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Strassenmagazin Nr. 481 07. bis 20. August 2020

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jede*r Warum wir jetzt um ein Sternchen reicher sind Seite 16


BETEILIGTE CAFÉS BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT, Elsässerstr. 43

Die Corona-Krise trifft Café Surprise – eine die Kleinen hart. Tasse Solidarität Zeigen Sie Solidarität Zwei bezahlen, eine mit den Café Surprise. spendieren.

BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt KleinLes Gareçons, Badischer Bahnhof | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, hüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les GareVogesenstr. 96 | Didi Bahnhof Offensiv,| Rest. Erasmusplatz | Radius 39, Wielandplatz 8 Café çons to go, Badischer Manger & 12 Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Steinentorberg | Treffpunkt Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv,Markthalle, Erasmusplatz 12 | Radius 39, 20 Wielandplatz 8 |Breite, Café Zürcherstr. 149 IN BERN1Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 Café MondiaL, Spalentor, Missionstrasse | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Eymattstr. 2b | 149 CaféINTscharni, Waldmannstr. 17a |Rathausgasse Lehrerzimmer, Zürcherstrasse LENZBURG feines Kleines, 18 Waisenhausplatz 30 IN LUZERN JazzLoLa, 23Grabenstr. | Luna Llena, Scheibenstr. 39 Bundesplatz | Brasserie Lorraine, Quartier­ kantineLorrainestr. zum Graben, 8 | Meyer Kulturbeiz, 3 | Blend Teehaus, gasse 17 | Rest. Dreigänger,Baselstrasse, Waldeggstr. Baselstr. 27 | Rest.66Löscher, Viktoriastr. 70 Rest. 4 | Furrengasse 7 | Quai4-Markt | Restaurant Quai4, Alpenquai Quai4-Markt Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben | Netzwerk Neubad, Sous le PontAlpenquai, – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 613| Treffpunkt Azzurro, Bireggstr. 36 5| Sommerbad Volière, Inseli Park Brünig, Industriestrasse Lindenrain | Zentrum 44, Scheibenstr. 44| |Restaurant Café Paulus, Freiestr. 20 Becanto, 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL good,Treffpunkt MarktgassePerron 11 Bethlehemstr. 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34Café IN BIEL bleu, IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN3a Café Kairo, DammBahnhofplatz 2d IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse wegFRAUENFELD 43 | Café MARTA, 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a |Kleines, Café-BarRathaus­ das IN BeKramgasse You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG feines Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 |zum LoLaGraben, Lorraineladen, Lorrainestr. 23 Kulturbeiz, | Luna Llena gasse 18 IN LUZERN Jazzkantine Grabenstr. 8 | Meyer Gelateria Rest.3 Bar, Scheibenstr. | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine,Baselstr. Quartier-66 Bundesplatz | Blend Teehaus,39 Furrengasse 7 | Quai4­Markt Baselstrasse, gasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Quai4­Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschen­ Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, graben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher­ und Musikbörse, IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Emil­Frey­Str. 159 IN Märtkaffi am Buuremärt141 IN| Kafi OBERRIEDEN Enge, Gablerstrasse 20 NIEDERDORF | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. Freud, SchaffStrandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OLTEN Bioland Olten, Tannwaldstr. 44 76 hauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse IN RAPPERSWIL Café good, 11 IN18 SCHAFFHAUSEN Beiz, IN STEIN AM RHEIN Raum 18,Marktgasse Kaltenbacherstr. IN WINTERTHUR Kammgarn­ Bistro DimenBaumgartenstr. 19 IN25STEIN AM RHEINStrandbad Raum 18,Oberrieden, Kaltenbacherstr. 18 47 sione, Neustadtgasse IN OBERRIEDEN Seestrasse IN ST.GALLEN GALLENS’Kafi, S’Kafi, Langgasse 11MÜNCHENBUCHSEE IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, IN ST. Langgasse 11 IN tuorina boutique & café, Neustadtgasse IN ZÜRICH Zähringerplatz 11 Bernstrasse 2 IN25 DIETIKON Mis Café Kaffi,Zähringer, Bremgartnerstrasse 3a Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 Weitere Informationen: Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: BODARA

Editorial

Unsere Verantwortung Im Journalismus wird oft betont, man dürfe sich mit keiner Sache gemein machen. Journalist*innen sollen beobachten und auf neutrale Weise berichten, was geschieht. Dabei geht gern vergessen, dass auch Medien selbst eine Position innerhalb der Gesellschaft einnehmen und Neutralität daher immer eher Ideal als Wirklichkeit ist. Ab sofort mit Gendersternchen zu schreiben, bedeutet für uns eine Anerkennung gesellschaftlichen Wandels und eine Vereinfachung, denn neu ist gendergerechte Sprache im Surprise nicht. Bisher haben wir mit Doppelnennungen, Abwechslung und Gerundien gearbeitet. Warum wir die gendergerechte Sprache mit diesem Heft trotzdem eingehend thematisieren, lesen Sie ab Seite 16. Als Strassenzeitung sieht sich Surprise inhaltlich nah bei den Verkäufer*innen angesiedelt, die damit auf der Strasse stehen – eine sehr diverse Gruppe von Menschen, denen gemein ist, dass sie mit wenig Geld und viel Ausgrenzung zu tun haben. Das Strassenmagazin ist dafür

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Wahr und klar

6 Verkäufer*innenkolumne

Tee oder Kaffee

7 Moumouni …

bekommt Mails

8 Rassismus

Schwarz und weiss

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16 Sprache

Zum Gender*

18 Corona-Krise

Sichtbare Armut

da, diesen Menschen mehr gesellschaftliche Teilhabe und ein besseres Einkommen zu ermöglichen. Das beeinflusst unsere Themenwahl und unseren Blickwinkel. Viele unserer Verkäufer*innen kommen aus Ostafrika und Südosteuropa, sie müssen im Alltag mit rassistischen Anfeindungen zurechtkommen, sie haben geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, bei der Wohnungssuche – dieselben Themen, die auch die Black-Lives-Mat­terDemonstrant*innen umtreiben. Wir haben vier Aktivist*innen zum Gespräch geladen. Und weil wir glauben, dass wir Medien Mitverantwortung dafür tragen, wer in unserer Gesellschaft wie zu Wort kommt und auf welche Weise über wen berichtet wird, haben wir uns als weisse Redaktor*innen bewusst herausgehalten und nur zugehört, ab Seite 8. Und im zweiten Schritt Stellung bezogen, ab Seite 14. SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

24 Film

27 Tour de Suisse

25 Literatur

28 SurPlus Positive Firmen

Poetischer Reifeprozess Worte im Freien

Pörtner in Bassersdorf

25 Buch

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

26 Veranstaltungen

30 Surprise-Porträt

Lebensendaufgabe

«Ich habe überlebt»

3


Aufgelesen

BILDER: KIT CASTAGNE

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Gegen Rassismus und Polizeigewalt

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Nach der Ermordung von George Floyd durch vier Polizisten in Minneapolis am 25. Mai fegte eine Welle von Protesten über die USA. Das Land erlebte friedliche Aufmärsche, aber auch Unruhen, bei denen die Demonstrant*innen ihre Wut und Trauer über die Polizeigewalt zum Ausdruck brachten. Der Fotograf Kit Castagne STREET SPIRIT, BERKELEY/OAKLAND begleitete die Proteste von Anfang an.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Zu wenig fürs Leben

Nach einer Forsa-Umfrage halten 80 Prozent der Bevölkerung das gesetzliche Existenzminimum in Deutschland für zu niedrig. Rund 728 Euro nannten die Befragten im Durchschnitt als notwendig für das Bestreiten des Lebensunterhaltes – der SGB-II-Regelsatz liegt zurzeit bei 432 Euro. Einen CoronaZuschlag für Leistungsbeziehende hat die Bundesregierung im Juni abgelehnt.

Vor Gericht BODO, BOCHUM/DORTMUND

Mehr Mütter

Hauptsächlich Frauen haben sich zu Beginn der Corona-Krise um die zusätzlich anfallende Betreuung von Kindern gekümmert, so eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Von 7600 befragten Erwerbstätigen gaben 54 Prozent der Frauen an, den überwiegenden Teil der Kinderbetreuung übernommen zu haben, aber nur 12 Prozent der Männer. 27 Prozent der Mütter mit Kindern unter 14 Jahren hatten ihre Arbeitszeit reduziert, um der Betreuung nachkommen zu können. Bei den Vätern waren es 16 Prozent.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Bob ist tot

Der berühmteste Wegbegleiter des ehemaligen Obdachlosen James Bowen, nämlich der Kater Bob, ist Mitte Juni verstorben. 2007 hatte der damals drogenkranke Bowen den Kater verletzt und verwahrlost aufgefunden. Das Tier half ihm dabei, seine Suchtprobleme zu überwinden. Später schrieb Bowen seine Geschichte auf und landete damit einen internationalen Bestseller, der sogar verfilmt wurde.

HEMPELS, KIEL

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Wahr und klar An dieser Stelle lesen Sie meist von Strafgerichtsfällen. Nicht nur diese Gerichtskolumne, sondern die Medien insgesamt haben einen beschränkten Blick auf das Gerichtswesen. Vor Gericht landen ja nicht nur Kriminelle, deren Missetaten festgestellt und bestraft werden sollen. Es gibt ganz viele Gerichte: den Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne, das Bundespatentgericht in St. Gallen, die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen in Bern, Versicherungsgerichte, Jugendgerichte, Mietgerichte und Arbeitsgerichte. Man kann sich ausmalen, um was alles gekämpft und gestritten wird. Manchmal geht es um einen einzigen Satz, wie hier den letzten im Arbeitszeugnis von Frau K., K für Klägerin. Der zuständige Arbeitsrichter sagt, das habe er nur noch selten, reine Arbeitszeugnisfälle. Das gedenke er zu geniessen. Der Satz lautet wie folgt: «Frau K. verlässt uns auf eigenen Wunsch, um die Fortbildungstätigkeit unserer Stiftung bei ei­­nem an­deren Unternehmen weiterzuführen.» Der habe in einem Arbeitszeugnis nichts zu suchen, sagt Frau K.s Anwältin. Sie führt aus: Die Klägerin arbeitete bei einer eng mit einem universitären Lehrstuhl verwobenen Stiftung. Im Arbeitsalltag vermischten sich die Institutionen. Alle Daten der Stiftung lagen auf Servern der Uni. Mit zwei Kolleginnen war Frau K. während zehn Jahren für die Symposien, Kurse und Fachtagungen der Stiftung zuständig. Sehr erfolgreich, was das Zeugnis auch festhält. Die Probleme begannen, als es Zeit wurde für den alten Professor, Chef beider Organisationen und somit auch von Frau K., seinen Lehrstuhl an

den Nachfolger abzugeben. Die Stabsübergabe war, nun ja, bei Scheidungsfällen sagt man: ein Rosenkrieg. Der neue warb die drei Frauen kurzerhand ab. Der Satz im Zeugnis suggeriere nun, so die Anwältin, dass sie damit das Weiterbildungsprogramm der Stiftung samt Referent*innen und Sponsor*innen mitnahmen. Und sie so ein – nicht vorhandenes – Wettbewerbs- und Konkurrenzverbot verletzt hätten. Das treffe aber nicht zu. Doch, sagt der Stiftungsanwalt. Nach dem Wechsel hätten sich inhaltlich identische Events der Uni gehäuft, und zwar an denselben Daten wie jene der Stiftung. Es handle sich um «offensichtlich bösartige Parallelveranstaltungen». Und die Frauen seien ausdrücklich auf ihre Geheimnispflicht hingewiesen worden. Insofern sei der Satz eine «wertfreie Benennung der Realität», «inhaltlich korrekt» und das Zeugnis insgesamt «wohlwollend», wie das Gesetz es verlange. Richtig, verkündet der Richter nach einer kurzen Pause. Doch das Gesetz verlange neben Wahrheit und Wohlwollen auch noch Klarheit. Der beanstandete Satz lasse zu viele Möglichkeiten offen. Hat Frau K. Geheimnisverletzungen begangen? Gab es überhaupt ein Konkurrenzverbot? Wurde sie abgeworben? Wenn man den Satz reinnehmen wolle, dürfe dies nicht im Dunkeln bleiben. Ein Urteil wie in einem Straffall ist dies aber nicht. Es ist eine «erste richterliche Einschätzung». Denn nun werden die Parteien nochmals verhandeln – bis dann ist noch kein Recht gesprochen. * persönliche Angaben geändert

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Tee oder Kaffee Ich mache jeden Morgen Meditation, Entspannungsübungen, Atmungsübungen. Wenn ich einatme, muss ich auch wieder ausatmen können. Wenn ich aufstehe, strecke ich mich, gähne. Ich stehe langsam auf. Ziehe den Rolladen hoch, gehe auf den Balkon. Ich höre irgendwo Vögel pfeifen, sehe vielleicht ein Büsi oder eine Maus durchspazieren oder einen Fuchs. Oder es schüttet. Ich nehme als Erstes die Welt wahr, das Leben da draussen. Ich mache das schon längere Zeit so.

