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Wissenschaft ist Politik Über den gescheiterten Versuch, Wissenschaft und Politik sauber zu trennen issenschaft wird oft als wertfreies Unterfangen dargestellt. Neutralität, Rationalität und Objektivität sind ­etablierte Grundpfeiler. Wertbehaftete Forschung gilt als voreingenommen und daher „schlechter“. Derartig starke Abgrenzungsversuche zu hinterfragen ist man fast gezwungen: Das wertfreie Ideal ist keine essenzielle Eigenschaft von Wissenschaft, sondern ein historisch gewachsenes, wenn auch sehr dominantes Narrativ. Es fällt schwer anzunehmen, dass einzelne Wissenschaftler*inne keine Werturteile fällen. Die Folgen des Klimawandels oder Therapiemöglichkeiten von Krebserkrankungen zu beforschen ist nicht wertfrei. Hinzu kommt, dass wissenschaftliche Gemeinschaften gewisse ­Standards, Werte und Richtlinien als institutionelle Regulative benötigen. Kommunalität, Universalität, Uneigennützigkeit, Skeptizismus Derartige Überlegungen führten zu Vorschlägen, wie die Wissenschaft dennoch wertfrei bliebe. Der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton formulierte 1942 ein „Ethos der Wissenschaft . Es gebe vier universelle Normen: Kommunalität, Universalität, Uneigennützigkeit und institutionalisierten Skeptizismus. Während diese Normen auf die Institution abzielten, war es eine populäre Übung in der Wissenschaftsphilo ophie, Werte zu formulieren, die wissenschaftliche Theorien zu erfüllen hätten. Wohl am bekanntesten sind die vom Wissenschaftsphilo ophen Thomas Kuhn formulierten Werte. Er fordert Akkuratheit, Einfachheit, Konsistenz, Fruchtbarkeit und größtmöglichen Geltungsbereich. Derartige Werte werden als „epistemisch“ bezeichnet, das heißt ausschließlich dem Wissensgewinn dienend. Das wertfreie Ideal und seine Begleiterscheinungen mussten sich vielfacher Kritik unterziehen. 1976 zeigte der britische Soziologe Michael Mulkay, dass die Merton’schen Normen weniger als institutio­nelle Imperative, sondern vielmehr als rhetorische Ressourcen verwendet werden. Das wertfreie Ideal, das Ethos der Wissenschaft, werde dann instrumentalisiert, wenn Wissenschaft er*innen professionelle oder institutionelle Ziele verfolgen. Therapeutika ausschließlich an weißen Männern überprüft Abseits von der Rhetorik des wertfreien Ideals wurde die Tragbarkeit der epis­ temischen Werte von feministischen Wissenschaftsphilo oph*innen in Frage gestellt. So bedeutete der Wert der „Einfachheit“ in klinischen Studien oft, dass Therapeutika ausschließlich an weißen Männern überprüft wurden. In den USA war dies etwa bis in die frühen 1990er-Jahre der goldene Standard evidenzbasierter Medizin. Der Imperativ der Einfachheit kann

TEXT: SOPHIE JULIANE VEIGL

„Feministische Wissenschaftskritik weißer bürgerlicher Frauen kann sich nicht des Vorwurfs der Voreingenommenheit erwehren“

