten verändern.

FOTOS: STEFAN KNITTEL, GERHARD SCHMOLKE, PAMELA RUSSMANN

Viele Studierende haben ihre Universität oder FH noch nie von innen gesehen


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  17

Helena, 10 „Die perfekte Schule wäre wie ein Hotel mit großen Räumen, schönen Möbeln, Deko und hübschen Bildern an der Wand. Man könnte dort im Pool ­sitzen und in wasserfeste Hefte schreiben. Als Beruf wünsche ich mir später etwas, das man draußen machen kann. Ich will nicht den ganzen Tag in ­einem Büro sitzen. Etwas mit Menschen oder Tieren, vielleicht Tierpflegerin im Zoo oder in einem Tierheim.“


18  FALTER 39/21   H EUR EKA 5/21  :   T I T ELT H E M A

Die vierte Welle macht es schlimmer S

usanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie an der Universität Zürich, und Meichun Mohler-Kuo von der Universität Lausanne haben die erste repräsentative schweizweite Studie zu Stress und psychischen Problemen während des ersten Covid-19-Lockdowns bei Kindern und Jugendlichen veröffentlicht Frau Professor Walitza, welchem Stress waren Kinder, Jugendliche und Eltern während des ersten Lockdowns in der Schweiz ausgesetzt? Susanne Walitza: Es ist wichtig, dass wir uns vor Augen halten: Kinder und Jugendliche haben noch deutlich weniger Bewältigungsstrategien gegen Stress entwickelt als Erwachsene. Sie haben viel weniger Lebenserfahrung, befinden sich mitten in wichtigen Entwicklungsschritten und können reale Furcht und Erwartungsängste noch nicht so gut unterscheiden. Auch wie Eltern mit eigenen Ängsten und denen der Kinder umgehen, spielt eine wichtige Rolle. Kinder und Jugendliche fühlten sich häufig dadurch belastet, dass ihre tägliche Routine verloren gegangen war. Sie äußerten, dass es für sie schwer war, dass sie wichtige Pläne oder Ereignisse ändern, verschieben oder absagen mussten und nicht an sozialen Aktivitäten und normalen Aktivitäten in Freizeit und Schule teilnehmen konnten. Die Symptome, wie sich Angst bei Kindern ausdrückt, sind vielfältig. Häufige Bauchschmerzen, Irritabilität oder auch eine Art „Angststarre“ bis hin zu Wutanfällen. Die Eltern, vor allem Mütter, empfanden es belastend, nicht zu wissen, wann die Pandemie enden wird, sozial massiv eingeschränkt zu sein sowie Familie und Arbeit neu organisieren zu müssen. Welche Empfehlungen leiten Sie aus den Studienergebnissen für Schulen, Bildungsinstitutionen, Firmen, in denen Eltern arbeiten, und die Politik ab? Walitza: Die wichtigste ist, dass die Schulen so viel und lange wie möglich offen sein sollen. Die Kinder haben bereits im ersten Lockdown die Tagesstruktur und die Routine schmerzlich vermisst. Für Mütter war die Organisation von Arbeit, Familie, Homeoffice und Homeschooling eine enorme Belastung. Zweitens sollen Kinder neben der Schule Freizeitaktivitäten nachgehen, viel draußen und im Austausch mit anderen Kindern sein, um aktive positive Erfahrungen machen zu können und die Selbstwirksamkeit zu erleben. Fehlt dies aufgrund von Isolation, kommt es vermehrt zu Konzen-

INTERVIEW: DOROTHEE NEURURER

Die Schweizer Studie Mohler-Kuo, M.; Dzemaili, S.; ­ oster, S.; Werlen, L., Walitza, S. F Stress and Mental Health among Children/Adolescents, Their ­Parents, and Young Adults during the First COVID-19 Lockdown in Switzerland. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18, 4668. https://doi.org/10.3390/ ijerph18094668

„Quarantäne ist für einige Kinder noch belastender als der erste Lockdown, von dem alle Kinder gleichermaßen betroffen waren“ SUSANNE WALITZA, UNIVERSITÄT ZÜRICH

Susanne Walitza, Universität Zürich

trationsstörungen, Angst und einem deutlich erhöhten Medienkonsum. Dritte und nach wie vor zentrale Botschaft, Kinder und Jugendliche gehören zur besonders vulnerablen Gruppe, sprich sind von der Pandemie besonders betroffen. Sie leiden darunter, haben weniger Bewältigungsmechanismen und sind abhängiger davon, wie ihre Eltern die Situation bewältigen.

und die ­Ressourcen fehlen. Je jünger die Kinder sind, umso mehr sind sie von den Eltern abhängig. Wir wissen, dass Kinder viel mehr alleine waren. Und wir haben gesehen, dass der Medienkonsum bei einem Großteil der Jugendlichen im Lockdown stark anstieg und sich nach dem Lockdown bei den meisten wieder auf das Ausgangsniveau reduzierte. Bei einer kleinen Gruppe aber blieb er viel höher.

