Nr. 8 Saison 21/22 – Befreiung

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GUSTAV M A HLER Des Knaben Wunderhorn

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GUSTAV M A HLER: DES K NABEN W U NDER HOR N

VON F LOR I A N HEU R ICH

In jedem Haushalt sollten mindestens zwei Bücher stehen: die Bibel und eine Ausgabe von Des Knaben Wunderhorn. Das hat schon Johann Wolfgang von ­Goethe gefordert, und Gustav ­Mahler besass natürlich beide. Die Welt, die Achim von Arnim und Clemens Brentano in ihrer romantischen Volksliedsammlung eröffnen, bestimmte für über zehn Jahre Mahlers Leben und Schaffen. Seine Wunderhorn-Lieder sind nicht als zusammenhängender Zyklus entstanden, sondern in loser Folge zwischen 1892 und 1901. Ganz bewusst stellt es Mahler seinen Inter­preten frei, eine Auswahl aus seinen Liedern zu treffen und Reihenfolge und Dramaturgie selbst festzulegen. Neben den Soldatenliedern, den Naturbildern und den metaphysischen Liedern gibt es als vierten Liedtypus etwas, das man als Kin­ derlieder, Tanzlieder oder humoristische Spottlieder bezeichnen könnte. Gegen den Vorwurf, die Wunderhorn-Lyrik sei biswei­ len allzu naiv, wehrte sich Mahler jedoch vehement. Vielmehr wählte er besonders hintersinnige Texte aus, die er zum Teil so-

gar selbst umdichtete im Sinne seines kom­ positorischen Konzepts. Damit gehen seine Wunder­horn-Lieder weit über eine blosse Textvertonung hinaus. Mehrere dieser Lieder sind quasi als ein Zwiegespräch von Mann und Frau konzipiert. Damit greift Mahler auf die alte Gattung der Ballade zu­ rück mit ihrer ganz eigenen Vortragsweise. Die Wunderhorn-Lieder in der Fas­ sung für Singstimme und Orchesterbeglei­ tung sind mehr als nur Orchestrierungen von vorausgegangenen Klavierliedern. Ge­ rade durch seine Instrumentierung kreiert Mahler eine zusätzliche Bedeutungsebene. In dem Lied Wo die schönen Trompeten ­blasen etwa verwebt er in subtiler Klangdra­ maturgie ein inniges Liebeslied mit schrof­ fer Militärmusik und verklärter Todesvision. Das grausamste der Lieder ist Revelge, ein schonungsloses Kriegsszenarium und zugleich ein Plädoyer gegen Gewalt. Makabres Kriegsbild und metaphysi­ scher Blick ins Jenseits; jugenliches Liebes­ glück und Weltsatire. In seinen Wunder­ horn-Liedern erschafft Mahler laut dem Bariton Thomas Hampson ein «Abbild des menschlichen Lebens in all seinen Facetten, einen ganzen Kosmos voller Humor und zugleich voller Tragik». Dieser Text entstand ursprünglich für den Podcast ‹Starke Stücke› von BR-KLASSIK. Abonnieren kön­ nen Sie ihn überall, wo es Podcasts gibt.


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