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Die vierte Welle macht es schlimmer S
usanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie an der Universität Zürich, und Meichun Mohler-Kuo von der Universität Lausanne haben die erste repräsentative schweizweite Studie zu Stress und psychischen Problemen während des ersten Covid-19-Lockdowns bei Kindern und Jugendlichen veröffentlicht Frau Professor Walitza, welchem Stress waren Kinder, Jugendliche und Eltern während des ersten Lockdowns in der Schweiz ausgesetzt? Susanne Walitza: Es ist wichtig, dass wir uns vor Augen halten: Kinder und Jugendliche haben noch deutlich weniger Bewältigungsstrategien gegen Stress entwickelt als Erwachsene. Sie haben viel weniger Lebenserfahrung, befinden sich mitten in wichtigen Entwicklungsschritten und können reale Furcht und Erwartungsängste noch nicht so gut unterscheiden. Auch wie Eltern mit eigenen Ängsten und denen der Kinder umgehen, spielt eine wichtige Rolle. Kinder und Jugendliche fühlten sich häufig dadurch belastet, dass ihre tägliche Routine verloren gegangen war. Sie äußerten, dass es für sie schwer war, dass sie wichtige Pläne oder Ereignisse ändern, verschieben oder absagen mussten und nicht an sozialen Aktivitäten und normalen Aktivitäten in Freizeit und Schule teilnehmen konnten. Die Symptome, wie sich Angst bei Kindern ausdrückt, sind vielfältig. Häufige Bauchschmerzen, Irritabilität oder auch eine Art „Angststarre“ bis hin zu Wutanfällen. Die Eltern, vor allem Mütter, empfanden es belastend, nicht zu wissen, wann die Pandemie enden wird, sozial massiv eingeschränkt zu sein sowie Familie und Arbeit neu organisieren zu müssen. Welche Empfehlungen leiten Sie aus den Studienergebnissen für Schulen, Bildungsinstitutionen, Firmen, in denen Eltern arbeiten, und die Politik ab? Walitza: Die wichtigste ist, dass die Schulen so viel und lange wie möglich offen sein sollen. Die Kinder haben bereits im ersten Lockdown die Tagesstruktur und die Routine schmerzlich vermisst. Für Mütter war die Organisation von Arbeit, Familie, Homeoffice und Homeschooling eine enorme Belastung. Zweitens sollen Kinder neben der Schule Freizeitaktivitäten nachgehen, viel draußen und im Austausch mit anderen Kindern sein, um aktive positive Erfahrungen machen zu können und die Selbstwirksamkeit zu erleben. Fehlt dies aufgrund von Isolation, kommt es vermehrt zu Konzen-
INTERVIEW: DOROTHEE NEURURER
Die Schweizer Studie Mohler-Kuo, M.; Dzemaili, S.; oster, S.; Werlen, L., Walitza, S. F Stress and Mental Health among Children/Adolescents, Their Parents, and Young Adults during the First COVID-19 Lockdown in Switzerland. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18, 4668. https://doi.org/10.3390/ ijerph18094668
„Quarantäne ist für einige Kinder noch belastender als der erste Lockdown, von dem alle Kinder gleichermaßen betroffen waren“ SUSANNE WALITZA, UNIVERSITÄT ZÜRICH
Susanne Walitza, Universität Zürich
trationsstörungen, Angst und einem deutlich erhöhten Medienkonsum. Dritte und nach wie vor zentrale Botschaft, Kinder und Jugendliche gehören zur besonders vulnerablen Gruppe, sprich sind von der Pandemie besonders betroffen. Sie leiden darunter, haben weniger Bewältigungsmechanismen und sind abhängiger davon, wie ihre Eltern die Situation bewältigen.
und die Ressourcen fehlen. Je jünger die Kinder sind, umso mehr sind sie von den Eltern abhängig. Wir wissen, dass Kinder viel mehr alleine waren. Und wir haben gesehen, dass der Medienkonsum bei einem Großteil der Jugendlichen im Lockdown stark anstieg und sich nach dem Lockdown bei den meisten wieder auf das Ausgangsniveau reduzierte. Bei einer kleinen Gruppe aber blieb er viel höher.