Am Sonntag gehe ich am Morgen früh jeweils auf den Uetliberg, ich bin spätestens um 7 Uhr oder halb 8 dort oben. Jahrelang ging ich immer rennen, schaute auch auf die Zeit, habe gemessen, das mache ich schon lange nicht mehr. Ich sehe es ja bei anderen, da kommen sie wie verrückt mit dem Velo angestrampelt und keuchen, viele gönnen sich oben nicht mal die Aussicht. Ich lege mir die Kleider schon am Vortag bereit, dann komme ich nicht in die Situation, mir überlegen zu müssen, was ich anziehen soll. Mein Ziel ist: Am Morgen, bis ich die Haustüre hinter mir schliesse, nicht in einen gestressten Zustand zu kommen. Das ist Ruhe, die ich mir selber schaffe. HANS RHYNER  verkauft seit sechs Jahren Surprise in Zug und Schaffhausen und ist Surprise-Stadtführer in Zürich. Er beneidet die Büsis darum, dass sie sich jederzeit Zärtlichkeiten holen können – dafür haben sie mehr Feinde: den Strassenverkehr, die Menschen, andere Tiere. So kämpfe jedes Lebewesen gegen seine eigenen Feinde. Manche gegen äussere, andere gegen innere.

Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: DIMITRI GRÜNIG

Ich gehe das Gesicht waschen, mit lauwarmem Wasser. Putze die Zähne. Dann schalte ich die Kaffeemaschine ein, an jedem zweiten Tag. An den anderen Tagen trinke ich Tee. Montag Tee, Dienstag Kaffee, Mittwoch Tee, Donnerstag Kaffee, Freitag Tee, Samstag Kaffee, Sonntag Tee. Wenn ich Tee trinke, kommt die erste Zigarette erst, wenn ich meinen Verkaufsplatz eingerichtet habe, etwa um 8 Uhr, in Zug. Ich stehe aber um 5 Uhr auf. Wenn ich Kaffee getrunken habe, zünde ich die erste Zigarette schon am Albisriederplatz an, etwa um 7.05 Uhr. Ich möchte wirklich Nichtraucher werden. Und ich muss das probieren, mit solchen Hilfsmitteln. Ich habe lange Zeit aufgeschrieben, wann ich wo die erste, die zweite Zigarette geraucht habe. Aber es wurde mit der Zeit mühsam, weil es doch mehr als 20 wurden pro Tag. Aber mit dem Tee funktioniert es ein bisschen besser. Zigaretten sind eine Fessel. Ich weiss nicht, ob sie

ein Mutterersatz sind. Als Alkoholiker verwende solche TherapieAusdrücke. Ich fühle mich gefesselt. Nach dem Tee, nach dem Kaffee mache ich Entspannungsübungen und Atemübungen. Als ich jung war, habe ich Liegestützen und Seilhüpfen gemacht, solche Sachen. Aber ich habe gemerkt, dass ich etwas anderes brauche, Übungen ohne Kraftanstrengung. Ich hatte das so gelernt, Körpertraining ist das Beste. Aber mit der Zeit merkte ich: Den Körper am Morgen schon auf Höchstleistung zu trimmen, tut mir nicht gut.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Ich bekomme viele Mails, die nichts mit dem Thema der Sendung zu tun haben. Wo jetzt die Demos für den französischen Busfahrer seien, der letztens zu Tode ­geprügelt wurde, und: «Meinen Sie, dass es in Deutschland besser ist??» Eine Frau, die mir schreibt, sie habe als Lehrerin 43 Jahre lang mit viel Liebe Kinder «aller Ethnien» unterrichtet, erzählt mir von meinen «Landsleuten», die sehr oft keine Fahrscheine lösen. Sie meint Schwarze Menschen. Sie merkt nicht, wo der Fehler sein könnte, alle Schwarzen Menschen als meine «Landsleute» zu bezeichnen und von ihrer Hautfarbe auf das Lösen von Tickets zu schliessen. Ich frage mich, wie viel sie in ihren 43 Jahren Liebe sonst noch nicht gemerkt hat. Ich lese mehrere Mails, in denen mir gesagt wird, dass Schwarze Menschen keine Engel seien. Auf katholischen Gemälden habe ich tatsächlich noch nie ­einen Schwarzen Engel gesehen, das stimmt. Und das hat sogar etwas mit Rassismus zu tun.

Moumouni …

… bekommt Mails Ich sitze in einem Café in Paris und wundere mich über die Schweiz. Ich trinke einen Kaffee und esse ein Croissant. Beides ist selbstverständlich gut. Nirgend­wo eine französische Flagge oder ein Slogan, die mir penetrant beweisen wollen, dass alles hier gut ist. Angenehm. Ich lasse die letzten paar Wochen Revue passieren, in denen ich aus der Quarantäne-bedingten Isolation direkt in einen Medientrubel gerutscht bin. Ich lese amüsiert ein paar der Mails, die ich in Reaktion auf die SRF-«Arena» bekommen habe, für die ich vorher keine Kraft oder Zeit hatte. Die ganz schlimmen Beleidigungen habe ich vorher aussortieren lassen. Es ist immer noch viel Absurdes dabei, ab und zu muss ich kichern und schaue mich dann verstohlen um. Aber ich bin ja in Paris, nicht etwa in einem Schweizer Zug – es interessiert niemanden, dass ich Geräusche mache. Surprise 481/20

«WENN WIR EIDGENOSSEN SOOOO RASSISTISCH SIND, WARUM WOLLEN SO VIELE AUSLÄNDER IN DER SCHWEIZ LEBEN???», lese ich oft. Ein Grossteil meiner Kritiker*innen scheint zu finden, dass man sich nur über Länder aufregen darf, in denen man nicht lebt. Ich probiere es aus: «Wääh, in Paris riecht es an wirklich vielen Ecken nach Pisse», murmle ich vorsichtig vor mich hin. Fühlt sich, ehrlich gesagt, nicht viel legitimer an als die sehr überlegte Kritik an der Schweiz, die ich sonst versuche anzu­ stellen. Dann versuche ich es mit: «Frankreich hat ein Rassismusproblem. Dieses Problem liegt in der europäischen sowie französischen Geschichte und Politik ­begründet.» Legitim, das zu sagen. Warum sollte es nicht legitim sein, dasselbe über die Schweiz zu sagen? Offenbar sind viele Schweizer*innen es nur nicht gewohnt, das zu hören.

Ich bekomme aber auch viele Kom­ plimente. «Schönes Gesicht. Ich liebe so Frauen», schreibt mir jemand in Reaktion auf meinen «Arena»-Auftritt. Die sehr sympathische Frau aus der Maske beim SRF hat mir erzählt, dass sie schon oft Christoph Blocher für die «Arena» geschminkt habe. Ich frage mich, ob er auch hinterher so viele Kommentare wegen seines Aussehens erhielt. Christoph Blocher sieht aber auch einfach nicht so gut aus wie ich, man muss ja nicht überall Sexismus sehen, denke ich mir. Und wenn es mir nicht passt, dass man mich schön findet, muss ich ja auch einfach nicht schön sein. Ich übe mich darin, Argumentationsstrukturen, die mir in den letzten Wochen entgegengebracht worden sind, zu übernehmen. Das macht das ­Leben einfacher.

FATIMA MOUMOUNI  bedankt sich für die vielen lieben Mails und auch für berechtigtere Kritik, die sie in Reaktion auf ihren «Arena»-Auftritt ebenfalls bekommen hat.

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FOTO: BODARA

«Ich muss nicht weiss werden, es gibt auch andere Arten, Schweizerin zu sein.» L AUR A RIVAS K AUFMANN, 30, arbeitet in der Bildredaktion des Tages-Anzeigers und als freie Journalistin bei Tsüri.ch. Als Aktivistin ist sie in mehreren PoC-Kollektiven dabei und beschäftigt sich intensiv auch mit Feminismus.

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Rassismus Seit dem Tod von George Floyd in den USA diskutiert man auch in der Schweiz über strukturelle Diskriminierung. Eine Herausforderung, die alle etwas angeht.

«Wir können wirklich etwas verändern» Gespräch Was bewegt Aktivist*innen aus der antirassistischen Bewegung in Zeiten von «Black Lives

Matter»? Surprise hat die Autorin und Slampoetin Fatima Moumouni, die freie Journalistin Laura Rivas Kaufmann, den Aktivisten Mardoché Kabengele und den Journalisten Ugur Gültekin zum Gespräch eingeladen und ausnahmsweise einfach nur zugehört.

Fatima Moumouni: Unter nicht-weissen Menschen ist es vollkommen klar, dass es in der Schweiz Rassismus gibt. Die Mehrheitsgesellschaft dagegen geht sehr naiv mit diesem Thema um und gibt vor, keine Ahnung zu haben. Warum ist das so? Uğur Gültekin: Die Schweiz hat ein verzerrtes und ignorantes Selbstbild. Man erzählt sich selbst die ganze Zeit, wie demokratisch, weltoffen und humanitär man ist. Und dass man die schönsten Berge hat, natürlich. Jegliche Kritik wird als fundamentaler Angriff verstanden. Gleichzeitig existiert ein enormer Assimilationsdruck: Die Mehrheitsgesellschaft verlangt, dass man so wird wie sie. Laura Rivas Kaufmann: Man könnte ja auch sagen: «Guck mal, wir haben die schönsten Berge und wir sind übrigens auch megadivers.» Aber das würde man niemals nebeneinanderstellen als Werte unseres Landes. Im Unterschied zu Deutschland musste sich die Schweiz auch noch nie aktiv mit etwas sehr Schlimmem auseinandersetzen, was in unserer Gesellschaft passiert ist. Uns fehlt die Kultur dafür. Mardoché Kabengele: Dazu passt aus meiner Sicht das Integrationsversprechen der Schweiz: Mach den Schweizerpass, integrier dich, dann gehörst du dazu! Doch selbst wenn man sich vollständig integriert, kommt dann mit der Beantragung der Staatsbürgerschaft keine Parade und kein Konfetti und alle freuen sich, sondern die Gemeindeversammlung stimmt darüber ab, ob sie dich dabeihaben wollen oder nicht. Und der Alltagsrassismus hört auch mit Schweizerpass nicht auf. Das Integrationsversprechen macht es umso schwieriger, weil man alles dafür tut dazuzugehören, und am Ende ist es doch nur eine Bubble, die platzt. Moumouni: Das versucht ja eigentlich jeder Nationalstaat: sich selbst gut und seine Mehrheitsgesellschaft positiv darzustellen. Das Spannende an der Schweiz ist, dass sie es so gut schafft. Das verhindert aber, dass man Probleme besprechen kann, ohne dass immer wieder behauptet wird, dass eigentlich alles gut ist. Ich glaube, einige Teile der Schweizer Kultur sind zwar einerseits positiv, andererseits aber auch hinderlich, um Themen wie Rassismus zu diskutieren. Dazu gehört die Gesprächskultur, in der man nie richtig streiten darf, man nähert sich lieber an. Bei gewissen Diskussionen kann es aber keine AnSurprise 481/20

näherung geben. Man kann nicht mit Roger Köppel über Rassismus diskutieren und finden, wir treffen uns in der Mitte. Gültekin: Ich würde behaupten, dass es neben dem historischen Opportunismus noch zwei weitere Sachen gibt, die zur Schweizer Identität gehören und relevant für die Auseinandersetzung mit dem Rassismus in der Schweiz sind: einerseits die Abgrenzung gegen aussen. Man ist wie in einem Bunker, der von keinem eingenommen werden kann, man ist nicht in der EU. Es fällt auf, wie identitätsstiftend Abgrenzung ist. Andererseits halte ich Verdrängung für einen Teil der Schweizer Identität. Die Konsensorientierung verhindert konfrontative Debatten. Geschichtlich und politisch sehe ich da Parallelen. Rivas Kaufmann: Richtig, das Verdrängen sitzt auch auf der persönlichen Ebene tief. Ich habe schon erlebt, dass Menschen sagen, ich kenne gar keine People of Color (PoC) oder Schwarze, während ich in der Runde stehe (zu Schreibweisen und Begriffen siehe Glossar auf Seite 12, Anm. d. Red). Und wenn ich dann darauf hinweise, kommt als überraschte Antwort: Oh, ich habe dich nie als das wahrgenommen. Kabengele: Als Jugendlicher bin ich mal zusammen mit meinen Schweizer Kollegen auf Interrail-Tour gegangen in Richtung Osten. Ich habe von vornherein gesagt, an den Grenzen werde ich immer kontrolliert. Sie haben es mir nicht geglaubt. Auch nicht nach der siebten Grenzüberquerung mit Mehrfachscans, Polizeihunden und Polizisten mit Maschinenpistolen. Erst jetzt beginnen wir, darüber zu sprechen, zehn Jahre später. Gültekin: Bei mir wurde es so richtig spürbar, als es ums Geldverdienen ging. Da dachte ich: Moment mal, warum bekomme ich keine Lehrstelle nach 150 Bewerbungen und trotz guter Noten? Rassismus ist psychisch etwas sehr Belastendes, schliesslich sagt man dir die ganze Zeit auf die ein oder andere Art: Du bist Scheisse. Du bist anders. Du bist allein. Und das zu brechen, erscheint mir persönlich sehr wichtig. Wir müssen positive Selbstbilder entwickeln und leben – das ist sehr wichtig. Auch Spass zu haben an diesen Kämpfen, das klingt zwar absurd, aber es ist nun mal ein Lebensthema von uns und es muss irgendwie auch Spass machen. Sonst wird es schwierig. 9


FOTO: DANIEL KELLENBERGER

«Bei gewissen Diskussionen kann es keine Annäherung geben.» FATIMA MOUMOUNI, 28, schreibt seit vier Jahren eine Kolumne im Surprise, ist (unter anderem im Duo mit Laurin Buser) eine preisgekrönte Spoken-Word-Künstlerin. Sie gibt zudem Anti-Rassismus-Workshops und studiert Sozialanthropologie in Bern.

