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Strassenmagazin Nr. 493 5. bis 18. Februar 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Wohnen

Morsches Zuhause

Wie ein Vermieter sich von einem Sozialhilfebezüger eine Wuchermiete bezahlen lässt. Seite 8

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BETEILIGTE CAFÉS

Die Corona-Krise trifft die Kleinen hart. Zeigen Sie Solidarität mit den Café Surprise.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: MEINRAD SCHADE

Editorial

Zuhause in der Sackgasse Ja, Stefan Schraner hat eine kriminelle Vergangenheit. Vielleicht ist es für einen Magazintext über soziale Ungerechtig­ keiten nicht die beste Voraussetzung, einen wie ihn als Protagonisten zu haben. In unserer Titelgeschichte ist er es aber, und das ist nicht nur richtig so, sondern lei­ der auch symptomatisch. Denn es zeigt: Es gibt offenbar Leute, die denken, mit ei­ nem wie ihm, selber schuld an seiner Situa­ tion, könne man alles machen. Solche wie den, die darf man ausnutzen. Sogenannte Etagenzimmer, oft schäbig und überteuert, werden gerne an Men­ schen vermietet, die sich in eine Sackgasse hineinbugsiert haben und denen deshalb wenig Möglichkeiten offenstehen, sich zu wehren. Oder an Migrant*innen. Oder an Armutsbetroffene. Sie alle haben keine Chance auf dem normalen Wohnungsmarkt. Viel bleibt ihnen nicht übrig. Lesen Sie von einer kaputten Waschmaschine, von abbröckelnden Mauern und Kakerlaken: ab Seite 8.

4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?

Sucht

5 Vor Gericht

Klassenkampf um Neophyten

8 Wohnverhältnisse

Zimmer mit trüber Aussicht

Ülvi Abasguliyev muss sich auf ganz andere Weise Gedanken über sein Zuhause ma­ chen. Seine Familie war im ersten Bergkara­ bach­Krieg in den Neunzigern geflohen. Nach mehr als 25 Jahren erhält sie jetzt eine Perspektive auf Rückkehr in ihre Herkunftsregion. Doch der Krieg und das lange Leben als Geflüchtete haben der Familie einiges genommen. Und der Konflikt hat sich auch in Abasguliyev, einem Völker­ rechtler, emotional festgesetzt. Ab Seite 14. Wie tief die Gefühle sitzen, zeigt sich wieder im aktuellen Krieg zwischen Arme­ nien und Aserbaidschan. Die Stimmung in den sozialen Medien ist aufgeheizt, und Instrumentalisierungsversuche beider Seiten greifen auch auf etablierte Medien zu. Umso wichtiger sind Ressourcen, Sorgfalt und Analyse in der westlichen Bericht­ erstattung. Lesen Sie die Einordnung ab Seite 20. DIANA FREI

Redaktorin

22 Kulturförderung

«Wichtige Akteure verschwinden»

13 Städtische

7 Die Sozialzahl

Freiwilligenarbeit im Alter

14 «Wir sind immer

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Erinnerungen, Zweifel, Hoffnungen

30 Surprise­Porträt

«Wir sind vor dem Terror geflüchtet»

19 Keine Lösung in Sicht

als Minenfeld

Pörtner in Ittingen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

voll belegt»

20 Berichterstattung

27 Tour de Suisse

28 SurPlus Positive Firmen

Wohnungspolitik

6 Verkäufer*innenkolumne 16 Bergkarabach

Ich wollte Schreiner werden

26 Veranstaltungen

24 Lockdown

«Seid solidarisch und erfindungsreich!» 3


Aufgelesen

FOTO: COURTESY OF WE DON’ T WASTE

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Essen für alle Lebensmittelverschwendung und Obdachlosigkeit sind Probleme einer Gesellschaft, die im Überfluss lebt. In den Staaten gibt es immer mehr Organisationen, die zur gleichen Zeit an Lösungen für beide Probleme arbeiten: Sie möchten Grossanbieter dazu bewegen, ihr Über­ angebot an Lebensmitteln nicht in den Müll zu werfen –

das sind jährlich Millionen Tonnen an wertvollem Essen –, sondern Organisationen zu spenden, die Menschen ohne Bleibe unterstützen.

INSP, GLASGOW

Gegen Amazon & Co.

Wohnen in Höhlen

Zu viele Obdachlose

All jenen, denen in Zeiten von Corona die Konkurrenz von Amazon, Lieferando und Co. zusetzt, will das Hamburger Website-Projekt «Wir-liefern.org» helfen. Die Idee ist einfach: Ladeninhaber*­ innen, Gastronom*innen oder Dienstleister*innen stellen ihr Profil samt Fotos auf die Website und erklären, wie sie liefern, ob sie einen Abholservice ­bieten und wie sie zu erreichen sind. Bisher offenbar ein grosser Erfolg!

In Spanien werden Höhlen und Hütten als Wohnadressen akzeptiert. So erhalten Obdachlose, die sich dort aufhalten, dank einer Wohn­ adresse Sozialhilfe, welche das Land vor einem Jahr erstmals auch für Obdachlose eingeführt hat. In Spanien leben rund 40 000 Menschen auf der Strasse.

In den USA sind mehr als eine halbe Million Menschen obdachlos, Tendenz ­steigend, gerade in Zeiten von Corona. Hinzu kommen Menschen in sehr prekären Wohnverhältnissen, Coachsurfer und solche, die im Auto leben. Ins­ gesamt sollen es 1,5 Millionen sein. Hilfsorganisationen kritisieren, dass die US-Regierung unterschiedliche Defi­ nitionen von Obdachlosigkeit benutzt, um das Problem zu verharmlosen.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

ASPHALT, HANNOVER

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Was bedeutet eigentlich …?

Sucht Aus medizinischer Sicht ist die Sache klar: Süchtig machen können nur Substanzen wie Alkohol, Tabak, Cannabis, Opioide oder Stimulanzien. Kauf- oder Internetsucht dagegen gibt es nicht. Das massgebende «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM5) kennt eine einzige Sucht, die nichts mit Drogen zu tun hat: Glücksspiele. Zudem ist das Phänomen ­«Internet Gaming Disorder» als Forschungsdiagnose anerkannt. Suchtpolitik ist also vor allem Drogenpolitik. Nachhaltig verändert hat sie sich mit den offenen Drogenszenen der 1980er- und 1990erJahre. Diese lösten einen Paradigmenwechsel aus, der es möglich machte, sterile Spritzen abzugeben sowie Heroin oder Methadon zu verschreiben. Zu den drei Säulen der Schweizer Suchtpolitik (Prävention, Therapie, Repression) kam eine vierte hinzu: Schadensminderung. Heute gibt es für Süchtige je nach Kantonen und Gemeinden bessere und schlechtere Orte zum Leben. Mit der Folge, dass mancherorts Dro­ gensüchtige ihre Therapie selbst bezahlen oder darauf hoffen müssen, dass die Wohngemeinde (meist die Sozialhilfe) einspringt. Kranken­ kassen bezahlen zwar den Entzug, kommen aber nur für sta­tionäre Entwöhnungstherapien auf, falls es sich um eine Abhängigkeit von legalen Substanzen (Alkohol, Nikotin) handelt. Ein grosses gesellschaftliches Pro­ blem ist die Integration von Suchtkranken in den Arbeitsmarkt. Zudem kommen nun viele, die früher in der offenen Drogenszene unterwegs waren, in die Jahre. Die Frage ist, ob man sie in Alters- und Pflegeheimen unterbringen kann oder ob es für sie eigene Einrichtungen braucht. EBA Urs Gerber & Marcel Krebs: Sucht. Wörterbuch der Schweizer ­Sozialpolitik. Zürich und Genf 2020. Surprise 493/21

Vor Gericht

Klassenkampf um Neophyten Neophyten: gebietsfremde Pflanzen, die sich teils unkontrolliert ausbreiten und heimische Sorten verdrängen. Eine solche Problempflanze führte im Sommer 2019 zu einem so wüsten Streit zwischen einem Mitarbeiter der Stadtzürcher Grünpflege und einem Hausverwalter, dass die Sache erst vor dem Bezirks- und kürzlich vor dem Obergericht Zürich landete. Um welches Gewächs es genau geht, vermag der beschuldigte Hausverwalter nicht zu sagen. Eine immergrüne Schlingpflanze sei es. Als es damals zur Konfrontation mit dem Stadtgärtner kam, war es noch nicht lange her, seit er deswegen eine ganze Thujahecke entfernen musste. «Eine Saubüez», wie er versichert. Wobei er in dieser Geschichte nicht der harte Büezer ist. Gelernt hat er etwas Kreatives, er versuchte sich als Unternehmer, erfolglos. In der richterlichen Befragung gibt der 48-Jährige an, schon länger bei der Freundin zu leben. Und die Mutter zahlt seine Krankenkasse. Ihr gehört auch das Haus, das er verwaltet, zu welchem Zweck er eine der dortigen Wohnungen belegt. Der Büezer ist der Mann von Grün Stadt Zürich, den der Beschuldigte anranzte. Der Hausverwalter hatte damals mit einem Kollegen gerade die Hecken der angrenzenden, von den fraglichen Neophyten überwucherten Brache geschnitten und forderte den Stadtgärtner auf, die Pflanzen zu entfernen. Dieser erwiderte, die Stadt habe dazu ein Projekt. Solange er aber keinen konkreten Auftrag habe, könne er nichts

machen. Da sei er «emotional» geworden, sagt der Beschuldigte. Als der Gärtner mehr Respekt für seine Arbeit verlangte, habe er zurückgebrüllt: «Besser die Stadt respektiert den Steuerzahler! Ich bezahle euren Lohn!» Die Diskussion eskaliert weiter und der Beschuldigte nennt den Gärtner einen «Idioten». Das räumt er ein – nicht aber «Wixer» und «Arschloch». Dem Stadtgärtner gar mit Schlägen gedroht, habe er auch nicht. Von der herbeigerufenen Kantonspolizei war der Beschuldigte einerseits beeindruckt. Sie habe die Situation gekonnt entschärft. Aber dass sie als Zeugen lügen, enttäusche ihn. Er wittert ein Komplott. Die Anzeige selbst hält er für einen fiesen Akt der Grün-Stadt-Zürich-Chefs. Die Bezirksrichterin gelangte in ihrem erstinstanz­ lichen Urteil zu Schuldsprüchen wegen Drohung und Beschimpfung. Der Beschuldigte könne beim Thema Grün Stadt Zürich gar nicht sachlich sein. Nicht einmal vor dem Gericht habe er seine diesbezüglichen ­Aggressionen zu zügeln vermocht. Aggression, meint der Beschuldigte, der vor Obergericht einen Freispruch verlangt, sei ein weiter Begriff. Die Drohgebärden gegenüber dem Gärtner, argumentieren die Oberrichter in ihrem Urteil, seien rechtsgenügend belegt. Auch alle Beschimpfungen und die Aussage, er schlage gleich zu. Dennoch sprechen sie ihn nur der Beschimpfung schuldig. Ein Freispruch erfolgt hingegen bei der Drohung: Diese müsse erheblicher sein, um eine Person in Angst und Schrecken zu versetzen. Die zweite Instanz reduziert deshalb die Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 30 Franken bedingt auf 30 Tagessätze zum selben Tarif. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: MICHAEL LEUTHOLD

Verkäufer*innenkolumne

Ich wollte Schreiner werden Ich hatte absolut erfolglos versucht, einen Sek-A-Abschluss zu machen. Ich machte ein Praktikum als Kleinkind­ erzieher und eine Anlehre als Topf- und Schnittpflanzengärtner. Dann begann ich im b ­ eruflichen Trainingszentrum eine Schreinerlehre. Das hätte ich mir als ­­Beruf vorstellen können. Ich wollte Schreiner werden. Aber die Abklärungen der IV liefen bereits. Und dann kam der Bescheid, ich bekam eine volle IV-Rente. Für mich bedeutete das, dass mein normales Berufsleben nun zu Ende war. Es war ein Entschluss, den andere gefällt haben. Ein Entscheid des Amts über mein Leben. Ich sagte, ich wolle weiterarbeiten, die IV liess mich nicht. Mir wurden meine Pläne und mein Selbstverständnis genommen. Das war am 12. Oktober 2000. Nach dem Bescheid von der IV hatte ich keinen ­eigenen Antrieb mehr. Es wurde schlim6

mer von Tag zu Tag, es staute sich auf. Im November begann ich mich selbst zu verletzen. Ich sass zuhause. Wie automatisch griff ich zur Schere. Es war eine Erleichterung, es machte alles etwas erträglicher. Sich mit der Schere oder Rasierklinge die Haut aufschneiden. Sich mit dem Feuerzeug, einer Zigarette oder mit Holzglut Löcher in die Haut brennen. Man denkt, es würde schmerzen. Doch in dem Moment, in dem man sich die Wunde ­zufügt, schmerzt es nicht, kein bisschen. Der ganze Körper voller Wunden und Narben. Man verliert Blut, Haut. Die Gefahr einer Infektion erhöht sich. Das Ganze kann zur Sucht werden. Wer dies tut, fühlt sich alleingelassen und hat zu viel verloren. Sie haben mir einen ganzen Salat an Medikamenten gegeben, aber das machte alles nur noch schlimmer. Die IV-Rente. Es geht mir nicht gut damit. Viele Leute reagieren ganz dreckig da­

rauf. Sie sagen: «Du lebst vom Staat, pfui!» Sie sagen es mir direkt, und ich lese ­solche Sätze in den Zeitungen. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich, ich arbeite im Verkauf. Was ja stimmt mit Surprise. Wie ich damit ankomme, weiss ich nicht. Da ich ­Autist bin, kann ich viele Dinge oft gar nicht wahrnehmen. Aus den Selbstverletzungen fand ich 2001 wieder raus, aber ich weiss nicht genau, wie. Ich habe es selber geschafft, mit Beten und Gott. MICHAEL HOFER,  40, verkauft seit 2006 Surprise in Zürich Oerlikon und Luzern. In der Phase der Selbstverletzung bekam er sieben verschiedene Medikamente. Er dürfe sie auch verweigern, sagte eine Mitpatientin zu ihm. Unter Medikamenten­ einfluss fühlte er sich aber nicht mehr fähig, so etwas zu entscheiden.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 493/21


INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BEISHEIM-STIFTUNG (2020): FREIWILLIGES ENGAGEMENT IN DER ZWEITEN LEBENSHÄLFTE. ZÜRICH.

