CURT YOUR LOCALS #247 Februar/Maerz 2021

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7 – egers Kolumne

matthias egers egersdörfer: BR KLASSIK Seit einigen Jahren suche ich schon Trost und Kraft in der klassischen Musik. Als Heranwachsender ignorierte ich diese hohe Kunst. Mein Vater hörte zu der Zeit oft seinen Hayden, seinen Schubert und seinen Bach. Mir blieb der Zugang zu großer Orchester- und Opernmusik, generell Musik auf klassischen Instrumenten fremd und fast unangenehm. Die Ablehnung resultierte wohl aus einer milden Form der Renitenz gegenüber dem Erzeuger und seinen Neigungen. Inzwischen habe ich ein Alter erreicht, in dem das Bücken zum Schnürsenkelbinden an manchen Tagen eine kleine Anstrengung bedeutet. Leichter, so erscheint es mir jedenfalls, kann ich heute den halbtiefen Graben eines Vorurteils überspringen, ohne dabei ins Straucheln zu geraten. Gestern hörte ich wieder den Hayden auf Bayern 4 und gedachte wohlwollend meines Vaters und seines Besitzanspruches an dem großen Komponisten. Freilich erlaube ich mir immer wieder auch einmal kurze akustische Stippvisiten in die Klangwelten von zeitgenössischem Jazz und unregelmäßig auch Pop. In der Phase meiner späteren Jugend lauschte ich oft und gern den musikalischen Werken des amerikanischen Trompeters Miles Davis. Allein das physische Vorhandensein dieser Tonträger erzeugt bei mir jetzt schieres Glück, das mich freundlich über die Vergänglichkeit und das Rasen der Zeit hinweg schwin-

delt. Aber als ein wirkungsstarkes Medikament gegen die Zumutungen der zersplitterten Realitätskulisse helfen nur abgehangene, ernste Klänge, deren Absicht über eine dumpf-rhythmische Penetration des äußeren Gehörgangs hinausgeht. Komme ich beispielsweise in den huldvollen Genuss, dass mir Grigori Lipmanowitsch Sokolow zwei Bagatellen von Beethoven auf dem Klavier vorzaubert, merke ich, wie sich tiefe Falten auf meiner Stirn plötzlich auswölben und meine Haut sich weich und herzenswarm glättet. Wichtig dabei ist, dass die Musikstücke vom Radiosprecher in ernstem Sinn angekündigt werden. Ich höre gern Herren oder Damen mittleren Alters zu, die ich mir mühelos in tadelloser Erscheinung vorstellen kann. Diese Personen feilen regelmäßig ihre Fingernägel. Davon gehe ich aus, obwohl ich nur die Stimmen derjenigen höre und kein Bild vor mir habe und obwohl ich selbst nicht in der Lage bin, mir selbst auch nur einen kleinen Fingernagel zu feilen. Wollte man durch Folter eine Aussage von mir erpressen, würde es genügen anzudeuten, dass man mir gleich meine Fingernägel feilen wolle. Sofort wäre ich zu jeder Aussage bereit. Gleichwohl bewundere ich bei anderen Menschen akkurat gefeilte Nägel wie die Pirouetten eines Eiskunstläufers oder den Appetit derjenigen Person, die bei einem Wettbewerb im Wurstwettessen gewonnen


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