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FOTO: CHRISTIAN LOSENI

«Rassismus zieht sich durch alle Strukturen.» MARDOCHÉ K ABENGELE, 25, arbeitet bei der Stadt Bern, ist Mitglied des Berner Rassismus-Stammtisches und bei FRINES, dem Unterstützerverein von INES, Institut Neue Schweiz.

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FOTO: BODARA

«Wir sollten als Bewegung noch politischer werden.» UĞUR GÜLTEKIN, 36, ist Journalist bei der WOZ sowie Vorstands- und Gründungsmitglied von INES. Er ist Teil von popkulturellen Formaten, die Rassismus thematisieren, wie «Salon Bastard», «Yabani Jukebox», oder einem Late-Night-Format gemeinsam mit Fatima Moumouni.

Glossar People of Color, Person of Color (PoC): Der Begriff bezeichnet Individuen oder Gruppen, die vielfältigen Formen von Rassismus ausgesetzt sind und die Erfahrung teilen, von der weissen Dominanzgesellschaft als anders und unzugehörig definiert werden. Er wurde im Laufe der 1960er Jahre im Kontext der Black-Power-Bewegung ebenfalls als politischer Begriff geprägt. Schwarz und weiss: Indem Schwarz mit grossem «S» geschrieben wird, soll sichtbar gemacht werden, dass sich das Wort nicht auf das Adjektiv «schwarz» als Name für eine 12

Farbe bezieht, sondern für eine politische Selbstbezeichnung steht. Der Begriff sollte nie im Sinne von «Schwarze» verwendet werden, sondern immer z. B. als Schwarze Menschen, Schwarze Kinder, etc. Als weisse Menschen werden jene bezeichnet, die nicht von Rassismus betroffen sind.

entwickelt. Sie sind weitgehend unsichtbar und beeinflussen bewusst oder unbewusst das Verhalten, die Sicht- und Denkweise von Individuen. Struktureller Rassismus findet sich z. B. in Schulbüchern oder in einer rassistischen Sprache, aber auch im Fahndungsauftrag der Polizei («racial profiling»).

Institutioneller und struktureller Rassismus: Eine Form des Rassismus, der in den Strukturen öffentlicher und privater Organisationen verankert ist. Diese Strukturen haben sich aufgrund historischer und gesellschaftlicher Macht- und Gewaltverhältnisse

Privilegien: Wer keine Diskriminierung erfährt, ist privilegiert. Ein Privileg bezeichnet ein Vorrecht, das einem zuteil wird, weil die gesellschaftlichen Strukturen die Art bevorzugen, wie eine Person aussieht, wen sie liebt oder wie sie lebt. Surprise 481/20


Rivas Kaufmann: Als ich nach meiner abgeschlossenen Lehrer*innen-Ausbildung das erste Mal vor einer Klasse stand, merkte ich, die Kinder empfinden mich als anders. Sie spiegelten mir: Sie sind eine von uns! Ein albanischer Vater kam zu mir und begann mit: «Ihnen kann ich das ja sagen ...» In dem Moment habe ich das erste Mal wahrgenommen: Das ist auch eine Community. Ich muss nicht weiss werden, es gibt auch Alternativen, andere Arten, Schweizerin zu sein. Moumouni: Habt ihr Angst davor, dass die Diskussionen, wie sie derzeit über Rassismus geführt werden, auch spaltend sein könnten? Rivas Kaufmann: Der Vorwurf der Spaltung kommt schnell, wenn man fordert, dass auch linke Menschen in der Schweiz sich mit Rassismus auseinandersetzen müssen. Dabei geht es darum, bei Freunden und Verbündeten anzufangen, damit man weiter gemeinsam arbeiten kann. Was will ich jetzt mit einem Rechten über Rassismus diskutieren, das ist doch hoffnungslos! Aber mit meinen linken Kolleginnen und Kollegen möchte ich endlich ansprechen, wo sie ihre unbewussten Vorurteile haben. Kabengele: Viele denken, es sei so einfach: Entweder man gehört zur SVP, dann ist man böse, oder man steht links von der SVP, dann ist man gut. Dabei zieht sich Rassismus durch alle Strukturen. Moumouni: Ich finde es grundsätzlich wichtig, dass es im Rahmen der Rassismusdebatte einen diversifizierten Diskurs gibt – auch innerhalb der Bewegung. Dass wir auch darüber reden, was PoC gegen Anti-Schwarze-Rassismus machen können und wir reflektieren, dass wir selbst zwar betroffen sind, aber innerhalb des ganzen Systems dann doch auch wieder eine privilegierte Position einnehmen, weil wir in der Schweiz wohnen oder aufgewachsen sind, weil wir die Sprache sprechen und so weiter. Für mich war beispielsweise der Moment sehr bedeutend, in dem ich mein «light skin privilege» realisiert habe, um zu merken, wie gehe ich selbst um mit Kritik, mit Konfrontationen bezüglich meiner eigenen Privilegien? Das ist ein ähnlicher persönlicher Prozess, den ich von weissen Menschen erwarte, wenn ich sage: «Überlegt euch, was es heisst, weiss zu sein!» Kabengele: Es ist wichtig, dass wir die verschiedenen Realitäten genau anschauen. Zum Beispiel wie ein Geflüchteter ohne Aufenthaltsstatus Rassismus wahrnimmt, wie Rassismus sich in der Schule, in der Arbeitswelt oder «wenn man es geschafft hat» ausdrückt – und dabei im Kopf behalten, dass dies Facetten desselben Phänomens sind. Es ist eine sehr sensible Zeit und es ist anstrengend, das soll es auch sein, und wir sollten das möglichst lange aushalten und viel daraus lernen. Wir sollten auch die anderen Kämpfe drum herum nicht vergessen, die ebenfalls geführt werden. Gültekin: Natürlich ist es wichtig, eigene Erfahrungen miteinander auszutauschen und zu teilen, wichtig aber finde ich auch, daraus politische Forderungen zu formulieren. Wir sollten als Bewegung noch politischer werden, als wir es eigentlich schon sind. Wir sollten eingreifen und uns das holen, was uns als Bürger*innen von diesem Land zusteht. Rivas Kaufmann: Gleichzeitig gibt es jetzt nach den Demos und mit all den neuen Initiativen eine ganze Menge junge Leute, die jetzt erst über das Thema Alltagsrassismus realisieren, überhaupt ein politisches Bewusstsein entwickeln. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit zu komplizierten politischen Forderungen kommen. Surprise 481/20

Kabengele: Ich habe auch ein wenig Angst davor, dass wir zu schnell Forderungen stellen. Dies könnte sehr schädlich sein. Ich denke da an einen Punktekatalog, welcher Schritt für Schritt abgehakt werden könnte, und schon würde das Thema Rassismus für die nächsten Jahre wieder in den Hintergrund rücken. Diese Problematik sehe ich zum Beispiel in den USA. Es gab starke Repression, dann kam es zu Forderungen – und heraus kam der Black History Month, mit dem sich dann alle zufriedengeben sollten. Ende der Diskussion. Dabei ist es ein strukturelles Problem. Ein spannenderer Ansatz wäre, was gerade bei der Pandemie passiert: Je länger es geht, desto sensibler wird die Gesellschaft, desto mehr Wissen wird angehäuft, desto breiter wird diskutiert und argumentiert. Moumouni: Das ist auch etwas Besonderes im Kontext Schweiz, dass wir da so ein krasses Informationsdefizit haben. Die koloniale Vergangenheit der Schweiz wird beispielsweise erst jetzt breiter diskutiert. Wir können nicht erwarten, dass die Diskussion hier so geführt wird wie in den USA. Gleichzeitig dürfen wir auch nicht die grossen Themen aus den Augen verlieren. Die Leute beissen sich an der Schokokuss-Debatte fest, sie verteidigen sich, und wir argumentieren zurück. Und schon geht vergessen, dass wir diese Debatte eigentlich im Rahmen einer grossen Debatte führen, in der es um Verteilung geht, um Gerechtigkeit. Wo stehen wir denn in der Flüchtlingspolitik, in der Ausbeutung des Globalen Südens? Welche Rolle haben wir da und wieso schaffen wir es, das so auszublenden? Gültekin: Was mich positiv stimmt ist, dass ich inzwischen das Gefühl habe, dass es auch gut nebeneinander funktioniert. Es müssen nicht alle am Gleichen schaffen. Es ist gut, wenn die einen auf Instagram am Awareness bilden sind, Posts machen, Wissen teilen, die anderen machen Musik, Journalismus oder Politik. Das geht alles ganz gut mit- und nebeneinander. Kabengele: Es gibt einen tollen Satz, den ich mir sehr zu Herzen nehme: In der Solidarität gibt es keine Konkurrenz. Wenn also jemand dieselbe Idee hat wie du und sie eine Minute vor dir bringt, dann ärgere dich nicht, sondern frag, wie du helfen kannst. Rivas Kaufmann: Dass wir aber noch so am Anfang sind, macht es auch sehr anstrengend. Dabei ist es ja auch schön, Teil von einem so historischen Moment zu sein. Sagen zu können, es ist sehr lang gegangen, aber jetzt ist es da und das ist positiv. Wir können wirklich etwas verändern! Gültekin: Umso wichtiger sind Initiativen wie «Guerilla Wellness» oder Partys, an denen man mit Menschen aus der Bewegung zusammenkommen kann, oder auch Eins-zu-Eins-Treffen. Ich finde es gerade sehr schön, wenn man nicht alles von Null an erzählen muss und man sich auf einem gewissen Wissensstand, aber auch Gefühlsstand trifft. Was Laura gesagt hat stimmt, wir haben Zeit. Es passiert ja schon ganz viel und es wird in politische Veränderungen oder auch sonstige Entwicklungen münden. Rivas Kaufmann: Ich würde mir wünschen, dass die Leute aus der Mehrheitsgesellschaft ebenfalls beginnen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, Bücher zu lesen, Podcasts zu hören, sodass wir mit ihnen irgendwann ähnliche Gespräche führen können, wie wir sie untereinander führen. Ich möchte, dass sie da ihre Arbeit machen. Moumouni: Das ist ein wichtiger Punkt. Dies ist eine Einladung. Wir möchten diese Auseinandersetzung nicht allein führen. Aufgezeichnet von SAR A WINTER SAYILIR 13


Die Rolle der Dominanzgesellschaft Rassismus Die Debatte um die Benachteiligung von Schwarzen Menschen und People of Colour erfordert Arbeit von jenen, die an Privilegien gewöhnt sind. Das ist anstrengend. TEXT  SARA WINTER SAYILIR

Auch diesmal begann hierzulande die mediale Debatte über Rassismus mit den Fragen: Was hat das alles mit uns zu tun? Gibt es in der Schweiz überhaupt Rassismus? Und wieder sind die Betroffenen zum x-ten Mal in der unangenehmen Lage, erklären zu müssen, was eigentlich das Problem ist, worunter sie leiden, wie es ihnen damit geht und was sie ihr Leben lang so zu hören gekriegt haben, während die weissen Diskussionsteilnehmer*innen und Moderator*innen (im besten Fall) betroffen schauen und ansonsten unbeteiligt bleiben. Gleichzeitig legen sich diejenigen mächtig ins Zeug, denen schon die Umbenennung einer Beiz, einer Süssigkeit oder Fasnachtsclique als unerträglicher Eingriff in die persönliche Freiheit erscheint. Offensichtlich haben wir weissen Menschen massive Schwierigkeiten anzuerkennen, dass wir selbst Teil des Problems sind. Es macht keinen Spass, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Es kann wehtun, anstrengend sein und Arbeit machen. Für weisse Menschen wohlgemerkt. Nicht-weissen Menschen tut Rassismus ohnehin weh, ist anstrengend und macht verdammt viel Arbeit. Sie haben keine Wahl, ob sie in die Auseinandersetzung einsteigen: Für viele ist Rassismus eine Konstante in ihrem Leben. Das können die meisten Nicht-Betroffenen nicht nachfühlen. Wir haben es so nie erlebt. Und weil wir es nicht nachfühlen können, glauben viele von uns immer noch nicht, dass es «wirklich so schlimm ist» oder dass Rassismus überhaupt existiert. Sich in Empathie üben Angestossen wurde die aktuelle Rassismusdebatte durch die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA und die darauffolgenden Kundgebungen der Black-Lives-Matter-Bewegung. Dass es gerade jetzt zu einer derart grossen, weltweiten Solidarisierungswelle kam, hängt sicher auch mit dem speziellen Moment während der Corona-Pandemie zusammen sowie mit der immer schnelleren und intensiveren Vernetzung durch die Sozialen Medien. Denn neu ist die Thematik nicht, auch nicht für die Schweiz, wo sich zahlreiche NGOs seit Jahren mit dem Thema befassen und rassistische Vorfälle, Polizeigewalt und Racial Profiling dokumentieren. Auch gibt es seit fünfzehn Jahren die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus, deren offizielles Mandat es ist, direkte oder indirekte rassistische Diskriminierung zu bekämpfen. 14