Die Sozialzahl

Personen in den nächsten Jahren «automatisch» an, je mehr sich die Babyboomer-Generation in dieser Alterskategorie bemerkbar macht.

Freiwilligenarbeit im Alter Die Beisheim-Stiftung hat eine bemerkenswerte Studie über das freiwillige Engagement von Menschen in ihrer zweiten ­Lebenshälfte publiziert. Sie beruht auf Daten aus dem Freiwilligen-Monitor 2020. Demnach leisten 44 Prozent der 55- bis 74-Jährigen Freiwilligenarbeit in einem Verein oder in einer gemeinnützigen Organisation. Am häufigsten engagieren sich die älteren Personen in Sportvereinen, sozialen und karitativen Organisationen sowie in kulturellen Vereinen. Wer sich so engagiert, tut dies oft in mehreren Bereichen und Organisationen gleichzeitig. So kommen im Wochendurchschnitt 4.5 Stunden an sogenanntem formellem freiwilligem Engagement zusammen. Dabei arbeiten ältere Männer häufiger in Sportvereinen, Interessenverbänden und politischen Gremien mit, während sich ältere Frauen stärker in sozialen, kirchlichen oder öko­ logisch ausgerichteten Organisationen einsetzen. Neben dieser formellen Freiwilligenarbeit engagieren sich 52 Prozent der 55- bis 74-Jährigen informell im näheren sozialen Umfeld. Im Vordergrund steht die Betreuung von Enkelkindern und betagten oder kranken Familienangehörigen. In der informellen Freiwilligenarbeit sind die Frauen häufiger und mit grösserem zeitlichem Aufwand engagiert als die Männer.

Diese Tendenzen sind für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft eine gute Botschaft. Entsprechend intensiv werden die Diskussionen über Care Communities geführt, also über sorgende Gemeinschaften in Dörfern und Stadtquartieren. Dabei werden idyllische Bilder gezeichnet, wo Menschen einander helfen, sich gegenseitig betreuen und pflegen. Doch darf zweierlei nicht vergessen gehen: Erstens bedeutet freiwillig zwar unbezahlt, aber für Organisationen, die Freiwillige vermitteln, ist dies mit finanziellem und personellem Aufwand verbunden. Und zweitens heisst freiwillig auch, dass für jene, die in den Genuss dieser Unterstützung kommen, kein Anrecht auf dieses Engagement besteht. Darum muss vor einem sozialpolitischen Trugschluss gewarnt werden – Freiwilligenarbeit ist kein Sparprogramm für den Sozialstaat. Im Gegenteil: Das grosse formelle und informelle freiwillige Engagement, gerade im sozialen und karitativen Bereich, braucht einen ­aktiven Sozialstaat. Das sieht man besonders gut bei der Betreuung älterer Menschen. Auch wenn die Familie, und vor ­allem die Familienfrauen, sich mit grossem Engagement zum Wohle der Betagten einsetzen, sollen sie nicht alles alleine machen müssen, sondern von gut ausgebildeten Fachkräften ­unterstützt werden. Nur wo Freiwilligenarbeit und eine vom Sozialstaat finanzierte Soziale Arbeit Hand in Hand gehen, kann eine gute Betreuung im Alter für alle gewährleistet werden.

Die Studie der Beisheim-Stiftung zeigt, dass im freiwilligen Engagement älterer Menschen ein grosses Potenzial schlummert. Viele, die noch keine Freiwilligenarbeit leisten, haben ein Interesse, sich zukünftig zu engagieren. Besonders häufig wird dieser Wunsch von Ausländer*innen geäus­ sert. Zudem steigt die Zahl der freiwillig arbeitenden älteren

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Informelles freiwilliges Engagement der 55- bis 74-Jährigen, 2019 Anteil der Freiwilligen

Frauenanteil

23,7 %

64 %

7h

63 %

3 h 48 min

4,2 %

66 %

3 h 12 min

4,0 %

68 %

3 h 30 min

53 %

1 h 48 min

47 %

1 h 54 min

47 %

2 h 12 min

Betreuung von Kindern

16,1 %

Betreuung/Pflege von Betagten

Betreuung/Pflege von Kranken Betreuung/Pflege von Behinderten

21,3 %

Weitere Hilfeleistungen für andere

Mithilfe bei Veranstaltungen/Anlässen

Mithilfe bei gemeinnützigen Projekten

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zeitlicher Aufwand (Stunden pro Woche)

3,2 %

12,1 %

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«Ein Bett, ein Schlüssel, im ersten Moment sah das super aus für mich.» Mieter Stefan Schraner erwartete nicht viel.

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Wohnverhältnisse Armutsbetroffene, Sozialhilfebezüger*­innen,

Migrant*innen oder Ex-Kriminelle: Sie alle haben auf dem freien Wohnungsmarkt fast keine Chance. Deshalb gibt es alternative Lösungen für sie. Bessere wie schlechtere.

Gammel zum Luxuspreis Das Geschäftsmodell ist fragwürdig: Vermieter*innen machen mit miesen Wohnungen für randständige Menschen Kasse. Stefan Schraner legt für sein eigenes Zimmer sogar vom Grundbedarf der Sozialhilfe drauf. TEXT  ANDRES EBERHARD FOTOS  MEINRAD SCHADE

Es sind einige Probleme, mit denen sich Stefan Schraner derzeit herumschlägt. Manche haben mit seiner kriminellen Vergangenheit zu tun. Andere nicht. Oft lässt sich das auch gar nicht so klar trennen. Seine Wohnung ist ein gutes Beispiel dafür. Wäre er nicht im Gefängnis gewesen, würde er wohl auch nicht in einem solchen Loch leben. «Aber ich habe halt Scheiss gebaut.» Schraner hat seine Strafe verbüsst: Insgesamt dreizehn Jahre verbrachte er hinter Gittern, vor allem wegen Drogenhandel, aber auch wegen zahlreicher weiterer Delikte im Milieu. Vor einem Jahr kam er frei. Seither lebt er in einem kleinen Zimmer im Zürcher Kreis 3, Küche und Bad teilt er sich mit zwei anderen, ein Wohnzimmer gibt es nicht. «Wir sprechen kaum je miteinander», sagt er. Solche Zweck-Wohngemeinschaften sind verbreitet unter Menschen, die ihre Kosten notgedrungen tiefhalten müssen. Im Milieu ist die Wohnform als Etagenzimmer bekannt. «Ein Bett, ein Schlüssel, im ersten Moment sah das super aus für mich», sagt Schraner. Für einen wie ihn – die Vergangenheit von Drogen und Gefängnis dominiert, die Gegenwart von Sozialhilfe, Substitutions-Tabletten, Wodka und Büchern – ist das nicht wenig. Interessantes Geschäftsmodell Doch bald merkte er, dass ein Zimmer in Freiheit nicht zwingend gemütlicher ist als eines hinter Gittern. «Willst du hier duschen?», fragt Schraner und stösst die Tür zum Bad auf. Es ist eiskalt, und längs durch die Badewanne verläuft eine urinfarbene Kalkspur. Der Raum ist nicht beheizt. Kürzlich stieg die Heizung auch im Rest der WohSurprise 493/21

nung aus. Daraufhin standen Schraner und seine Mitbewohner um die offene Backofentüre herum oder verkrochen sich unter die Bettdecke. Es dauerte Tage, bis der Vermieter die Heizung reparieren liess. Noch immer kaputt – seit einem Jahr – ist die Waschmaschine («Einmal pro Monat rufe ich den Vermieter an. Bislang ohne Erfolg»). Vom Balkon bröckelt die Mauer ab («Komm mal raus, falls du dich traust»), in der Küche wimmelt es von Kakerlaken («Ich treffe sie nachts, wenn ich etwas vom Kühlschrank hole»). Und die Zimmertür sperrt Schraner mit einer Kartonkiste zu («Wobei, das ist eine andere Geschichte. Die erzähle ich später»). Etagenzimmer sind für gewisse private Vermieter*innen ein durchaus interessantes Geschäftsmodell: Schliesslich lassen sich durch die Aufteilung einer Wohnung in mehrere Einheiten die Einnahmen multiplizieren. Am Beispiel von Schraners WG wird das deutlich. Er selbst zahlt für sein Zimmer 1060 Franken pro Monat. Die Mietkosten seiner Mitbewohner seien jeweils um 10 Franken tiefer. Rechnet man zusammen, bezahlen die drei total stolze 3160 Franken für eine gammlige Dreizimmerwohnung. Für diesen Betrag liesse sich anderswo ein Einfamilienhaus mit Garten, im Zürcher Stadtzentrum zumindest eine gehobene, geräumige Wohnung mieten. Dem Vernehmen nach sind auch die anderen drei Etagen des Hauses an jeweils mehrere Personen vermietet – und im Estrich haust ein weiterer Mieter. Schraner zieht von seinem mit WC-Papier, EnergyDrinks, Aromat, Haarbürste und Videospielen voll­ gestellten Schreibtisch einen Zettel hervor, der einige 9


Brandflecken aufweist. «Mietvertrag für möblierte Einzelzimmer», steht darauf. Als Vermieterin ist eine Privatfrau aus der Stadt eingetragen, wobei diese gemäss Schraner den Hörer bei seinen Anrufen stets an ihren Mann weitergibt – einen Unternehmer, der gemäss Handelsregister Firmen in der Kosmetik-, Limousinen- und Luxusgüterbranche betreibt. Profitieren von Menschen in Not Unterzeichnet worden ist das Schreiben am 16. Januar 2020, frühestens kündbar nach einem Jahr. Schraner könnte jetzt also umziehen, und das ist auch sein Ziel. «Ich will so schnell wie möglich weg hier», sagt er. Das ist auch der Grund, warum er kein Problem damit hat, mit richtigem Namen Auskunft zu geben – im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen, die von ihren Vermieter*innen abhängig sind. Zu gross ist die Sorge vor Repressalien. Erfahrungen aus Basel zeigen, dass Mieter*innen, die den Mietvertrag bei der Schlichtungsstelle anfechten, oft bedroht, unter Druck gesetzt und genötigt werden, ihre Anträge zurückzuziehen. Und in Zürich weist man darauf hin, dass der ausgetrocknete Wohnungsmarkt die Klient*innen des Sozialamts «stark benachteiligt». Kurz: Wer arm oder süchtig ist oder keine lupenreine Vergangenheit hat, hat es auf dem freien Wohnungsmarkt schwer; zumindest in Zentrumsnähe, wo die Wohnungspreise stark angezogen haben. Schraner aber wäre auch bereit, in die Agglomeration zu ziehen. «Für eine einigermassen normale Wohnung», wie er sagt. Kasse machen mit Menschen in Not? Das geht. «Menschen am Rand der Gesellschaft stellen keine Fragen, wenn es um den Zustand der Wohnung geht. Das kommt den Vermietern gelegen», sagt Walter Angst vom Zürcher Mieterverband. Zwar könnten Mieter wie Schraner klagen. «Wir helfen ihnen auch dabei.» Gemäss Angst sei für die Reparatur der Waschmaschine beispielsweise eine Frist von zwei Wochen angemessen. Falls nichts passiert, könnte der Mieter eine Mietreduktion in Höhe der Kosten für den Waschsalon verlangen – bei Schraner sind dies rund 40 Franken alle zwei Wochen. Jedoch: Kommt es zum juristischen Streit, braucht es Beweise. Oder anders gesagt: Schraner müsste nicht nur nachweisen können, dass die Maschine seit einem Jahr nicht mehr funktioniert. Sondern auch, dass der Vermieter genauso lange Bescheid weiss. Konkret müsste er also eingeschriebene Briefe schicken – nicht gerade die bevorzugte Korrespondenz im Milieu. «Das Mietrecht ist nicht für solche Situationen gemacht», sagt Angst dazu. Schraner lebt von der Sozialhilfe. Die Miete bezahlt er selbständig mit dem Geld, das ihm das Sozialamt per Check überweist. Allerdings genügt das nicht. Sein Vermieter verlangt mehr. In Zürich bezahlt das Sozialamt maximal 1100 Franken für eine Wohnung. Wenn es sich wie bei Schraner um ein Etagenzimmer mit Gemein-

schaftsbad und -küche handelt, sind es nur 900 Franken. Schraner legt also obendrauf – das Geld zweigt er von den 920 Franken Grundbedarf ab, die er zur Deckung seiner Lebenskosten erhält. Jeden Monat landen so 160 Franken, die eigentlich für Schraners Essen, seine Kleider und weitere persönliche Dinge vorgesehen sind, in den Taschen eines privaten Vermieters. Dass sich dieser seinen Gewinn staatlich subventionieren lässt, ist dabei kein Einzelfall (siehe Beitext). Beim nächsten Treffen bietet Schraner dem Journalisten und dem Fotografen einen Energy-Drink an. Er selber dreht sich eine Zigarette, dann sagt er: «Komm, ich zeige euch etwas.» Er steigt die steilen Treppen hinauf in den Dachstock. Die Tür steht offen, in den drei miteinander verbundenen Räumen dahinter herrscht Chaos: Kisten und Abfall stapeln sich, der Verputz bröckelt von den

Wer arm oder süchtig ist oder keine lupenreine Vergangenheit hat, hat es auf dem freien Wohnungsmarkt schwer.

