105 – Hex Hex
Elmar Tannert kennt man in und um Nürnberg als ziemlich geschickten Erzähler. Er schreibt Romane und Erzählungen und ist dafür unter anderem mit dem Kulturförderpreis der Stadt Nürnberg ausgezeichnet worden. Zusätzlich übersetzt Elmar Bücher aus dem Französischen und Tschechischen und spielt Bass bei der Band Die Hoteltiere – mehr zu diesen Tieren gibt es im nächsten curt. Für unser curt-Buchprojekt Die Schreibkrise hat Elmar uns ein Märchen zur Verfügung gestellt, das wir an dieser Stelle vorab für Euch veröffentlichen möchten. Und hinterger haben wir Elmar noch ein paar ganz wichtige Märchenfragen gestellt ...
Die verhexte Welt ein Märchen von Elmar Tannert für die curt-anthologie „SCHReiBKRISE“ Die Hexe Idaia lebte mit ihrer Katze Laetizia in einem kleinen Häuschen tief im Wald zwischen den Dörfern Oberküchelbach und Unterküchelbach. Eines Tages brach sie ganz früh am Morgen auf, um Kräuter zu sammeln, und als sie spät am Abend wieder nach Hause kam, war sie so müde, dass sie beschloss, für sich und für Laetizia einen langen Schlaf zu hexen. Den Zauberspruch, den sie dafür verwendete, sprach sie vorwärts und rückwärts, und er ging so: „Annasusanna, Nebel sei dies Leben! Wir ruhen bis zur elften Stunde gerufen aus des Raben Munde! Nebel sei dies Leben, Annasusanna!“ Aber die Hexe Idaia hatte vergessen, ihre Rabenuhr aufzuziehen. Die Uhr blieb stehen, der Rabe kam nicht mehr heraus und krächzte nicht mehr, und wäre nicht nach fünfhundertvierundzwanzig Jahren, drei Monaten und acht Tagen eine Maus gekommen, die der Hexe Idaia in die Nase biss, wäre sie womöglich nie mehr aufgewacht. Idaia stand auf und zog sich an und wunderte sich über den vielen Staub und die Spinnweben in ihrem Haus und das versteinerte Brot im Brotkasten, aber wie lang sie geschlafen hatte, das wusste sie nicht. „Laetizia, wach auf! Ich habe Hunger und Durst! Ich brauche frisches
Brot, ich brauche Käse, ich brauche Holundersaft!“ sagte sie zu ihrer Katze. „Ich muss unbedingt zum Markt in die Stadt. Komm mit!“ Laetizia räkelte und streckte sich und sprang auf Idaias Schulter, Idaia nahm ihren Korb, und sie machten sich auf den Weg zur Stadt, durch den Wald und zwischen den Feldern hindurch. Zu Fuß, denn auf ihrem Besen reiten Hexen nur in der Nacht. Es dauerte nicht lange, da hörten Hexe Idaia und Katze Laetizia ein Geräusch, das sie noch nie gehört hatten. Auf dem Feldweg näherte sich nämlich ein Bauer mit seinem Traktor, und der Traktor zog einen Anhänger, voll beladen mit Kartoffeln. Idaia erschrak und sprang in den Graben, denn einen Wagen, der ohne Pferde fährt und dabei Krach macht, hatte sie noch nie gesehen und noch nie gehört. Der Bauer hielt an und fragte: „Kann ich Ihnen helfen, gute Frau?“ Die Hexe Idaia kroch zitternd aus dem Graben hervor und sagte: „Ich muss zum Einkaufen in die Stadt.“ „Dort muss ich auch hin“, sagte der Bauer, „ich verkaufe nämlich meine Kartoffeln auf dem Markt! Steigen Sie auf, ich nehme Sie mit!“ Die Hexe fürchtete sich immer noch vor dem lauten Traktor, aber der Bauer schien ihr ganz nett zu sein. Er reichte Idaia die Hand, half ihr auf den Traktorsitz und sagte: „Ich bin der Bauer Kolb aus Oberküchelbach,