Damit wir weissen Menschen besser begreifen können, was Rassismus ist und was er macht, sollten wir unsere Empathiefähigkeit trainieren: uns besser einfühlen lernen. Das kann und soll auch mal wehtun, wie Prozesse der Selbstbegegnung es häufig sind. So forderte der deutsche Journalist Malcolm Ohanwe gemeinsam mit der Afrikawissenschaftlerin Josephine Apraku auf Twitter weisse Menschen dazu auf, unter dem Hashtag #kritischesweißßsein über Rassismus zu sprechen, ihre Privilegierung anzuerkennen und aufzuarbeiten. Wir müssen uns bewusst werden, wie privilegiert wir sind, auch wenn viele sich vielleicht subjektiv nicht so empfinden. Wer beispielsweise an der Armutsgrenze lebt, dem wird es schwerfallen, sich als Teil der Privilegierten zu sehen. Auch sind wir es gewohnt, dass man uns als Individuen oder zumindest als Teil vielfältiger Gruppen wahrnimmt. Gleichzeitig fällt es uns weniger auf, wenn pauschal über die Ausländer*innen, den Islam, die Eritreer*innen oder über Afrika gesprochen wird, als sei es ein Land. Man kann es also als Teil der Übung sehen, auszuhalten, dass wir als Teile der Dominanzgesellschaft hier zugunsten der Darstellung gesamtgesellschaftlicher Machtverteilung einmal alle in einen Topf geworfen werden. Auch wenn die berechtigte Frage geklärt werden muss, ob nicht auch andere Parameter wie beispielsweise die Wohlstandsverteilung als weiterer entscheidender Faktor in die Analyse und Bekämpfung struktureller Ungerechtigkeit einberechnet werden sollten. Für Rassismus gilt, was auch für andere strukturelle Probleme wie Armut gilt: Nur wenn wir uns unserer eigenen Privilegien bewusst sind, können wir uns in diejenigen einfühlen, die weniger Privilegien geniessen. Empathiefähigkeit gehört zu den Grundvoraussetzungen unserer Gesellschaft, ohne Empathie regiert einzig das Recht der Stärkeren, sind Errungenschaften wie der Kinderschutz und die Antidiskriminierungsgesetze hinfällig. Wie gut, dass es in der Präambel der Schweizer Verfassung heisst: «Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen.» Zu meinen Privilegien gehört, dass mir nie jemand an einer Clubtür gesagt hat, es seien schon «genug von Dir da drinnen», wie es meinem türkischstämmigen Freund in der Schlange direkt vor mir geschah. Ich werde auf der Reise im Zug zwischen Freiburg und Basel nie kontrolliert, mir folgt kein Ladendetektiv im Kaufhaus, die Menschen checken im Gespräch mit mir nicht ab, wie ich zu Surprise 481/20


meiner Religion stehe, wie es vielen muslimischen Freund*innen passiert. Wenn ich in der Schweiz gefragt werde, woher ich stamme, ist mir aus meiner Antwort noch nie ein Nachteil entstanden. Niemand rückt von mir ab oder ändert den Tonfall, höchstens fragt jemand, ob Schweizerdeutsch ok sei. Niemand käme auf die Idee, nach den Stammbäumen meiner Eltern zu fragen, obwohl ich hochoffiziell immigriert bin – aber eben als weisser Mensch aus dem Nachbarland. Mein Mann, der aus der Türkei stammt, und ich haben bei der Hochzeit bewusst entschieden, dass ich meinen deutschen Mädchennamen behalte, damit wir bei der Wohnungssuche bessere Chancen haben. Da ich im Alltag nicht darauf verzichte, unseren türkischen Familiennamen trotzdem zu nennen und darauf bestehe, ihn richtig auszusprechen, habe auch ich schon am Telefon zu hören gekriegt: «Ach, ich hatte jetzt gar nicht erwartet, dass Sie so gut Deutsch sprechen.» Klassiker. Für mich ist das eine harmlose, fast belusti-

Es ist unsere Arbeit, Rassismus zu erkennen, die eigene Rolle zu reflektieren und aufzuarbeiten. gende Erfahrung, aber auch nur, weil ich weiss, dass ich mich mit einer kleinen Erklärung wieder daraus befreien kann. Ich musste mir nie Gedanken darüber machen, ob mir manche Bereiche unserer Gesellschaft möglicherweise verschlossen sind – so wie einem meiner Freunde, der seine Hochschulkarriere aufgegeben hat, weil er wusste, er würde als Mensch mit einem Elternteil aus Guinea so gut wie keine Chance auf eine Hochschulprofessur an einer deutschen Uni haben. Und selbst wenn er doch berufen worden wäre, man hätte ihm wohl dreisterweise vorgehalten, dass es «trotz» seiner Hautfarbe geklappt habe und weil er so ein «Ausnahmetalent» sei. Verknüpfung mit institutioneller Macht Menschen, die als nicht-weiss wahrgenommen werden, müssen nachgewiesenermassen mehr leisten, um auf dieselben Schulnoten zu kommen wie ihre weissen Mitschüler*innen, sie haben es schwerer bei der Lehrstellensuche, sind weniger repräsentiert, je höher in der Hierarchie eigentlich egal welcher Branche man schaut. Es ist auch kein Zufall, dass ein grosser Teil der Surprise-Verkäufer*innen Schwarze Menschen oder People of Colour sind – ihr Armutsrisiko ist wesentlich höher als das von weissen Menschen, weil sie systematisch mehr Hürden beim Zugang zu Ressourcen haben. Rassismus ist «die Verknüpfung von Vorurteil mit institutioneller Macht. Entgegen der landläufigen Meinung ist für Rassismus eine ‹Abneigung› oder ‹Böswilligkeit› gegen Menschen oder Menschengruppen keine zwangsläufige Voraussetzung. Rassismus ist keine persönliche oder politische Einstellung, Surprise 481/20

sondern ein institutionalisiertes System, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen für weissen Alleinherrschafts-Erhalt wirken», so die treffende Definition von Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard, die ich einer Rede des Schauspielers Necati Öziri am Frankfurter Stadttheater entnommen habe. Sobald ich mir meiner Privilegien bewusst bin, kann ich Rassismus erkennen. Ich sehe zum Beispiel: Weil ich das System internalisiert habe und an vielen Stellen davon profitiere, bin ich selbst eine Rassistin. Das ist schmerzhaft sich einzugestehen, es ist nichts, mit dem man prahlen kann oder nur schon kokettieren, und es gibt daran wenig herumzudeuteln. Einzig tröstend (und zugegeben ironisch): Ich weiss, ich bin damit nicht allein. Es ist ein kollektives Falsch, in dem wir verharren, das aber das Individuum nicht aus der Verantwortung entlässt. Wir können das noch ein wenig wegdrängen, die einen mehr, die anderen weniger, wir können noch mehr Tote in Kauf nehmen (denn auch das Sterben im Mittelmeer ist Teil dieses Systems), wir können offensiv so weitermachen wie bisher, wir können das Falsch sogar noch verstärken, wie es sich manche Kräfte wünschen. Wir können aber auch anders. Es ist eine Entscheidung – eine moralische, eine politische, eine demokratische, eine gesellschaftliche. Eine, die wir durch unser Handeln treffen. Weisse Alliierte, «white allies», nennen die US-Amerikaner*innen diejenigen, die sich mit denen solidarisieren, die unter Rassismus leiden. Weisse Alliierte sind erwünscht und notwendig, denn sonst wird sich kaum etwas ändern, und die Idee von einer gerechten demokratischen Gesellschaft, in der alle gleich an Rechten und Würde geboren sind, bleibt weiterhin eine Illusion. Es ist unsere Arbeit, Rassismus zu erkennen, die eigene Rolle zu reflektieren und aufzuarbeiten. Wir können dafür sorgen, dass wir innerhalb unserer Freundeskreise, unserer Arbeitskontexte und im Alltag auf rassistische Strukturen hinweisen und dazu beitragen, diese abzubauen. Wir können aufstehen, uns zu Wort melden oder einschreiten, wenn wir Zeugen rassistischer Gewalt werden. Wir können unsere eigenen verinnerlichten rassistischen Reflexe erkennen, hinterfragen und bewusst mit ihnen umgehen lernen. Wir können Raum schaffen für die, die wenig davon bekommen, wir können den Mund halten, wenn Rassismus-Erfahrene sprechen, und zuhören, wir können unsere Privilegien nutzen, um Menschen, die weniger davon haben, zu unterstützen. Was wir nicht können, ist: dafür Applaus erwarten. Wenn wir aber von unseren demokratischen Grundwerten überzeugt sind, werden wir ausserdem aushalten müssen, dass wir Fehler machen. Dass wir angegriffen werden für unsere Position und wir langfristig verunsichert sein werden, was denn nun von uns erwartet wird. Und dass wir auch mal für die Fehler anderer geradestehen müssen, mit denen wir uns vielleicht nicht einmal identifizieren oder mit denen wir nicht in einen Topf geworfen werden wollen. Es ist eine Übung in echter Empathie, denn so geht es nicht-weissen Menschen in unserer Gesellschaft permanent. 15


Der Stern des Anstosses Sprache Ab dieser Ausgabe erscheint das Surprise-Magazin mit Gender-Sternchen. Was hat es

mit diesem kleinen Symbol auf sich und warum ist geschlechtergerechte Sprache so wichtig? TEXT  TOBIAS URECH

Liebe*r Leser*in – Sie merken es schon an dieser Anrede. Da ist irgendetwas anders. Ab dieser Surprise-Ausgabe schummelt sich ein kleiner Stern zwischen gewisse Wörter. Ein unschuldiger Asterisk schleicht sich in Berufsbezeichnungen, drängt sich zwischen «Autor» und «innen» und lässt eine*n beim Lesen vielleicht kurz stolpern. Bevor Sie sich nun beim Korrektorat beklagen möchten, weil Sie einen hundertfach überlesenen Tippfehler vermuten, oder Sie am Ende des Artikels verzweifelt nach einem Verweis suchen, präsentieren wir Ihnen hier bereits die Auflösung: Dieser kleine Stern ist Absicht, es ist ein Gender-Sternchen. Sein Ziel? Die deutsche Sprache (oder zumindest die künftigen Surprise-Magazine) ein wenig gerechter in Bezug aufs Geschlecht zu machen. Denn die Redaktion hält es für sinnvoll, und vielleicht stimmen Sie uns ja zu, wenn in Job-Inseraten nicht nur Direktoren und Sekretärinnen, sondern Direktor*innen und Sekretär*innen gesucht werden. Oder in einem Artikel von den sieben Bundesrät*innen die Rede ist. Schliesslich ist die Schreibweise mit Gender-Sternchen präziser: Sie verdeutlicht, dass im Bundesrat heute drei Frauen und vier Männer 16

vertreten sind – und nicht etwa nur Männer wie bis 1984. Bei der aktuellen Zusammensetzung ergibt es Sinn, wenn wir das auch in unserer Sprache abbilden. Oder bei den Job-Inseraten: Wir leben nicht mehr im Geschlechterkorsett der 1950er-Jahre. Männer arbeiten als Sekretäre und Frauen als Direktorinnen. Sprachwandler*innen Mag sein, dass Wörter ein bisschen komplizierter sind, wenn sie um ein oder zwei Silben länger werden. Mit ein wenig Humor sehen Sie es wie wir, dass der Teil vor dem Sternchen bei Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän*in viel komplizierter ist als das, was danach kommt. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen der schlechten Lesbarkeit. Am Anfang werden wir alle noch über das Sternchen stolpern und das als Denkanstoss nutzen, um zu hinterfragen, was Sprache mit Geschlecht zu tun hat. «Nun gut», mögen Sie sagen, «ich finde aber, man soll nicht einfach so in die Sprache eingreifen!» In unsere Sprache greifen wir aber schon ein, seit wir sprechen und schreiben können. Ständig kommen neue Wörter hinzu, Surprise 481/20