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Die Aussicht wäre schön. Aber sieht man sich das Gemäuer an, traut man sich kaum auf den Balkon. Die Waschmaschine ist seit einem Jahr kaputt. Nur die Kartonkiste vor der Tür hat Gründe, für die Schraner selbst verantwortlich ist. Der Mieter im Dachstock (links) ist praktisch nie zuhause.

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Wänden, von der Decke hängen lose Drähte. Es ist dunkel und staubig, kleine Dachfenster sind die einzigen Lichtquellen im Raum. Zwei Hemden baumeln wie Fremdkörper von der Decke. Der Estrich verfügt weder über eine Küche noch über eine Toilette, geschweige denn über eine Dusche. Dass hier aber jemand lebt, das lässt ein Bett vermuten und ein zerfetztes Tuch, welches das schräge Fenster im «Schlafzimmer» abdunkelt. An den Wänden hängen zudem unzählige Notizzettel. «Hier wohnt ein Kollege von mir, der auch lange im Knast war», erzählt Schraner. «Wir kennen uns seit dreissig Jahren.» Gemäss Schraner soll der Mann für die «Zweizimmerwohnung» 1450 Franken pro Monat bezahlen und sein Geschäft «in die Flasche» verrichten. Elektrizität gibt es zwar. Doch weil der Strom immer wieder mal ausfalle, ziehe der Mann Verlängerungskabel von Schraners WG über die steilen Treppen hoch nach oben. Schraner erzählt weiter, dass der Kollege den Vermieter verklagen wolle. Der Kollege selbst war bei mehreren Rechercheterminen nie zuhause. Offenbar verbringt er die meiste Zeit auf der Gasse. Ob nun mit oder ohne Mietvertrag, legal oder nicht: Schnell wird klar, dass es sich hier oben nicht ansatzweise menschenwürdig leben lässt. Schraners Zimmer ist im Vergleich dazu gemütlich. Er stört sich vor allem an den hohen Kosten. «1060 Franken, das ist eine Frechheit.» Ihn plagen Geldsorgen. Weil er einen Teil seines Sozialgeldes dem Vermieter abtreten muss, bleiben ihm pro Tag nach Abzug aller Fixkosten nur rund 20 Franken zum Leben. Demnächst muss er wegen Bussen der SBB erneut für einen Kurzaufenthalt ins Gefängnis. Schraner wirft einen ungeöffneten Brief der Mobiliar-Versicherung auf den Tisch. Er weiss, was sich im Couvert befindet: eine Rechnung über 180 Franken für die Jahresprämie der Versicherung. Schraner liess die Rechnung liegen, dafür kaufte er seinem Sohn zu Weihnachten neue Kopfhörer. Kürzlich hätte er die Versicherung gut gebrauchen können. Leute aus dem Milieu, die eine Rechnung mit ihm offen hatten, schlugen die Zimmertür ein, verpassten ihm eine und nahmen ihm Handy sowie Portemonnaie ab. Seither hat Schraner kein Telefon mehr. Wer ihn besucht, steht vors Haus und ruft laut seinen Namen – Schraner hat das Fenster stets einen Spalt breit offen (die Türklingel ist kaputt). Muss er selbst dringend jemanden erreichen, leiht er sich ein Handy oder läuft zur Telefonkabine. Die Geschichte mit dem Überfall ist auch der Grund, warum Schraner seine Zimmertür mithilfe einer Kartonkiste sowie eines Holzstücks zusperrt, das er zwischen Tür und Schrank klemmt. Man merkt Schraner an, dass er einen Grossteil der letzten zwei Jahrzehnte im Gefängnis verbracht hat. Kleine, alltägliche Aufgaben werden zu schweren Pro­ blemen, die er dann tagelang vor sich herschiebt. Der Schritt in die Freiheit ist gross. Schraner wirkt müde, gezeichnet von einem Leben, das von der Sucht bestimmt

Viele Nächte verbringt Schraner mit Lesen, Trinken und Rauchen. Geht er hin und wieder in die Küche, dann begegnen ihm die Kakerlaken.

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wurde. Vor einigen Wochen teilte ihm die Sozialarbeiterin mit, dass seine Mutter gestorben sei. Gehört hatte er von ihr seit Jahren nicht mehr. Auch wo seine Schwester ist, weiss Schraner nicht. Nur zu seiner Ex-Frau und den beiden Kindern hat er sporadisch Kontakt. Vor einiger Zeit erfuhr der 54-Jährige, dass er an Schilddrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium leidet, die Ärzte sind wenig optimistisch. «Noch vier Jahre», sagt er und dreht sich eine weitere Zigarette. Dann nimmt er einen Schluck Wod­ ­ka, setzt sich fürs Foto aufs Bett, auf dessen Rand sich Bücher stapeln. Viele Nächte verbringt er mit Lesen, Trinken und Rauchen. Hin und wieder holt er sich Nachschub aus der Küche. Dann begegnen ihm die Kakerlaken. Und er weiss, dass er das bisschen Zukunft in Freiheit, das ihm bleibt, auf keinen Fall an diesem Ort verbringen will. Surprise 493/21


Städte werden aktiv

Das Badezimmer teilt sich Stefan Schraner mit seinen zwei Mitbewohnern. Durch die Badewanne verläuft eine urinfarbene Kalkspur. Im Dachstock (unten) sieht es noch ein wenig ungemütlicher aus.

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Das Problem ist in verschiedenen Schweizer Städten unter dem Stichwort Gammelhäuser bekanntgeworden: Private Vermieter*innen, die Wohnungen in katastrophalem Zustand zu horrenden Mieten an Menschen in prekären Lebensumständen vermieten. Meistens handelt es sich um sogenannte Etagenzimmer mit Gemeinschaftsbad und -küche. In vielen Fällen verlangen die Vermieter*innen exakt jenen Betrag, den die Städte ihren Sozialhilfebezüger*innen als Mietkosten maximal bezahlen. Sowohl in Zürich als auch in Basel schlug das Thema in den letzten Jahren medial und politisch hohe Wellen. In der Stadt Zürich sorgten besonders schlecht unterhaltene Liegenschaften an der Neufrankengasse für Schlagzeilen. Die Behörden intervenierten, worauf der Vermieter wegen Wucher verurteilt wurde, die Stadt die Häuser kaufte und ein Angebot für begleitetes Wohnen einrichtete. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, erstellte die Stadt eine Liste mit Problemliegenschaften. Darauf befänden sich derzeit 36 Liegenschaften, wie Heike Isselhorst, Sprecherin des Sozialdepartements, sagt. Mit Gesprächen und Begehungen vor Ort versucht das Amt, für «menschenwürdige und hygienisch einwandfreie Unterkünfte» zu sorgen. Kooperieren die Vermieter*innen nicht, helfe man auch bei mietrechtlichen Schritten. Gemäss Isselhorst gibt es Zustände wie damals an der Neufrankengasse heute nicht mehr. «Diese würden auch nicht mehr toleriert.» Einen interessanten Weg hat Basel eingeschlagen. Nachdem vor einigen Jahren Fälle von Gammelhäusern für Empörung gesorgt hatten, nahm die Stimmbevölkerung 2018 vier Initiativen zum Wohn- und Mieterschutz an, darunter «Recht auf Wohnen». Als Folge davon bewilligte der Regierungsrat 2019 ein auf dreieinhalb Jahre beschränktes Pilotprojekt: er schuf eine «Koordinationsstelle für prekäre Wohnverhältnisse». Deren explizites Ziel ist es, «vulnerable Personen» (neben Sozialhilfebezüger*innen auch armutsbetroffene, süchtige oder mehrfach kranke Menschen sowie Flüchtlinge) davor zu schützen, unter «menschenunwürdigen Bedingungen» leben zu müssen. «Die wichtigste Botschaft an die Eigentümer*innen von Problemliegenschaften ist, dass ihr bisheriges Geschäftsmodell nicht mehr akzeptiert wird. Gleichzeitig wird auf Kooperation gesetzt», sagt Amina Trevisan, Leiterin der Koordinationsstelle Prekäre Wohnverhältnisse. In den letzten eineinhalb Jahren seien über 130 Meldungen eingegangen, derzeit befänden sich rund 60 Liegenschaften unter Aufsicht. Nach zahlreichen Gesprächen mit Vermieter*innen hat die Stadt nun eine neue Lösung ausgearbeitet, von der alle Seiten profitieren sollen. Die Vermieter*innen sollen eine Mietzinsreduktion für alle Mieter*innen gewähren, korrekt verrechnete Nebenkosten offenlegen sowie die hygienischen, baulichen und feuerpolizeilichen Vorschriften einhalten. Als Gegenleistung bietet das Sozialamt eine Art «sozialen Hauswart» an – eine niederschwellige, für beide Seiten kostenlose Wohnbegleitung im Haus. Diese soll einerseits die Wohnverhältnisse im Haus verbessern. «Andererseits bietet es eine Entlastung für die Vermieter*innen im Umgang mit Menschen mit einer Suchtproblematik.» Die Reaktionen der Eigentümer*innen auf den Vorschlag würden unterschiedlich ausfallen, so Trevisan. Von bislang acht angefragten Eigentümer*innen hätten drei dem Vorschlag zugestimmt. EBA 13


«Die Nähe zum Milieu ist extrem wichtig» Auch im Zürcher Haus Zueflucht leben Menschen am Rand der Gesellschaft in WGs zusammen – allerdings um einiges würdevoller als in Etagenzimmern. Leiter Chris Stocker erklärt, wie das geht. INTERVIEW  ANDRES EBERHARD

Chris Stocker, im Haus Zueflucht leben 22 Menschen in sozialen Problemsituationen auf fünf Stockwerken verteilt in WGs zusammen. Wie funktioniert das? Alles in allem sehr gut. Die Bewohner*innen haben ihre eigenen Zimmer, in die sie sich zurückziehen können. Dusche und Küche teilen sie sich auf der Etage. Treffpunkte sind der Garten und der Gemeinschaftsraum ganz oben im Haus. Dass es hin und wieder zu Reibereien kommt, ist normal. Das Umfeld hier ersetzt für viele die Familie. Und dort kommt es ja auch zu Konflikten. Ihre Klientel ist aber doch anders als der Durchschnitt. Was ist mit Drogen? Die sind natürlich ein Thema. Aber nicht alle Klient*innen sind süchtig. Wir haben eine Hausordnung, die Regeln sind sehr niederschwellig und einfach verständlich: Drogen dürfen nur auf dem Zimmer konsumiert werden. Dealereien, Hehlereien, Gewalt und Prostitution sind verboten. Wer sich nicht daran hält, dem wird gekündigt. Was sind das für Menschen, die im Haus leben, und wie finden sie zu Ihnen? Das ist sehr unterschiedlich. Das Gemeinsame ist ihre aussergewöhnliche Biografie. Darum reden wir nicht von Randständigen oder von Personen in prekären Umständen. Sondern von Menschen in spektakulären Lebenssituationen. Die meisten leben entweder von Sozialhilfe oder von IV-Zusatzleistungen. Den Drogenkonsum finanzieren sich einige wohl mit Dealereien auf der Gasse. Grundsätzlich handelt es sich um Menschen, die mit dem selbständigen Wohnen überfordert sind. Zu uns kommen sie über persönliche Kontakte, das Sozialamt oder Gassenarbeiter*innen. Kürzlich kam einer aus dem Gefängnis Pöschwies zu uns. Als die Stadt uns anfragte, begann ich sein Dossier zu lesen. Ich dachte: Oh Gott, wenn ich weiterlese, dann muss ich Nein sagen. Also stoppte ich. Jetzt ist er hier und es funktioniert problemlos. Ich bin froh darüber, dass wir ihn im Haus aufgenommen haben. Was kostet ein Zimmer bei Ihnen? Als ich hier anfing, war es einer meiner Hauptaufträge, das Haus kostendeckend zu betreiben. Da hilft mir mein 14

beruflicher Hintergrund, mit Budgets und Projektmanagement kann ich was anfangen. Heute haben wir das geschafft, ein Zimmer kostet die Stadt 1324 Franken. Darin inbegriffen ist neben der Infrastruktur die Sozialarbeit im Haus, nicht aber die Projekte, die wir mit den Bewohner*innen zusätzlich führen. Denn es ist uns wichtig, dass projektbezogene Spenden auch wirklich am richtigen Ort verwendet werden. Wir betreiben zum Beispiel mit den Bewohner*innen zusammen eine Imkerei mit vierzig Bienenvölkern sowie mehrere Permakultur-Gärten, nebst weiteren Projekten. Anderswo wird für schäbige Zimmer annähernd gleich viel verlangt. Warum florieren solche Gammelhäuser? Meist handelt es sich ja um zentrale Liegenschaften in der Nähe der Langstrasse. Die hohen Preise haben sicher mit der Gentrifizierung zu tun. Dazu kommt, dass den Bewohner*innen die Nähe zum Milieu extrem wichtig ist. Wenn wir die Menschen bei uns fragen, warum sie hier wohnen, dann nennen neunzig Prozent die Lage als wichtigsten Grund. In zwei Minuten sind sie hier auf der Stras­ ­se, wo ihr Umfeld ist. Gibt es in Zürich genügend Angebote wie Ihres? Wir sind immer voll belegt, darum bezweifle ich das. Es gibt natürlich viele Angebote der Stadt im Rahmen von begleitetem Wohnen. Dort sind die Regeln allerdings strenger, gerade was den Drogenkonsum angeht. Wir sind der Meinung, dass Regeln nichts bringen, die Abhängige oftmals nicht einhalten können. Darum haben wir sehr viel Geduld und drücken öfter einmal ein Auge zu. Wir setzen jemanden nicht gleich auf die Strasse, weil er in Abstinenz ist und einen Rückfall hat. Aber auch bei uns ist das Ziel, dass Bewohner*innen dereinst wieder selbständig wohnen können. Unsere Erfahrungen zeigen, dass dieser Schritt sehr gross ist. Ungefähr bei einem Bewohner pro Jahr gelingt das. Darum sind wir auf der Suche nach einem weiteren Haus, das Bewohner*innen als Sprungbrett dienen könnte, wo sie mit etwas weniger Betreuung ans selbständige Wohnen herangeführt werden können. Dort gibt es meiner Meinung nach eine Versorgungslücke. Surprise 493/21