Sind Sie zuversichtlich, dass Ihre Empfehlungen berücksichtigt werden? Walitza: Unabhängig von unserer Studie haben wir den Eindruck, dass in der Schweiz klar der Wille da ist, die Schulen und beispielsweise Sportvereine so lange wie möglich offen zu lassen. Daher werden auch die Maßnahmen mit repetitiven Tests umgesetzt und die Impfka pagnen intensiviert mit dem Ziel, dass möglichst alle Lehrpersonen und alle impfwilligen Jugendlichen geimpft sind. Aber die vierte Welle ist da, und das hat schon jetzt dazu geführt, dass in der Schweiz und in den anderen europäischen Ländern aktuell wieder viele Kinder in Quarantäne sind. Das ist für einige Kinder jedoch noch belastender als der erste Lockdown, von dem alle Kinder ja gleichermaßen betroffen waren. Belastend ist auch die Unsicherheit, wie lange das so noch geht. In unserer Klinik sehen wir seit Herbst 2020 auch deutlich mehr Notfälle. Ein Teil dieser Jugendlichen wäre wahrscheinlich ohne die Pandemie nicht so akut und schwer erkrankt. Wie rasch sich diese Gruppe wieder erholen wird oder wie lange sie Behandlung braucht, wissen wir heute noch nicht genau. Wir wissen aus anderen Studien, dass die Jugendlichen in der zweiten und dritten Welle in den off nen Schulen den dortigen Stress hinsichtlich Lernziele besonders stark beklagten. Mein Ratschlag war hier, die schulischen Anforderungen den Bedingungen anzupassen, um den Stress zu reduzieren.

Corona hat das Internet zum neuen Status quo moderner Lernumgebungen erhoben. Haben der Frontalunterricht und das Klassenzimmer ausgedient? Walitza: Nein, überhaupt nicht. Für die Schule ist klar, dass der persönliche Austausch für die Kinder und Jugendlichen enorme Bedeutung für die soziale und emotionale Entwicklung hat. Aber ich denke, in den Schulen, an den Arbeitsplätzen und auch bei uns mit der Telemedizin hat uns die Pandemie gezwungen, die Digitalisierung voranzutreiben. Dabei wird uns der pathologische Medienkonsum noch sehr beschäftigen. Für Vorlesungen und Tagungen wird der Unterrichtsmix aus dezentralem und Onsite-Unterricht wohl die Zukunft. Ich persönlich finde es gut, nicht mehr zu jeder Sitzung fahren zu müssen. Aber es hat uns auch träge gemacht und führt dazu, dass wir uns noch weniger bewegen.

Welche Erkenntnisse gibt es über die psychischen Langzeitfolgen des Lockdowns bei Kindern? Walitza: Die sind noch nicht klar abzusehen. Es kommt hier sehr wahrscheinlich sehr auf die Ressourcen und Risikofaktoren an, die jedes einzelne Kind hat. Kinder in benachteiligten Familien haben es ungleich viel schwerer, durch die Pandemie zu kommen. Bei ihnen potenzieren sich die Risikofaktoren,

Wie sieht es mit der ­B ildungsgerechtigkeit aus? Walitza: Die Pandemie hat die Schere zwischen benachteiligten bzw. bildungsfernen Kindern und Kindern mit gutem sozioökonomischem Status extrem weiter auseinandergehen lassen. Davor haben die UNICEF und auch die OECD schon 2020 gewarnt. Auch in der Schweiz leben bis zu sechs Prozent der Kinder in Armut. Aber auch Kinder in Einelternfamilien waren massiv benachteiligt, da sie mit oder ohne Laptop mit der Bewältigung viel mehr sich selbst überlassen waren, wenn Mutter oder Vater arbeiteten und nicht helfen konnten. Meine Empfehlung war, dass die Schulen nachfragen sollten, ob die Kinder funktionierende Geräte haben, und diese gegebenenfalls zur Verfügung stellen. Für die Hilfe bei der Nutzung könnte man Studierende anstellen, das Gerät allein zu haben reicht noch nicht aus. Die Schere darf nicht noch weiter aufgehen, und ich denke, wir müssen unbedingt in Bildung investieren und diese gegebenenfalls in die Familien bringen. Hier gibt es viele Ansatzpunkte, wie man Kindern helfen kann.