wir vergessen alte oder schreiben etwas anders. Ein aktuelles Beispiel: Hätten Sie vor einem Jahr ganz flüssig über Covid-19, Lockdown und Corona-Party hinweggelesen? Oder ein älteres Beispiel: Wussten Sie, dass Wörter wie Hochschule, Bücherei und Altertum im 19. Jahrhundert erfunden wurden, um Fremdwörter wie Universität, Bibliothek und Antike zu umgehen? Das Sternchen für Geschlechtergerechtigkeit reiht sich da mühelos ein. Manche werden nun einwerfen: «Wenn ich von Lesern spreche, dann sind die Frauen doch mitgemeint!» Nun, das mit dem Mitmeinen ist so eine Sache. Ein kleiner Test: Denken Sie, liebe*r Leser*in, an Ihre drei Lieblingsmusiker. Nicht weiterlesen! Nachdenken … Ich wette, Ihnen sind, wenn nicht ausschliesslich, dann doch mehrheitlich Männer in den Sinn gekommen. Unser Hirn mag vieles können, aber mitmeinen ist nicht seine Stärke. Sprache prägt unser Denken mehr, als wir glauben. Da lohnt es sich, mit dem Sternchen noch ein wenig präziser und fairer zu werden. Stern, Strich, Doppelpunkt? Und warum muss es nun das Sternchen sein? Der Stern ist nur eine von vielen Möglichkeiten zu «gendern», also geschlechtergerecht zu schreiben. Eine der ersten Varianten, liebe/r Leser/in, war der Schrägstrich. Ab den 1980er-Jahren begannen dann einige RedaktorInnen von Zeitungen und Magazinen das Binnen-I zu verwenden. Ein Vorschlag, der aus der feministischen Linguistik kam und in vielen Kreisen Anklang fand. In neuerer Zeit machten dann Texter_innen, Schreiber:innen, aber auch staatliche Behörden neben dem neuartigen Sternchen von Unterstrich und Doppelpunkt Gebrauch. Es gibt hier kein Richtig oder Falsch, schlussendlich geht es allen Varianten um das Gleiche: Frauen und andere Geschlechter in der Sprache besser sichtbar zu machen und präziser zu beschreiben. An manchen dieser Varianten können Sie sogar eine Bedeutung ablesen: Der Unterstrich verdeutlicht den Raum zwischen den beiden Geschlechtern Mann und Frau – Platz für eine Vielfalt verschiedener Geschlechtsidentitäten oder für Menschen, die keinem Geschlecht zugehörig sind. Auch das Sternchen können Sie so interpretieren: Es zeigt auf, dass das Geschlecht in viele verschiedene Richtungen geht. Dass es da eben verschiedene Dimensionen – eine biologische, eine kulturelle, eine gesellschaftliche, eine soziale – gibt, die das Geschlecht jeder einzelnen Person ausmachen. Im Moment ist das Sternchen jene Variante, die sich am stärksten durchzusetzen scheint – wahrscheinlich auch, weil sich beim bisher verbreitetsten Binnen-I manchmal einige Probleme ergeben, wie zum Beispiel beim Wort «PolInnen», also den Bürger*innen Polens, wo sich das I und das L zum Verwechseln ähnlich sind. Natürlich ist das Sternchen ein Nebenschauplatz. Sprache ist nur eine von vielen Möglichkeiten, sich für die Gleichstellung der Geschlechter starkzumachen, die wir auch im Jahr 2020 noch nicht erreicht haben. Aber Sprache schafft Realitäten, dachten wir uns und hoffen, dass Sie das ähnlich sehen. Surprise 481/20

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Als die Armut sichtbar wurde Corona-Krise Die Pandemie verstärkte in allen Bereichen Probleme, die meist schon vorher vorhanden

waren. In der Stadt Zürich zeigte sich, wie viele Menschen in prekären Verhältnissen leben. TEXT  MARIANNE PLETSCHER FOTOS  MARC BACHMANN

Ab Mitte März 2020 standen jeden Samstag Hunderte mit müden Gesichtern in einer endlosen Menschenschlange an der Zürcher Langstrasse. Dort wurden warme Mahlzeiten und Säcke mit Grundnahrungs- und Hygieneartikeln im Wert von rund fünfzig Franken verteilt. Organisiert hatte diese Aktion die Theologin Schwester Ariane Stöcklin. Als Gassenarbeiterin war sie seit Jahren in der Stadt unterwegs ge18

wesen. Sie wusste, dass die Corona-Krise längst vorhandene Probleme massiv vergrösserte. Innert kürzester Zeit organisierte sie Lebensmittel-Abgaben mit einem Team von Helfer*innen, darunter Pfarrer Karl Wolf von der katholischen Kirche Küsnacht und der Verein Incontro. Schwester Ariane ist ein Organisationstalent. Sie delegiert, erklärt, regt an. Tonnen von Waren wurden in einem Lo-

kal angeliefert, das die Stadt Zürich zur Verfügung stellte. Freiwillige fuhren Lastwagen, halfen bei der Verteilung. Schwester Arianes Motivation ist eine sehr persönliche: Ihr Bruder lebte während fünf Jahren auf der Gasse. Lange wusste sie nicht, ob er noch am Leben war. Diese Zeit hat sie zutiefst geprägt. Die Berufung entstehe aus der Biografie, sagt sie, sie könne sich nichts anderes als Gassenarbeit mehr Surprise 481/20


die Beratungsstellen für Sexarbeiter*innen Nothilfe verteilten und war dann sehr froh darum. Schweizer Senior*innen, mehr Männer als Frauen, stiessen oft erst in letzter Minute zur Schlange, denn das Anstehen in der heissen Sonne oder im Regen konnte ein paar Stunden dauern. Manche schämten sich, hofften, dass sie nicht von Bekannten gesehen würden. Alex*, neben ihm seine schwerkranke Frau mit Rollator, meinte: «Die AHV reicht einfach nicht. 1250 Franken! Das ist doch viel zu wenig. Die Spitex kostet zu viel, und die Krankenkasse zahlt nicht alles.» Und die Ergänzungsleistungen? Er zuckte mit den Schultern, wollte sich dazu nicht äus­sern. Viele, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten, haben verzichtet. Die Ausländer*innen aus Angst, dass sie die Aufenthaltsbewilligung verlieren könnten, die Schweizer*innen aus Scham.

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1 Zürcher Langstrasse: Während vier Monaten wurde jeden Samstag an rund 1000 Personen Essen verteilt. Jetzt geht die Aktion im kleinen Rahmen weiter. 2 Amine Diare Conde gründete die Aktion «Essen für alle» am Zürcher Sihlquai.

vorstellen. Karl Wolf ist als katholischer Pfarrer religiös motiviert. Missionieren tun sie beide nicht. Nur eine Minderheit ihrer vorwiegend jungen Helfer*innen kommt aus dem kirchlichen Umfeld. Die Bedürftigen sind nicht aus dem Nichts aufgetaucht. In der Stadt und Region Zürich gibt es ein Netz von Läden, Mittagstischen und Treffpunkten, in denen sich Menschen ohne Geld gratis oder günstig verpflegen können. Doch mit dem Shutdown mussten viele dieser Treffpunkte schliessen, weil dort wirkende Freiwillige einer Risikogruppe angehörten. Gleichzeitig verloren viele Menschen, die im Tief­ lohnsektor arbeiteten oder die als Papierlose einer illegalen Arbeit nachgingen, auf einen Schlag ihre Jobs, weil Restaurants zumachten oder weil Arbeitgeber*innen in Privathaushalten keinen Kontakt mehr mit Fremden wünschten. Auch die Sexarbeiter*innen wurden arbeitslos. Viele von ihSurprise 481/20

nen waren Kurzaufenthalter*innen und konnten nicht rechtzeitig heimreisen. Sie hatten kein Recht auf Unterstützung und standen nun buchstäblich auf der Strasse. Verzicht aus Angst und Scham Die Menschen in der Langstrassen-­ Schlange: Sexarbeiter*innen und Arbeitslose aus aller Welt, Obdachlose, darunter Drogenabhängige und Alkoholiker*innen, Mütter aus dem afrikanischen oder arabischen Raum, die mit vielen Kindern kamen, wenige ältere Schweizer*innen. Maria* aus der Dominikanischen Republik erzählte: «Die Kolleginnen, mit denen ich mir den Massagesalon geteilt habe, sind nach Hause gereist. Ich bin mit hohen Fixkosten zurückgeblieben. Ein Freier hat mir angeboten, für mich aufzukommen. Und wenn er mich mit dem Virus angesteckt hätte?» Sie lehnte ab, lebte von dem wenigen Ersparten, merkte spät, dass auch

«Solidarität ist hier wichtig» Seit dem 4. Juli ist die Menschenschlange an der Langstrasse Geschichte. Die Aktion war nie für längere Zeit geplant, der Ort war zu exponiert. Ladenbesitzer*innen in der Nähe ärgerten sich, es kam zu unangenehmen Szenen mit Gaffer*innen, auf der anderen Strassenseite machten Männer sexistische Witze. Das Aufeinandertreffen der Partygänger*innen mit den Bedürftigen nahm surreale Züge an. Sexarbeiter*innen, die bereits wieder anschafften, standen neben Kolleg*innen, die Gratis-Lebensmittel bezogen, junge Männer im Ausgangstenü machten sich über Kopftuchträgerinnen lustig. Dass es mehrere lange Schlangen von Bedürftigen in der Stadt gab, wussten selbst viele Zürcher*innen nicht, denn es gab auch solche, die etwas versteckter waren. Am Zürcher Sihlquai, rund um die Autonome Schule ASZ, entlang einem Hinterhof und einem Szenen-Workspace namens «Hello World» bis fast an den Limmatplatz standen seit Mitte März ebenfalls Hunderte aus aller Welt für Nahrungsmittelpakete an. Amine Diare Conde, ein junger Geflüchteter aus Guinea, hat fast im Alleingang die Aktion «Essen für Alle» gegründet. Er hatte auf seiner langen Flucht immer wieder Hunger gelitten und wollte nicht dabei zusehen, wie Kinder hungrig sind. Kinder waren denn auch bei der Verteilaktion besonders häufig zugegen, und keines ging ohne Schokolade nach Hause. Diare Conde ist 22, er lebt seit fünf Jahren in der Schweiz, sein Asylgesuch wurde ab19


gelehnt. Erst sein Härtefallgesuch wurde dann vom Kanton bewilligt. Die Zustimmung des Bundes fehlt noch. Diare Conde ist gut integriert und spricht fast perfekt Deutsch. Als Freiwilliger hilft er in der Administration der Autonomen Schule und macht bei Musikprojekten mit. Er ist ein brillanter Organisator, hat schnell Spender*innen gefunden und mit Helfer*innen aus seinem Freundeskreis ein grosses Netzwerk aufgebaut. Er organisierte die Verteilung, sorgte für Sicherheitsabstände, nahm auch schon mal jemanden zur Seite, der hinten wieder neu angestanden war, und erklärte geduldig: «Solidarität ist hier wichtig.» In der Schlange am Sihlquai standen sehr viel mehr Papierlose, sie fühlten sich rund um die Autonome Schule sicherer als an der Langstrasse. Viele wissen seit Jahren, dass es hier keine Polizeikontrollen gibt. Auch viele der Helfer*innen sind selber ohne legalen Aufenthaltsstatus. Etwa Faysal* aus Marokko: Er lebt seit drei Jahren in Zürich, hat seine Aufenthaltsbewilligung wegen familiärer Auseinandersetzungen während der Trennung verloren. Da seine zwei Kinder hier wohnen, will er nicht nach Marokko zurück und hofft, dass die KESB ihm hilft. Die Schweiz hat kein Rückschaffungsabkommen mit Marokko; was das für ihn bedeutet, weiss er noch nicht. Wie für Amine Diare Conde ist auch für Faysal die Autonome Schule zu einem Stück Heimat geworden. Auch die Anlaufstelle für Sans-Papiers Zürich SPAZ, die selber rund eine halbe Million Franken gesammelt hat, um Nothilfe für Mieten, Krankenkassenprämien und Nahrungsgutscheine zu leisten, schickte Menschen, die gar nichts mehr hatten, an den Sihlquai.

sie habe jetzt lange genug bei ihnen gelebt, setzte sie sich kurzentschlossen in einen Fernbus nach Mailand. Unterdessen ist sie in San Remo angekommen, wo ihr Mann und Kind leben. Schweizer*innen waren seltener in der Schlange am Sihlquai, aber es gab sie. Gerda* kam jeden Samstag aus dem Zürcher Oberland mit einem alten Roller und ihrem kleinen Hund angesaust. Sie bezieht eine halbe IV-Rente und zeigte ihre verkrümmten Finger. «Ich kann nicht mehr im Service arbeiten. Aber beim Sozialamt bekomme ich nichts.» Auch kleinere Institutionen in der Stadt Zürich verteilten Essen, zum Beispiel das Kafi Klick, das Armutsbetroffenen Computer zur Verfügung stellt und beim

Umgang mit Behörden hilft. Kaum durfte das Klick nach der ersten Lockerungsphase wieder öffnen, standen die Menschen an für Hilfe aller Art. Die meisten von ihnen haben einen geregelten Aufenthaltsstatus, sind aber im Tieflohnbereich tätig. Viele von ihnen hatten schon am Anfang des Shutdowns ihre Jobs verloren, vor allem die aus der Reinigungsbranche. Die regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) hatten während der Krise dichtgemacht. Mohamed* aus Somalia wurde kurz nach dem Shutdown von einem Hotelbetrieb auf die Strasse gestellt, Yvette* aus Bolivien hatte mit einer Vollzeitstelle in einem Restaurant einst 2500 Franken pro Monat verdient, ehe sie diese wegen einer

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Im Shutdown auf die Strasse gestellt Nicht nur abgewiesene Asylbewerber*innen leben illegal in der Schweiz. Tanja* aus Zentralamerika wollte ihr Kind in Italien besuchen, das ihr der Vater seit zwei Jahren vorenthält. Weil sie dort niemanden kennt, reiste sie zuerst nach Zürich zu einer Freundin. Dann kam der Shutdown. Ihr Schengen-Visum war längst abgelaufen. Ihre Freundin hat alle ihre Putzjobs bis auf einen verloren und deren Schweizer Mann verdient wegen der Krise ebenfalls sehr wenig. Nun standen sie zusammen in der Schlange. Beraten vom SPAZ, schrieb Tanja zuerst E-Mails an verschiedene GratisRechtsberatungen in Italien. Als keine Antwort kam und der Mann der Freundin fand, 20

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Krankheit verlor, und von der 40-Prozent-Stelle als Putzkraft konnte sie schon vor Corona nicht leben. Weniger exponierte Orte Dass sie trotz der Schliessung der Ämter weiter Bewerbungen schreiben mussten, verstanden viele nicht. Wer noch ein wenig Erspartes hatte, hatte es schnell aufgebraucht. In normalen Zeiten kocht das Klick mittags immer eine Suppe für seine Besucher*innen – was nun aus hygienischen Gründen nicht mehr möglich war. Deshalb verteilte auch die Kafi-Klick-Crew Säcke mit Nahrungsmitteln. Zudem konnten sich alle Second-Hand-Kleider mit nach Hause nehmen. «Es kamen viel mehr

Wo kommen die Spenden her? Aktion «Essen für alle»: Sachspenden im Wert von rund

325 000

Franken

von Food Care und Grassrooted Barspenden von rund

250 000

Franken

Weitere Grossorganisationen spendeten ebenfalls mehre Tonnen Nahrungsmittel.