FOTO: ZVG

Was macht es Menschen in Not so schwer, eine bezahlbare Wohnung zu finden? Viele können nicht so gut planen und fokussieren sich auf das unmittelbare Bedürfnis. Oftmals bestehen finanzielle Schulden oder Einträge im Betreibungsregister. Wenn hundert Leute für eine freie Wohnung anstehen, und man ist nicht pünktlich oder hat offene Rechnungen, dann ist das Rennen natürlich gelaufen. Sie mussten das Haus wegen Corona für Tagesgäste schliessen. In der Adventszeit verteilten Sie stattdessen jeden Abend eine warme Gratis-Mahlzeit vor der St. Jakobskirche in Zürich. Wie kam es dazu? Wir begannen wie andere Institutionen: Wir kochten drinnen weiter und hatten ein Schutzkonzept – Personalien aufnehmen, Fieber messen, Maske tragen, maximal acht Personen gleichzeitig. Doch viele haben Ängste oder sind psychisch belastet. Dann sind solche Einlassregeln eine Schwelle, grenzen aus. Darum haben wir uns entschieden, nach draussen zu gehen.

«Wir setzen niemanden auf die Strasse, weil er einen Rückfall hat. Das Ziel ist, dass er dereinst wieder selbständig wohnen kann.» CHRIS STOCKER

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Die Bilder von Schlangen bei Essensausgaben haben im Frühling viele schockiert. Wie war der Andrang? Wir schöpften täglich zwischen sechzig und achtzig Mahlzeiten und gaben warme Winterkleidung ab. Die Essensausgabe vor dem St. Jakobskirche wurde zu einem Treffpunkt. Von den Menschen auf der Gasse bekamen wir viel Lob, und was auch erwähnt werden muss: Die Bereitschaft zu helfen war sehr gross. Nachdem wir die ersten zwei Wochen selber kochten, fanden wir einen Partner, der das Essen spendete und kochte. Wir bezogen Backwaren als Spenden von Gastrobetrieben. Corona hin oder her: Wir haben fest vor, das Projekt Hunger im nächsten Winter zu wiederholen – wiederum draussen bei den Menschen.

Haus Zueflucht Das Haus Zueflucht an der Fabrikstrasse im Zürcher Kreis 5 gibt es seit 2007. Das Bistum Chur hatte Beno Kehl, einem ehemaligen Franziskanermönch, das Haus im Baurecht überlassen. Er baute das Haus zur WG um. Die christlichen Werte sind nach wie vor Teil des Projekts. Jedoch ist die Ausübung des Glaubens weder für Mitarbeiter*innen noch für Bewohner*innen eine Voraussetzung. Chris Stocker stiess 2017 zum Verein und ist seither Leiter des Hauses Zueflucht und Co-Leiter der franziskanischen Gassenarbeit. Der 54-Jährige war zuvor Manager auf einer Grossbank und hatte in der IT in verschiedenen Management-Positionen gearbeitet, ehe er etwas komplett anderes machen wollte. Parallel zur Arbeit im Haus studiert er Soziale Arbeit an der HSLU in Luzern und befasst sich in seiner Abschlussarbeit mit der Obdachlosigkeit in der Stadt Zürich.

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So wie hier in der Stadt Aghdam sieht es in vielen bis vor Kurzem armenisch besetzen Gebieten Aserbaidschans aus.

Bergkarabach Der Krieg im letzten Herbst bildet ein weiteres Kapitel in

einem langen und komplexen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Frieden scheint zunächst in noch weitere Ferne gerückt. ARMENIEN

Bergkarabach ASERBAIDSCHAN

Hoffnung auf Rückkehr In den 1990er-Jahren musste Ülvi Abasguliyev mit seiner Familie vor den armenischen Truppen fliehen. Nun hat Aserbaidschan seine Heimatregion im Süden wieder zurückerobert. Damit rückt eine Rückkehr erstmals in greifbare Nähe. TEXT UND FOTOS  ANDRÉ WIDMER

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Der Krieg um Bergkarabach wurde durch Aserbaidschan im Süden der Front entschieden. So an der Strasse zwischen dem Dorf Alchanli und der Stadt Fizuli nahe der Grenze zu Iran, wo die aserbaidschanische Armee die armenischen Streitkräfte insbesondere mit Drohnenangriffen in die Flucht schlug. Noch im Dezember sind zahlreiche Spuren der intensiven Kampfhandlungen in der Gegend zu sehen: ausgebrannte Panzer, verlassene Stellungen und Erdwälle, zurückgelassene Uniformen, halbvolle Munitionslager. In einem Wagenpark stehen verbrannte Fahrzeuge – und auf einer der Ladeflächen liegen die verkohlten Überreste von drei Menschen, mutmasslich armenischen Soldaten. Etwas weiter Richtung Fizuli sieht man eine grüne Wiese übersät mit schwarzen Granattrichtern. Die Stadt Fizuli selber ist seit dem Krieg in den Neunzigerjahren und nach der 27-jährigen armenischen Besatzung fast vollständig zerstört. Der zweite Krieg um Bergkarabach endete am 10. November letzten Jahres nach sechs Wochen heftiger Kämpfe. Offiziellen Angaben zufolge fielen auf beiden Seiten über 5000 Soldaten, über 100 Zivilist*innen kamen um. Die aserbaidschanische Armee erzielte insbesondere im südlichen Teil der 27 Jahre lang von armenischer Seite kontrollierten Regionen Aserbaidschans grosse Geländegewinne. Der von Russland vermittelte Friedensschluss vom 11. November 2020 beinhaltete zudem die gestaffelte Rückgabe weiterer Gebiete an Aserbaidschan. Der noch fragile Frieden wird derzeit unilateral von rund 2000 Soldaten einer russischen Friedensmission überwacht. Die Vorgeschichte Der wieder aufgeflammte, jahrzehntealte Konflikt um die zu Sow­ jetzeiten mehrheitlich von Armenier*innen bewohnte Region Bergkarabach ist ohne historische Kenntnisse der Region und ihrer komplexen Geschichte kaum zu verstehen (mehr zum Hintergrund siehe Surprise 483). Um etwas besser einordnen zu können, warum der Krieg in Aserbaidschan von einer breiten Bevölkerungsmehrheit gefordert und unterstützt wurde, muss man wissen, dass es nicht allein um die symbolisch aufgeladene Region Bergkarabach ging. Sieben sogenannte Rayons (Bezirke) rund um Bergkarabach waren im ersten Krieg zwischen 1988 und 1994 ebenfalls von armenischen Truppen besetzt worden. Hier hatten vor allem ethnische Aserbaidschaner*innen gesiedelt, von dort stammte auch der Grossteil der Flüchtlinge, die damals in anderen Gegenden des Landes Zuflucht suchen mussten. Zum Zeitpunkt des Waffenstillstands 1994 hielt Armenien knapp vierzehn Prozent des völkerrechtlich anerkannten Territoriums von Aserbaidschan besetzt. Die darauffolgenden Friedensverhandlungen unter Aufsicht der Minsk-Gruppe der OSZE führten jahrzehntelang ins Leere. Diesem ersten Bergkarabach-Krieg fielen zwischen 17 000 und 30 000 Menschen zum Opfer, rund 750 000 Aserbaidschaner*innen flohen oder wurden vertrieben, genauso wie über 350 000 Armenier*innen (die Zahlen variieren je nach Quelle). Es entstand eine faktisch ethnische Trennung. In der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku sitzt Ülvi Abasguliyev an einem Dezembertag in seinem Wohnzimmer. Er ist ein ruhiger Typ, kompakt gebaut, mit einem freundlichen Lächeln und leuchtend grünen Augen. Es ist einige Wochen her, dass die aserbaidschanische Armee seine Heimatstadt Dschebrayil nahe der iranischen Grenze zurückerobern konnte. Wie viele Ortschaften wurde auch Dschebrayil im Verlauf der armenischen Besatzung zerstört und geplündert und besteht praktisch nur noch Surprise 493/21

aus Ruinen. Abasguliyev ist 42 Jahre alt, 1993 ist er als 15-jähriger Junge zusammen mit seinen Eltern vor den heranrückenden armenischen Einheiten geflüchtet. Nach einigen Zwischenstationen landete die Familie, wie viele der Binnenflüchtlinge, in Baku. Sein früheres Leben in Dschebrayil, seiner Heimat, ist in Abasguliyevs Erinnerungen tief verankert. Die frische Luft und das frische Wasser. Und «in Dschebrayil konnte man die Türen unverschlossen lassen», so sehr vertrauten sich die Nachbarn. Ülvi Abasguliyevs Eltern waren dort Leute gewesen, der Vater führte die Apotheke, die Mutter war die einzige Augenärztin weit und breit. Für die Familie war die Umgewöhnung nach der Flucht gross: während die Mutter eine Anstellung in einer Bakuer Poliklinik fand, war der Vater lange arbeitslos. Finanziell war es eng. Dazu kam, dass auch der Lebensunterhalt teurer war: «Es fühlte sich komisch an, in Baku musste man Gemüse und Wasser kaufen.» In Dschebrayil gab der Garten ums Haus vieles her – Granatäpfel, Birnen, Kirschen –, in Baku lebte die Familie anonym, zusammengepfercht in einer kleinen Wohnung. «Mein Bruder musste sich auf die Hochschulaufnahmeprüfung vorbereiten, während Mutter im selben Raum Kartoffeln rüstete.» Abasguliyev ist sehr bewusst, dass es schlimmere Fälle gab. Viele Geflüchtete schafften es nicht bis in die Hauptstadt und blieben in den aserbaidschanischen Regionen nahe der damaligen Waffenstillstandslinie. Dort hausten sie teilweise in Bahnwaggons, später liessen sie sich nahe der Geleise in Lehmhütten nieder. Andere wurden in Schulen, Turnhallen oder abbruchreifen Gebäuden untergebracht. Bis sie in grosse Flüchtlingssiedlungen umgesiedelt wurden, dauerte es bis zu zwei Jahrzehnte. Abasguliyev teilt mit ihnen die Erfahrung, die Heimat verloren zu haben. Dass er seine Möglichkeiten dazu genutzt hat, später Internationales Recht zu studieren, ist kein Zufall. Abasguliyev wollte verstehen, ob das, was seiner Familie und den anderen Vertriebenen widerfahren war, auch jenseits der bitteren Emotionen und nüchtern betrachtet Unrecht war. In den 27 Jahren seit der Flucht hat er sich ein stabiles Leben in Baku aufgebaut. «Trotzdem fühle ich mich weiterhin fremd», sagt er. Sein Dialekt verrät bis heute seine Herkunft aus dem

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50 KM

TALYSCH TERTER

ASERBAIDSCHAN

VARDENIS AGHDERE KELBEDSCHAR

AGHDAM

STEPANAKERT/CHANKENDI

ARMENIEN

SCHUSCHA / SCHUSCHI LATSCHIN/BERDZOR

ASERBAIDSCHAN

FIZULI

GORIS

AUTONOME REP UBLIK NACHITSCHEVAN

DSCHEBRAYIL NACHITSCHEVAN

IRAN

Territorium ausserhalb von Bergkarabach, das von Aserbaidschan zurückerobert wurde. Gebiet von Bergkarabach, in dem russische Friedenstruppen stationiert sind. Russische Friedenstruppen sichern auch den 5km breiten Latschin-Korridor, der Bergkarabach mit Armenien verbindet.

Territorium von Bergkarabach, das von Aserbaidschan zurückerobert wurde. Territorium von Bergkarabach, das schon vor den Kämpfen im Herbst unter aserbaidschanischer Kontrolle war.

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1 Arbeit für Jahre: Ehemalige Kampfgebiete werden von Minen und nicht detonierten Geschossen befreit. 2 Wiederanschluss mit Aser­­ baidschan: Strassenbau zwischen der Stadt Terter und dem ehemals armenisch besetzten Sugovushan. 3 Im Süden wie hier bei Fizuli ist es im Herbst zu besonders schweren Gefechten gekommen.