FOTO: UNIVERSITÄT ZÜRICH, KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE

Eine Studie über die Corona-Folgen bei jungen Menschen in der Schweiz


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  19

Sirac, 7 „Ich will, wenn ich groß bin, Taxifahrer werden. Ich will später nämlich viel Geld verdienen und dabei Auto fahren. In der perfekten Schule wäre ich der Schuldirektor und würde bestimmen, dass wir jeden Tag Turnen haben und viel mehr spielen.“


20  FALTER 39/21   H EUR EKA 5/21  :   T I T ELT H E M A

:  K R I S E N M A N AG E M E N T

Hoffnung im Wintersemester Wieder im Hörsaal: Mit Impfen, 3-G-Regel und ständigem Anpassen an die Infektionslage durchs Wintersemester JOHANNES MÖRTH

Studienstart im Wintersemester 2021/22: Auf der einen Seite steht der Wunsch der Studierenden, Lehrenden und Forschenden nach einem normalen Hochschulbetrieb in größtmöglicher Präsenz. Auf der anderen Seite rollt gerade die vierte Infektionswelle des Coronavirus mit stark steigenden Infektionszahlen heran. „Die Universitäten und Hochschulen haben in den vergangenen 1,5 Jahren eindrucksvoll bewiesen, wie erfolgreich und verantwortungsvoll sie durch die Corona-Pandemie navigieren können. Deshalb gehe ich davon aus, dass sie das jetzt, wo es eine Corona-Impfung gibt, noch erfolgreicher schaffen werden“, sagt Elmar Pichl, Leiter der Hochschulsektion Wissenschaftsmini terium. Die Grundlage dafür biete das zweite Covid-19-Hochschulgesetz, das den Hochschulleitungen die flexible Anwendung der 1-G-, 2-G- oder 3-G-Regelung einräumt.

„­Damit entscheiden sie selbst im ­ ahmen ihrer Autonomie, wie sie den R Zugang zur Universität bzw. Hochschule an ihren Standorten gestalten wollen“, betont Pichl. So steht es auch in dem Fünf-Punkte-Fahrplan, den das Ministerium anlässlich des Starts des Wintersemester vorgelegt hat. Es handelt sich um Empfehlungen, an denen sich die einzelnen Universitäten und Hochschulen orientieren können. Und das tun sie durchaus, wie aus einer kürzlich durchgeführten Umfrage der Universitätenkonferenz an ­allen 22 öffentlichen Universitäten hervorgeht. Sie zeigt, dass die Hälft der Universitäten im Wintersemester von Präsenzlehrveranstaltungen von mehr als neunzig Prozent ausgeht, darunter die WU Wien, die Universität Graz ­sowie insbesondere die Kunstund Medizinuniversitäten. An den üb-

rigen Universitäten beträgt der Anteil der geplanten Präsenzlehrveranstaltungen bis zu achtzig Prozent. Durchwegs alle 22  öffentlichen Universitäten setzen derzeit auf die 3-G-Regel, wobei die Umsetzung von Uni zu Uni variiert. Die Kontrollen reichen von lückenloser bis zu stichprobenartiger Überprüfung. An der TU Wien wurde eine Art „Grüner Pass“ entwickelt, der die Kontrolle von 3-G-Nachweis und Identität in einem Schritt ermöglicht. Zusätzlich zu den 3-G-Regeln empfiehlt die Mehrheit der Unis das Einhalten von Mindestabständen, an der TU Wien etwa bleibt in den Hörsälen jeder zweite Platz frei. Die Hälfte der Standorte schreibt außerdem derzeit eine Maskenpflicht in öffentlichen Bereichen und auf Verkehrsflächen vor. Am wichtigsten ist aber, dass alle öffentlichen Universitäten Impfaktio­ nen für ihre Studierenden und Leh-