Sind Sie zuversichtlich, dass Ihre Empfehlungen berücksichtigt werden? Walitza: Unabhängig von unserer Studie haben wir den Eindruck, dass in der Schweiz klar der Wille da ist, die Schulen und beispielsweise Sportvereine so lange wie möglich offen zu lassen. Daher werden auch die Maßnahmen mit repetitiven Tests umgesetzt und die Impfka pagnen intensiviert mit dem Ziel, dass möglichst alle Lehrpersonen und alle impfwilligen Jugendlichen geimpft sind. Aber die vierte Welle ist da, und das hat schon jetzt dazu geführt, dass in der Schweiz und in den anderen europäischen Ländern aktuell wieder viele Kinder in Quarantäne sind. Das ist für einige Kinder jedoch noch belastender als der erste Lockdown, von dem alle Kinder ja gleichermaßen betroffen waren. Belastend ist auch die Unsicherheit, wie lange das so noch geht. In unserer Klinik sehen wir seit Herbst 2020 auch deutlich mehr Notfälle. Ein Teil dieser Jugendlichen wäre wahrscheinlich ohne die Pandemie nicht so akut und schwer erkrankt. Wie rasch sich diese Gruppe wieder erholen wird oder wie lange sie Behandlung braucht, wissen wir heute noch nicht genau. Wir wissen aus anderen Studien, dass die Jugendlichen in der zweiten und dritten Welle in den off nen Schulen den dortigen Stress hinsichtlich Lernziele besonders stark beklagten. Mein Ratschlag war hier, die schulischen Anforderungen den Bedingungen anzupassen, um den Stress zu reduzieren.
Corona hat das Internet zum neuen Status quo moderner Lernumgebungen erhoben. Haben der Frontalunterricht und das Klassenzimmer ausgedient? Walitza: Nein, überhaupt nicht. Für die Schule ist klar, dass der persönliche Austausch für die Kinder und Jugendlichen enorme Bedeutung für die soziale und emotionale Entwicklung hat. Aber ich denke, in den Schulen, an den Arbeitsplätzen und auch bei uns mit der Telemedizin hat uns die Pandemie gezwungen, die Digitalisierung voranzutreiben. Dabei wird uns der pathologische Medienkonsum noch sehr beschäftigen. Für Vorlesungen und Tagungen wird der Unterrichtsmix aus dezentralem und Onsite-Unterricht wohl die Zukunft. Ich persönlich finde es gut, nicht mehr zu jeder Sitzung fahren zu müssen. Aber es hat uns auch träge gemacht und führt dazu, dass wir uns noch weniger bewegen.
Welche Erkenntnisse gibt es über die psychischen Langzeitfolgen des Lockdowns bei Kindern? Walitza: Die sind noch nicht klar abzusehen. Es kommt hier sehr wahrscheinlich sehr auf die Ressourcen und Risikofaktoren an, die jedes einzelne Kind hat. Kinder in benachteiligten Familien haben es ungleich viel schwerer, durch die Pandemie zu kommen. Bei ihnen potenzieren sich die Risikofaktoren,
Wie sieht es mit der B ildungsgerechtigkeit aus? Walitza: Die Pandemie hat die Schere zwischen benachteiligten bzw. bildungsfernen Kindern und Kindern mit gutem sozioökonomischem Status extrem weiter auseinandergehen lassen. Davor haben die UNICEF und auch die OECD schon 2020 gewarnt. Auch in der Schweiz leben bis zu sechs Prozent der Kinder in Armut. Aber auch Kinder in Einelternfamilien waren massiv benachteiligt, da sie mit oder ohne Laptop mit der Bewältigung viel mehr sich selbst überlassen waren, wenn Mutter oder Vater arbeiteten und nicht helfen konnten. Meine Empfehlung war, dass die Schulen nachfragen sollten, ob die Kinder funktionierende Geräte haben, und diese gegebenenfalls zur Verfügung stellen. Für die Hilfe bei der Nutzung könnte man Studierende anstellen, das Gerät allein zu haben reicht noch nicht aus. Die Schere darf nicht noch weiter aufgehen, und ich denke, wir müssen unbedingt in Bildung investieren und diese gegebenenfalls in die Familien bringen. Hier gibt es viele Ansatzpunkte, wie man Kindern helfen kann.
FOTO: UNIVERSITÄT ZÜRICH, KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE
Eine Studie über die Corona-Folgen bei jungen Menschen in der Schweiz