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Südwesten des Landes. Auch die Identität als Geflüchteter hat er nicht ablegen können, der Zugang zur speziellen Kultur der alteingesessenen Bakuer Stadtbevölkerung blieb ihm verwehrt – obwohl er im Ausland studiert und für internationale Organisationen gearbeitet hat. Wird er jetzt nach der Rückeroberung zurückkehren nach Dschebrayil, in die Heimat seiner Familie, die Ortschaft seiner Jugend? Der Traum von der Rückkehr Ganz so einfach ist das nicht. Abasguliyev ist verheiratet, hat eine kleine Tochter und eine eigene Existenz in Baku. Hier hat er Völkerrecht studiert, später im Saarland den Magister in Europarecht draufgesetzt. Abasguliyev spricht neben Aserbaidschanisch und passablem Russisch auch fliessend Deutsch. Eine gute Anstellung zu finden, entpuppte sich jedoch als schwieriger als gedacht. Die wenigen internationalen Organisationen, die in Baku aktiv sind, stellen oft nur befristete Verträge aus. Immer wieder musste Abasguliyev neu suchen. Eine Zeitlang dachte er daran, ins Ausland zu gehen. Denn wenn man nicht unbedingt beim Staat oder im Ölsektor arbeiten wollte, sah es in Baku düster aus. Doch der Weg 18

nach Europa war ohne Anstellung ebenso versperrt. Zuletzt arrangierte er sich in einem Job als Berater beim staatlichen Komitee für Vermögensfragen. Derzeit ist Abasguliyev wieder arbeitslos. Klar ist, dass er mit seinem beruflichen Profil in der Hauptstadt besser aufgehoben ist als in der Provinz. Kommt hinzu, dass seine Frau in Baku bleiben möchte und sich ein Leben in Dschebrayil nicht vorstellen kann. Auch die Tochter ist hier geboren, besucht hier die Schule, hat hier ihre Freundinnen. Abasguliev sagt, viele möchten zurückkehren – auch seine Mutter, 71, und sein Vater, 78. «Meine Eltern würden sofort umsiedeln, wenn sie könnten.» Sie hätten schon Pläne, das Haus wiederaufzubauen, die Bäume zu pflegen, im Garten Kebab zu grillieren. Doch auch für sie würde im Falle einer Rückkehr vieles anders sein, sagt Abasguliev. «Viele ehemalige Nachbarn sind in der Zwischenzeit gestorben.» Der jüngeren Generation stellt sich vor allem die Frage, ob es in Dschebrayil dereinst genügend qualifizierte Arbeitsstellen geben wird. Früher war die Umgebung dieser Dörfer und Kleinstädte von Landwirtschaft geprägt. Doch zunächst stehen die Räumung und der Wiederaufbau an. Noch sind ganze Landstriche verwüstet, Areale vermint und mit BlindSurprise 493/21


Kommentar

Keine Gewinner*innen Im Sommer letzten Jahres, nach bewaffneten Zusammenstössen zwischen Armenien und Aserbaidschan, die 16 Menschen das Leben kosteten, strömten in Baku mehrere Zehntausend Menschen auf die Strassen und verlangten von der Regierung die Rückeroberung von Bergkarabach und der in den 1990er-Jahren unter armenische Kontrolle geratenen Gebiete. Während der Präsident zunächst auf Beruhigung setzte, mel­ deten sich Tausende freiwillig zur Armee. Viele von den Demonstrant*innen hatten Verwandte oder Freunde, die vor den armenischen Truppen hatten fliehen müssen, die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konfliktes tendierte nach 27 Jahren erfolgloser Verhandlungen gegen Null. Nationalistische Propaganda und ein autokratisches System, das ständig mit Kriegsrhetorik operierte, taten ihr Übriges. Der Krieg hatte fast ungebrochenen Halt in der Bevölkerung, kritische Stimmen drangen nicht durch.

«Meine Eltern würden sofort umsiedeln, wenn sie könnten.» ÜLVI ABASGULIYEV

gängern übersät. Es wird Jahre dauern, bis tatsächlich allen die Möglichkeit zu einer Rückkehr offensteht. In naher Zukunft wird es wohl vor allem dort möglich sein, wo bis zum letzten Krieg Armenier*innen lebten, denn dort sind die Häuser erhalten geblieben. Das trifft vor allem auf Ortschaften im Norden zu. Dsche­ brayil aber liegt im Süden. Für Abasguliyevs Familie heisst das wohl: Es wird noch länger dauern. Erst nach der Minenräumung und dem Wiederaufbau der Grundinfrastruktur kann ein Hausbau anstehen. Abasguliyev träumt davon, sich irgendwann in Dschebrayil selbständig zu machen, wenn er seine Familie davon überzeugen kann. Mindestens aber von Wochenendbesuchen bei seinen Eltern: «Ich würde gern beim Wiederaufbau unseres Hauses helfen.» Und wie steht es um ein mögliches Zusammenleben mit Armenier*innen? Abasguliyev, der während seiner Jahre in Deutschland Armenier*innen zu seinen Freunden zählte, sagt, dass diejenigen, die das Land fast dreissig Jahre besetzt hielten, nichts daraus gemacht hätten. «Man müsste die Geschichte vergessen und in die Zukunft schauen.» Das sei aber schwierig angesichts der Opfer. Es brauche Zeit, die Feindseligkeiten hinter sich zu lassen. Surprise 493/21

Kurz bevor im September die Kämpfe ausbrachen, berichtete Surprise über die Region und druckte eine ­Reportage aus der international nicht anerkannten Republik Artsakh – wie Bergkarabach auf Armenisch heisst. Wir porträtierten Menschen, die sich als Sieger*­ innen des ersten Bergkarabach-Krieges der 1990erJahre verstanden, nun aber massiv unter der Isolation ihrer Region litten. Die spezielle geografische Lage und die lange unruhige Geschichte der Region machen den Konflikt zu einem, bei dem es nicht einfach ist, klar einzuordnen, wer im Recht und wer im Unrecht ist – von besonderer Bedeutung sind daher die wenigen Menschen in beiden Gesellschaften, die sich für einen Dialog einsetzen (siehe Surprise 483). Daran hat sich nichts geändert. Zwar hat Aserbaidschan einen 44 Tage dauernden, technisch beängstigend ­v­ersierten Angriffskrieg geführt, wie es mittlerweile offen zugibt, und einiges an Boden zurückgewonnen, aber auch zahlreiche, in der Mehrheit sehr junge Menschen geopfert, deren Familien mit der Trauer zu­ rückbleiben. Eine echte Lösung ist weiterhin nicht in Sicht. Niemand kann momentan absehen, was die ­physische Rückkehr russischer Soldaten in die Region auf lange Sicht bedeutet. Derzeit liegen die internationalen Sympathien bei den Verlierer*innen in Armenien, die nicht nur mit Flucht und Demoralisierung zu kämpfen haben, sondern auch mit massiver politischer ­Instabilität sowie einer unkontrollierten Pandemie. Das scheint auch die internationale Berichterstattung wider­ zuspiegeln, auch weil es für Journalist*innen wesentlich leichter ist nach Armenien zu reisen und sich dort frei zu bewegen als nach Aserbaidschan. Umso wich­ tiger, auch dort dranzubleiben, wo freie Berichterstattung rar und der Zugang nicht immer einfach ist. WIN 19


Kaum zu durchschauen Der Bergkarabach-Konflikt ist ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, ausgewogen zu berichten. Das Tempo im Online-Journalismus sowie die Wechselwirkung mit den sozialen Netzwerken sind mit reflektierter Analyse kaum vereinbar. TEXT  SARA WINTER SAYILIR

Als der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im September ausbrach, erstaunte die Geschwindigkeit, mit der sich der Konflikt sich auf die Sozialen Netzwerke übertrug und wie schnell die westliche Medienberichterstattung mit Vorwürfen der Parteinahme konfrontiert wurde. Eine Woche, nachdem im vergangenen Herbst der zweite Bergkarabach-Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien ausgebrochen war, bekam ich über Facebook eine Nachricht: «Könntest du uns Kontakte zu Politik-Journalist*innen in der Schweiz vermitteln? Wir haben den Eindruck, es werde einzig über die armenische Seite berichtet, und würden gern auch unsere Sicht der Dinge mitteilen.» Die Nachricht kam von einer Bekannten aus meiner Studienzeit in Baku, sie arbeitet in Genf für den staatlichen aserbaidschanischen Ölkonzern Socar. Wir kennen uns kaum und haben bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir zusammenkamen, das Thema Politik lieber vermieden. Auch wenn ihre Anfrage in Tonalität und Anliegen zunächst unproblematisch war, fragte ich mich, worauf genau sie sich bezog, wenn sie davon sprach, dass «einzig die armenische Seite» zu Wort käme: Welche Medien? Wie viele Beiträge? Und weil sie für einen aserbaidschanischen Staatskonzern arbeitete, war ich misstrauisch. War da überhaupt etwas dran? Oder war dies ein Versuch, Medien dazu zu bringen, aserbaidschanische Propa­ ganda zu drucken? Wurden andere Kolleg*innen mit ähnlichen Anfragen von armenischer Seite behelligt? Ich fühlte mich beinahe verpflichtet, sie auf die Unabhängigkeit des Journalismus in der Schweiz, in Europa und in demokratischen Gesellschaften allgemein hinzuweisen. Der Propagandakrieg Der Versuch der Einflussnahme durch Menschen, die sich dem einen oder anderen Lager zugehörig fühlen, ist nichts Ungewöhnliches und bei Weitem nicht auf den Konflikt im Südkaukasus beschränkt. Silvia Stöber von tagesschau.de hat in Bezug auf ihre eigenen Berichte zu Bergkarabach sogar weniger Einflussnahmeversuche und Reaktionen beobachtet als 2008 beim Georgien­ Krieg oder 2013/14 beim Thema Ukraine, «wo viele, auch persönliche Angriffe, aus Deutschland kamen», wie sie mir per E-Mail schreibt. Oft stehen nicht nur Angehörige der Konfliktparteien dahinter, sondern auch ideologische, politische oder ökonomische Interessen. Und nicht immer ist klar ersichtlich, weshalb sich jemand gegenüber einer Redaktion für eine bestimmte Sicht stark macht. Ich fragte mich, wie es dazu kommt, dass die spezifische Lesart einer der beiden Parteien unkritisch übernommen wird. Möglicherweise spielte hier auch der Propagandakrieg in den Sozialen Medien eine Rolle. Dort mobilisierten beide Seiten nach Kräften, griffen sämtliche Stimmen an, die sich gegen den Krieg 20

einsetzten, und diskreditierten Berichterstattung, sobald diese nicht ihrer Perspektive entsprach. Für mitlesende Journalist*innen nicht immer einfach, Propaganda von legitimer Kritik an Berichterstattung zu trennen, die ebenfalls stattfand. «Ich kenne Menschen aus beiden Ländern, die gegen den Krieg waren, dies aber öffentlich kaum formuliert haben», sagt Silvia Stöber. Sie war überrascht davon, wie bedingungslos einige Regierungskritiker*innen aus Aserbaidschan die Regierungspolitik unterstützten. Wer sich in den sozialen Netzwerken gegen den Krieg äus­ serte, musste mit einer Welle von Hass rechnen. Eine solche traf auch die unabhängige aserbaidschanische Publizistin Arzu Geybulla, die Surprise noch wenige Monate zuvor zur Frage nach ihrer Perspektive für einen Frieden befragt hatte. Geybulla war den aserbaidschanischen Nationalist*innen in Aserbaidschan schon vorher ein Dorn im Auge gewesen, nun eskalierte der Hass im Netz derart, dass mehrere Medien, Journalist*innen-Verbände und auch der Europarat sich besorgt über die Sicherheit der Journalistin äusserten. Eine Zeitlang zog sie sich deswegen zurück, sistierte ihre Accounts. Geybulla sieht in den Vorgängen in den sozialen Netzwerken ein neues Kennzeichen: «Es war das erste Mal, dass die sozialen Netzwerke systematisch von beiden Seiten dazu genutzt wurden, ihrer Propa­ ganda zu dienen», sagt sie. Zu ihrer Sicht auf die internationale Medienberichterstattung befragt, sagt Arzu Geybulla, sie habe nicht den Eindruck, diese sei voreingenommen gewesen. Die grossen Medienhäuser wie BBC, CNN, France 24 und die New York Times hätten ausgewogen berichtet. Vorwürfe von aserbaidschanischer Seite, es werde in der Mehrheit pro-armenisch berichtet, hält sie für unbegründet. «Denen, die sich beschweren, mangelt es an einem grundsätzlichen Verständnis, was Medien eigentlich sind.» Seit 2008 sei die Zahl unabhängiger Medien in Aserbaidschan vor allem aufgrund staatlicher Repression immer weiter gesunken. Zudem sei es absurd, dass eine Regierung, die selbst internationale Medien diskreditiert und herabwürdigt, plötzlich von diesen eine faire Behandlung verlange. Ohne unabhängige Medien im Inland und Verständnis für die Funktion derselben könne sie die Kritik an internationalen Medien und die Frage, wie konfliktsensible Berichterstattung auszusehen habe, nicht ernstnehmen. Silvia Stöber von tagesschau.de sieht die Ursachen von Einseitigkeit vor allem in «organisatorischen Problemen – zu wenig Hintergrundwissen und zu wenig Recherchezeit, zu wenig Raum in Form von Zeit oder Platz, um den komplexen Konflikt in einer Weise zu erklären, die allgemeinverständlich ist». Auch in Deutschland aber hätten sich die grossen Medienhäuser wie beispielsweise ARD und ZDF bemüht, von beiden Seiten zu berichten und Reporter an beide Orte geschickt. Sie selbst hatte kurz vor Ende des Krieges Armeniens Präsident Nikol Pashinyan interviewt. Surprise 493/21


