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Als die Armut sichtbar wurde Corona-Krise Die Pandemie verstärkte in allen Bereichen Probleme, die meist schon vorher vorhanden
waren. In der Stadt Zürich zeigte sich, wie viele Menschen in prekären Verhältnissen leben. TEXT MARIANNE PLETSCHER FOTOS MARC BACHMANN
Ab Mitte März 2020 standen jeden Samstag Hunderte mit müden Gesichtern in einer endlosen Menschenschlange an der Zürcher Langstrasse. Dort wurden warme Mahlzeiten und Säcke mit Grundnahrungs- und Hygieneartikeln im Wert von rund fünfzig Franken verteilt. Organisiert hatte diese Aktion die Theologin Schwester Ariane Stöcklin. Als Gassenarbeiterin war sie seit Jahren in der Stadt unterwegs ge18
wesen. Sie wusste, dass die Corona-Krise längst vorhandene Probleme massiv vergrösserte. Innert kürzester Zeit organisierte sie Lebensmittel-Abgaben mit einem Team von Helfer*innen, darunter Pfarrer Karl Wolf von der katholischen Kirche Küsnacht und der Verein Incontro. Schwester Ariane ist ein Organisationstalent. Sie delegiert, erklärt, regt an. Tonnen von Waren wurden in einem Lo-
kal angeliefert, das die Stadt Zürich zur Verfügung stellte. Freiwillige fuhren Lastwagen, halfen bei der Verteilung. Schwester Arianes Motivation ist eine sehr persönliche: Ihr Bruder lebte während fünf Jahren auf der Gasse. Lange wusste sie nicht, ob er noch am Leben war. Diese Zeit hat sie zutiefst geprägt. Die Berufung entstehe aus der Biografie, sagt sie, sie könne sich nichts anderes als Gassenarbeit mehr Surprise 481/20