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Strassenmagazin Nr. 483 4. bis 17. September 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Sans-Papiers

Im Verborgenen Sie leben und arbeiten zu Tausenden in der Schweiz. Die Angst, entdeckt zu werden, ist ihre ständige Begleiterin. Seite 8


BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola Les Gareçons to go | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite IN BERN Äss-Bar | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena Brasserie Lorraine | Restaurant Dreigänger | CaféBar Berner Generationenhaus Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule | Rösterei | Treffpunkt Azzurro Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar Treffpunkt Perron bleu IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LUZERN Jazzkantine zum Graben Meyer Kulturbeiz | Blend Teehaus | Bistro Quai4 | Quai4-Markt, Baselstrasse & Alpenquai | Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN OLTEN Bioland Olten IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione IN ZUG Podium 41 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | Quartiertreff Enge Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 Sport Bar Cafeteria

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: ISABEL ALBERTOS

Editorial

Sichtbar unsichtbar Immer auf der Hut sein, immer darauf achten, dass man nicht auffällt, dass man keine Normen verletzt, dass man sich anpasst in der Art, wie man sich kleidet, wie man geht, wie man redet und am Ende wohl auch: Wie man denkt und fühlt. Wie das wohl sein muss? Geschätzte 100 000 Menschen leben ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, ­vielleicht sind es noch viel mehr, man weiss es nicht genau. Die Angst, entdeckt und ausgeschafft zu werden, ist ein ständiger Begleiter der Sans-Papiers. Sie nehmen dieses Leben im Verborgenen auf sich, denn oft haben sie keine Wahl. Fast alle kommen sie wegen der Arbeit. Einer Arbeit, die es für sie zuhause nicht gibt und die die meisten von uns nicht verrichten wollen. Viele Sans-Papiers sind in Billiglohnsek­ toren tätig, sie lassen sich zum Beispiel in Privathaushalten anstellen, wo sie putzen, einkaufen, die Kinder betreuen, den Hund Gassi führen – alles ohne Arbeitsvertrag und ohne Grundlohn.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Das letzte Glied der Kette 6 Verkäufer*innenkolumne

Über den Ozean 7 Moumouni …

... versucht Ferien in Uri

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8 Sans-Papiers

Ein fast normales Leben 14 Wissenschaft

Ansteckende ­Geschichten 16 Bergkarabach

Leben in einem ewigen Konflikt

Unser Reporter Simon Jäggi hat eine von ihnen getroffen. Seit nunmehr zehn Jahren lebt die gebürtige Mongolin Tuya in der Schweiz. Eine lange Zeit – und doch ist sie immer noch ganz und gar abhängig: von Menschen, bei denen sie wohnen darf, die ihr Arbeit geben, die ihr Erspartes auf­ bewahren, mit denen sie sich sozial austauschen kann, ohne sogleich Gefahr zu laufen, dass sie bei der Polizei angezeigt wird. Und das alles, weil sie über keine gültigen Papiere verfügt. Gäbe es Möglichkeiten, diesen Menschen ein Leben in stabilen Verhältnissen, in ­jedem Fall aber eines in Würde zu garan­ tieren? Ja, die gibt es. Und sie wären auch in der Schweiz machbar. Doch lesen Sie selbst, ab Seite 8.

KL AUS PETRUS

Redaktor

24 Literatur

Hyäne 24 Film

Corpus Christi 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Greifensee

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Arbeit ist für mich die beste Schule»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Schmusen fürs Leben gern: Jamie und ihre Katze Jazzy.

Beschützt Lauren in heiklen Momenten: Tippy, der Diensthund.

Als Jay Jay klein war, passte sie fast in Shastas Hand.

Häufig sind sie die wichtigsten Begleiter im Leben von Menschen, die keine feste Bleibe haben oder auf der Strasse leben müssen: Hunde, Katzen, manchmal auch eine Ratte. Obdachlosigkeit bedeutet häufig soziale Vereinsamung, und die Corona-Krise hat die Situation für die Betroffenen auch in dieser Hinsicht noch schlimmer gemacht. Da bieten ihnen ihre «Haustiere» oft den einzigen Trost. Kathy Martin, eine Fotografin aus Oklahoma, hat einige der Obdachlosen mit ihren Tieren fotografiert – und staunte nicht schlecht darüber, wie gut umsorgt sie sind. «Würden sich alle Menschen so um ihre Tiere kümmern wie die Obdachlosen, dann gäbe es keine Tierheime.»

THE CURBSIDE CHRONICLE, OKLAHOMA CITY

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FOTOS: KATHY MARTIN

Beste Freunde


Die wachsende Wohnungsmarktkrise und die restriktive Politik der Regierung machen Ungarns Hauptstadt Budapest zu einem gefährlichen Pflaster für Obdachlose. Die Organisation «Stadt für alle», die auch von der deutschen Caritas unterstützt wird, hat jetzt detailliert nachgewiesen, dass Obdachlose unter dem Vorwand des Denkmalschutzes sowie unter Berufung auf das Weltkulturerbe aus der Innenstadt vertrieben werden. Auch würden gemäss der Organisation immer mehr Unterkünfte für Obdach­ lose aufgelöst. Landesweit sind in Ungarn 50 000 Menschen wohnungslos, weitere 250 000 leben prekär. Jeder zweite Mensch ohne feste Bleibe hat nur die ersten acht Schuljahre absolviert, jede fünfte Personist süchtig, ein Drittel sind Roma.

ASPHALT, HANNOVER

Corona in Gefängnissen Ob Italien, die USA, Peru, Indonesien oder der Iran – in vielen Ländern kommt es seit Ausbruch der Corona-Krise zu Gefängnisaufständen. Sie sind eine Reaktion auf den mangelnden Schutz und die ver­ schlechterten Haftbedingungen, die wiederum auf schärfere Quarantäne-Bestimmungen zurückzuführen sind. Bereits gibt es Studien, die zeigen, dass sich das Virus in geschlossenen Institutionen wie Heimen oder Gefängnissen schneller ausbreitet. Um dies zu vermeiden, werden die Besuchszeiten regu­ liert oder sogar ganz ausgesetzt, sodass möglichst wenig Personen in den Gefängnissen ein und aus gehen. Auch Freizeitprogramme sowie generell der soziale Austausch unter Häftlingen wurden reduziert. Dadurch wächst der Stress unter den Gefangenen, auch die Gewaltbereitschaft nimmt zu.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Gefährliches Pflaster

Vor Gericht

Das letzte Glied der Kette Er war achtzehn Jahre alt und arbeitete in einer Schuhfabrik. Die 230 Franken, die er umgerechnet pro Monat verdiente, reichten hinten und vorne nicht. Also reiste er im letzten September von Albanien in die Schweiz, um mit dem Drogenhandel schnelles Geld zu machen. So konnte er vielleicht auch seine krebskranke Mutter unterstützen, die eine Operation brauchte. Der Vater ist schon länger tot. Doch gerade mal dreizehn Tage nach seiner Einreise in die Schweiz wurde der junge Mann verhaftet. Und nach drei Monaten in Untersuchungshaft wieder ausgeschafft – weshalb seine Gerichtsverhandlung ohne ihn stattfand. Seine Geschichte teilt der Schuhfabrikarbeiter mit vielen jungen, ebenso armen Männern aus seiner Heimat. Sie wurde auch in dieser Kolumne schon erzählt: Der Heroinhandel in der Schweiz ist seit mehreren Jahren fast vollständig in albanischer Hand. Der Wettbewerbsvorteil liegt zum einen in der kartellartigen Organisation. Die unterste Hierarchiestufe, eben die Strassenhändler, wissen so gut wie nichts über die oberen. Zum anderen in die Verfügbarkeit Tausender perspektivenloser junger Männer wie des Angeklagten. Die zuständige Staatsanwältin sagt in ihrem kaum fünfminütigen Plädoyer, der Beschuldigte sei im ganzen Verfahren überaus kooperativ gewesen. Nicht nur habe er ohne Umschweife zugegeben, in verschiedenen Zürcher Vorortgemeinden auf der Strasse Heroin verkauft zu haben. Durch