Fehlende Ressourcen und Kenntnisse seien ein grundsätzliches kel von Genozid-Überlebenden Gefahr gelaufen seien, im Krieg Problem bei der Medienberichterstattung zum Bergkarabach-­ Nachfahren der damaligen Täter gegenüberzustehen, habe seines Konflikt, sagt der ehemalige US-Botschafter in Aserbaidschan Erachtens enorme Auswirkungen. Darüber hinaus werde die po(1994–1997) und Spezialist für Energie-Geopolitik, Richard Kauzlitische Zusammenarbeit der Schweiz mit dem aserbaidschanilarich. So sei die häufig auftauchende Einordnung des Bergkaschen staatlichen Ölkonzern Socar zu wenig aufgearbeitet. Socar rabach-Krieges als Stellvertreter-Krieg zwischen der Türkei und betreibt über eine gleichnamige Tochtergesellschaft nicht nur ein Tankstellennetz in der Schweiz, sondern hat auch einen wichRussland zum Beispiel falsch, werde aber als ein einfacher Weg tigen Trading-Standort in Genf. genutzt, sich der Analyse der tatsächlichen Wurzeln des Konfliktes zu entziehen. «Das nenne ich faulen Journalismus.» Natürlich gebe es eine gewisse Voreingenommenheit in den Redaktionen: Aserbaidschans Unfähigkeit «Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Pressefreiheit und «Ganz unabhängig davon, wie viel Geld Aserbaidschan in den unfaire Wahlen aus der Zeit vor dem Krieg haben die Haltung letzten Jahren in PR investiert hat, die Armenier*innen in der geprägt.» Armenien habe seit dem AufDiaspora sind immer noch viel besser dastieg Nikol Pashinyans überwiegend eine rin, der westlichen Öffentlichkeit eine Botpositive Presse bekommen, Aser­baidschan schaft zu vermitteln, die diese auch verwerde aufgrund der Menschenrechtsverstehen kann», sagt Thomas de Waal, Autor letzungen scharf kritisiert. Das habe auch des Standardwerks zum ersten Bergkaradie Kommentare zum Krieg beeinflusst. bach-Krieg «Black Garden – Armenia and Kauzlarich bescheinigt dem Konflikt seit Azerbaijan Through Peace and War». Es letztem Sommer neu die Züge eines ethhätten vor allem jene Medien reflektiert nischen Konfliktes. Dabei wirft er vor alüber den Konflikt berichtet, die bereit walem Aserbaidschan die Verbreitung von ren und sind, in eine langfristige BegleiVideos von Drohnenangriffen vor. Diese tung des Konfliktes von beiden Seiten zu hätten die Aserbaidschaner*innen deseninvestieren. Denn dieser sei sehr schwer sibilisiert. «Krieg wurde so nicht mehr zu verstehen, es gebe viele Nuancen und zum Schauplatz menschlichen Leidens, Details und eine lange und komplizierte sondern zu einem Videospiel.» Und weil Geschichte. «Ich glaube, dass nur sehr weAserbaidschan in dieser Hinsicht der einnige Menschen ein umfassendes Bild von zige Player war, litten die Armenier*innen dem haben, was passiert ist und warum.» zusätzlich unter den ständigen Bildern ihDe Waal, der bei der Carnegie Foundation rer Niederlage. Deren Verbreitung in den SILVIA STÖBER, TAGESSCHAU.DE for International Peace arbeitet, bescheisozialen Netzwerken hätten den Hass der nigt Aserbaidschan zudem ein sich unverArmenier*innen auf Aserbaidschaner*instanden fühlen: Aserbaidschaner*innen nen und Türk*innen noch verstärkt. glaubten, die Welt habe ihr Leiden nicht ausreichend wahrgenommen. Teilweise sei dieses Gefühl berechWas die Presse der frankophonen Schweiz betrifft, so beobachtet der Hochschullehrer und Journalist Vicken Cheterian: «Die tigt, sagt de Waal. Allerdings hätten aserbaidschanische Offizielle Tribune de Genève hatte offensichtlich Sympathien für die Arsowie Aserbaidschans Medien auch immer wieder Botschaften menier, die als Opfer aserbaidschanischer Aggression wahrgeverbreitet, die sehr leicht zu widerlegen seien, und würden zunommen wurden. Le Temps hingegen hatte mehr Verständnis dem nicht anerkennen, wenn Aserbaidschan Fehler begehe. Stattfür das aserbaidschanische Anliegen, ihre rechtlich zugehörigen dessen würden sie darüber reden, was Armenien alles falsch geGebiete zu befreien.» Cheterian lehrt Internationale Beziehungen macht habe, und berechtigte Fragen nach eigenen Fehlern nicht an der Universität von Genf sowie der Webster University und beantworten. schreibt regelmässig für Le Monde Diplomatique. Entscheidend sei allerdings weniger die Voreingenommenheit, die man zuerst noch systematisch untersuchen müsse, sondern die blinden Flecken in der Berichterstattung, findet Cheterian: «Dies ist nicht nur ein Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, sondern auch ein Konflikt zwischen der Türkei und Armenien.» Dass En-

«Ich kenne Menschen aus beiden Ländern, die gegen den Krieg waren, dies aber öffentlich kaum formuliert haben.»

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«Alles zu digitalisieren, wünschen wir uns nicht» Kulturförderung Auch in der Kultur spielt sich zurzeit vieles bloss online ab. Philipp Bischof,

Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia, sagt, wieso er den realen Raum nach wie vor für wichtig hält. Und wo sich jetzt Chancen für Veränderungen auftun. INTERVIEW  DIANA FREI

Philipp Bischof, wird Corona die Kulturlandschaft auf längere Sicht prägen oder wird bald wieder alles beim Alten sein? Ich glaube nicht, dass es eine Rückkehr zur sogenannten Normalität geben wird, denn die aktuelle Krise hat zu viel Handlungsbedarf im System aufgezeigt, der nicht einfach verdrängt werden kann. Die Situation ist für den Kultursektor belastend, kann aber auch eine Chance sein, weil es in der Kulturlandschaft Tendenzen gab, über die wir nicht glücklich sind. Covid hat deutlich gemacht, dass sich Ungleichheiten, die in der Gesellschaft bestehen, jetzt noch verstärken. Das stellen wir auch im Kulturbereich fest. Der eklatante Unterschied zwischen den abgesicherten subventionierten Institutionen und den Freischaffenden ist ein existenzielles Problem, das mittelfristig die Vielfalt des Kultursektors bedroht. Wo sehen Sie vor allem Handlungsbedarf? Bei der finanziell prekären Situation der Kulturszene und vor allem der freischaffenden Künstler*innen. Sie wurde nicht erst durch die Corona-Situation erzeugt. Diese hat aber schmerzhaft deutlich gemacht, wie viele Freischaffende – auch durchaus erfolgreiche – in prekären Lebenssituationen stecken, sobald das System stockt. Das politische Bewusstsein dafür, dass man die Absicherung der Kulturschaffenden und die Mittelverteilung dringend verbessern muss, ist gewachsen. Online-Plattformen zum Beispiel machen enorme Gewinne, von denen die Kulturschaffenden nur sehr begrenzt profitieren. Eine andere Tendenz im Kulturmarkt schon vor Covid war eine gewisse Überproduktion. Ein weltweiter Produktionsdruck, der dazu führte, dass sowohl Institutionen, Kulturschaffende als auch das Publikum ein Gefühl der Hetze und Getriebenheit hatten. Das ist eine alles andere als nachhaltige Situation. 22

Tut sich hier nun wirklich eine Chance auf, dass sich in Zukunft etwas ändert? Ich hoffe, dass es gelingt, einige dieser gros­sen Themen anzugehen, zuvorderst die Frage der sozialen Absicherung der kreativen Berufe. Dann auch die Digitalisierung. Die Möglichkeiten, die es hier im Kulturbereich gäbe, sind nicht ausgeschöpft. Jetzt in der Pandemie wurden sie neu entdeckt und erfahren. Wir haben erlebt, dass mit digitalen Diskursformaten oder konferenzartigen, workshopartigen Formaten auch ohne lange Reisen spannende künstlerische Begegnungen entstehen können. Und es hat sich gezeigt, wie wichtig die Flexibilität und Innovationsbereitschaft der Strukturen sind. Haben Sie ein Beispiel dafür? Das Online-Literaturfestival Viral hat mich sehr beeindruckt. Es ist aus einer Gruppe von Literaturschaffenden wie -vermittler*innen entstanden, die ein queeres Literaturmagazin herausgibt. Sie hat für das Festival Facebook und ihr Netzwerk genutzt. Neue Akteure nutzten also die Chance und schufen neuartige Begegnungen. Trotzdem haben wir auch gemerkt, wie wichtig das Körperliche und das Reale, die konkrete Begegnung zwischen Menschen in der Kultur bleibt. Hier möchte ich ein klares Plädoyer für den Erhalt einer gelebten Begegnungskultur halten. Alles zu digitalisieren oder in virtuelle Formate zu

Kulturstiftung Pro Helvetia fördert als autonome Stiftung des Bundes zeitgenössische Schweizer Kunst und Kultur mit Blick auf ihre Vielfalt. Sie ermöglicht neue künstlerische Werke, stärkt den kulturellen Austausch zwischen den Sprachregionen der Schweiz sowie zwischen der Schweiz und dem Ausland. DIF

bringen, wünschen wir uns nicht, es geht um zusätzliche und hybride Formate. Denn etwas Wesentliches dürfen wir nicht vergessen: Kultur ist auch ein Angebot für die Demokratiebildung. Ist die konkrete Begegnung zwischen Menschen nicht vorhanden, verhindert das einen unmittelbaren Dialog oder Widerspruch. Dieser ist für die Gesellschaft, für die Politik und für die Kultur aber existenziell wichtig. Inwiefern ist Kultur Demokratiebildung? Einerseits wegen des kritischen Meinungsaustauschs. Anderseits kann Kultur zur Förderung von Diversität beitragen. Kultur ist in der Lage, Personen und Themen Stimmen zu geben, die sie in einer medialen, politischen oder institutionellen Landschaft nicht unbedingt haben. Wenn es gelingt, Kultur in diesem Sinne als politische Dimension zu verstehen, ist sie eine Austauschmöglichkeit über gesellschaftliche Werte. Sie leistet so einen wesentlichen Beitrag an die Verfeinerung unserer demokratischen Gesellschaft. Pro Helvetia hat in einem Aufruf die Förderung von Projekten lanciert, die künstlerisch auf die Pandemie-Situation reagieren: sogenannte «Close Distance»­ Projekte. Sie haben aber auch schon gesagt, dass Sie den ständigen Zwang zum Output in der Kultur falsch finden. Ist es richtig zu sagen: Jetzt erfindet euch mal schnell neu? Es ist ein systemischer Widerspruch, den Sie ansprechen. Wir wollten mit «Close Distance» primär ein Signal aus der Krise heraus für die Zukunft geben. Der Aufruf war ein Angebot, trotz der Krise kreativ und im Austausch mit Dritten bleiben zu können, auch international und über die Grenzen hinweg. Gleichzeitig ist es völlig logisch, dass jeder derartige Aufruf diejenigen, die Geld wollen, zu einer Art von Antrags-Innovation zwingt. Hier können Surprise 493/21


Direktor Pro Helvetia

FOTO: ANITA AFFENTRANGER

Philippe Bischof, 54, ist seit 2017 Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Er begann seine Laufbahn als Regieassistent am Theater Basel und arbeitete als Regisseur und Dramaturg im In- und Ausland. Von 2008 bis 2011 baute er das Kulturzentrum Südpol in Luzern auf, von 2011 bis 2017 war er Leiter der Abteilung Kultur des Kantons Basel-Stadt. DIF

wir das System nicht aufheben. Ausschlaggebend für unseren Call war, dass über Monate hinweg der internationale Kulturaustausch verunmöglicht wurde. Weil dieser so zentral ist im Auftrag von Pro Helvetia, haben wir gesagt: Wir wissen zwar, dass wir Innovationsdruck auslösen, aber wir möchten ihn zumindest in eine Richtung steuern, bei der es um die Entwicklung von internationalem Austausch geht. Dieser muss unbedingt erhalten bleiben, wenn wir Teil der Welt sein wollen. Vieles verschiebt sich ins Digitale. Wäre nicht auch der öffentliche Raum eine Lösung? Ich glaube nicht, und ich muss ehrlich sagen, ich hoffe es auch nicht unbedingt. Projekte im öffentlichen Raum sind ja nicht neu. Sie sind wertvoll, und das, was im öfSurprise 493/21

fentlichen Raum stattfindet, soll unbedingt weiterhin dort stattfinden. Aber ich glaube, gerade das Problem der Intimität und Austauschnähe kann im öffentlichen Raum nicht unbedingt ersetzt werden. Denn der Kunstraum kann, wenn er offen und zugänglich ist für viele, eine einzigartige Konzentration auslösen. Klar kann man eine Oper auf dem Marktplatz machen, aber das ist infrastrukturell dermassen teuer, dass man sich fragen muss, ob das Sinn ergibt. Wir haben Institutionen, die es sinnvoll zu nutzen gilt. Daher ist der öffentliche Raum nicht die Lösung des Problems, in dem sich die Kulturszene jetzt befindet. Haben die digitalen Wege und Mittel die Kultur bereits verändert? Ich beobachte, dass das Interesse am Prozesshaften auch bei den Zuschauer*innen

zugenommen hat. Eine Lesung aus dem Wohnzimmer hat etwas Improvisiertes und Intimes, zu der auch das Erleben der Fragilität gehört. Wenn man sagen würde, man macht daraus eine Chance und lädt die Zuschauer*innen künftig stärker in den kreativen Prozess ein, in öffentliche Proben, in unfertige Projekte, dann könnte auch das Bild von Kunst wieder in eine Richtung verändert werden, die viel kreativer ist als die sehr stark Endprodukt­ orientierte Konsumebene. Pro Helvetia pflegt internationale Kooperationen. Wie steht die Schweiz im Vergleich mit andern Ländern da? Finanziell steht die Schweiz bekanntlich sehr gut da. Auch Deutschland und Österreich haben inzwischen stark ausgeprägte staatliche Fördersysteme für Kultur. Aber es wird für Kulturinstitutionen sehr hart, wenn man nach Frankreich und Italien schaut, von Spanien gar nicht zu reden. Aus­serhalb von Europa und auch in südlichen und östlichen europäischen Ländern ist die Sorge, dass wichtige Akteure schlichtweg verschwinden, riesig. Was fatalerweise auch damit zu tun hat, dass es Regimes gibt, die die Pandemie gerade sehr geschickt zu nutzen versuchen, um unliebsame Kulturangebote, Kulturschaffende und Institutionen zu gängeln. Das ist ein fatales Zusammengehen von fehlenden finanziellen Mitteln und politischer Kontroll­absicht. Es gibt leider schon Zeichen dafür, etwa in Polen, dass die Pandemie dort ziemlich starke Spuren hinterlassen wird. 23