renden gestartet haben. Beispiele gibt es viele, allen voran die Impfstelle der TU Wien in Kooperation mit der Stadt Wien: www.tuwien.at/ tu-wien/corona/schutzimpfung-an-dertuw und https://coronavirus.wien.gv.at/ impfen-ohne-termin Am Campus der Universität Klagenfurt bestehen am 1., 4. und 5. Oktober Impfmöglichkeiten für alle Studierenden und Beschäftigten: www.aau. at/corona In einer Gemeinschaft aktion bieten die steirischen Hochschulen eine „Fast Lane“ bei der Impfstraße in der Grazer Messe. Sie steht bis zum 11. Oktober zur Verfügung: www.­steiermark-impft.at Mit einer Rückkehr zu überwiegendem Distance Learning rechnen die Universitäten im Wintersemester 2021/22 übrigens nicht, wohl aber mit einem „Finetuning“ der Corona-Maßnahmen – je nach Infektionslage.

­ räsenzunterricht vermehrt zum EinP satz kommen. Eigeninitiative  Der Grund, warum es in Österreich trotz aller Fehler im System viele gute Lehrende und oft sehr guten Unterricht gibt. Kompetenzorientierung  Ist in Österreichs Bildungswesen in aller Munde, aber nur in wenigen Klassenräumen. Hier wird in Wirklichkeit viel klassische Vermittlung von Wissen statt Kompetenzen betrieben. Lerninhalte  Wichtiger als der Lernstoff ist im Unterricht, wie man ihn rüberbringt. Weniger ist hier oft mehr. Lernplattform  Internet-Browserbasiertes System, das mit Kursmöglichkeiten, Chats, schwarzen Brettern, Quiz, Stundenplänen und Aufgabenwerkzeugen digitalen Fernunterricht ermöglicht. In Österreich gibt es trotz der durch die Covid-19-Krise erzwungenen Haus- und Hybridunterrichts-Phasen keine einheitliche Lernplattform, was Expert*innen unerhört finden Pädagogik  Die Wissenschaft, wie man Bildung vermittelt. Papierstapel  Im von Covid-19 erzwungenen Hausunterricht war es vor allem bei den jüngeren Schüler*innen gang und gäbe, dass die Eltern stapelweise Übungszettel für ihre Sprösslin-

ge von den Schulen abholten. Präsenzunterricht  Bindet Lehrende und ihre Schülerinnen und Schüler an einen Ort. Schulautonomie  Brachte den oft wenig internetaffine Direktor*innen in der Covid-19-Krise Stress, weil sie nicht auf eine einheitliche Lernplattform und digitale Formate zurückgreifen konnten, sondern alles einzeln ­heraussuchen und auf Tauglichkeit prüfen mussten. Schulpflicht  Gibt es in Österreich nicht. Hierzulande wurde von Kaiserin Maria Theresia anno 1774 „nur“ eine Unterrichtspflicht eingeführt. Sie hätte sonst wohl die anderen Adeligen vergrämt, die ihre Kinder am Hofe und nicht in gewöhnlichen Schulen erzogen wissen wollten. Stundenplan  Steht einer modernen Pädagogik ziemlich im Weg und sollte durch Fächerblöcke, Projekttage und Pausen zum Erarbeiten der Lernin­ halte ersetzt werden. Umgedrehter Unterricht/Flipped Classroom  Dabei wird nicht in der Schule gepaukt und zuhause das Gelernte in Hausaufgaben umgesetzt, sondern die Schülerinnen und Schüler erarbeiten sich ihre Lerninhalte zuhause selbst und wenden sie dann im Unterricht an.

:  DA S T H E M A VO N A B I S Z

Bildung in Zeiten von Corona: Das Glossar JOCHEN STADLER

Aufmerksamkeitsforschung  Weist seit Jahrzehnten darauf hin, dass darbietender Unterricht die Aufmerksamkeit der Zuhörenden nicht lange bindet. Das gilt für Fernunterricht noch viel mehr als bei Präsenzunterricht. Bildungspolitik  Ist in Österreich von persönlichen Überzeugungen und ewigen Diskussionen geprägt. Chaos  Konnte in Zeiten von Corona teils mehr, teils weniger durch Eigeninitiative vermieden werden. Constructive Alignment  Didaktische Vorgehensweise, bei der man sich zuerst überlegt, welche Kompetenz man fördern will, dann, mit welcher Prüfungsform man die Lernziele abfragt, und schließlich, mit welchen Methoden man sie erreicht. Darbietender Unterricht  Im Volksmund „Frontalunterricht“ genannt. Geschieht nach dem Motto: „Wenn alles schweigt und einer spricht, ist das Unterricht.“ Didaktik  Die Wissenschaft des Lehrens. Als Teil der Pädagogik gehört sie neben der Fachausbildung zur Lehrendenschulung. Allerdings klafft eine Kluft zwischen didaktisch besser ausgebildeten Pflicht chullehrenden und weniger didaktisch affine AHS-Vortragenden, die oft mehr auf Inhalte setzen als auf probate Vermittlung.

