Surprise 505/21

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«Der Staat ist kein Selbstzweck» Die Ökonomin Isabel Martínez forscht zu sozialer Ungleichheit. Die Schweizer Staatsschulden sieht sie eher nüchtern, solange das Wirtschaftswachstum stimmt. INTERVIEW  SARA WINTER SAYILIR

Isabel Martínez, warum machen Staaten Schulden? Der Hauptgrund dafür, dass Staaten Schulden machen, sind Investitionen in die Infrastruktur, bei denen es keinen Sinn macht, nur die Steuereinnahmen dafür zu verwenden. Warum sollten nur wir, die wir heute hier sind, den Neubau einer Strasse finanzieren, die in den nächsten hundert Jahren benutzt wird? Dann kann ein Staat ruhig mal mehr ausgeben, als er einnimmt? Ja, wenn er darüber die zukünftige Wirtschaftsleistung sichert. Denn warum baut der Staat Schulen? Weil diese das Humankapital von morgen ausbilden und sicherstellen, dass auch in Zukunft noch Güter erfunden werden, dass Firmen innovativ sein können. Schulen sind eine Investition in die Zukunft, die der Staat finanziert.

«Wohlstand muss man sich erwirtschaften, und das funktioniert nur über Wachstum.»

Und wie sieht es mit der NeuverISABEL MARTÍNEZ schuldung der Schweiz aufgrund der Pandemie-Hilfen aus? Solche ausserordentlichen Ausgaben sind vorgesehen und in der momentanen Lage vollkommen unproblematisch. Denn was wären die Optionen? Hätten wir die Leute, die Firmen und die Selbstständigen sich selbst überlassen sollen? Der Staat ist ja kein Selbstzweck. Der Staat ist – und das hat man in der Krise sehr schön gesehen – so etwas wie die Superversicherung, mit einem langfristigen Horizont. Und die Staatsschulden, die jetzt aufgenommen werden, müssen nicht zwingend innerhalb unserer Lebenszeit zurückgezahlt werden. 16

Aber schreibt denn nicht die Schuldenbremse vor, dass Schulden innerhalb einer bestimmten Frist zurückgezahlt werden müssen? Ob und wie das in Bezug auf die Corona-Hilfen gilt, ist jetzt genau die Diskussion. Die Schuldenbremse hat man sich als eine Art Korsett angelegt. Denn es gibt auch Schulden, die problematisch sind, sogenannte strukturelle Schulden. Wenn der Staat sich verschuldet, um laufende Ausgaben zu tätigen, die mit der Sicherung der Zukunft nichts zu tun haben. Wie jeden Monat den Rentner*innen im Land ihre Pension zu überweisen. Das ist keine Investition in zukünftige Produktivität. Im Extremfall müssen sich Staaten neuverschulden, um die Zinsen bereits angehäufter Schulden zu bedienen. Auch das wäre ein strukturelles Problem. Die Schuldenbremse sagt: Die Finanzen müssen über den Konjunkturzyklus hinweg ausgeglichen sein. Wobei niemand sagen kann, wie lange dieser genau dauert. Gibt es eine Gesamthöhe an Schulden, bei der es problematisch wird? Man kann nicht genau sagen, ab wann eine Verschuldung problematisch ist. Japan ist zum Beispiel seit Jahrzehnten sehr hoch verschuldet, allerdings vor allem im Inland. Das bedeutet, dass die Schulden einfach auf die zukünftigen Generationen übertragen werden. Bei Ländern hingegen, die sehr stark im Ausland verschuldet sind, kann es sein, dass ein Gläubiger sagt, Surprise 505/21


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