Das Corona-Manifest Lockdown Das «Maison du futur» hat mit Kultur im Zürcher Max-Frisch-Bad

auf sich aufmerksam gemacht. Co-Leiter Samuel Schwarz rät den Kunstschaffenden: Seid solidarisch und erfindungsreich! TEXT  SAMUEL SCHWARZ

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Das «Maison du futur» versteht sich als Kompetenzzentrum für kulturelle Teilhabe und Technologie. Wir führen im Folgenden zehn Punkte an, die jetzt umzusetzen sind. Insbesondere die Mitarbeiter*innen der hochsubventionierten Theater und Museen sollten sich zwingend für dieses Manifest einsetzen und ihre untätigen künst­ lerischen und kaufmännischen Leiter*innen aus der Schockstarre befreien – im Interesse aller künstlerischen Branchen, der freien Künstler*innen, Zulieferer und angehängten Gastrobetriebe. Die Umsetzung garantiert den Fortbestand des kulturellen Betriebs und ermöglicht alles: kulturelle Teilhabe, Einkommen, Innovation.

ten der Privilegien? Ja, diese Kultur nimmt sich ihren Raum nicht, obschon niemand ihr diesen Raum streitig macht. Es gibt keine bösen SVP-Gesundheitsdirektoren oder bösen SP-Bundesrät*innen, die der Kultur irgendetwas «verbieten». Das Einzige, was aktuell nicht erlaubt ist – im Interesse der Schwachen und Kranken –, ist das Zusammenpferchen eines Publikums in zu enge Räumlichkeiten. Alles andere ist erlaubt. Man hat, wenn man euren Klagen zuhört, den Eindruck, als wäre die von Richard Wagner erfundene Darbietungsform der Zusammenpferchung in engen Räumen das Einzige, was für die Kultur möglich wäre. Vergesst Wagner!

#1 — ­ Ja, es ist elend. Wir wissen es. Ok? Gut, fangen wir an. Die Klagen der subventionierten Kulturszene sind verständlich. Und doch nicht auszuhalten. Wieso nutzt niemand die Möglichkei-

#2 — Geht raus. Zieht euch warm an, kauft gute Schuhe, macht ein Feuerchen für euch und fürs Publikum und spielt endlich. Aktuell reisen viele Kulturschaffende in die Berge, posten Surprise 493/21


Samuel Schwarz (links) nutzt alle technischen Mittel, um Kultur unter die Leute zu bringen. Rechts: Teammitglied Julian M. Grünthal.

FOTO: © DSCHOINT VENTSCHR FILMPRODUKTION / PHILIPPE ANTONELLO

val Locarno: Vergesst die PIAZZA GRANDE. Macht mehrere PIAZZE GRANDI in Bern, Zürich, Neuenburg, Genf. Vergesst die Zentralisierung, fragmentiert euer Angebot.

Bilder von Skipisten etc. Aber unten im Flachland rauszugehen, in Parks zu spielen, auf Dächern, Bäumen und Kränen, kommt diesen Kulturschaffenden offenbar nicht in den Sinn. Man möchte ihnen zurufen: Seid ihr im falschen Beruf? Geht endlich raus. Beweist euren Grosseltern, dass ihr aus gutem Grund diese Existenzform gewählt habt. Weil ihr etwas auszudrücken habt mit eurer Kunst. #3 — Ihr braucht Raum. Fordert von den Ämtern Freiflächen ein, Freibäder, Parks, Brachen. Küsst das Sport- und Forstamt. Die Parks sind offen – die Wälder sind frei. Nutzt diese Räume für eure Kunst. Das Publikum wird es euch danken. #4 — Streamt. Ja, aber bitte nicht in private Räume, sondern auch von Waldrand zu Waldrand. Bleibt dabei in Bewegung, verharrt nicht in euren stickigen Proberäumen. Man kann auch von «draussen» nach «draussen» streamen. Und: Streamt bitte auch ins Altersheim. #5 — Bildet Teams. Macht museale Theater und theatrale Museen. Verwandelt Musicals in interaktive Audiowalks. Hängt Puppen in die Bäume. Helft einander. Seid solidarisch. Vergesst die spiessigen kleinkrämerischen Schrebergärten eurer Festivals, sondern macht zusammen ein Gross-Festival. FilmfestiSurprise 493/21

#6 — Kuratiert euch selbst. Hört (diesmal) nicht auf das, was euch eure Kurator*innen, Intendanzen und Chef*innen vorschlagen. Die wurden in anderen Zeiten in ihre Jobs gewählt und können mit dieser Krise nicht umgehen. Verzeiht ihnen ihre Unwissenheit. Weist ihnen den Weg. Und wenn sie nicht mitkommen, vergesst sie. #7 — Be a spark in the dark. Seid solidarisch mit der Veranstaltungstechnik. Ja, seid ein Funken der Hoffnung in diesem dunklen DüsterWinter. Bindet Licht-, Ton- und VFX-Techniker*innen ein, wo ihr nur könnt. Beamt die Bäume an, den Himmel, die Wolken und Getreidesilos. Es wird toll aussehen. #8 — Spielt auch tagsüber. Nutzt andere, fremdartige Timeslots für eure Kunst. #9 — Streamt den Ton auf Kopfhörer. Dies ist wichtig, weil ihr sonst die ganze Zeit Bewilligungen einfordern müsst für jeden Mucks, den ihr draussen macht. Verhindert unbedingt, dass böswillige Anwohner*innen Macht über euch bekommen. #10 — Tanzt. Haltet die Abstände ein. Aber tanzt (denn dafür braucht ihr den Raum). Das «Maison du futur» setzt diese zehn Punkte seit Juli 2020 in der Corona Stage im Zürcher Max-Frisch-Bad um und spielt auch während des Kultur-Lockdowns. Es wird vom Bundesamt für Kultur und dem Migros Kulturprozent unterstützt. Das Programm umfasst verschiedene Kultursparten, von der Ausstellung über Konzerte bis hin zu Lesungen. Mittels analogem Funksystem in grossem Umkreis wird auch dann kulturelle Teilhabe ermöglicht, wenn sonst nichts mehr geht. maison-du-futur.ch Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit der Kulturredaktorin Diana Frei über die Veränderungen, zu der die Pandemie die Kultur zwingt. surprise.ngo/talk

SAMUEL SCHWARZ,  49, ist ein Schweizer Film- und Theaterregisseur. Bekannt wurde er durch seine Theaterinszenierungen und Filme mit der Theatergruppe 400asa. Seit 2010 inszeniert Samuel Schwarz auch zunehmend Filme und konzentriert sich auf Projekte mit transmedialer Auswertung.

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BILD(1): HOLM-UWE BURGEMANN, BILD(2): MARCO FRAUCHIGER, BILD(3): EVA & FRANCO MATTES, BILD(4): ZVG

Veranstaltungen Online «zärtlichkeit 1,2,3», Podcast. theaterneumarkt.ch/project/zaertlichkeit-123

«zärtlichkeit 1,2,3» war an sich als dreiteilige Serie für die Bühne geplant, aber bis das wieder möglich ist, sprechen die Autoren Fabian Saul und Senthuran Varatharajah sowie die Dramaturgin Tine Milz in Form eines Podcasts über Berührung, Glaube, Liebe, Hoffnung und die Kraft der Sprache. Sie gehen von einer ungewöhnlichen These aus: «Die Dinge, die wir berühren, berühren uns zurück – an Stellen, an denen wir taub für sie sind.» Es geht also um Zärtlichkeit wie Sprache. «Glaube, Hoffnung, Liebe» – die Begriffe stammen aus dem 13. Kapitel des biblischen 1. Briefs an die Korinther und werden hier zu Kapitelüberschriften: «Glaube: So bin ich Nichts», «Hoffnung: Seien es Sprachen, sie werden aufhören» und «Liebe: Wie auch ich erkannt worden bin». In der ersten Podcast-Ausgabe, «prelude 01», finden sich Gedanken von Cher, Roland Barthes, Joan Didion und Audre Lorde. Hier trifft Sinnlichkeit auf Philosophie. DIF

Online Ausnahme-Zustand», Veranstaltungen im Live-Stream, Polit-Forum Bern. polit-forum-bern.ch/ausstellung/ausnahme-zustand Corona hat einen Ausnahmezustand geschaffen und die Diskussionen haben gezeigt: Alle Bereiche von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind betroffen – in der Schweiz und weltweit. Das Polit-Forum aktualisiert spätestens Mitte Februar seine im Mai 2020 gestartete Dokumentation «Ausnahme-Zustand» und schaut sich dabei die aktuelle Entwicklung und die Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesundheit, Gesellschaft und Demokratie an. In Vorträgen, Diskussionen und Erfahrungsberichten wird über die Zeit des Ausnahmezustands nachgedacht. Diskussionsbedarf gibt es in Sachen Politik, natürlich, aber auch im Sozialen, im Gesundheitswesen und in der Kultur. Eigentlich gäbe es das Ganze als Ausstellung vor Ort in Bern, aber zurzeit empfehlen wir die kompetent besetzten Diskussi-

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onsrunden online (auch sie werden spätestens ab Mitte Feb­ruar weitergeführt) – und nochmals einen Blick ins Programm zu einem späteren Zeitpunkt. DIF

gestaltet. Sein Bildmaterial zeigt Frauchiger als performatives Fotobuch in einem 16-minütigen Video. Die Fragen im Hintergrund lauten: Ist es möglich, ein grosses Geschehen zu vergessen? Oder lernen wir den Umgang damit nur, um neue Wege zu finden und unseren Blick wieder auf Neues zu richten? Die virtuelle Tour durch die Ausstel-

lung beginnt mit den Namen der Künstler*innen. Klickt man auf einen Namen, gelangt man zu ihrem*seinem Werk. Und eben, es geht bei der Cantonale um die Vielfalt des regionalen Schaffens, also gerne auf viele verschiedene Namen klicken. DIF

Winterthur «Eva & Franco Mattes – Dear Imaginary Audience», Ausstellung, ab Aufhebung Lockdown bis voraussichtlich bis Mo, 24. Mai, ­Foto­museum Winterthur, Grüzenstrasse 44 + 45. fotomuseum.ch

Online Cantonale Berne Jura 2020, Online-Ausstellung, bis zum 21. Februar. www.kunstmuseumthun.ch Natürlich findet die Cantonale Berne Jura normalerweise in Museumsräumen statt. Diesmal halt nicht. Dafür online. Die Cantonale gibt der Vielfalt des bernischen und jurassischen Kunstschaffens alljährlich eine Plattform. Marco Frauchiger, der auch für Surprise fotografiert, zeigt seine Videoarbeit «How To Dismantle A Bomb»: Fast fünfzig Jahre nach dem Krieg finden sich in Laos immer noch Spuren der unzähligen Bomben. Die Bevölkerung hat einen speziellen Umgang mit dem belastenden Erbe und auch den konkreten Kriegsüberresten gefunden: Diese werden zu Gebrauchsgegenständen, Schmuck und Souvenirs um-

Seit Mitte der 1990er-Jahre untersuchen Eva & Franco Mattes die Auswirkungen des Internets auf unser Leben und reflektieren, wie digitale Bilder unser privates und soziales Verhalten mitbestimmen. Dabei beleuchtet das Duo die Mechanismen und Verhaltensformen unserer vernetzten Gesellschaft und hält den Zuschauer*innen

gerne auch mit schwarzem Humor den Spiegel vor. Die Themen reichen von lustigen Social-Media­ Katzenbildern mit makabren Sprüchen bis hin zu online beauftragten Arbeitskräften, die moralisch fragwürdige Inhalte erstellen oder aber aus dem Netz entfernen. Aber Sie wissen es, die Museen haben zurzeit zu. Tragen Sie sich die Ausstellung bereits jetzt vage in die Agenda ein und konsultieren Sie im März die BAG-Richtlinien sowie das aktuelle Museumsprogramm. Das Thema wäre jetzt, wo reale Kontakte rar sind, nämlich besonders aktuell. DIF

Online «eins.sieben.drei – der literaturpodcast», zu hören auf Spotify, Apple Podcasts, podcastlab.ch und der Projekt-Website einssiebendrei.ch

Letzten Oktober, drei Tage nach der Ankündigung von SRF, die beliebte Literatursendung «52 beste Bücher» abzuschaffen und drei Monate nach der Einstellung des letzten Schweizer Literaturmagazins «Literarischer Monat», haben der Schriftsteller Lucien Haug, der Kulturjournalist Christoph Keller und die Co-Leiterin des Literaturfestivals «Buch Basel» Marion Regenscheit den Literaturpodcast «eins. sieben.drei» lanciert. Der Podcast ist für ein jüngeres, literaturbegeistertes Publikum gedacht, und er ist fundiert schon allein aufgrund des Hintergrunds der Macher*innen. Er soll aber ausdrücklich keine akademische Übung sein, sondern Neugierde und Freude an den Texten ausdrücken und wecken. «eins. sieben.drei», das bedeutet: EIN neues, faszinierendes Buch, SIEBEN Fragen, um herauszufinden, warum in diesem Buch eigentlich alles so ist, wie es ist, und DREI Macher*innen, die Bücher lieben und manchmal auch hassen. Im Februar startet die zweite Podcast-Staffel. DIF

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Brille tut es auch noch, weil niemand verreist, ins Büro geht oder sich ins Nachtleben stürzt. Nur vereinzelt tröpfeln Menschen in die Ladenpassage. Masken werden hervorgekramt, andere erscheinen vermummt und behandschuht, als gehörten sie zum schwarzen Block. Das Restaurant, in dem um diese Zeit sonst wahrscheinlich Hochbetrieb herrscht, ist verwaist. Take-away schön und gut, aber wo soll man das Essen verzehren? Nirgends eine Gelegenheit, die zum Sitzen oder Verweilen einlädt. Die obligaten Säcke mit der Gartenerde, die vor dem Eingang zum Grossverteiler lagern, scheinen auch träger und schiefer zu liegen als gewohnt. Dabei steht gleich nebenan das Haus des Sports, das aber auch keinen belebten oder gar dynamischen Eindruck macht. Einsam steht das Denkmal des un­ bekannten Speerwerfers in der Kälte.