seine Aussagen hätten die Behörden für einmal einen grösseren Fisch identifizieren und eine erhebliche Menge des Stoffs sicherstellen können. Viel Gnade lässt sie trotzdem nicht walten. Sie beantragt eine Freiheitsstrafe von sechzehn Monaten bedingt. Zudem einen Landesverweis von sieben Jahren und die Ausschreibung der Verweisung im Schengener Informationssystem. Das bedeutet de facto ein Einreiseverbot in den gesamten Schengen-Raum – für einen jungen Menschen aus dieser Region Europas ist diese Massnahme besonders harsch: Sie verhindert jede Arbeitsmigration. Deshalb, so die Pflichtverteidigerin, sei von einem Eintrag ins Schengener Informationssystem abzusehen. Schliesslich sei der Mann auch nicht vorbestraft. Man solle ihm doch nicht auf Vorrat die Chancen auf ein besseres Leben verbauen. Es sei der falsche Fall, um ein Exempel zu statuieren. Beim Beschuldigten handle es sich um das letzte Glied der Kette. Mit einer bedingten Freiheitsstrafe von vierzehn Monaten und einer Landesverweisung von fünf Jahren, meint die Verteidigerin, sei es auch getan. Dieser Auffassung ist auch das Gericht. Angesichts des vollumfänglichen Geständnisses und der Kooperation sei eine bedingte Freiheitsstrafe von vierzehn Monaten angemessen. BeimcLandesverweis erwähnen die Richter eine Praxisänderung. Der Drogenhandel ist seit der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative eine sogenannte Katalogtat. Bei Strafen im untersten Rahmen wie der vorliegenden sei die Dauer der Verweisung von generell sieben auf fünf Jahre herabgesetzt worden. Zu weiteren Bemerkungen gebe der Fall keinen Anlass. Damit ist ein weiterer Routinefall ad acta gelegt.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


Verkäufer*innenkolumne

Über den Ozean Mexiko hat sich sehr verändert, es ist nicht mehr wie in den 1980er-Jahren. Viele Geflüchtete, vor allem aus El Salvador und Honduras, sind seither gekommen. Zum letzten Mal war ich letztes Jahr dort, meine Frau ist Mexikanerin. Ich habe von 1981 bis 1986 da gelebt, kurz vor der WM bin ich zurückgekommen in die Schweiz. Ein halbes Jahr war ich durch die USA gereist und dann mit meinen letzten 400 Dollar nach Mexiko. Dort bin ich fast verhungert, als Letztes habe ich in Puerto Escondido meine Kamera, eine Rollei 35, verkauft. Ich ging auf die Botschaft und dachte, sie könnten mir einen Job vermitteln, aber sie wollten mir nur das Geld für die Heimreise geben. Das wollte ich nicht und so habe mich selber durchgeschlagen und begonnen, Deutsch und Englisch zu unterrichten, als Freelancer für eine Schule. Ich ging zu den Leuten nach Hause. In Mexiko-Stadt bedeutet das schnell einmal je zwei Stunden Weg, das war natürlich kein sehr lukratives Geschäft. Zum Glück habe ich dabei meine Frau kennen­ gelernt, sie war meine Schülerin. Ich hatte auch eine Agentin, die mich als Statist für Filme vermittelte. Trotzdem reichte es kaum zum Überleben.

ILLUSTRATION: DIMITRI GRÜNIG

Ich wohnte eine Zeitlang in einer WG, zuerst waren es gute Leute. Später kamen andere dazu, und als ich einmal von einem Ausflug zurückkam, waren alle meine Sachen weg. Danach ­hatten meine Frau und ich zusammen eine kleine Wohnung.

1985 überlebten wir das Erdbeben in Mexiko-Stadt, im dritten Stock, keine Chance runterzurennen, es war reines Glück. Die moderneren Gebäude stürzten ein, es gab Brände. Zwischen den Trümmern sah man Hände oder Füsse herausragen, es war schlimm. Meine Frau hat zwanzig Jahre hier in der Schweiz gearbeitet, aber ihre Pension ist zum Heulen. Wenn es geht, besuchen wir ihre ganze Familie und ihre 95-jährige Mutter in Mexiko. Die Mutter lebt im Norden des Landes, in der Wüste, dort ist es sehr heiss und wird immer heisser. Meine Frau will nicht mehr zurück, obwohl man mit der Pension dort besser leben könnte. Im Norden wäre es mir ohnehin zu heiss, dann eher Mexiko-Stadt. Noch mag ich nicht aufhören mit Surprise, drum bin ich immer noch hier. An die Zeit in den 1980er-Jahren erinnere ich mich gern, ich bin viel gereist und hatte nie Probleme. Heute wäre das wahrscheinlich nicht mehr so einfach, weil das Leben dort mit den Drogen- und Bandenkriegen gefährlicher geworden ist. RENÉ SENN  verkauft Surprise seit Dezember 2003 an den Zürcher Bahnhöfen Enge und Wiedikon. Nachdem er die ersten sechzehn Jahre seines Lebens unfreiwillig herumgeschoben worden war, nahm er das Steuer in die eigene Hand, machte das Unstetige zu seiner Tugend und zog durch die Welt. Er heuerte auf einem Öltanker an und umschiffte Afrika, lebte in Holland (unter anderem als Hippie im Vondelpark in Amsterdam) und in Mexiko. Wenn er an Mexiko zurückdenkt, spürt er ein Freiheitsgefühl – auch wenn es langsam verblasst.

Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

lieber nicht auf dem Land in der Schweiz. Ich versuchte, das auszublenden, ich hatte schliesslich Ferien, gern auch vom ständig über Rassismus nachdenken. Ich steige in einem Ort aus und suche nach einem Hotel, auf das mich ein Stras­senschild hinweist. Ich muss mehr­ mals an einer Beiz vorbeigehen, die Weisshaarigen, Rotnasigen dort schauen allesamt böse und reagieren nicht auf mein Grüezi. Aber vielleicht liegt es ja am Zürcher Nummernschild. Das Hotel hat zu, ich fahre weiter. Als ich endlich ein Hotel finde, im nächsten Ort, in dem et­ was frei und zahlbar ist, begrüssen mich am Eingang zwei Statuen: Schwarze Männer im Anzug. Sie erinnern mich an den «Boy», den mein weisser Opa lange in seinem Wohnzimmer stehen hatte. We­ nigstens haben sie kein Tablett in der Hand. «Vielleicht ist das ja auch des Be­ sitzers Verlangen nach Diversität und er möchte so seine Offenheit zeigen», denke ich und möchte mir das Hotel nicht verderben. Der Hotelbesitzer ist sehr herzlich und aufgeschlossen.

Moumouni …

… versucht Ferien in Uri «Die Schweiz ist SO schön!», hört man überall, und dann wird von Bergen und Bergkäse und Seen und Bergseen ge­ schwärmt. Diese Landschaften, diese Bergkäse-Stationen, die einem den Glau­ ben an die Menschheit zurückgeben, weil es einfach zu funktionieren scheint mit den glücklichen Kühen und den er­ quickenden Gräsern auf der Weide, der lächelnden Milch und dem heimatlie­ benden Kalb. Und erst das Bezahlsystem! Es steht ein Preis und ein Kässeli da und die Leute sind so ehrlich, dass sie den richtigen Betrag – oder auch mal mehr, weil nur Scheine – einwerfen und sich einen oder gar mehr Käse («Weisch au na für mini Tante, sie LIEBT Chäs.») rausnehmen. Lächelnd. Ich habe mir Blevita-Cracker gekauft, frei nach dem Motto «Blevita Loca!» und bin ein paar Tage im geschichtsträchtigen Urkanton Uri wandern gegangen. Sogar Surprise 483/20

die Rütliwiese habe ich besucht! (Ziemlich unspektakulär, die Flagge hing schlaff herab und die Älplermusik kam aus einem Bluetooth-Minilautsprecher.) Auf dem «Weg der Schweiz» viel Fol­ klore, Geschichtstäfelchen, auf denen der Superhero Schweiz glänzt und Stärke zeigt. Eine Tafel suggeriert «Widerstand» und «Zusammenhalt» der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und vergisst den häss­ lichen Rest. Aber schön ist es allemal. Ein Hotel zu finden, war gar nicht so einfach. Eine Freundin von mir war letz­ tens mit ihrer zwölfjährigen Tochter (beide Schwarz, beide Schweizerinnen) in einem Hotel in Gstaad. Der Früh­ stücksraum sei die Hölle gewesen. Von oben bis unten, auf Schritt und Tritt wurde ihnen schamlos mit Blicken ge­ folgt, als wären sie Aliens. Wo macht man Ferien, wenn man Urlaub von Ras­ sismus will? Sicherheitshalber