3 Dutzende von Tonnen Getränke und Essen für beide Verteilaktionen. 4 Langstrasse: für alle Bedürftigen je ein Sack im Wert von 50 Franken. 5 Für Schwester Ariane ist menschliche Zuwendung genauso wichtig wie Essen.

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Wo kommen die Spenden her? Bar-Sonderausgaben der Stadt Zürich während Corona: Essen für alle:

30 000 12 000 150 000

CHF

Incontro:

CHF

SPAZ:

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CHF

Leute als früher», sagt Fabio Welter, Co-Leiter des Klick. «Und das Essen war für alle genauso wichtig wie die Beratung. Aber auch IT-Support ist eine wichtige Überlebenshilfe.» Jedoch schlossen viele kleinere Institutionen, kaum waren sie nach der Krise geöffnet, ab Mitte Juli ferienhalber wieder, so auch das Kafi Klick. Als Anfang Juli an der Autonomen Schule der Unterricht wieder anfing, wurde klar, dass es langfristig keinen Platz geben würde für die Berge von Kartoffeln, Spaghetti, Konservendosen und Zahnpasta, die sich überall türmten, in der Garage, im Schulbüro und in allen Gängen. Auch begannen die Warteschlangen zu stören. Die Aktion «Essen für Alle» hat von Mitte März bis Ende Juni Nahrungsmittel im Wert von

weit über einer halben Million Franken verteilt. Der Bedarf bleibt bestehen. Amine Diare Conde wurde zudem klar, dass er nicht länger im Alleingang weitermachen kann. Er suchte und fand Hilfe bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber. Ihn hat vor allem deren Anfangsphase beeindruckt, in der Pfarrer Sieber und sein Team damals unbürokratisch und gleichzeitig speditiv im sogenannten Bunker beim Helvetiaplatz eine selbstverwaltete Gemeinschaft für Obdachlose gegründet hatte. So konnte er sich eine zukünftige Zusammenarbeit mit diesem Hilfswerk vorstellen. Die Essensverteilung am Sihlquai ist seit dem 12. Juli ebenfalls Geschichte. Die Sozialwerke Pfarrer Sieber fanden mit den SBB-Werkstätten sehr schnell einen neuen, etwas weniger Surprise 481/20


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6 Zürcher Sihlquai: Auch diese Aktion geht anderswo weiter. 7 Tanja, eine der Bedürftigen, ist durch Corona in die Illegalität gefallen. 8 Zürcher Sexarbeiterinnen nähen Masken und suchen ein Lokal für ein ständiges Atelier.

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exponierten Ort. Dort wird Diare Conde gemeinsam mit dem Hilfswerk für die Verteilung der Lebensmittel sorgen. Er hat ein System entwickelt, bei dem die Bedürftigen in Zukunft vorher Nummern für eine bestimmte Zeitspanne holen können, sodass ab sofort nur noch 150 Menschen pro Stunde anstehen müssen. Er rechnet weiterhin jeden Samstag mit mindestens 800 Personen. Vermehrt will er auch Aussenstationen mit Essen bedienen, damit die Menschen nicht so weit herreisen müssen. Schwester Ariane und ihr Team machen jetzt dezentralisiert weiter. Sie verteilten schon vor der Krise jeden Tag Nahrungsmittel und warme Mahlzeiten im Langstrassen-Quartier. Jetzt werden sie sich wieder – intensiver als vorher – auf diese Surprise 481/20

Tätigkeit beschränken und damit auch auf die menschlichen Kontakte, die ihnen genauso wichtig sind. Das bedeutet, dass weiterhin jeden Tag 200 bis 300 Menschen von Essensabgaben und Zuspruch profitieren werden. Zum Beispiel der krebskranke Senior Heinz*, der in seiner schwierigen Situation mehr noch als Essen ein offenes Ohr braucht. Vermehrt tauchen Menschen bei diesen Verteilaktionen auf, die wegen Wohnungs- oder Arbeitsplatzkündigung nicht mehr weiterwissen, hie und da will auch jemand mit Schwester Ariane beten. Ein Modelabel und Sprachkurse Viele langfristige Kontakte und Projekte sind aus der Langstrassenaktion hervorgegangen. So bot Dolores*, Sexarbeiterin aus

Brasilien mit spanischem Pass, Schwester Ariane an, Masken zu nähen, als sie ihren Salon schliessen musste. Langfristig möchte die 48-Jährige aus dem Sex-Geschäft aussteigen und ein Nähatelier eröffnen, mehrere Kolleginnen wollen es ihr gleichtun. Incontro sucht jetzt für etwa fünf Frauen ein Lokal, in dem sie mithilfe einer Designerin ein Modelabel entwickeln können. Am selben Ort möchte das Team eine feste Beratungsstelle einrichten und Sprachkurse anbieten, da es der Meinung ist, es gäbe ein ausgewiesenes Bedürfnis für mehr niederschwellige Angebote. Vor allem die Situation der Sexarbeiter*innen ist weiterhin prekär. Laut mehreren Quellen sind viele Frauen bereits Anfang Juli wieder aus Osteuropa zurückgekehrt. Die Freier sind zurück im Quartier, aber sie kämen nur auf ein Glas oder «zum Anschauen» vorbei, so die Frauen. Kurz: Das Geschäft läuft immer noch schlecht, was vermutlich auch an den Hygiene- und Abstandsregeln für das Sexgewerbe liegt. Insgesamt rund 14 000 Lebensmittelpakete hat die Aktion Incontro bis Ende Juni verteilt. Finanziert wurden die Ausgaben mit Spenden von rund 630 000 Franken, darunter viele Tonnen Sachspenden. Auch Stadt und Kanton Zürich leisteten Beiträge. Fast vier Monate lang war die Armut in Zürich für alle sichtbar. Nun sind die Schlangen von Bedürftigen wieder aus der Innenstadt verschwunden. Ab Mitte August werden auch die meisten kleineren Institutionen, die Essen abgeben, wieder geöffnet sein. Möglich, dass jetzt einige, die es nicht ganz so bitter nötig hatten, nicht mehr vom Gratisangebot Gebrauch machen werden. Doch die Krise ist für viele Armutsbetroffene nicht vorbei, vor allem für die vulnerablen Gruppen der Sexarbeiter*innen, der Sans-Papiers, der Obdachlosen und der Drogenabhängigen nicht. Wenn es den Behörden nicht gelingt, auch den Sozialhilfeberechtigten die Angst vor dem Amt zu nehmen, werden sie alle bei der nächsten Krise, vielleicht schon bei einer zweiten Welle, wieder in einer Schlange stehen. Nach der Sommerpause werden die Behörden diese Probleme an einem runden Tisch weiterdiskutieren. Die am stärksten vom Shutdown Betroffenen machen derweil keine Ferien. Schwester Ariane, Karl Wolf und ihr Team und Amine Diare Conde mit den Pfarrer-Sieber-Sozialwerken auch nicht. * persönliche Angaben geändert 23


Poetischer Reifeprozess Film Der Westschweizer Filmemacher Nathan Hofstetter macht im

Dokumentarfilm «Loulou» seine paranoide Schizophrenie zum Thema. Entstanden ist ein lebensbejahendes Selbstporträt.

BILD: BOXPRODUCTIONS

TEXT  MONIKA BETTSCHEN

«Ein Grossteil der Filme über Schizophrenie sind düstere Geschichten. Deshalb wollte ich als Filmemacher und Betroffener diesen Werken eine leuchtende Dokumentation gegenüberstellen», sagt der Westschweizer Regisseur Nathan Hofstetter über seinen ersten langen Dokumentarfilm «Loulou». Loulou ist ein liebevoller Begriff, der in Hofstetters Umfeld entstanden ist, um damit psychisch erkrankte Menschen zu bezeichnen. «Die meisten Leute denken, dass eine psychische Krankheit ein Handicap ist. Ich aber denke, dass sie auch eine Stärke ist – vorausgesetzt, es gelingt einem, die Krankheit zu verstehen, zu kanalisieren und die damit einhergehende Sensibilität gewissenhaft einzusetzen», sagt Hofstetter. Die Diagnose «paranoide Schizophrenie» traf den jungen Filmemacher 2011 während seines Bachelor-Studiums mit voller Härte. Er erlitt seine erste psychotische Dekompensation – so wird medizinisch der Augenblick bezeichnet, wenn der Körper unterschwellige Symptome nicht mehr ausgleichen kann und sie offen zutage treten. Darauf folgte ein Jahr der Depression. «Ich hatte keine Lust mehr auf gar nichts, keine Hoffnung und keine Freude», erinnert er sich. «Trotzdem, selbst nach meiner inzwischen vierten Dekompensation kann ich sagen, dass ich die Welt noch nie so hell und optimistisch gesehen habe.» Dies zeige sich in der Art, wie er als Filmemacher zum Beispiel die Aura eines Gegenübers wahrnehme, wie er spüre, wenn sich ein Blick, ein Austausch, ein Lächeln ankündige. Das Kino gibt ihm die Möglichkeit, solche Momente mit dem Publikum zu teilen, und «Loulou» ist voll solcher Momente. Und der Film liefert die Antwort darauf, warum es Hofstetter heute wieder besser geht: dank den Menschen, die während der letzten Jahre an seiner Seite waren, Familie, Freunde, die damalige Freundin. Feinste Regungen im Antlitz seiner Liebsten oder in seinem eigenen Gesicht erzählen von Phasen, in denen sich die Welt verdüsterte, um danach aber auch wieder aufzublühen. Ein poetischer Rei24

feprozess, in dessen Verlauf sich Nathan Hofstetter zu einem sensiblen jungen Mann mit eigenen Zielen entfaltet, anstatt verrückt zu werden. «Loulou» ist Nathan Hofstetters drittes Werk, in dem er sich mit seiner Erkrankung auseinandersetzt. Die Kurzdokumentation «Radio-Actif» aus dem Jahr 2012 war sein Diplomfilm an der Kunsthochschule ECAL in Lausanne. Der Film gewann am Filmfestival Locarno den Goldenen Leoparden in der Sparte «Bester Schweizer Kurzfilm» und erzählt von den Anfängen seiner Erkrankung. Die kurze Dokumentation «Lui, Hitler et moi» ein Jahr später zeigt, wie er sich in einer Klinik mit einem anderen Patienten anfreundet. In «Loulou» geht Hofstetter noch einen Schritt weiter, filmt sich selbst und sein privates Umfeld und präsentiert das Filmmaterial aus der über fünf Jahre langen Drehzeit in einer Reihenfolge, die an den Rhythmus eines Gedichtes erinnert. Stimmungen werden ungefiltert gezeigt, und eine zarte Bildsprache sorgt dafür, dass die Atmosphäre dabei zu keinem Zeitpunkt von klinischer Härte gestört wird. Wenn sein bester Freund Manuel beschreibt, wie ihn eine bipolare Störung daran hindert, Ideen zu Ende zu denken, leiht Hofstetter den Betrachter*innen seinen eigenen liebevollen Blick auf sein Umfeld. Das erzeugt eine Intimität, mit der der Filmemacher beabsichtigt, psychische Erkrankungen zu enttabuisieren. «Es geht darum, Unterschiede zu akzeptieren, damit meine ‹Loulous› nicht mehr im Stillen leiden müssen und ihre eigenen Stärken entdecken können.» Seine Krankheit wird Hofstetters Schaffen auch in Zukunft prägen. «Diese Krankheit ist mein Motor. Ich bin der rote Faden meiner Filme, deshalb kann ich der Person, die ich bin, nicht entkommen.» Nathan Hofstetter: «Loulou» Dokumentarfilm, 70 Minuten, Schweiz, 2019, Ab 6. August in den Deutschschweizer Kinos. Surprise 481/20