Didaktische Laufbahn  Gibt es für Lehrende nicht. Wenn sie bessere Didaktiker*innen werden, haben sie nichts davon. Karrierechancen finde sie nur in der Verwaltung. Fernunterricht/Distance Learning  Das Näherbringen von Kenntnissen und Fähigkeiten bei räumlicher Trennung von Lehrenden und Lernenden bei teils freier Zeiteinteilung. Föderalismus-Gap  Die Covid19-Krise legte offen, dass das Bildungsministerium zwar schöne Konzepte machen kann, aber von den Bundesländern abhängig ist, was die Lehrendenschaft betrifft, und von Gemeinden bei der Schulerhaltung. Viele Millionen Geräte für Schüler*innen sind nutzlos, wenn es in den Klassenräumen weder WLAN noch Internetanschluss gibt. Homeschooling  Bildung der Kinder durch Eltern oder Privatlehrende zuhause. Funktionierte zum Beispiel bei Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Wolfgang von Goethe prima. Hybridunterricht  Stellte sich in der Covid-19-Krise als die ineffizienteste und chaotischste Form des Unterrichts heraus. Erklärvideos  Entwickelten sich im Fernunterricht zum Hit und werden wegen ihres Erfolges auch im


FOTO: KARIN WASNER

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  21

Lisi, 5 „Wenn ich erwachsen bin, will ich Künstlerin sein und den ganzen Tag Bilder malen. Von der Schule wünsche ich mir, dass ich dort Englisch und ­Russisch lerne, dass ich gute Noten bekomme und viele Freunde finde. Und überall an den Wänden sollen von Schulkindern gemalte Bilder hängen.“


22  FALTER 39/21   H EUR EKA 5/21  :   W I SSENSC H A F T STH EO R IE

Wissenschaft ist Politik Über den gescheiterten Versuch, Wissenschaft und Politik sauber zu trennen issenschaft wird oft als wertfreies Unterfangen dargestellt. Neutralität, Rationalität und Objektivität sind ­etablierte Grundpfeiler. Wertbehaftete Forschung gilt als voreingenommen und daher „schlechter“. Derartig starke Abgrenzungsversuche zu hinterfragen ist man fast gezwungen: Das wertfreie Ideal ist keine essenzielle Eigenschaft von Wissenschaft, sondern ein historisch gewachsenes, wenn auch sehr dominantes Narrativ. Es fällt schwer anzunehmen, dass einzelne Wissenschaftler*inne keine Werturteile fällen. Die Folgen des Klimawandels oder Therapiemöglichkeiten von Krebserkrankungen zu beforschen ist nicht wertfrei. Hinzu kommt, dass wissenschaftliche Gemeinschaften gewisse ­Standards, Werte und Richtlinien als institutionelle Regulative benötigen. Kommunalität, Universalität, Uneigennützigkeit, Skeptizismus Derartige Überlegungen führten zu Vorschlägen, wie die Wissenschaft dennoch wertfrei bliebe. Der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton formulierte 1942 ein „Ethos der Wissenschaft . Es gebe vier universelle Normen: Kommunalität, Universalität, Uneigennützigkeit und institutionalisierten Skeptizismus. Während diese Normen auf die Institution abzielten, war es eine populäre Übung in der Wissenschaftsphilo ophie, Werte zu formulieren, die wissenschaftliche Theorien zu erfüllen hätten. Wohl am bekanntesten sind die vom Wissenschaftsphilo ophen Thomas Kuhn formulierten Werte. Er fordert Akkuratheit, Einfachheit, Konsistenz, Fruchtbarkeit und größtmöglichen Geltungsbereich. Derartige Werte werden als „epistemisch“ bezeichnet, das heißt ausschließlich dem Wissensgewinn dienend. Das wertfreie Ideal und seine Begleiterscheinungen mussten sich vielfacher Kritik unterziehen. 1976 zeigte der britische Soziologe Michael Mulkay, dass die Merton’schen Normen weniger als institutio­nelle Imperative, sondern vielmehr als rhetorische Ressourcen verwendet werden. Das wertfreie Ideal, das Ethos der Wissenschaft, werde dann instrumentalisiert, wenn Wissenschaft er*innen professionelle oder institutionelle Ziele verfolgen. Therapeutika ausschließlich an weißen Männern überprüft Abseits von der Rhetorik des wertfreien Ideals wurde die Tragbarkeit der epis­ temischen Werte von feministischen Wissenschaftsphilo oph*innen in Frage gestellt. So bedeutete der Wert der „Einfachheit“ in klinischen Studien oft, dass Therapeutika ausschließlich an weißen Männern überprüft wurden. In den USA war dies etwa bis in die frühen 1990er-Jahre der goldene Standard evidenzbasierter Medizin. Der Imperativ der Einfachheit kann