Am Zmorge-Tisch unterhalten sich laut zwei ältere Männer: «... und der Obama, also der hat ja sogar als Nicht-Amerika­ ner, also als … Schwarzer, hat der das so gut gemacht. Aber dem Trump, dem geht es nur ums Geld.» Ich bete, dass ich hier nie über Rassismus reden muss, ich bin gerade so empfindlich. Der Wunsch wird mir beinahe nicht erfüllt. Jemand erkennt mich freudig auf einem Berg und möchte mich den dortigen Älpler­ musiker*innen vorstellen und erzählt ihnen eifrig von der «Arena»-Sendung, in der ich war, «die über ‹Andersfarbige› oder wie sagt man?» Die Älpler*innen in­ teressieren sich nicht, ich hätte nie ge­ dacht, dass ich diesbezüglich mal «zum Glück» denken würde. Aber ich habe ja Ferien und auch ich will manchmal ein­ fach nur Käse, Berg und «eusi schöni Schwiiz» geniessen.

FATIMA MOUMOUNI  ist inzwischen wohl in dem Alter, wo es schön ist, in den Ferien etwas Anstrengendes zu machen: wandern.

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Ein fast normales Leben Sans-Papiers Schätzungsweise 100 000 Menschen

halten sich ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz auf. Eine von ihnen ist Tuya F. TEXT  SIMON JÄGGI ILLUSTRATION  ISABEL ALBERTOS

Als Tuya* an diesem Nachmittag die Basler Hauptpost betritt, dreht sie den Kopf geübt unauffällig in beide Richtungen und scannt durch die grossen Gläser ihrer Sonnenbrille die Schalterhalle. Mit der Angst im Nacken wurde die Vorsicht über die vergangenen Jahre zu ihrer ständigen Begleiterin. Sind Polizist*innen in der Nähe oder droht irgendwo Unruhe, verschwindet sie. Doch in der Posthalle scheint alles ruhig. Tuya zieht eine Nummer und wartet, in ihrem Rucksack liegt ein Umschlag mit 1000 Franken. Zwei Mal im Jahr schickt sie Geld an ihre Eltern in der Mongolei. Sie spart es mühsam ab von dem wenigen, das sie in der Schweiz verdient. Neben ihr steht eine Freundin, die das Geld für sie überweisen wird. Denn ohne gültige Aufenthaltsbewilligung kann Tuya selber kein Geld verschicken und auch kein Bankkonto eröffnen. Als Papierlose hat sie so wenige Rechte wie kaum ein Mitglied einer anderen Bevölkerungsgruppe in der Schweiz. Vor knapp zehn Jahren gelangte Tuya über einen Umweg aus der Mongolei in die Schweiz. Dass sie hier ein neues Leben begann, war mehr zufällige Fügung als bewusster Entscheid. Ein mongolisches Unternehmen hatte ihr einen Job in Ungarn angeboten. Dort angekommen, zog der Vorgesetzte ihren Pass ein und bezahlte ihr monatelang keinen Lohn. Sie wollte nicht in Ungarn bleiben, für eine Rückkehr in die Mongolei aber fehlten ihr Geld und Papiere. Eine gute Freundin lebte in der Schweiz und riet ihr, zu ihr zu kommen. Tuya reiste mit dem Pass einer anderen Person über die Grenzen. Seither lebt sie in der Schweiz, putzt Wohnungen und hütet Kinder. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ist knapp die Hälfte ihrer Arbeit weggebrochen. Viele Familien wollen zurzeit keine Haushaltsangestellten in der eigenen Wohnung, zum Schutz vor möglichen Ansteckungen. «Ich bin dabei, mein Erspartes aufzubrauchen», sagt Tuya. Viel ist es nicht. Es liegt im Schrank ihres Zimmers, in einem Koffer mit Zahlenschloss. Surprise 483/20

Sans-Papiers sind Menschen, die sich ohne gültige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufhalten. Bea Schwager leitet die Anlaufstelle für Sans-Papiers in Zürich. Sie sagt: «Die meisten von ihnen verlassen ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit. Oft mit dem Ziel, ihre Familien zu unterstützen.» Wie viele ohne gültige Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz leben, kann niemand genau sagen. Viele kommen mit einem Tourismusvisum ins Land, ein kleiner Teil sind Menschen mit einem negativen Asylentscheid oder einer abgelaufene Aufenthaltsbewilligung. Schätzungen von Behörden und Beratungsstellen gehen von 100 000 Sans-Papiers aus. Dabei variieren die einzelnen Schätzungen stark, von 80 000 bis 300 000 Personen. Die Tendenz ist eher steigend. Die Eidgenössische Migrationskommission schrieb 2010 in einem Bericht, die Anwesenheit von Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis habe seit den 1980er-Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Die Behörden gehen davon aus, dass die meisten Sans-Papiers aus Lateinamerika stammen, gefolgt von europäischen Ländern ausserhalb der EU. Frau sucht Arbeit Eine Untersuchung des Staatssekretariats für Migration kam zum Schluss, dass rund 90 Prozent der Sans-Papiers einer Erwerbsarbeit nachgehen. Die meisten arbeiten unter prekären Bedingungen: Der Lohn liegt unter dem branchenüblichen Niveau, sie haben oft keinen Arbeitsvertrag, können keine eigene Wohnung mieten, sind im Arbeits- oder Krankheitsfall kaum abgesichert und leben in ständiger Angst vor Polizeikontrollen. Werden sie Opfer einer Straftat, können sie ohne Gefahr keine Anzeige machen. Sans-Papiers führen ein Leben im Verborgenen. Sobald sie in den Fokus der Behörden geraten, drohen Wegweisung und Ausschaffung. «Als Folge der Corona-Krise haben zudem viele einen Grossteil der Arbeit verloren», sagt Schwager. Die Anlaufstellen für Sans-Papiers haben schweizweit verschie9


dene Hilfsprogramme lanciert, mit denen sie die Betroffenen finanziell unterstützen. Tuya hat ihre Kindheit und Jugend in der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar verbracht. Ihr Vater war Lastwagenfahrer, ihre Mutter verkaufte Bustickets. Gemeinsam mit den Eltern und ihrer Schwester lebte sie in einer engen und schlecht isolierten Zweizimmerwohnung. Im Winter fielen draussen die Temperaturen bis minus dreissig Grad. «Die Nächte waren auch in der Wohnung eisig kalt und das Quartier so unsicher, dass man nach Einbruch der Dunkelheit besser zu Hause blieb», sagt Tuya. Alkoholismus und Gewalt sind in Ulaanbaatar weit verbreitet, das zeigen Statistiken. Rund ein Drittel der mongolischen Bevölkerung lebt in Armut, in den Städten ist der Anteil noch höher. Dabei ist die Mongolei eigentlich ein reiches Land, mit Bodenschätzen im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. Doch für den Bergbau im grossen Stil fehlt es an technischen Mitteln. So bleibt der grösste Teil des Goldes, Kupfers und der seltenen Erden im Boden. Die wenigen Gewinne, die das Land mit Rohstoffen erzielt, verschwinden gemäss Studien auf den Bankkonten von ein paar wenigen. Tuya sicherte ihre Existenz in Ulaanbaatar als Bürohilfe in einem Handelsunternehmen. Das Geld reichte knapp, am Ende des Monats war ihr Konto leer. Das Leben war nicht einfach, doch in der Schweiz sollte es noch schwerer werden. Tuya war damals Mitte zwanzig. Die ersten Tage konnte sie bei einer Freundin wohnen. Nach wenigen Wochen zog sie in eine kleine Zweizimmer-

