LESEZEIT
EL AVISO | 08/2022
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Ungers Krebs Teil 7 Aus dem Roman “Wie viel ist ein Leben wert?” von Ralph D. Wienrich Sven hatte sich in seinem Sessel weit zurückgelehnt. Ihm begann der spontane Fluchtgedanke zu gefallen, unter Forschern und Wissenschaftlern unterzutauchen, um die Sicherheit zu finden, die er gerade in dieser prekären Situation zu glauben brauchte. Beide Hände ruhten entspannt auf den Armlehnen, nur sein rechter Zeigefinger wippte wie in Zeitlupe auf und ab. Sein Blick wanderte mehrere Male zwischen den beiden hin und her, so, als wäre er auf etwas Verräterisches aus, das er in ihren Gesichtern zu entdecken hoffte. Seine Gedanken allerdings die waren weit weg, bei Umberto Scarlese. Vielleicht, so seine Überlegung wäre es nicht die schlechteste Idee für einige Zeit in Berlin unterzutauchen. Nach etwas weniger als einer Minute erhob er sich schwungvoll und reichte erst Bertram dann König überraschend schnell die Hand. „Also gut”, sagte er und blickte über die beiden hinweg, „für diese ein, zwei Wochen bin ich Ihr Mann.” Ohne ein weiteres Wort an die beiden Herren zu richten, schritt er durch die immer noch halb geöffnete Terrassentür ins Freie. Es hatte noch nicht zu regnen begonnen. Beim Ministerialdirektor In die Hauptstadt zurückgekehrt begab sich der
Frabana-Chef umgehend in das Gesundheitsministerium. Ministerialdirektor Dr. Heinz von Schwartau und er kannten sich dank der großzügigen öffentlichen Förderung des Instituts durch den Bund schon geraume Zeit. Sie schätzten einander. Als er das geschmackvoll eingerichtete Büro des hohen Ministerialbeamten betrat, war König für einen Moment unangenehm überrascht. Neben von Schwartau stand – überflüssigerweise, wie er fand – dessen persönlicher Referent. Es gab, so erinnerte er sich, bis dato immer nur Gespräche unter vier Augen und dies aus gutem Grund. Als sie es sich in der komfortablen Sitzgruppe bequem gemacht hatten, der Referent ließ sich respektvoll etwas abseits in einem modernen Bürosessel nieder, sah König von Schwartau mit irritiert fragendem Blick an. Sein Signal der Hilflosigkeit war sofort verstanden worden. „Nur keine unangebrachte Scheu, lieber Dr. König, mein persönlicher Referent wird unserem Gespräch nicht ohne Grund beiwohnen. In Zukunft wird er andere Aufgaben in meiner Abteilung übernehmen und unter anderem auch für Frabana, zuständig sein.” „Freut mich sehr, meinen Glückwunsch zu diesem Karrieresprung.” Rasch erhob sich König, ging auf den Referenten zu und gab ihm mit einem anerkennenden Lächeln die Hand. Eine medizinische Sensation „Nun, da wir jetzt gewissermaßen unter uns sind, erlaube ich mir, Ihnen den Grund meines so kurzfristig erbetenen Treffens, für das ich Ihnen sehr verbunden bin, zu erläutern.” König ließ eine kurze, dramaturgische Pause eintreten. Sein scharfer Blick wanderte von dem Ministerialdirektor zu dessen Noch-Referenten und wieder zurück zu von Schwartau. „Wir sind uns sehr sicher, Herr Ministerialdirektor, in absehbarer Zukunft einen äußerst bedeutsamen Schritt im Kampf gegen den Krebs, ich darf das jetzt einmal etwas sehr allgemein formulieren: tun zu können.” „Tun zu können? Das klingt nach Konjunktiv. Wo bleibt die Gewissheit, die Sie mir zu vermitteln suchen, oder habe ich hier etwas falsch verstanden?” Der Beamte war ein penibler Beobachter und ein ebenso aufmerksamer Zuhörer. „Etwas Geduld, ich werde deutlicher. Wir sind einer medizinischen Sensation auf der Spur, die – so möchte ich ohne Übertreibung bemerken – weite Teile der Krebsbekämpfung radikal auf den Kopf stellen wird.”
„Ginge es bitte noch einen Tick konkreter, Dr. König”, bohrte der Beamte, der sehr interessiert zuhörte. „Selbstverständlich, aber ich muss um absolute Diskretion ersuchen. Er sah seine beiden Gesprächspartner erwartungsvoll an, und erst, als diese nickend ihre Verschwiegenheit bekundeten, fuhr der Institutsleiter bedeutungsvoll fort. „Bei einem Patienten wurde eine sehr aggressive Form von Hautkrebs diagnostiziert. Seit Monaten verharrt dieser Krebs in seiner Anfangsphase, obwohl er nach Meinung von Prof. Dr. Dr. Bertram vom Hautklinikum Hamburg – einem unserer besten Experten auf diesem Gebiet …“ „Ganz ausgezeichneter Mann”, warf von Schwartau kurz ein. „Ja, ganz gewiss“, sekundierte König. „Also nach seiner Auffassung hätte der Krebs sich längst im Gesicht ausbreiten und darüber hinaus noch metastasieren müssen. Aber nichts dergleichen geschah.” Der gebremste Krebs „Und was ist Ihrer Ansicht nach der Grund für diesen, ich nenne das Mal: den gebremsten Krebs?” König bedachte den Beamten mit einem anerkennenden Lächeln und bemerkte beipflichtend: „Eine treffende Bezeichnung. Also nach den uns bisher aus Hamburg vorliegenden Untersuchungsergebnissen muss der Patient – er ist übrigens erst 31 Jahre alt – über ein abnormes Immunsystem verfügen, seine Immunbalance ist wohl einzigartig! Professor Bertram vermutet ein bisher in der Medizin einmaliges Zusammenspiel von Genen und Proteinen, wobei möglicherweise ein Wirkstoff freigesetzt werden könnte, der den Krebs in diesem Stadium verharren lässt, ihn gewissermaßen knebelt.” Der Ministerialdirektor rutschte in seinem Sessel etwas nervös hin und her, als würde er nach den richtigen Worten suchen, dann legte er Dr. König seine Hand auf den Arm und sagte: „Ich bin beeindruckt und sehr neugierig, wie das weitergeht. Das, was Sie mir soeben geschildert haben, birgt forschungspolitisch ein ungeheueres Potenzial. Damit liegt vor Ihnen...”, der Beamte bedachte den Forscher mit einem anerkennenden Blick und hob betonend hervor: „Vor uns liegt noch ein großes Stück Arbeit”. Überrascht sah König von Schwartau an, soeben war die Politik mit in sein Boot gestiegen. König registrierte diese Situation mit einem zufriedenen Lächeln. Fortsetzung folgt …