TEXT: SOPHIE JULIANE VEIGL

„Feministische Wissenschaftskritik weißer bürgerlicher Frauen kann sich nicht des Vorwurfs der Voreingenommenheit erwehren“

Oyéronké Oyewùmí, Soziologin

Maria Lugones, Philosophin

also auch systematische Benachteiligung zur Folge haben. Mit anderen Worten führt das Ideal der Wertfreiheit, das die Wissenschaft unvoreingenommen machen sollte, in manchen Situationen zu einem Paradebeispiel von Voreingenommenheit. Der wohl notorischste Fall dieser Voreingenommenheit stammt aus der Reproduktionsbiologie. Die US-amerikanische Anthropologin Emily Martin zeigte Anfang der 1990er-Jahre, dass die Reproduktionsforschung durch gegenderte Annahmen über Ei und Spermium, vis-à-vis Frau und Mann, geleitet sei: Die Eizelle wurde als passiv und nährend, das Spermium als aktiv und kriegerisch konzeptualisiert. Befruchtung nach diesem Modell erfolgt, wenn das zielstrebige Spermium wie ein Geschoß in das passive Ei eindringt. Es ist keine Überraschung, dass derartige Vorannahmen existieren. Die Frage ist vielmehr, beeinflu sen sie die idealerweise unvoreingenommene Forschung? ­Martin konnte zeigen, dass dem so war. Diese Vorannahmen erschwerten es, Daten, die zeigten, dass Spermien sich nicht geradlinig, sondern im seitlichen Zickzack bewegen, und dass es aufwendige Prozesse des Eis braucht, damit ein Spermium die Zellmembran passieren kann, erfolgreich in den wissenschaftlichen Korpus einzufügen. Eine ähnlich frivole Episode beschreibt die Medizinhistorikerin Roberta Bivins. Als in den 1950er-Jahren der genetische Austausch von Bakterien beforscht wurde, verwandelten sich genetisches Material spendende und empfangende Bakterien wie von selbst in Männer und Frauen. Der zelluläre Fortsatz, der genetisches Material überträgt, wurde zum „männlichen Geschlechtsorgan“. Unvollständige Übertragung von genetischem Material wurde „Coitus Interruptus“ genannt. „Weibliche“ Bakterien waren passiv, nährend, etwas vermissend; „männliche“ Bakterien waren aktiv, durchdringend, entscheidend. Problematisch an diesen Fällen ist nicht nur das Vernatürlichen von gesellschaftlichen Ungleichheiten im Forschungsmaterial, sondern auch die Asymmetrie der Anwendbarkeit. Als gezeigt wurde, dass „weibliche“ Bakterien auch genetisches Material übertragen können, wurde diese Entdeckung nicht gegen heteronormative Gesellschaftsid en mobilisiert. Die Problematik endet nicht bei den gegenderten Zellen. Die argentinische Philosophin Maria Lugones kritisiert, dass die Tradition der Kritik, die in den letzten Absätzen pauschal „feministisch“ genannt wurde, selbst voreingenommen ist. Sie setze die „Intersektionalität“, das Mitdenken von Mehrfachdiskriminierung, nicht um. Die angeblich universal „gegenderte“ Perspektive beschreibt lediglich den Stereotyp einer europäischen bürgerlichen Frau im 19. Jahrhundert. Kolonialisierten Frauen des globalen Südens wurden andere Stereotype, gegen-