Oyéronké Oyewùmí, Soziologin

Maria Lugones, Philosophin

also auch systematische Benachteiligung zur Folge haben. Mit anderen Worten führt das Ideal der Wertfreiheit, das die Wissenschaft unvoreingenommen machen sollte, in manchen Situationen zu einem Paradebeispiel von Voreingenommenheit. Der wohl notorischste Fall dieser Voreingenommenheit stammt aus der Reproduktionsbiologie. Die US-amerikanische Anthropologin Emily Martin zeigte Anfang der 1990er-Jahre, dass die Reproduktionsforschung durch gegenderte Annahmen über Ei und Spermium, vis-à-vis Frau und Mann, geleitet sei: Die Eizelle wurde als passiv und nährend, das Spermium als aktiv und kriegerisch konzeptualisiert. Befruchtung nach diesem Modell erfolgt, wenn das zielstrebige Spermium wie ein Geschoß in das passive Ei eindringt. Es ist keine Überraschung, dass derartige Vorannahmen existieren. Die Frage ist vielmehr, beeinflu sen sie die idealerweise unvoreingenommene Forschung? ­Martin konnte zeigen, dass dem so war. Diese Vorannahmen erschwerten es, Daten, die zeigten, dass Spermien sich nicht geradlinig, sondern im seitlichen Zickzack bewegen, und dass es aufwendige Prozesse des Eis braucht, damit ein Spermium die Zellmembran passieren kann, erfolgreich in den wissenschaftlichen Korpus einzufügen. Eine ähnlich frivole Episode beschreibt die Medizinhistorikerin Roberta Bivins. Als in den 1950er-Jahren der genetische Austausch von Bakterien beforscht wurde, verwandelten sich genetisches Material spendende und empfangende Bakterien wie von selbst in Männer und Frauen. Der zelluläre Fortsatz, der genetisches Material überträgt, wurde zum „männlichen Geschlechtsorgan“. Unvollständige Übertragung von genetischem Material wurde „Coitus Interruptus“ genannt. „Weibliche“ Bakterien waren passiv, nährend, etwas vermissend; „männliche“ Bakterien waren aktiv, durchdringend, entscheidend. Problematisch an diesen Fällen ist nicht nur das Vernatürlichen von gesellschaftlichen Ungleichheiten im Forschungsmaterial, sondern auch die Asymmetrie der Anwendbarkeit. Als gezeigt wurde, dass „weibliche“ Bakterien auch genetisches Material übertragen können, wurde diese Entdeckung nicht gegen heteronormative Gesellschaftsid en mobilisiert. Die Problematik endet nicht bei den gegenderten Zellen. Die argentinische Philosophin Maria Lugones kritisiert, dass die Tradition der Kritik, die in den letzten Absätzen pauschal „feministisch“ genannt wurde, selbst voreingenommen ist. Sie setze die „Intersektionalität“, das Mitdenken von Mehrfachdiskriminierung, nicht um. Die angeblich universal „gegenderte“ Perspektive beschreibt lediglich den Stereotyp einer europäischen bürgerlichen Frau im 19. Jahrhundert. Kolonialisierten Frauen des globalen Südens wurden andere Stereotype, gegen-

sätzlich der keuschen weißen Frau, zugewiesen. Diese Stereotype halfen den Missbrauch an nicht weißen Frauen zu normalisieren. Ebenso entsprechen europäische Wäscherinnen, Bedienstete, Sexarbeiterinnen usw. nicht dem vermeintlich allgemeinen Stereotyp. Hinzu kommt, wie die nigerianische Soziologin Oyéronké Oyewùmí oder die dem Stamm der Laguna Pueblo zugehörige Anthropologin Paula Gunn Allen hinweisen, dass die Dichotomisierung von Frau und Mann, Homo- und Heterosexualität oft erst durch die Kolonisatoren erfolgte. Diese Kategorien sind also nicht allgemeingültig. So vernatürlichen auch die feministischen Kritikerinnen kolonialistische Annahmen im Analyseobjekt. Die feministische Wissenschaft kritik, die über Jahrzehnte vor allem von weißen bürgerlichen Frauen betrieben werden konnte, kann sich auch nicht des Vorwurfs der Voreingenommenheit erwehren. Was bringt die Kritik an den Wissenschaften? Kritik an der Voreingenommenheit der ­Wissenschaften zu üben gleicht dem ­Schälen einer Zwiebel: Jede Schicht wirft der vorherigen Voreingenommenheit vor, verschuldet sich aber selbst wieder. Wa­ rum ist es dann wichtig, die Zwiebel weiter zu schälen, also die Kritik fortzuführen? Zum einen wäre da die Intuition, dass weniger voreingenommene Forschung bessere Ergebnisse liefert. Zum anderen: Die kritischen Ansätze, die in diesem Artikel diskutiert wurden, sind politisch und werte­ behaftet. Das widerspricht dem wertfreien Ideal. Wieso führen politisch motivierte Studien manchmal zu einer Korrektur, die die wissenschaftliche Ergebnislage unvoreingenommener macht? Ein Weg, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, ist, das Beschriebene umzuformulieren: Feministische Wissenschaftskritik zeigt, dass letztlich auch die vermeintliche Wertfreiheit und die „rein“ epistemischen Werte politisch sind. Da­raus würde folgen, dass Wissenschaft und Politik grundsätzlich untrennbar sind. Müssten wir dann zugestehen, was etwa Donald Trump der Klimawandel-Forschung vorwarf: Sie sei politisch – und deshalb nicht glaubwürdig? Der österreichische Philosoph und Ökonom Otto Neurath kritisierte in der Zwischenkriegszeit die absoluten Wahrheitsansprüche der Wissenschaft vis-à-vis der Religion. Wissenschaft ist ein menschliches und politisches Unterfangen. Einhundert Jahre später wäre es an der Zeit, die unergiebige Dichotomie vom Politischen und Wissenschaftl chen aufzulösen. Wissenschaft ist politisch. Deswegen vermag auch nur politische Kritik Voreingenommenheit, etwa im Bezug auf gesellschaftliche Ungleichheiten, zu erkennen, zu kritisieren und aufzulösen.

FOTOS: STONEBROOK UNIVERSITY, BINGHAMTON UNIVERSITY

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