Ihre Miete verdiente sich Tuya als Reinigungskraft, dafür bekam sie nicht einmal 15 Franken pro Stunde.

wohnung, die sie sich mit drei weiteren Frauen aus der Mongolei teilte. Alle lebten ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. «Es war schrecklich», sagt Tuya. Ihre Zimmergefährtin betrank sich jeden Abend. Das Geld für die Miete verdiente Tuya als Reinigungskraft bei verschiedenen Firmen. Manche bezahlten ihr weniger als 15 Franken pro Stunde. Seither sind knapp zehn Jahre vergangen. Tuyas Situation hat sich in mancher Hinsicht zum Besseren verändert. Vor der Corona-Krise arbeitete sie bei neun verschiedenen Familien, zu einem Stundenlohn von 25 Franken. Sie kam auf ein monatliches Einkommen von über 2000 Franken. Damit gehört sie zu den Gutverdienenden unter den Sans-Papiers. Viele verdienen kaum über 1000 Franken, manche auch weniger. Auf eine ausgeschriebene Stelle hat sich Tuya noch nie beworben. Stattdessen hängt sie kleine Inserate auf, in denen sie ihre Arbeit anbietet. «Zuverlässige Frau sucht Arbeit zum Putzen, Bügeln, Kinder betreuen.» Oft empfehlen sie Kund*innen und Bekannte weiter. Zu den Sans-Papiers in der Schweiz gibt es wenig empirische Informationen. Am besten untersucht ist ihre Situation im Kanton Zürich. Anfang dieses Jahres veröffentlichte der Kanton eine Studie. «Wir wollten unter anderem genauer erfahren, in welchen Branchen und zu welchen Bedingungen Sans-Papiers arbeiten», sagt Mitautor Michael Marti vom unabhängigen Forschungsbüro Ecoplan. Mit ihrer Studie belegten die Forscher, was die Beratungsstellen für Sans-Papiers schweizweit seit Längerem beobachten. «Der grösste Teil arbeitet in privaten Haushalten. Dabei handelt es sich insbesondere um Frauen», sagt Marti. Frühere

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Schätzungen für den Kanton Zürich gehen davon aus, dass rund 8000 Frauen ohne Aufenthaltsbewilligung in Haushalten arbeiten. Für andere Kantone fehlen vergleichbare Zahlen. Eine Untersuchung der Konjunkturforschungsstelle ETH Zürich aus dem Jahr 2010 kam zum Schluss, dass im Kanton Zürich Sans-Papiers zwischen 25 und 50 Prozent des gesamten Volumens an bezahlter, extern vergebener Hausarbeit verrichten. Die Erwerbstätigkeit der Frauen hat in der Schweiz stark zugenommen, die öffentlichen Betreuungsangebote sind jedoch nicht im gleichen Masse ausgebaut worden. «Es ist deshalb möglich, dass in den privaten Haushalten in den letzten Jahren eine grössere Versorgungslücke entstanden ist», sagt Marti von Ecoplan. Eine Lücke, die zunehmend von Sans-Papiers geschlossen wird. Viele Sans-Papiers sind zudem im Baugewerbe und in der Gastronomie tätig. Einige verdienen ihr Geld in Kleinunternehmen wie Nagelstudios oder Coiffeursalons, die oft von Landsleuten betrieben werden. «Sie kennen mich nicht» Beim nächsten Treffen trägt Tuya ein ärmelloses Shirt und einen kurzen Rock, es ist drückend heiss. Sie legt ihren farbigen Design-Rucksack auf einen Stuhl, setzt sich auf einen anderen und bestellt auf Deutsch eine kalte Cola. Eine Stunde zuvor stand sie noch ausserhalb der Stadt in der Wohnung einer Expat-Familie und putzte die Fensterscheiben. «Ich mag diese Arbeit nicht», sagt Tuya, «aber ich brauche das Geld.» Sie wohnt inzwischen mit drei weiteren Mitbewohnerinnen in einer grösseren Wohnung. Die meisten ihrer Bekannten kommen aus der Mongolei oder sind selber Sans-Papiers. Über einen Deutschkurs hat sie eine gute Freundin gefunden, die in der Schweiz aufgewachsen ist. Einmal die Woche geht sie in einen Tanzkurs, sie hat Schwimmen gelernt und nimmt Deutschunterricht. Manchmal hilft sie als Freiwillige in einem Musiklokal aus. «Wenn ich Zeit und genügend Geld habe, setze ich mich in einen Zug und fahre in die Berge.» Ein beinahe normales Leben, könnte man denken. Doch eine einzige Polizeikontrolle könnte ihr Leben in der Schweiz beenden. Im schlimmsten Fall würde sie direkt im Gefängnis landen und von dort auf einem Ausschaffungsflug, ohne dass sie sich noch von irgendjemandem verabschieden könnte. Bisher hatte sie Glück, sie wurde noch nie kontrolliert. Ihre Geschichte hütet Tuya wie Surprise 483/20

ein Geheimnis. Fragt ein Tanzpartner oder eine neue Bekanntschaft sie nach ihrer Vergangenheit, lächelt sie und wechselt das Thema. Lässt jemand nicht locker, erzählt Tuya, dass ihre Mutter in die Schweiz ausgewandert und sie ihr hierher gefolgt sei. Diese Geschichte erzählt sie auch den Familien, in denen sie arbeitet. «Sie kennen mich nicht», sagt sie. Was sich Tuya wünscht wie nichts anderes in ihrem Leben, ist eine Aufenthaltsbewilligung. Zwei mögliche Wege führen dorthin. Sie könnte einen Mann mit einem Schweizer Pass heiraten. «Aber Heirat ohne Liebe, das ist für mich ausgeschlossen.» Und den richtigen Mann hat sie bisher nicht getroffen. Die andere Möglichkeit ist ein Härtefallgesuch. Sans-Papiers, die mindestens zehn Jahre in der Schweiz leben, können ein solches in ihrem Wohnkanton einreichen. Wird es von den Behörden gutgeheissen, erhalten sie eine Aufenthaltsbewilligung, die aber jedes Jahr erneuert werden muss. Doch das ist ein Weg voller Hürden und mit immensem Risiko. Sie müssen über ein stabiles Einkommen verfügen, gut Deutsch sprechen und in der Schweiz vernetzt sein. All diese Kriterien erfüllt Tuya, doch das allein reicht nicht. Sie bräuchte zudem schriftliche Zusagen von ihren Arbeitgeber*innen, dass diese sie weiterhin beschäftigen möchten. Dafür müsste sie ihre wahre Geschichte erzählen. «Ich habe Angst, dass ich dann meine Stellen verliere.» Auch ihre Wohnadresse müsste sie angeben, und dort leben weitere Frauen ohne Aufenthaltsbewilligung, die sie nicht gefährden möchte. Ihre Freundin mit Schweizerpass könnte bestätigen, dass Tuya seit knapp zehn Jahren in der Schweiz lebt. Aber die Freundin befürchtet, sie könnte selber ins Visier der Behörden geraten, wenn ihr Name im Gesuch auftaucht. Denn wer in der Schweiz Sans-Papiers hilft, macht sich strafbar und kann gemäss Ausländergesetz mit einer Busse oder Gefängnis bestraft werden. Fabrice Mangold arbeitet bei der Anlaufstelle für Sans-Papiers in Basel, er kennt diese Schwierigkeiten. «Basel-Stadt verfolgt Sans-Papiers sehr restriktiv. Auch solche, deren Härtefallgesuch bewilligt worden ist, werden von der Staatsanwaltschaft bestraft – und dies, obwohl das Straf- wie auch das Appellationsgericht geurteilt haben, dass diese Praxis einzustellen sei.» Es ist

Fragt eine neue Bekanntschaft nach ihrer Vergangenheit, lächelt Tuya und wechselt das Thema.