Worte im Freien

Lebensendaufgabe

Literatur Das Festival «lauschig», macht Lesun-

Buch In «Ausleben» erzählen Hochbetagte von ihrem Umgang mit dem eigenen Tod, ihren Gedanken, Ängsten und Hoffnungen.

gen in Gartenatmosphäre an. Corona-bedingt ist die aktuelle Ausgabe etwas entschlackt. Der Charme versteckter Gärten und Innenhöfe, Vogelgezwitscher inklusive, ist das Gegenstück zur klassischen Lesung bei einem Glas stillem Wasser. Worte und Orte standen seit Beginn im Zentrum der 2015 ins Leben gerufenen Winterthurer Literatur- und SpokenWord-Reihe «lauschig». Mit einem vielseitigen Programm und der bewussten Förderung von jungen Autor*innen setzt sich «lauschig» unter der Leitung der Initiantin Ramona Früh zum Ziel, ein breites Publikum für das literarische Schaffen in der Schweiz zu begeistern. In der derzeitigen Krise hat sich die bereits bestehende, finanziell oft prekäre Situation der hiesigen Literaturszene noch verschärft. Keine Lesungen, keine Auftritte. Und somit: keine Tournee-Einnahmen und weniger Buchverkäufe. Das bereits geplante dichte Programm musste teils auf das nächste Jahr verschoben werden. Nun ist aber eine Mini-Saison angesetzt: mit jeweils halbstündigen und pro Abend doppelt oder nacheinander durchgeführten Kurz-Lesungen. Wie breit das Spektrum der Schweizer Literaturlandschaft ist, lässt sich an den Programmpunkten ablesen: Der Berner Ex-Journalist Tom Kummer, der mit teils erfundenen Reportagen zum Medienskandal wurde, präsentiert als Romanautor sein neustes Buch «Von schlechten Eltern». Darin nimmt er uns mit auf eine Annäherungsreise hin zur grossen Unbekannten des Lebens – dem Tod. Stefanie Grob, Spoken-Word-Poetin und angeblich schnellste Bernerin der Welt (man kennt sie auch aus ihrer SRF-Radiokolumne «Zyt­lupe») liest aus ihrem Zweitling «Budäässä» (Firmenanlässe), in welchem sie sprachwandlerisch zwischen naturnah und urban, dem Kleinen und dem Grossen, der Weltwirtschaft und der Gartenbeiz hin und her pendelt. Und passend zum Titel ihres Romans «Ich komme mit» geht’s zu Fuss und mit Wort im Ohr (via Kopfhörer) auf eine dreistündige Wanderung mit der 1940 geborenen Autorin Angelika Waldis. Die ehemalige Mitherausgeberin des wegweisenden Schülermagazins «Spick» und literarische Spätzünderin erzählt darin von einer ungewöhnlichen, lustigen und seltsam innigen Freundschaft zwischen einer Witwe und ihrem SARAH MÜHLEBACH jungen Nachbarn.

Es ist ein vielschichtiger Titel, den Mena Kost (Text) und Annette Boutellier (Fotos) für ihr Buch über die Auseinandersetzung mit dem Tod gewählt haben: «Ausleben». Da klingt manches an, von Abschied und Loslassen bis zum bewussten Auskosten der verbleibenden Lebenszeit. In jedem Fall aber geht es unausweichlich zu Ende, und je älter ein Mensch, desto näher rückt der letzte Augenblick. Dabei «in Würde zu altern und schliesslich zu sterben», so Mena Kost, «ist eine Lebensendaufgabe» – und etwas «sehr Persönliches». Über das Sterben und den eigenen Tod zu reden, fällt vielen allerdings nicht leicht. Nicht zuletzt auch, weil der Tod tabuisiert wurde, das Sterben in unserer Gesellschaft zur Privatsache geworden ist, die möglichst diskret verwaltet wird. Dabei täte das Reden über den Tod gut, stellt die Autorin fest, weil er dadurch wieder zu etwas wird, was als Gemeinsames vielleicht leichter akzeptiert werden kann. In ihrem Buch erzählen hochbetagte Menschen zwischen 83 und 111 vom Umgang mit dem eigenen Tod, von ihren Gedanken, Ängsten und Hoffnungen. Dafür wurden bewusst nur alte und keine jungen, todkranken Menschen ausgewählt. Es geht um den Tod, der anklopft, weil es nun einmal Zeit dafür ist. Das also, was sich die meisten nach einem langen Leben wünschen. Es sind berührende Porträts und eindrückliche Fotos von sehr unterschiedlichen Menschen: vom ehemaligen Verdingbuben bis zur ersten Bundesrichterin, von der einfachen Bergbäuerin bis zum Nobelpreisträger, von der Hebamme bis zum Mönch oder vom pensionierten Pöstler bis zur gefragten Schauspielerin. Nicht wenige der Interviewten sind verwitwet und der Schmerz über diesen Verlust Teil ihres Lebensabends. So wie die zunehmenden körperlichen und mitunter auch geistigen Einschränkungen, die den Lebenskreis enger werden lassen. Dennoch findet sich auch viel Lebensfreude in diesen Porträts, Humor und ermutigende Gelassenheit. Trost und Kraft schöpfen die Interviewten aus schönen Erinnerungen, aus Spiritualität und Glauben oder, wie der Nobelpreisträger, aus einer wissenschaftlichen Variante der Auferstehung, in der das Leben durch die Weitergabe von Atomen fortbesteht. Davon zu lesen, ist wohltuend und eine wertvolle Anregung, sich selber mit dem auseinanderzusetzen, was uns bei aller Verschiedenheit verbindet. Verschiebt man dies auf später, kann es plötzlich zu spät dafür sein.

«lauschig – Worte im Freien», Literatur- und Spoken-Word-Reihe, August und September, verschiedene Gärten und Höfe in Winterthur; Literaturwanderung mit Angelika Waldis am So, 6. September, 11 bis 14 Uhr. lauschig.ch Surprise 481/20

FOTO: ZVG

CHRISTOPHER ZIMMER

Mena Kost, Annette Boutellier: Ausleben. Gedanken an den Tod verschiebt man gerne auf später. Christoph Merian Verlag, 2020, CHF 29.00

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BILD(1): DANIEL SPEHR, BILD(2): SCHWEIZERISCHES SOZIALARCHIV  /  GETRUD VOGLER, 1988, BILD(3): LISA SCHAEUBLIN, BILD(4): CHRISTIAN HELMLE, BILD(5): SEBASTIAN STADLER

Veranstaltungen Basel «Pedro Reyes. Return to Sender», bis So, 15. November, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 2. tinguely.ch

Der Mexikaner Pedro Reyes ist ein Weltverbesserer im schönsten Sinne. Der 48-Jährige ist ursprünglich Architekt (und gerade Städtebau hat viel mit sozialen Strukturen und daher auch mit einem nötigen Verständnis dafür zu tun) und hat eine dezidiert politische Haltung: radikal humanistisch bis marxistisch. Reyes arbeitet mit Mitteln der Architektur und Skulptur, mit Video, Performance und Partizipation, um die kollektive und individuelle Handlungsmacht in politischen, sozialen und ökologischen Situationen zu fördern. 2008 startete er mit den örtlichen Behörden im mexikanischen Culiacán eine Kampagne, um die Bewohner*innen dazu zu bringen, ihre Waffen abzugeben: Im Gegenzug erhielten sie dafür Haushaltsgeräte oder Elektronikprodukte. Auf diese Art wurden Waffen gesammelt, eingeschmolzen und zu 1527 Spaten gegossen, mit denen ebenso viele Bäume gepflanzt wurden. Später hat Reyes mit «Disarm» im Drogenkrieg konfiszierte Waffen in Musikinstrumente umgewandelt. Auch das Tinguely-Museum zeigt Klangkörper, die unangenehme Wahrheiten in sich tragen. DIF

Zürich «Drogenparcours – Auf der Suche nach dem ‹Stoff›», digitaler Parcours, bis Mi, 30. September, App Store und Platzspitz. drogenparcours.ch

«Öffentliche Geschichtsvermittlung und Geschichtsdidaktik» an der Universität Fribourg und der Pädagogischen Hochschule Luzern realisiert. Der Drogenparcours wird von «Einfach Zürich», einem Netzwerkprojekt zur Vermittlung von Zürcher Kulturgeschichte, angeboten. Zusätzlich finden am Donnerstag, 13. August, und Donnerstag, 24. September, je 18 bis 19 Uhr, dialogische Expert*innenführungen und Gespräche mit Zeitzeug*innen über den Platzspitz statt. DIF

Der Parcours, der aufs Handy geladen werden kann, führt vor Ort auf dem Platzspitz in die Drogenvergangenheit von Zürich in den 1980er- und 90er-Jahren. Die Besucher*innen werden mittels Informationsvideos und kleinen Porträts durch den Park geführt. Das mag sich im ersten Moment nach Infotainment mit Gamingcharakter anhören, doch Vera Baumann hat den Parcours als Teil ihrer Masterarbeit im Studiengang

Bern «Weltuntergang – Ende ohne Ende», Sonderausstellung, bis 2022, Mo 14 bis 17 Uhr, Di bis Fr 9 bis 17 Uhr, Mi bis 18 Uhr, Sa/So 10 bis 17 Uhr, Naturhistorisches Museum, Bernastrasse 15. nmbe.ch Christoph Beer, Direktor des Naturhistorischen Museums Bern, sieht Parallelen zwischen der Co-

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rona-Pandemie und dem Weltuntergang. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass der Mensch aufgrund einer Pandemie ganz von der Bildfläche der Erde verschwinden könnte. Heitere Aussichten. Die wiedereröffnete Sonderausstellung «Weltuntergang – Ende ohne Ende» kümmert sich aber auch um fröhlichere Aspekte: Denn der Untergang beflügelt die Fantasie und ist in Prophezeiungen, in den Religionen und den Medien omnipräsent. Weltuntergangsfilme treffen in Bern auf eine Ton-Montage aus Endzeittexten, das Jüngste Gericht auf die Johannes-Apokalypse. Auch wird hier – so ein Unterthema – «das fröhliche Leben» gefeiert, und zwar mit der These: Die ständige Bedrohung sorgt nicht nur für Ängste, sie befördert auch Trotz, Verdrängung und Kreativität. Die NASA lanciert bereits Architekturwettbewerbe für Mars-Habitate. Die Aussicht auf die Apokalypse generiert Ideen wie Luxusbunker und andere praktische Utensilien, die sich (vor allem in den USA) die Prepper*innen – diese Spezies selbsternannter Endzeitflüchtlinge – gerne kaufen. DIF

Thun «Johannes Itten & Thun. Natur im Mittelpunkt», Ausstellung, 8. August bis 22. November, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Thunerhof, Hofstettenstr. 14. www.kunstmuseumthun.ch Was hat der Thunersee mit Bauhaus zu tun? Nun, der Schweizer Künstler Johannes Itten war eine der zentralen Figuren an Walter Gropius’ Weimarer Bauhaus und von der hiesigen Landschaftserfahrung geprägt. Aus ihr entwickelte er seinen Kunstbegriff weiter – bis hinein in die Abstraktion. «Entmaterialisation» nannte Itten das Bestreben, die subjektiv erlebte Natur in eine Kunstform zu bringen, die von objektiven Gesetzmässigkeiten bestimmt wird. Die Darstellung der Natur konnte so zur kontemplativen Baumstudie oder

aber ganz zur Abstraktion werden. Auch mittels ostasiatischer Kalligrafie und Tuschemalerei schuf Itten Landschafts-, Pflanzen- und figürliche Darstellungen in unterschiedlichen Abstraktionsstufen. Die Ausstellung in Thun hat ein Begleitprogramm mit Wanderungen, Tanz-Performances, Yoga und Atmungsübungen. Das hört sich fast nach Kunstunterricht der Zwanzigerjahre an. DIF

St. Gallen «another long evening», Ausstellungsprojekt des Kunstvereins St. Gallen, bis Mo, 31. August. another-long-evening.ch Kunstschaffende zeigen mitten in der Stadt Kunstwerke, die kürzlich – nämlich zu Zeiten des Corona-Lockdowns – entstanden sind. In den Schaufenstern der Altstadtgassen und der umliegenden Stras­ sen werden Skulpturen, Gemälde, fotografische und Videoarbeiten gezeigt. Gemeinsam Kunst zu erleben, ist gegenwärtig nur bedingt möglich, kulturelle Anlässe sind eingeschränkter und rarer als gewohnt. Die Zukunft ist kurzatmiger, das Schaffen einsamer geworden, aber reflektierend ist es geblieben. Die Absicht des Kunstvereins St. Gallen ist es, den Arbeiten, die in der Abkapselung entstanden sind, wieder eine Öffentlichkeit zu geben. Die Kunstwerke stehen für die unmittelbare Beschäftigung mit wiedergewonnener Freiheit und Zeit, aber auch für eine kritische Auseinandersetzung mit neuen Wirklichkeiten. DIF

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ten wird, auch wenn es keine urchige Dorfbeiz in einem Riegelhaus ist, sondern ein Café in einem modernen Betonbau, der sich in das Ensemble der den Platz umgebenden Gebäude fügt. Die Benutzung des WCs kostet für Nicht-Konsument*innen zwei Franken. Auf dem Beton klebt ein Hinweis, dass es sich um Privatgrund handelt, er videoüberwacht wird, aber nur bei geschlossenem Betrieb. Ob hier nächtens mehr los ist, mehr Leute sich auf dieser Terrasse tummeln als an diesem äusserst ruhigen Mittag Anfang Sommer? Es sind trotz Mittagszeit und Aussenbereich nur wenige Gäste da, während am Morgen, so erzählt die Bedienung einem Gast, Hochbetrieb herrschte, ein einziges Gerenne.

