The Red Bulletin DE 03/21

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GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ

Wie behalte ich meine Zuversicht in harten Zeiten? Die größten Denker aller Zeiten beantworten Fragen unserer Gegenwart, übermittelt durch den Philosophen Christoph Quarch. Diesmal: das barocke Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz zu der Frage, ob am Ende wirklich alles gut wird. Nicht ohne Sorge habe ich vernommen, dass auf ­Erden wieder einmal eine Krise wütet, dass es viele Menschen gibt, die Mut und Zuversicht verlieren. Ja, das scheint der Menschen Los zu sein – ich sage das aus leidvoller Erfahrung: Als ich geboren wurde, tobte noch der Dreißigjährige Krieg. Es gab reichlich Grund zum Pessimismus. Auch der Umstand, dass die meisten meiner diplo­ matischen Missionen scheiterten und meine Arbeiten zu Lebzeiten nicht die Beachtung fanden, die man ­ihnen später schenkte, hätte mich zu einem Griesgram oder Misanthropen werden lassen können. Aber das ist nicht geschehen. ­Etwas half mir, trotz aller Widrig­ keiten meinen Optimismus zu be­ wahren: die Vernunft, das Denken. Ich will hier nicht mit Einzel­ heiten langweilen, sondern mich aufs Wesent­liche konzentrieren. Denn so kom­pliziert ist die Sache gar nicht. Man muss nur den Hebel des Denkens richtig an­ setzen. Zum Beispiel bei der Frage: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Was für eine unsinnige Frage, werden sich jetzt manche denken. Aber eben weil wir denken, ist sie so wichtig. Und unausweichlich. Denn wir können gar nicht anders denken als so, dass es für alles, was uns in der Welt begegnet, eine Ursache gibt. Deshalb muss es auch für die Welt im Ganzen eine Ursache geben – womit die Frage nach dem Grund der Welt nicht unbegründet ist. Können Sie mir folgen? Mein Antwortvorschlag: Es gibt tatsächlich einen Grund dafür, warum die Welt so ist, wie sie ist. Die Religionen nennen ihn Gott – und um es mir mit den Pfaffen nicht zu verderben, habe ich ihr Spiel ­mitgespielt und ihn auch so genannt. Aber ich meinte dabei etwas völlig anderes als die Priester und Pasto­ ren. Ich meinte damit etwas, was Sie heute vielleicht

eine Superintelligenz nennen würden oder einen Super­algorithmus. Überlegen Sie doch einmal: Das Universum, in dem zu leben wir die Ehre haben, ist nur eine einzige Mög­ lichkeit unter unendlich vielen anderen Universen, die auch möglich gewesen wären. Dass das Universum ausgerechnet so geworden ist, wie es geworden ist, kann man sich nur so erklären, dass die uns bekannte Welt die beste aller möglichen Welten sein muss. Sie können mir glauben, dass ich reichlich Prügel für diese Überlegung bezogen habe. „Was?“, ereiferte sich später Herr Voltaire. „Eine Welt, in der ein Erdbeben in Sekunden eine ganze Stadt wie Lissabon zerstört und hunderttausende Menschen­ leben auslöscht, soll die beste aller Welten sein?“ Vermutlich denken Sie Ähnliches und erinnern mich an Genozide, Tsunamis oder an ein Virus. Das alles kann ich nachvollziehen. Aber beim Den­ ken sollte man im wahrsten Sinne des Wortes gründ­ lich sein. Diese Welt, in der wir leben: Sie ist absolut berechenbar und logisch. Selbst was uns heute unlogisch erscheint, werden künftige Algorithmen als rational enthüllen. Unsere Welt ist eine Gleichung, die immer aufgeht: eine prästabilierte Harmonie, wie ich das nannte. Eine große Ordnung, die wir zwar nicht vollständig durchschauen können, von der wir jedoch genügend ahnen, um zu sagen, dass die Welt in Ordnung ist. Deshalb habe ich niemals die Hoffnung aufgegeben. Auch wenn es im Einzelnen oft nicht gut läuft: Die Zahl der Möglichkeiten, was alles noch schlechter hätte ausgehen können, ist unendlich. „Shit happens“, wie mein Rivale Isaac Newton sagte, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit lautet: Es wird alles gut.

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wurde schon in jungen Jahren als Wunderkind gehandelt. ­Lesen, Schreiben und Latein soll er sich selbst beigebracht ­haben, mit 15 begann er zu studieren, mit 21 war er Doktor der Rechtswissenschaften. Eine steile Karriere als Diplomat folgte. Seine wichtigsten Werke hat er angeblich in wackelnden Post­ kutschen verfasst, mal auf Lateinisch, mal auf Französisch, selten auf Deutsch. Nebenher schrieb er eine Enzyklopädie, baute eine Rechenmaschine und erfand die Infinitesimal­ rechnung. Seine Leidenschaft galt der Philosophie, die für ihn dafür diente, zu zeigen, dass die Welt, in der wir leben, gut ist.

THE RED BULLETIN

DR. CHRISTOPH QUARCH

GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646–1716)

BENE ROHLMANN

„ Diese Welt, in der wir leben: Sie ist absolut berechenbar und logisch.“


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