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auch schon vorgekommen, dass man Unterstützer*innen bestrafen wollte, etwa weil sie eine Wohnung gemietet haben. Bisher aber ohne Erfolg. «Die angedrohte Kriminalisierung des Umfelds von Sans-Papiers ist gefährlich, weil sie zu mehr Isolation führen kann. Darum ist wichtig zu wissen, dass Beziehungen und Freundschaften zu Sans-Papiers keine Straftaten sind und nicht verfolgt werden», sagt Mangold. In Basel-Stadt können Sans-Papiers in einem ersten Schritt ein Härtefallgesuch anonym einreichen. Wenn das Migrationsamt in einer Vorprüfung die Chancen für eine Gutheissung als hoch einschätzt, kann das Gesuch unter Offenlegung der Identität für die ordentliche Prüfung eingereicht werden. Die Praxis ist von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich. Einige Kantone beurteilen die Gesuche äusserst restriktiv und bewilligen nur wenige. In Basel-Stadt wurden in den vergangenen sechs Jahren 36 Gesuche gutgeheissen. Weit liberaler ist der Kanton Genf, wo in den letzten drei Jahren im Rahmen der «Opération Papyrus» fast 2400 Personen eine Aufenthaltsbewilligung erteilt wurde. Wer einmal erfolglos ein Härtefallgesuch gestellt und einen ablehnenden Entscheid erhalten hat, muss das Land verlassen oder sich wiederum im Verborgenen eine neue Existenz aufbauen. Tuya möchte in der Schweiz bleiben. In der Mongolei sieht sie für sich keine Zukunft. Die Pünktlichkeit, die Ordnung, die Zurückhaltung der Menschen – was sie zu Beginn noch irritierte, hat sie inzwischen liebgewonnen. Hinzu kommt ihre wirtschaftliche Situation. Trotz Unsicherheit geht es ihr in der Schweiz inzwischen besser als damals in Ulaanbaatar. Seit einem Jahr denkt Tuya darüber nach, wie sie zu den Unterlagen für ihr Härtefallgesuch kommen kann. Einer Familie hat sie bisher ihre wahre Geschichte erzählt und nach einer Arbeitsbestätigung gefragt. Sie baten um etwas Bedenkzeit und haben das Thema seither nie mehr angesprochen. «Im Moment», sagt Tuya, «weiss ich nicht, was ich machen soll.» Könnte Tuya frei über ihr Leben entscheiden, würde sie eine Ausbildung zur Lehrerin für den Kindergarten beginnen. Nach mehr als zehn Jahren würde sie endlich wieder ihre Eltern und ihre Schwester besuchen, mit denen sie oft telefoniert. Vielleicht heiraten und eine Familie gründen. Doch dazu braucht sie vor allem eines: Papiere. * Name geändert Surprise 483/20

Kommentar

Unmenschliche Politik Wer in einem Staat leben will, braucht eine entsprechende Aufenthaltsbewilligung – so lautet weltweit die Maxime der mo­ dernen Migrationspolitik. Zur Umsetzung haben die Staaten ein Regime errichtet, das die Bewegungsfreiheit von Milliarden von Menschen drastisch beschränkt. Es ist ein Regime, das massives Leid produziert und die bestehenden globalen Ungleichheiten verstärkt. Sans-Papiers sind Menschen, die dieses System mit seinen repressiven Mitteln zu umgehen versuchen. Sie tun es für das eigene Überleben, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sehen. Einige gehen auch für ihre Familien in die Ferne: für einen kranken Bruder, der sich die nötigen Medikamente nicht leisten kann; für ihre Eltern, die gar keine Rente und keine Ersparnisse haben. Sans-Papiers sind Menschen, die zu den Verlierer*innen der Globalisierung gehören. Anders als hochausgebildete Fachkräfte haben sie keine Möglichkeit, legal in der Schweiz oder einem anderen wohlhabenden Land zu arbeiten. Doch ihre Präsenz zeigt, dass auch für sie ein Arbeitsmarkt besteht. Bei einer geschätzten Zahl von 100 000 Sans-Papiers wären rund zwei Prozent aller Erwerbstätigen in der Schweiz ohne gültige Aufenthaltsbewilligung. In der Schweiz fordern Flüchtlingsorganisationen seit zwanzig Jahren erfolglos eine kollektive Legalisierung von Papierlosen. Dass eine solche möglich ist, zeigte zuletzt der Kanton Genf mit der «Opération Papyrus» (siehe Haupttext). Andere Kantone sind von einer solchen Regelung weit entfernt. Zürich hat im vergangenen Jahr gerade einmal drei Härtefallgesuche gutgeheissen. Im europäischen Vergleich tut sich die Schweiz besonders schwer im Umgang mit Sans-Papiers. Andere europäische Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Norwegen legalisierten zwischen 1970 und 2000 den Aufenthalt von insgesamt mehr als drei Millionen Sans-Papiers durch kollektive Regularisierungen. Seither sind weitere Länder diesem Beispiel gefolgt. Ende März kündigte Italien als Folge der CoronaKrise an, bis zu 300 000 Papierlosen eine temporäre Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Ob Sans-Papiers in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung erhalten, ist Glücksache und abhängig davon, in welchem Kanton sie leben. Wir als Gesellschaft profitieren von Sans-Papiers als günstigen Arbeitskräften und muten ihnen zugleich ein Leben in ständiger Bedrohung zu. Das muss nicht sein. Die Schweiz könnte die prekäre Lage papierloser Menschen anerkennen und ihr Möglichstes tun, um ihnen ein Leben in Würde und Sicherheit zu ermöglichen. Eine Bewilligung für alle, die seit zehn Jahren in der Schweiz leben und hier Arbeit haben, wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Schweiz könnte ihn ohne Weiteres verkraften. Und damit Tausende von Menschen aus ihrer Not befreien. SIM 13


Von Mund zu Mund Wissenschaft Geschichten verbreiten sich wie Viren und prägen unser Verhalten. Nun wollen Forscher*innen aus Epidemien lernen, um soziale Krisen vorauszusehen. TEXT  ANDRES EBERHARD

Was wird über die Coronakrise dereinst in unseren Geschichtsbüchern stehen? Vielleicht: «Die Pandemie war die Kehrseite der starken Globalisierung.» Oder: «Das neue Virus beschleunigte die Digitalisierung.» Auch als Weckruf für solidarische Werte in einer individualisierten Gesellschaft oder als Zerreissprobe für moderne Demokratien könnte Covid-19 in Zukunft gelten. Ein bisschen Wahrheit steckt vermutlich in jeder dieser Erzählungen. Dennoch werden wir uns in hundert Jahren kaum an alle erinnern. Die eine oder andere Geschichte wird sich durchsetzen, wir werden unsere Lehren daraus ziehen, woraufhin Historiker*innen die Dinge so aussehen lassen werden, als wären sie unvermeidbar gewesen. Wir neigen dazu, Ereignisse in runde, stimmige Geschichten zu packen, die weitererzählt und damit nicht vergessen werden. Solche Narrative