sätzlich der keuschen weißen Frau, zugewiesen. Diese Stereotype halfen den Missbrauch an nicht weißen Frauen zu normalisieren. Ebenso entsprechen europäische Wäscherinnen, Bedienstete, Sexarbeiterinnen usw. nicht dem vermeintlich allgemeinen Stereotyp. Hinzu kommt, wie die nigerianische Soziologin Oyéronké Oyewùmí oder die dem Stamm der Laguna Pueblo zugehörige Anthropologin Paula Gunn Allen hinweisen, dass die Dichotomisierung von Frau und Mann, Homo- und Heterosexualität oft erst durch die Kolonisatoren erfolgte. Diese Kategorien sind also nicht allgemeingültig. So vernatürlichen auch die feministischen Kritikerinnen kolonialistische Annahmen im Analyseobjekt. Die feministische Wissenschaft kritik, die über Jahrzehnte vor allem von weißen bürgerlichen Frauen betrieben werden konnte, kann sich auch nicht des Vorwurfs der Voreingenommenheit erwehren. Was bringt die Kritik an den Wissenschaften? Kritik an der Voreingenommenheit der ­Wissenschaften zu üben gleicht dem ­Schälen einer Zwiebel: Jede Schicht wirft der vorherigen Voreingenommenheit vor, verschuldet sich aber selbst wieder. Wa­ rum ist es dann wichtig, die Zwiebel weiter zu schälen, also die Kritik fortzuführen? Zum einen wäre da die Intuition, dass weniger voreingenommene Forschung bessere Ergebnisse liefert. Zum anderen: Die kritischen Ansätze, die in diesem Artikel diskutiert wurden, sind politisch und werte­ behaftet. Das widerspricht dem wertfreien Ideal. Wieso führen politisch motivierte Studien manchmal zu einer Korrektur, die die wissenschaftliche Ergebnislage unvoreingenommener macht? Ein Weg, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, ist, das Beschriebene umzuformulieren: Feministische Wissenschaftskritik zeigt, dass letztlich auch die vermeintliche Wertfreiheit und die „rein“ epistemischen Werte politisch sind. Da­raus würde folgen, dass Wissenschaft und Politik grundsätzlich untrennbar sind. Müssten wir dann zugestehen, was etwa Donald Trump der Klimawandel-Forschung vorwarf: Sie sei politisch – und deshalb nicht glaubwürdig? Der österreichische Philosoph und Ökonom Otto Neurath kritisierte in der Zwischenkriegszeit die absoluten Wahrheitsansprüche der Wissenschaft vis-à-vis der Religion. Wissenschaft ist ein menschliches und politisches Unterfangen. Einhundert Jahre später wäre es an der Zeit, die unergiebige Dichotomie vom Politischen und Wissenschaftl chen aufzulösen. Wissenschaft ist politisch. Deswegen vermag auch nur politische Kritik Voreingenommenheit, etwa im Bezug auf gesellschaftliche Ungleichheiten, zu erkennen, zu kritisieren und aufzulösen.

FOTOS: STONEBROOK UNIVERSITY, BINGHAMTON UNIVERSITY

W


Z U G U TE R L E T Z T   :   H EU R E KA  5/21   FALTER 39/21  23

:  G E D I C H T

O SWA L D EG G E R : E N T W E D E R I C H H A B E D I E FA H RT A M M I SS I SS I P P I …

In Oswald Eggers (Jg. 1963) Texten spricht Natur, als käme sie selbst zu Wort. Programmatisch der Titel seines neuesten Buches: „Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt“ (Suhrkamp 2021)

Knochig, und zittrig pfaucht und steigt aus dem Geröllbett heißer, flimmer der Gneismassen Luft auf durch die Miragen und Flumen: Der Schutt hat sich sondiert, in feinerdige und steinige Bestandteile; die Blätter welken sich tot und verdorrten, sie knoten und verwinden und krümmen sich vor Dürre. Schuttzungen über einem Schotterbett aus eckigen Gesteinsbrocken. Die lockere und trockene Anhäufung, die Packungen der Knotten und Blöcke dagegen drehten das oft zähe Netz: Verhäufte Erde, Mulden und rundgeschliffen Granitbröckel von Faust- bis Kopfgröße liegen fest und dicht gepackt aufeinander. Ich blicke schon auf den Mississip-