Tour de Suisse

Pörtner in Ittingen Surprise-Standort: Talgut Zentrum Einwohner*innen: 11 332 Sozialhilfequote in Prozent: 7,7 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 25,9 Länge der Trottoirs in Kilometern: 27,6

Es ist nicht die beste Zeit für einen Ausflug nach Ittingen. Es ist kalt, es schneit, genaugenommen schneerieselt es. Die auf dem Weg passierte Solarmessstation zeigt 0 Watt an für die ganze Anlage. Vor dem Einkaufszentrum steht ein grosser Weihnachtsbaum, in den Farben des Grossverteilers geschmückt, etwas Gold, etwas traurig herabhängendes ­Lametta. Weihnachten ist schon längst vorbei, zu feiern gibt es zurzeit nichts. Ein Mann hängt die Sterne ab, die Leuchtsterne, die an den Trägern der Runddächer aus schmutzigem Plexiglas hängen. Sie decken unbenutzte Lauben, wohl denen der nahen Stadt Bern nachempfunden. Wahrscheinlich müssen sie noch ein paar hundert Jahre altern, um einen ähnlichen Charme zu entwickeln. Vor dem Eingang des Seniorenzentrums stehen etwas unmotiviert kleiSurprise 493/21

nere Tannen in Töpfen inmitten von Holzschnitzeln. Zwischen einer der Säulen, einem Plakat und einem Thujabusch ist ein kleiner Weihnachtsbaum ein­ geklemmt, üppig und gleichförmig geschmückt mit roten und goldenen ­Kugeln sowie exakt gleich grossen Tannenzapfen, wahrscheinlich stand er den Bauarbeiten im Weg und wartet nun auf seine unzeremonielle Entsorgung. Ein Restaurant am Platz nutzt die flaue Zeit für einen Umbau, Baumaschinen rattern heran und veranstalten zuweilen einen immensen Krach. «Auf Wieder­ sehen, bleiben Sie gesund, bis bald!», steht auf einer mobilen Plakatwand. Es gibt aber niemanden zu verabschieden, der Monat mit dem Loch darin erweist sich an diesem Tag als besonders gähnend. Niemand braucht ein Passfoto, niemand eine neue Frisur, die alte

Weiter vorne an dem viereckigen Platz mit den verschneiten Bänken gibt es ­ ein Detektivbüro. Hier werden aber keine Fälle gelöst, zumindest keine echten, sondern Krimitrails angeboten. Garantiert unbeachtet bleibt an so einem Tag die Gelato-Box, in der Buchtauschbox findet sich Sharon Salzbergs ­buddhistischer Ratgeber «Wahre Liebe» neben zwei Bänden «Fifty Shades of Grey». Vor der Pizzeria steht eine Replika der berühmten David-Statue, die ein blaues Frottiertuch um die Lenden gebunden hat, was bei diesem Wetter auch nicht viel nützt. Das Einkaufszentrum wirkt gegen den matten grauen Himmel wie eine Raumstation, die verlassen durch die endlose Leere treibt.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Beat Hübscher, Schreiner, Zürich 02 Lebensraum Interlaken GmbH 03 Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel 04 Yogaloft GmbH, Rapperswil SG 05 unterwegs GmbH, Aarau 06 Infopower GmbH, Zürich 07 Hedi Hauswirth, Privatpflege, Oetwil am See 08 Gemeinschaftspraxis Morillon, Bern 09 Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden 10 sinnovec GmbH, Strategie & Energie, Zürich 11

Barth Real AG, Zürich

12 Simplution Software GmbH 13 Ueli Mosimann, ehemals Abt. Ausbildung Coop 14 Fontarocca Natursteine, Liestal 15 Christine Meier, raum-landschaft, Zürich 16 www.deinlohn.ch 17 TopPharm Apotheke Paradeplatz 18 Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

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Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

19 Paul + Peter Fritz AG, Zürich 20 SHI, Haus der Homöopathie, Zug 21 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 22 onlineKarma, Online-Marketing mit Wirkung 23 Gemeinnützige Frauen Aarau 24 Shinsen AG, Japanese Food Culture, Zürich 25 Halde 14, Baden Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise BILD: ZVG

#490: Wir sind bereit

#490: «Der Impfstoff allein löst das Problem nicht»

«Viel Glück» Als ich kürzlich mit meinem Opi mit dem Zug nach Bern fuhr, sahen wir einen Mann, der das Surprise verkauft. Mein Opi hat ein Magazin gekauft und mir erklärt, warum der Mann dies verkauft. Ich selber bin nicht arm oder obdachlos. Ich musste auch nicht aus meiner Heimat flüchten. Ich gehe noch zur Schule und wohne mit meiner Familie in einem schönen Haus. Mit diesem Foto möchte ich alle Menschen vom SURPRISE aufmuntern. Macht weiter so! Euch allen wünsche ich viel Glück und ein möglichst schönes Leben.

«Tierprodukte verursachen Leid»

Herr Gide Gherezgihier, Strassenverkäufer von Surprise, ist in unserer Regionalzeitung «Biel/Bienne» als Kandidat für die Wahl zum BIELER DES JAHRES 2020 nominiert worden. Ich selber arbeite seit 36 Jahren im Öffentlichen Dienst für die Stadt Biel. Seit ca. drei bis vier Jahren kreuzen sich die Wege von Herrn Gherezgihier und mir von Mo bis Fr sicher ein- bis zweimal täglich. Ich kenne ihn nicht persönlich, doch wir grüssen uns bei jedem Vorbeigang. Er besitzt eine Ausstrahlung, die unvergleichlich ist und begrüsst jeden mit Freude und Gelassenheit. Ob er nominiert ist oder nicht, ich möchte ihm danken für all die kurzen Momente beim Vorbeigehen.

Die Interviewerin lenkt leider keine einzige Frage auf die eigentlichen Ursachen der Mehrzahl der Pandemien. Zum Glück nimmt Kupferschmidt das Wort Nerze auf und sagt noch kurz etwas darüber: Corona ist wie HIV, SARS, MERS und Ebola eine vom Tier übertragene sogenannte Zoonose. Diese könnten wir verhindern, wenn wir Tiere nicht als eigentliche Produktionsmaschinen in Märkten, Ställen und Schlachthäusern missbrauchen würden. Denn erst die dadurch verursachte Nähe ermöglicht eine Ansteckung. Tierprodukte verur­sachen also nicht nur viel Leid bei den dafür getöteten Tieren, sondern auch bei uns Menschen. Ein weiterer Grund, auf solche Produkte zu verzichten, da wir bestens ohne sie leben können.

K. GILOMEN,  Biel

R. WERNDLI,  Eichberg

E. HÄNER UND OPI U. WIDMER,  Oensingen

#Surprise-Verkäufer

«Mit Freude und Gelassenheit»

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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Surprise 493/21

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Michael Hofer, Michael Leuthold, Meinrad Schade, Samuel Schwarz, André Widmer Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 493/21

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Wir sind vor dem Terror geflüchtet» «Ich komme aus Afghanistan und habe mit meiner Fa­ milie bis vor sechs Jahren in der Provinz Kundus im Nordosten des Landes gelebt. Wir hatten viele Tiere, vor allem Schafe und Rinder, wir betrieben in unserem Dorf ­einen Laden und führten ein gutes Leben. Doch mit der Zeit gerieten wir in unserer Region immer mehr zwischen die Taliban sowie andere bewaffnete Gruppen und örtliche Milizen. Viele Leute, auch Verwandte von uns, wurden dabei verletzt, einige sogar getötet. Am Schlimmsten wurde es 2014, mit dem Ende der Amts­ zeit von Präsident Hamid Karzai. Da beschlossen meine Frau und ich, ins Ausland zu flüchten, um uns und unsere vier Kinder in Sicherheit zu bringen. Über den Iran und die Türkei gelangten wir nach ­Griechenland und von dort über den Balkan nach Öster­ reich in die Schweiz. Nach fast einem Jahr auf der Flucht ­kamen wir im November 2015 hier an, wobei meine Frau und die Kinder einige Wochen vor mir ­einreisten. Ich hatte sie unterwegs im Chaos, das damals mit den vielen Flüchtlingen auf dem Balkan herrschte, verloren. Über Verwandte fand ich zum Glück heraus, dass sie in der Schweiz gelandet sind, und konnte ihnen daraufhin folgen. Weniger Glück hat meine jüngste Schwester, die mit ih­ rem Mann und den drei Kindern ebenfalls vor dem ­Terror in Afghanistan geflüchtet ist. Sie sitzen seit mehr als einem Jahr auf Lesbos fest, wo sie bis zum Brand letzten September im Flüchtlingscamp Moria leben mussten. Jetzt sind sie in einem neuen Lager unterge­ bracht – wer weiss, wie lange noch. Ich mache mir grosse Sorgen um sie und hoffe, dass es für sie bald eine gute Lösung gibt. Meine Familie und ich haben in Walkringen, etwa eine halbe Stunde von Bern entfernt auf dem Land, ein neues Zuhause gefunden. Unsere zwei Töchter und zwei Söhne im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren ­gehen hier zur Schule. Wir fühlen uns in Walkringen sehr wohl. Nicht nur, weil wir keine Angst vor Krieg und Überfällen mehr haben müssen, sondern auch, weil wir im Dorf sehr gut aufgenommen wurden. Bei einer Bauernfamilie helfe ich zum Beispiel regelmässig im Stall und beim Melken, wenn der Bauer nicht da ist. Auch einer unserer Söhne arbeitet oft am Mittwochnach­ mittag bei der Familie auf dem Hof. Ausserdem haben sie uns einen Teil ihres Gartens überlassen, damit wir G ­ emüse pflanzen können. Zwei andere Nachbarin­ nen im Dorf kamen mit der Idee z­ u mir, Surprise zu ver­kaufen. Ich hatte noch nie davon gehört, war aber in­ 30

Fata Ayubi, 46, flüchtete mit seiner Familie aus ­ Afghanistan und ist froh, dass er nun ohne Angst im bernischen Walkringen leben kann.

teressiert. Deshalb nahmen sie für mich mit Surprise Kontakt auf und begleiteten mich sogar ins Regionalbüro in Bern. Jetzt verkaufe ich das Strassenmagazin schon seit über einem Jahr. Mir gefällt die Arbeit sehr, weil ich an meinen verschiedenen Verkaufsorten im und um den Hauptbahnhof Bern viele Leute treffen und auch manchmal mit ihnen mein Deutsch üben kann. Ich verstehe und rede mittlerweile schon recht gut Hochdeutsch. Schwierig wird es beim Berndeutschen, und noch schwieriger ist für mich das Lesen und Schreiben. Ich hatte nie eine Schule besucht, bei uns im Dorf gab es keine. Eigentlich würde ich dreimal in der Woche in den Deutschkurs gehen, doch wegen Corona findet der Kurs im Moment leider nur o ­ nline statt. Das ist nicht ganz einfach, aber ich gebe mir trotz­ dem grosse Mühe, weil mein Ziel ist: Jetzt gut Deutsch lernen und danach wenn möglich Vollzeit arbeiten, am liebsten auf einem Bauernhof mit vielen Tieren, so wie früher.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 493/21


Gutscheine Soziale Stadtrundgänge Aufgrund der behördlichen Massnahmen finden momentan keine Sozialen Stadtrundgänge statt. Für die Zeit danach können Sie jedoch Gutscheine bestellen. Für sich selber oder zum Verschenken.

Aktuelle Infos zu den Sozialen Stadtrundgängen von Surprise unter: www.surprise.ngo/stadtrundgang

Herzlichen Dank für Ihre Solidarität! Talon einsenden an: Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel oder per Mail an: info@surprise.ngo

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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir sind froh, dass Sie auch in dieser schwierigen Zeit das Strassenmagazin kaufen. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank! Wo nötig tragen wir Masken.

Halten Sie Abstand.

Wir haben Desinfek­ tionsmittel dabei.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Zahlen Sie möglichst passend.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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