Geschichten werden erzählt, seit es Menschen gibt. Neu ist, dass sie sich schneller und unkontrollierter verbreiten. prägen unser Denken. Dass die Realität komplexer ist, geht vergessen. Was war noch einmal der Grund für die Ausbreitung der Pest? Ach ja, fehlende Hygiene. Aids? Freie Liebe ohne Schutz. «Menschen sind ein Geschichten erzählendes Tier», sagt der Philosoph Alasdair MacIntyre. Tatsächlich wird und 14

wurde schon immer auf der ganzen Welt erzählt, in jeder Kultur, jedem Milieu, jedem Alter. Anthropolog*innen schlagen vor, unsere Spezies von «Homo sapiens» (der weise Mensch) in «Homo narrans» (der erzählende Mensch) umzubenennen. Und Neurowissenschaftler*innen sehen in unserem Hang zum Geschichtenerzählen den Grund dafür, warum wir nachts träumen. Schliesslich erscheinen uns im Schlaf nicht Gleichungen oder geometrische Figuren, sondern Narrative: Menschen, Orte und Ereignisse. Geschichten werden erzählt, seit es Menschen gibt. Neu ist, dass sie sich schneller und unkontrollierter verbreiten als je zuvor. Über soziale Medien gehen Storys «viral». Das ist für Leute aus der Werbung interessant, aber auch für Politiker*innen. Diese versuchen mithilfe von Narrativen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. In der Coronakrise waren das etwa Versuche, das Virus als «kleine Grippe» kleinzureden, es als «chinesischen Virus» zu verunglimpfen oder den eigenen heroischen Kampf gegen den unsichtbaren Feind in den Vordergrund zu rücken: Tests statt Tote. Narrative prägen den öffentlichen Diskurs auch in der Schweiz. Ein Beispiel: Seit Jahren steigen die Sozialkosten. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Bevölkerungszunahme, ein härterer Arbeitsmarkt oder steigende Wohnungsmieten gehören dazu. Diese komplexe Realität lässt sich nur schwer für den viel zitierten Stammtisch übersetzen. Besser eignet sich der Krimi von denen, die den Staat um viel Geld bringen. Solche Geschichten gibt es im Einzelfall tatsächlich, und sie lassen sich gut weitererzählen. Jedoch ist SozialSurprise 483/20


hilfebetrug selten und erklärt nicht die steigenden Sozialkosten. Trotzdem machte die SVP mit dem Narrativ der Sozialschmarotzer*innen lange erfolgreich Politik: Kürzungen bei Sozialhilfe und Prämienverbilligungen, Sparen bei der IV, aber Finger weg vom Arbeitsmarkt. Geschichten sind ein mächtiges Ins­ trument. Wie sehr sie unser Verhalten beeinflussen – also wie wir aufgrund von Narrativen entscheiden, wie wir abstimmen, investieren oder unseren Beruf wählen –, ist noch nicht restlos untersucht. Denn Narrative existieren oft bloss im «Hörensagen» und sind nur schwer mit Zahlen und Statistiken festzumachen. Sie wurden deswegen bislang fast ausschliesslich von der Geisteswissenschaft analysiert – von Historiker*innen etwa oder von Literaturwissenschaftler*innen. Das ändert sich gerade. Der Ökonom und Nobelpreisträger Robert Shiller vergleicht in seinem neuen Buch «Narrative Economics» die Verbreitung von Geschichten mit jener von Epidemien. Erzählungen würden sich ausbreiten wie Viren, schreibt er. Geschichten könnten immer wieder aufkommen und dabei «mutieren», also sich verändern. Als Beispiel für ein Narrativ mit mehreren «Ansteckungswellen» nennt Shiller jenes der intelligenten Maschinen, die alles übernehmen. Diese Erzählung existiert schon seit der Antike. Unseren Vorfahren bereiteten Erfindungen Kummer, die mit Wasser, Wind, Dampf oder Pferden angetrieben wurden. Im 20. Jahrhundert herrschte Angst vor den Produktionsmaschinen der Industrie: Diese könnten die Arbeiter*innen in den Fabriken überflüssig machen. Heute lebt das Narrativ im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz wieder auf. Shiller glaubt, dass Finanzkrisen und generell wirtschaftliche Entwicklungen besser vorhergesehen werden können, wenn man versteht, welche Geschichten gerade kursieren. Besonders nützlich könnte das Wissen um Narrative an der Börse sein. So kommt es immer wieder zu Spekulationsblasen wie jene um die Kryptowährung Bitcoin, deren Wert innerhalb weniger Jahre von 0 auf 300 Milliarden US-Dollar stieg. «Dabei hat der Bitcoin keinen Wert, ausser die Menschen glauben daran, dass er Wert besitzt», schreibt Shiller. Den Grund für den anhaltenden Erfolg von Bitcoin sieht er vor allem in den GeSurprise 483/20

schichten, die darüber erzählt werden. Diese handeln von einer bevorstehenden Revolution des Finanzwesens. Menschen könnten sich dank der dezentral organisierten Digitalwährung aus der Abhängigkeit geldgieriger Banken und korrupter Regierungen befreien. «Anarchismus» nennt Shiller dieses Narrativ. Man kann noch weiter gehen: Narrative könnten auch helfen, sozialen Wandel zu verstehen. Das legen verschiedene Untersuchungen nahe. So zeigte zum Beispiel die Soziologin Francesca Poletta, dass am Anfang einer Protestwelle gegen die Unterdrückung von Schwarzen in den USA in

Es braucht Geschichten, damit Geschichte geschrieben werden kann. den 1960er-Jahren ein Narrativ stand, nämlich jenes der sogenannten «Sit-ins»: Weisse Studierende setzten sich solidarisch mit ihren Schwarzen Kommiliton*innen in der Kantine auf den Boden, um gegen die Diskriminierung bei der Essensausgabe zu protestieren. Unweigerlich denkt man an aktuelle Beispiele: An die schulschwänzende schwedische Gymnasiastin, die Schwung in die festgefahrene Klimadebatte brachte. Oder an den Schwarzen Mann, der unter dem Knie eines weissen Polizisten starb und die «Black Lives Matter»-Proteste auslöste. Die Frage, die sich hier aufdrängt: Welche Geschichten lösen Wandel aus, welche verpuffen? Shiller ist sich sicher: «Ansteckung ist das Element, von dem alles abhängt.» Besonders empfänglich seien wir, wenn wir uns mit Protagonist*innen der Geschichte verbunden fühlen – ob nun als Idol oder Feindbild. Diese Sucht nach spannenden, persönlichen Storys ist dann problematisch, wenn sich packende, aber erfundene Erzählungen schnell verbreiten – wie von Bill Gates, der mit dem neuen Coronavirus die Weltherrschaft anstrebt. Reale, aber abstrakte Themen hingegen haben es schwer. «Wenn die Narrative nicht in der menschlichen Konversation wiederholt werden, dann werden sie nach und nach vergessen», schreibt Shiller. Anders gesagt: Es braucht Geschichten, damit Geschichte geschrieben wird. 15


Das Steinmonument Tatik Papik steht auf einem HĂźgel am Eingang von Stepanakert, Hauptstadt von Bergkarabach.

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Bergkarabach Im Südkaukasus herrscht der längste Konflikt Europas. Die Menschen haben sich längst daran gewöhnt. Ein normales Leben ist trotzdem nicht möglich.

ARMENIEN

Bergkarabach ASERBAIDSCHAN

Leben in einem ewigen Konflikt Bei seinen Bewohner*innen heisst Bergkarabach heute Republik Artsakh und ist ein unabhängiger Staat. Anerkannt wurde er von niemandem. Wie lebt es sich dort? TEXT UND FOTOS  EVA HIRSCHI