Tour de Suisse

Pörtner in Bassersdorf Surprise-Standort: Migros Einwohner*innen: 11 832 Sozialhilfequote in Prozent: 1,9 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 24,9 Kultur: Bassersdorf hat die grösste Fasnacht im Zürcher Unterland.

Wer vom Flughafen her auf der Mittellandroute mit dem Velo nach Bassersdorf fährt, erlebt eine Zweiteilung des Gesichtsfeldes. Rechts ein lauschiger Kanal, dahinter Wiesen, Felder, Wald, hin und wieder ein Bauernhof. Auf der linken Seite Zäune und dahinter grosse Industriebauten, moderne Bürogebäude, staubige Werkhöfe. Hier die Idylle, dort die Unternehmen, deren Namen kaum vertraut sind, die irgendwie und erfolgreich dazu beitragen, dass alles läuft, wie es läuft. Auf dem Weg zum Zentrum überwiegt die Idylle, es tauchen Wohnbauten aus dem letzten Jahrhundert auf. Die Grossverteiler flankieren den gros­sen, leeren Dorfplatz, über den sich rote Linien ziehen, vielleicht findet hier ab und zu ein Markt statt. Es gibt genug Sitzgelegenheiten, aber zu wenig Schatten. Surprise 481/20

Im Café berichten die Gäste von der ins Wasser gefallenen Reise nach Barcelona, die am folgenden Tag hätte angetreten werden sollen. Doch es lässt sich auch hier ein gepflegtes Mittagsbier trinken. Natürlich ist dieser Platz nicht zu vergleichen mit der Rambla in Barcelona, das Publikumsaufkommen ist allzu deutlich geringer. Obwohl zurzeit vielleicht auch auf der Rambla nicht mehr los ist, mangels Tourist*innen, deren Zahl in den letzten dreissig Jahren von jährlich 1,7 Millionen auf 30 Millionen gestiegen ist. Vielleicht sind sie ganz froh, die Bewohner*innen von Barcelona, sich für einmal zu fühlen wie die Bewohner*innen von Bassersdorf, dessen Tourismusindustrie überschaubar ist. Im Lokal am Platz ist das Menü, das draussen auf einer Stelltafel angeschrieben ist, die einzige Speise, die angebo-

An den Schattenplätzen verpflegen sich vor allem Jugendliche. Es wirkt fast, als wüsste man hier nichts von der Lockerung der Lockdown-Regeln. Möglich auch, dass die Konkurrenz der im Nachbardorf angesiedelten Superund Hypermärkte zu gross ist und sich hierher nur die Velofahrer*innen und Fussgänger*innen verirren. Für diese Theorie spricht, dass es vor allem Jugendliche und Alte sind, die den Platz überqueren. Alle anderen sind bei der Arbeit und verpflegen sich anderswo, in den Kantinen und Beizen der Umgebung, in den Fastfoodlokalen und Möbelhausrestaurants. Der Platz ist auf einmal ganz verwaist, ein Hauch von High Noon liegt in der heissen Luft. Da kommt auch schon der Sheriff beziehungsweise Dorfpolizist. Eine Glocke schlägt, doch am anderen Ende des Platzes tauchen keine Bandit*innen auf. So kauft er sich eben ein Sandwich und verschwindet wieder.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

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Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

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Eine von vielen Geschichten 01 Beat Hübscher, Schreiner, Zürich 02 Dietke Becker, Physiomovimento, Männedorf 03 Stefan Westermann Immo DL, Lützelflüh 04 Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern 05 Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti 06 Gemeinnütziger Frauenverein Nidau 07 Sublevaris GmbH, Birsfelden 08 Brother (Schweiz) AG, Dättwil 09 Senn Chemicals AG, Dielsdorf 10 Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur 11

Scherrer & Partner GmbH, Basel

12 TopPharm Apotheke Paradeplatz 13 Coop Genossenschaft, Basel 14 Gemeinnützige Frauen Aarau 15 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 16 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

Merima Menur kam vor drei Jahren zu Surprise – durch ihren Mann Negussie Weldai, der bereits in der Regionalstelle Bern arbeitete. Zuvor lebten sie fünf Jahre getrennt – er in der Schweiz, sie in Äthiopien. Einige Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz begann Merima auch mit dem Verkauf des Surprise Strassenmagazins und besuchte einen Deutsch-Kurs, mit dem Ziel selbständiger zu werden und eine Anstellung zu finden. Dank Surplus besitzt Merima ein Libero-Abo für die Stadt Bern und kann somit leichter an ihren Verkaufsort reisen. Surplus gibt der 36-Jährigen ausserdem die Möglichkeit, sich einige bezahlte Ferientage zu gönnen.

17 Yogaloft, Rapperswil

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18 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 19 Zubi Carosserie, Allschwil 20 Kaiser Software GmbH, Bern 21 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 22 RLC Architekten AG, Winterthur 23 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 24 Neue Schule für Gestaltung, Bern 25 SpringSteps GmbH, Bülach Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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Wir alle sind Surprise #Strassenmagazin

#479: Literaturausgabe 1

«Sehr bestürzt»

«Glücklich»

Surprise zu kaufen, gehört zu den besonderen Momenten meines Lebens. Erstens hinterlässt es ein gutes Gefühl, weil ich damit einen kleinen Beitrag zu Ihrer wertvollen Organisation beisteuern kann, und zweitens überrascht mich der Inhalt immer wieder von Neuem mit wunderba­ ren Artikeln. Ganz besonders hat es mir die jüngste Ausgabe zum Editorial «Sichtbar» mit den verschiedenen Autor*innen mit ihren Geschichten, angetan. Ein Hoch­ genuss. Im Speziellen Sunil Mann mit «Camper» und natür­ lich Ralf Schlatter mit «Das Plädoyer». Ich mag auch die verschiedenen Zeitungsverkäufer*innen besonders gerne. Sie sind freundlich und man kommt mit ihnen rasch ins Gespräch. Kein oberflächliches, übrigens. Es sind Men­schen, die mich mit ihrer Art und ihrem Dasein beein­ drucken und berühren. Die unbegreifliche und grausame Tat am Bahnhof Zürich-Oerlikon hat mich darum sehr bestürzt. Ich wünsche der betroffenen Person, dass sie sich psychisch und physisch von diesem Schock erholen kann.

Ich bedanke mich sehr für Ihre journalistische Arbeit und Ihr Engagement für Mitmenschen. Ich bin glücklich, dass ich das Heft wieder kaufen kann (in Rapperswil, bei Herrn Urs Habegger).

K. NIMANAIJ,  Oberhallau SH

L . GEIGER, ohne Ort

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Surprise 481/20

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Marc Bachmann, Sarah Mühlebach, Marianne Pletscher, Tobias Urech, Hans Rhyner, Dimitri Grünig Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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K. WAEHRER, Pfäffikon ZH

#478: Apotheken statt Wullelädeli

«Erfreut und beeindruckt» Karin Pacozzis Kolumne hat mich sehr gefesselt, berührt und interessiert. Frau Pacozzi darf sehr stolz auf ihren Weg und ihre Stärke sein. Ihre Erkenntnis, dass «etwas zu tun» sehr helfen kann, ist auch meine Überzeugung und Erfahrung. Ich bin Handarbeits- und Werklehrerin (heute nennt sich das TTG-Lehrper­ son), und in meiner langjährigen Tätigkeit habe ich genau dieselbe Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen gemacht wie sie. Deshalb bin ich so erfreut und beeindruckt von ihren Worten.

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 481/20

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Ich habe überlebt» «Als ich Ende 2008 in die Schweiz kam, wurde mir schon bald klar: Hier kannst du in Sicherheit leben, hier wirst du nicht ständig überwacht und musst dich nicht immer dafür rechtfertigen, was du denkst und tust. Das war in Eritrea, wo ich geboren bin, ganz anders, denn dort regiert ein Diktator. Ich konnte zwar zur Schule gehen und habe in Asmara, der Hauptstadt Eritreas, sogar eine richtig gute Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht. Doch was kommt danach? Als junger Mann musst du ins Militär, und niemand sagt dir, für wie lange. Vielleicht für zwei Jahre, vielleicht für zehn, vielleicht aber auch dein Leben lang. Wie die meisten aus meiner Generation bin ich deshalb geflohen. Erst nach Äthiopien, dann in den Sudan und von dort durch die Sahara nach Libyen. Dort sass ich fast zwei Jahre lang fest, es war eine schlimme Zeit. Zum Glück habe ich in Libyen meine jetzige Frau getroffen. Eigentlich haben wir uns schon ein wenig gekannt, denn sie stammt aus demselben Dorf wie ich. Wir flohen dann getrennt mit dem Boot übers Mittelmeer, haben uns aber in Italien wieder getroffen, dort geheiratet und sind weiter in die Schweiz gereist. In Basel angekommen, beantragten wir Asyl und fanden schon kurz darauf eine Wohnung. Ich wollte mir direkt eine Arbeit suchen, und so habe ich mich als Pfleger für ein Praktikum in einem Alterszentrum in Binningen beworben. Das war 2011. Anfangs war das alles sehr hart, schon wegen der Sprache. Also besuchte ich an den Abenden einen Deutschkurs. Später habe ich, ebenfalls neben der Arbeit im Alterszentrum, beim Schweizerischen Roten Kreuz SRK eine Zusatzausbildung zum Pflegehelfer absolviert. Danach wollte ich eine feste Anstellung, doch der Chef meinte, es sei keine Stelle frei. Kaum war ich weg, beschwerten sich die Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen des Altersheims bei ihm. Er rief mich daraufhin an und stellte mich doch noch ein. Dort blieb ich bis 2016, dann wechselte ich in ein anderes Altersheim und begann berufsbegleitend die Ausbildung zum Fachmann Gesundheit, die ich diesen Juni erfolgreich abgeschlossen habe. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Ich bin froh, hier in der Schweiz zu sein, gerade auch für meine drei Kinder – die Töchter sind zehn und acht Jahre alt, der Sohn ist zwei. Ich wünsche mir, dass sie behütet aufwachsen und eine Ausbildung machen können. Natürlich ist das Leben in der Schweiz nicht günstig. Um zusätzlich etwas Geld zu verdienen, verkaufe ich Surprise. Das mache ich schon seit 2009. Doch es geht nicht nur um den Verdienst, genauso wichtig sind mir die sozialen Kontakte. Durch den Heftverkauf lerne ich viele Menschen kennen, sie erzählen mir von ihrem Leben und ich erzähle ihnen aus meinem. Auch die 30

Zeru Fesseha, 38, lebt schon seit zwölf Jahren in der Schweiz und schätzt noch immer die Sicherheit in diesem Land. In Eritrea, sagt er, wäre das ganz anders.

Leute von Surprise haben mir schon oft geholfen, gerade am Anfang, als ich noch Mühe mit der Sprache und all den Formularen hatte. Damals sang ich im Surprise Strassenchor mit, wozu mir heute leider die Zeit fehlt. Natürlich vermisse ich meine Heimat. Ganz besonders fehlt mir die Familie, meine Geschwister und meine Mutter. Vor einigen Jahren ist mein Vater verstorben, und ich konnte nicht an seinem Begräbnis teilnehmen, denn ich darf ja nicht nach Eritrea zurück. Das war hart. Meine Mutter ist inzwischen eine alte Frau, und manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich daheim geblieben wäre. Doch dann wäre ich jetzt vielleicht immer noch im Militär oder sogar tot. Ich habe in meinem Leben gelernt, dass du zuerst zu dir selbst schauen musst – erst dann kannst du dich um die anderen kümmern.»

Aufgezeichnet von KL AUS PETRUS Surprise 481/20


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Lösungen für Teilauflage Basel und Bern:

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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kundinnen und Kunden Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank den gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand. Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise-Verkäuferinnen und -Verkäufer. 32

Die Heft- und Geldübergabe erfolgt via Kessel.

Zahlen Sie möglichst passend in den Kessel.

Nehmen Sie das Heft bitte selber aus dem Kessel.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo Surprise 481/20


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