RETROWELT #21

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COLUMNE

GRUSS AUS

SARAJEVO Text & Foto: Dr. Thomas Giesefeld

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ufällig war in den letzten Wochen gleich zweimal im Netz zu lesen, dass Besitzer eines Adenauer-Mercedes nach langer Zeit einen neuen Besitzer, eine neue Besitzerin suchen, und dies ausserhalb des Familienkreises. So schmerzhaft es selbst in den (einst so genannten) ‚besten Familien‘ sein mag: Eine Familie bietet an sich keine Garantie für die Fortsetzung von Klassiker-Erlebnissen. Die Gründe sind ebenso vielfältig wie die Lebenslinien und Interessen der Leute. Es trifft hochkarätige Namen ebenso wie hochgradige Experten. Es trifft nicht nur Singles! Und einfachere Objekte als der berühmte Mercedes-Benz Typ 300 aus den 1950er-Jahren können bei der Weitergabe in gute Hände plötzlich im Vorteil sein. Nicht ohne Grund ist der VW Käfer der Primus unter Deutschlands beliebtesten Oldtimern. Manche Menschen mögen sich ja wünschen, dass ihr momentan noch winziger Enkel bei Volljährigkeit einmal den in der Garage ausharrenden Klassiker übernimmt. Doch es ist wenig wahrscheinlich, dass je ein 18-Jähriger auf einem 1972er Maserati Ghibli einen kommoden Start in die Mobilität erfahren wird. Noch unwahrscheinlicher dürfte es nebenbei allerdings sein, dass heutige Autos den ähnlich respektvollen Beinamen eines Spitzenpolitikers oder einer Spitzenpolitikerin erhalten wie beim eingangs erwähnten ersten deutschen Bundeskanzler, Dr. Konrad Adenauer. Man kann die Nachfolgefrage halt nirgends über’s Knie brechen. Die guten Nachrichten: Alles keine Schande. Niemand hat versagt. Bleibt locker! Es gibt sie, die jungen Männer und Frauen, die einen automobilen Klassiker cool finden, ihr Eigen nennen wollen und ihren Einstieg in die Kultur der alltagstauglichen, fahrdynamisch praktischen Youngtimer verschiedenster Marken entwerfen. Für manche Mittzwanziger gehört der Neoklassiker schon fast so unverzichtbar zum privaten Lebensstil wie die regelmässige Lektüre der Retrowelt für unsere Leserschaft. Ist das nicht beste Tradition?

Schon lange vor dem Internet gab es intelligente Möglichkeiten, den Übergang von eventuell Bewahrenswertem auf neue Generationen im grösseren Zusammenhang attraktiv zu machen. Manche organisatorischen Konstruktionen könnte man geradezu als soziale Technologien der Weitervererbung bezeichnen. So hat etwa die Katholische Kirche mit Erfolg eine lange Laufzeit für ihre Botschaft organisiert bekommen. Mit ihren wenigen Hierarchieebenen ist sie ein monumentales Musterbeispiel für dauerhaftes Top-Management. Zu den grossen Herausforderungen für ihren Bestand gehörte bereits die Erfindung des Buchdrucks, der die Tradition der Kirche nicht weniger in Frage gestellt hat als es heute die Elektromobilität gegenüber der Automobilindustrie tut. Im Judentum und im Islam finden sich ebenfalls bemerkenswerte Modelle der Traditionspflege. Eines davon ist die Gazi Husrevbeg Bibliothek in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina. In dem markanten Gebäudekomplex neben der ebenfalls von dem berühmten Gouverneur erbauten Moschee wird seit 1537 eine bedeutende Sammlung islamischer Manuskripte aufbewahrt, die als Stiftung organisiert ist. Einem Tour Guide zufolge gehören dem Verwaltungsrat, der auch über Investitionen beschliesst, seit damals jeweils zwei in einer bestimmten Strasse der Altstadt ansässige Bürger an. Kaufleute des Viertels tragen durch ihre Spenden dazu bei, die Institution lebendig zu halten. Sie wurde sogar im Kommunismus toleriert und hat den Bosnienkrieg der 1990er-Jahre überstanden.

Wir vererben Klassiker als Kulturgut meist in Frieden und Wohlstand, und mir ist nicht eine Sekunde bange, dass die heute jungen Leute das Erbe ausschlagen. Geben wir der Nachwuchs-Szene also eine Chance! Interessante Ideen machen den Erfolg der Weitergabe wahrscheinlicher. Das heisst aber nicht, das im Modus eigener Sentimentalität zu tun In den 1970er-Jahren gehörte der Einstieg in die Autowelt direkt nach oder den Zeitpunkt zu erzwingen. Eine inzwischen verstorbene, weise dem Führerschein klar zu den Top-Wunschträumen aller Teen-Ager. Freundin von mir pflegte mit Goethe zu sagen: Was Du ererbt von Das hat sich geändert. Das (gar nicht mehr so neue) Internet kann mit Deinen Ahnen, erwirb es, um es zu besitzen! Und sie sagte auch: „Nun seiner enormen Reichweite von Information, Kooperation und Indivi- sei als kleiner Erdengast mit dem zufrieden, was Du nun einmal hast!“ dualität bei der Lösung der Nachfolgefrage behilflich sein. Kürzlich Ein buntes Bild an einem Garagentor in Sarajevo bringt es ebenso wollte ich einer rüstigen Bekannten zu ihrem 100. Geburtstag gratu- unerschütterlich wie federleicht auf den Punkt: Lasst uns kreativ und lieren, aber Glückwunsch-Karten für dreistellige Jahrestage waren in optimistisch sein! keinem der maskenpflichtigen Geschäfte vorgesehen. Ich sorgte kurzerhand selbst elektronisch für Abhilfe, und dabei schien es, als hatte ich Teilen Sie meinen Optimismus? Schicken Sie mir Ihre sehr geschätzten plötzlich ein Scharnier von der Vergangenheit zur Zukunft in der Hand. Wiederworte und Widerworte!

Freundliche Grüsse wie stets, Ihr Dr. Thomas Giesefeld giesefeld@web.de

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