pi, dessen Rieselfläche plötzlich, kabbelig und seich, in Unruhe gerät; ich drehe mich um, sehe Fäden (etwas Ähnliches), die sich aber vor den Augen zusammenballten und als zittrige Kontur umfüllten. Inmitten Rippeln und durch die äußeren durchsichtigen Wasserlamellen durch sehe ich die zu Unmulden eingetieften cumuli ganz aufgehellter Lichtfl cken. Ein Wegnetzwerk von Runsenund Uferkämmen umschließt sie mit ovalblasigen Kratern: Ringnischen-Kringel, von Moosknotenpolstern gebildete, flin erdig apere Krateröfen und Feldern: zu Grus zerfallen und nur an den Berührstellen zu gegenpolporigen Schäumringen zusammengewachsenen Löchern.

AUS: OSWALD EGGER: ENTWEDER ICH HABE DIE FAHRT AM MISSISSIPPI NUR GETRÄUMT, ODER ICH TRÄUME JETZT

LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT) :  B I G P I C T U R E AU S B U DA P E ST

:  I M P R E SS U M Herausgeber: Armin Thurnher; Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Redaktion: Christian Zillner; Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Ewald Schreiber; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenle ung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenle ung/falter ständig abrufba .

HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

ERICH KLEIN

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Billy Wilder Calista, eine junge Griechin, lernt Mitte der 1970er-Jahre beim Trampen durch Amerika zufällig Billy Wilder kennen. Der englische Romancier Jonathan Coe lässt in „Mr. Wilder und ich“ die mittlerweile verheiratete Komponistin aus einem Abstand von fünf Jahrzehnten die unwahrscheinliche Begegnung und das darauffolgende lebensentscheidenden Engagement beim Film rekapitulieren. Das verführerische Genre der Nonfiction- ovel ist mit Witz durchsetzt, als stammte sie vom Großmeister der Hollywoodkomödie selbst. „Sunset Boulevard“, „Das Appartement“, oder „Manche mögen’s heiß“ hatten Wilder nach dem Krieg berühmt gemacht, doch der Bedarf an Kunst, große Fragen in scheinbar läppische Unterhaltungsfilme zu verpacken, ist mittlerweile im Abklingen begriffen Die Dreharbeiten zu „­Fedora“, einer vertrackten Geschichte um eine einstige Filmdiva, bekommen erst Brisanz, als ein Teil der Dreharbeiten in Deutschland stattfi det, jenem Land, aus dem der gebürtige österreichische Jude ­Billy Wilder einst vor den Nazis floh Er hatte unmittelbar nach Kriegsende im Auftrag der US-Army eine Dokumentation über die Gräuel der Konzentrations­lager gemacht und sich später in einer Reihe von Komödien mit der deutschen Frage und den Nazis auseinandergesetzt. Als ihm aber eine Journalistin die Frage stellt, wie es für ihn sei, den neuen Film in Deutschland zu drehen, folgt eine bis heute wuchtige Antwort: „Ich bin jetzt wohl in einer Winwin-Situation.“ „Wie meinen Sie das?“, fragt die Journalistin. „Ich meine“, sagt Billy, „dass ich mit diesem Film nichts zu verlieren habe. Wenn es ein großer Erfolg wird, ist es meine Rache an Hollywood. Wenn es ein Flop wird, ist es meine Rache für Auschwitz.“ Das Zitat ist authentisch, doch der Autor Jonathan Coe erlaubt sich darüber hinaus die scheinbare Aufkündi ung aller politischen Korrektheit. Auf meisterhafte Weise wird die Frage nach Schmerz und Ironie, nach Kunst und Kommerz sogleich an Leserin und Leser weitergereicht. Allein, diese ist nur durch Urteilskraft zu beantworten, deren Vo­ raussetzung nach Kant bekanntlich „Mutterwitz“ ist. Oder würde in diesem Fall auch altmodische Herzensbildung reichen? Jonathan Coe, Mr. Wilder und ich, Folio Verlag 2021


D I E W E LT D A N A C H Bernd Marin

Wie kann Leb en, A rb eit und Wohlfahr t nach der akuten Gesundheitsund Wir tschaftskrise nachhaltig erneuer t werden? 140 Seiten, € 12,–

faltershop .at | 01/536 60-928 | In Ihrer B uc hhand lung

NACH COR ONA


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.