Die Strassen in Stepanakert wirken wie ausgestorben an diesem Novembertag, alles ist sauber, aufgeräumt und ruhig, frisch gewaschene Kleider flattern hoch oben an zwischen den Häusern aufgespannten Leinen. Vereinzelt tragen ein paar Menschen ihren Einkauf nach Hause oder spazieren mit dem Hund. Davon, dass sich zwanzig Kilometer von hier die Frontlinie eines seit fast dreissig Jahren andauernden Konflikts befindet, sieht man in der Hauptstadt von Bergkarabach im Kleinen Kaukasus auf den ersten Blick kaum etwas. Doch selbst wenn in Stepanakert die Schusswechsel nicht hörbar sind: Durch die Meldungen im Radio oder Fernsehen würden sie ständig daran erinnert, dass sie sich in einem Konflikt befinden, sagt Sarine Hayriyan. Die 33-Jährige trägt einen Kurzhaarschnitt, Jeans und einen gelbgrünen Rollkragenpulli. Sie ist in Stepanakert geboren und aufgewachsen. An den Krieg in den 1990er-Jahren kann sie sich kaum erinnern. Sie hat Bilder im Kopf, wie sie mit ihrer Grossmutter in den Wald flüchtete, als die Bombardierung begann. Damals eskalierte der Konflikt um die Region im Kaukasus mit ihrer heute rund 145 000-köpfigen Bevölkerung. Offiziell gehört das Gebiet zu Aserbaidschan, faktisch wird es von Armenien kontrolliert und heute fast ausschliesslich von ethnischen Armenier*inSurprise 483/20

nen bewohnt. 1991 erklärte sich Bergkarabach als unabhängig, wurde allerdings von keinem Staat anerkannt, auch nicht von seiner Schutzmacht Armenien. Trotz der Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens 1994 gibt es an der Frontlinie immer wieder auf beiden Seiten Tote. Die friedliche Alltagsstimmung in Stepanakert also trügt: Wer in Bergkarabach lebt, kann den Auseinandersetzungen nicht entkommen. Neben den Radio- und Fernsehmeldungen erinnern auch Veteranendenkmäler und Propagandaplakate ständig an die schwierige Situation. «Schon nur, weil der Militärdienst für Männer obligatorisch ist, kann niemand den Konflikt ignorieren», sagt Hayriyan. Ihr Ehegatte, ihre männlichen Verwandten und Freunde, sie alle waren im Fronteinsatz. Jede Familie hat damals im Krieg jemanden verloren. In den letzten Jahren ging es allerdings mehr um Machtdemonstration als um Gebietsgewinn. Ob die kürzlich wiederaufgeflammten Gefechte daran etwas ändern können? Angst habe sie auf jeden Fall nicht, sagt die Mutter einer vierjährigen Tochter: «Wir glauben an den Frieden. Sonst würden wir nicht mehr hier wohnen.» Öfter als der ungelöste Konflikt sind es die mangelnden Perspektiven, die viele Menschen dazu bewegen, Bergkarabach

zu verlassen. Zwar gibt es eine staatliche Universität sowie eine moderne Berufsschule für 12- bis 18-Jährige im Bereich Technologie und Design. Dennoch zieht es diejenigen, die es sich leisten können, für ein Studium nach Armenien. Viele erhoffen sich dadurch auch bessere Berufsaussichten. Denn statt in den Wirtschaftsaufbau zu investieren, gibt die lokale Regierung in Bergkarabach das meiste Geld für Sicherheit aus und ist zudem finanziell und militärisch vollkommen von Armenien und der Diaspora abhängig. Eigene Pässe haben die Bewohner*innen des nicht anerkannten Staates nicht, sie besitzen die armenische Nationalität und können sich so auch überall in Armenien niederlassen. Viele versuchen deshalb ihr Glück in der armenischen Hauptstadt Jerewan – oder gleich im Ausland. Armenien gilt als das ärmste Land des Südkaukasus, die Arbeitslosigkeit liegt bei 17 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei rund 35 Prozent. Platz für Gespräche und Austausch Sarine Hayriyan aber will nicht auswandern: «Wenn die Regierung uns nicht hilft, dann tun wir es eben selbst!» Sie engagiert sich in verschiedenen Projekten für Bildungs-, Kultur- und Arbeitsinitiativen und möchte damit den Menschen Perspektiven aufzeigen. Dies tut sie auch in ihrer Arbeit 17


«Wenn die Regierung uns nicht hilft, dann tun wir es eben selbst.» SARINE HAYRIYAN

als Eventmanagerin im Roots Café, dem ersten und einzigen Kulturcafé der Stadt, welches 2017 eröffnet wurde. Hier organisiert Hayriyan allerlei Veranstaltungen, von politischen Diskussionen über Kunstausstellungen bis hin zu Filmvorführungen oder Workshops. Interessierte Bürger*innen jeden Alters können teilnehmen. So fand im Winter ein Gespräch mit einem armenischen Journalisten statt, der im Rahmen eines Austauschprogramms nach Aserbaidschan reiste, während ein aserbaidschanischer Journalist nach Armenien kam. Was ein paar Jahre zuvor kaum vorstellbar gewesen ist, bleibt auch heute eine absolute Ausnahme. Trotzdem: dass Teile der Gesellschaft offen für so einen Austausch sind, darauf ist Sarine Hayriyan stolz: «Wir wollen Platz bieten für Gespräche und Austausch sowie die Möglichkeit, sich auszudrücken.» Das ist ein Novum hier, wo die Gesellschaft immer noch im 18

Übergang zwischen den alten Sowjetstrukturen und etwas Neuem steckt und eher ländlich-patriarchal geprägt ist. «Interessanterweise kommen vor allem junge Frauen zu unseren Veranstaltungen», sagt Hayriyan. Gerade die junge Generation, die den Krieg nicht miterlebt hat, sei offener und engagierter. Das stelle sie auch bei Projekten fest, für die sie sich ehrenamtlich engagiert: So hat sie gemeinsam mit Jugendlichen etwa die Abfalleimer in der Nachbarstadt Shushi dekoriert, Stickkurse für traditionelle armenische Muster aufgegleist und zusammen mit Künstler*innen Stofftaschen mit Designs bedruckt. Zwei davon zeigen das Wahrzeichen Bergkarabachs: Tatik Papik, armenisch für Grossmutter und Grossvater, ein grosses Steinmonument auf einem Hügel am Stadteingang von Stepanakert. Noch zu Sowjetzeiten von einem lokalen armenischen Künstler geschaffen, prangt das

Denkmal heute auf dem Wappen der selbsterklärten Republik Bergkarabach. Auf den Stofftaschen sind die steinernen Figuren mit farbigen Blumen verziert. Zurück zu den Wurzeln, aber mit neuen Farben und neuen Träumen, so umschreibt es Hayriyan. Wo Regierungen mit Angriff und Verteidigung beschäftigt sind, springen oft internationale Organisationen ein und unterstützen die Entwicklung der Zivilgesellschaft: Jugendliche Partizipation, Frauenförderung, generationenübergreifende Projekte sollen die Bürger*innen stärken. Doch anders als in vielen anderen Postsow­ jetstaaten traut sich wegen des politischen Status von Bergkarabach kaum eine NGO hierher. Schlimmer noch, ihnen wird oft davon abgeraten. Eine Schweizer Stiftung, die in Bergkarabach seit mehreren Jahren soziale Projekte finanziert, möchte deshalb in der Öffentlichkeit nicht mit Namen auftreten. Der Stiftungspräsident sagt, die Schweizer Botschaft habe ihm davon abgeraten, man wolle keinen Ärger mit Aserbaidschan provozieren. Tatsächlich habe er aus Aserbaidschan schon einmal einen Drohanruf erhalten. Offiziell sind in Bergkarabach nur das Internationale Komitee des Roten Kreuzes sowie die Minenräumungsorganisation Halo Trust vertreten. Die USA haben inSurprise 483/20


«Manche Dinge funktionierten hier eben einfacher.» A Z AT ADAMYAN

Bei Azat Adamyan im Pub scheint der Konflikt weit weg, längst habe man sich daran gewöhnt.

zwischen aber angekündigt, die Minenräumung nicht mehr zu finanzieren. Immerhin könne die Region auf finanzielle Unterstützung der armenischen Diaspora zählen, ab und zu würden auch Projekte durch internationale Gelder finanziert, sagt Sarine Hayriyan. Bloss ein politisches Machtspiel Auf eine solche Unterstützung will Azat Adamyan nicht warten. Der 29-jährige Mann mit Glatze, Bart und Cowboystiefeln ist ein Entrepreneur. Er hat wie alle jungen Männer zwei Jahre Militärdienst geleistet, doch über diese Zeit spricht er ungern. Danach stand für ihn aber fest: «Ich will mein eigener Chef sein.» So eröffnete er den ersten und bislang einzigen Pub in Stepanakert – zwar gibt es Restaurants und Cafés, er aber wollte einen Raum, wo er sich ungezwungen mit seinen Freunden treffen konnte. «Zur Eröffnung lud ich ein paar Freunde ein und hatte vier Flaschen Hochprozentiges bereit», erzählt er. Doch schon bald waren so viele Gäste im Pub, dass er zum Supermarkt rennen musste, um Nachschub zu besorgen. Gerade im Sommer sei es stets voll, dann würden sie draussen im Garten sitzen und grillieren. Es scheint, als hätten die Jugendlichen von Stepanakert auf so einen Treffpunkt geraSurprise 483/20

dezu gewartet. Doch der Pub ist längst kein Jugendtreff mehr. Gäste jeglichen Alters und aus allen Schichten kämen inzwischen bei ihm auf einen Drink vorbei, auch Tourist*innen, Mitarbeitende von internationalen Organisationen, selbst Regierungsangestellte und Parlamentarier*innen. Noch kann Adamyan nicht von seinem Pub leben, gerade im Winter hat er weniger Gäste und jobbt deshalb zusätzlich an der Rezeption eines Hotels. Von der Regierung Bergkarabachs erhält er keine Unterstützung, er hat alles selbst bezahlt. Steine in den Weg gelegt hätten sie ihm aber nicht, sagt er: «Eines Tages rief ein Freund an, der beim Steueramt arbeitet, und sagte, dort wisse man von meinem Pub und würde in den nächsten Tagen zur Kontrolle vorbeikommen.» Adamyan erinnert sich, wie sein Herz in die Hose sackte. Er brauchte eine Ausschanklizenz! Mit mulmigem Gefühl eilte er zur Verwaltung – und hatte zu seiner grossen Überraschung bereits nach einer halben Stunde die Bewilligung im Sack. Das seien dann wohl die Vorteile in einem nicht anerkannten Staat, witzelt er: «Manche Dinge funktionierten hier eben einfacher.» Wahrscheinlich seien die Behörden sogar dankbar, dass Einzelpersonen solche Angebote selbständig in Angriff nehmen würden, meint er – und plant bereits sein

nächstes Projekt: ein Campingplatz für die – wie er hofft – zunehmende Anzahl an Tourist*innen. In der Tat war deren Zahl vor Covid19 in den letzten Jahren steigend: 2019 verzeichnete Bergkarabach fast 42 000 Gäste aus dem Ausland, eine Zunahme von 47 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die meisten kommen aus den USA, Frankreich, Libanon, Russland und Deutschland. Bei Adamyan im Pub scheint der Konflikt auf jeden Fall weit weg, Politik sei selten ein Thema. «Ich will auch nicht, dass man über Politik spricht. Wir haben uns hier doch schon längst alle an diese Situation gewöhnt.» Er sehe den Konflikt mit Aserbaidschan lediglich als politisches Machtspiel. «Wir wollen keinen Krieg, sondern unsere Heimat beschützen», sagt er. Unter Heimat versteht er aber nicht Bergkarabach, sondern Armenien. Er wünscht sich den offiziellen Anschluss an Armenien, er nennt es «Wiedervereinigung». Diese Meinung teilt auch Sarine Hayriyan. «Es ist völlig ineffizient, einen ganzen Staatsapparat für so ein kleines Gebiet aufrechtzuerhalten», sagt sie. Die Meinungen in der Bevölkerung gehen allerdings auseinander: Viele sind für die Unabhängigkeit von Bergkarabach als international anerkannter Staat. Was sich niemand vorstellen kann, ist eine Rückkehr unter aserbaidschanische Kontrolle. 19


Ist da noch Hoffnung? Seit fast drei Jahrzehnten hängt der Konflikt im Südkaukasus zwischen Krieg und Frieden. Die Entfremdung nimmt ebenso zu wie der Hass. TEXT  SARA WINTER SAYILIR

Fast dreissig Jahre ist es her, dass Armenien und Aserbaidschan einen Waffenstillstand vereinbarten. Frieden hat sich im Krieg um die Region Bergkarabach jedoch seither keiner eingestellt. Jüngst kam es wieder zu Gefechten entlang der Waffenstillstandslinie, den schwersten seit 2016. Die Wurzeln des Konflikts reichen mehr als hundert Jahre zurück. Damals schon stritt man in Bergkarabach um die Frage, ob die mehrheitlich armenisch besiedelte Region nun zu Aserbaidschan oder zu Armenien gehöre. Es war die neue bolschewikische Zentralregierung in Moskau, welche die Region 1923 schliesslich zwar für autonom erklärte, sie aber unter die administrative Kontrolle der Sozialistischen 20

Sowjetrepublik (SSR) Aserbaidschan stellte. In den 1980er-Jahren entwickelte sich der Konflikt dann zu einem der Katalysatoren des Zerfalls. Der Realsozialismus war wirtschaftlich und ideologisch am Ende, nationale Ideen und Bewegungen in den einzelnen Teilen der UdSSR wuchsen schnell. Bis dahin hatten Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen vielerorts friedlich zusammengelebt, gemischte Ehen waren nicht ungewöhnlich. 1987 schickten die Armenier*innen in Bergkarabach eine Petition nach Moskau, in der sie den Wunsch nach Anschluss an die SSR Armenien formulierten. In Bergkarabach, in Armenien und Aserbaidschan strömten massenhaft Menschen auf die

Strasse. Die SSR Aserbaidschan war damals mit knapp sieben Millionen Menschen (1988) rund doppelt so bevölkerungsreich wie die SSR Armenien und ethnisch sowie religiös weitaus diverser. Besonders die Grossstadt Baku galt als «melting pot», Russisch war dort die Lingua franca. Die angespannte Stimmung sowie die Sehnsucht nach Selbstbestimmung führte zu einer starken und schnellen Entfremdung von Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen. Alte Feindbilder und Traumata vom Anfang des Jahrhunderts wurden mit nationalistischen Emotionen aufgeladen und fanden rasche Verbreitung. Im Februar 1988 wurden in einem Ausbruch von Gewalt zwischen den beiden BeSurprise 483/20

FOTO: JAN ZYCHLINSKI / JZ-PHOTOGRAPHY.CH; INFOGRAFIK: BODARA GMBH, QUELLE: THOMAS DE WAAL — THE NAGORNY KARABAKH CONFLICT IN ITS FOURTH DECADE. DEZEMBER 2019

Flüchtlingscamp in Bergkarabach


Bergkarabach und Covid-19 Die offizielle Gesamtzahl an Covid-Erkrankten in Bergkarabach betrug Mitte August 261 – das sind etwas mehr Fälle, als in Armenien jeden Tag hinzu­ kommen. In Armenien sind bislang mehr als 42 000 Personen an Covid-19 erkrankt, über 830 Personen sind daran gestorben. In Bergkarabach hingegen ist gemäss offiziellen Angaben bisher niemand an Covid gestorben. Der Kleinstaat hat sich abgeschottet: Im März wurde die Grenze zu Armenien geschlossen und somit der einzige Landweg, der nach Bergkarabach führt. Nur wer einen triftigen Grund hat, darf einreisen. Seit Juni muss man bei einer Einreise zudem einen negativen Corona-Test vorweisen können. Bis Mitte September gilt der Ausnahmezustand. In Aserbaidschan sind offiziellen Angaben zufolge mehr als 34 500 gemeldete Fälle verzeichnet, über 500 sind nach offiziellen Angaben verstorben. WIN

RUSSLAND GEORGIEN

ARMENIEN ASERBAIDSCHAN JEREWAN

BAKU

REGION BERGLARABACH

TÜRKEI STEPANAKERT

KASPISCHES MEER

ASERBAIDSCHAN AUTONOME REP UBLIK NAXÇIVAN

IRAN

Front Zone unter armenischer Militärskontrolle Bergkarabach 0

50 KM

völkerungsgruppen zwei Aserbaidschaner getötet. Dann ging alles sehr schnell: In der aserbaidschanischen Stadt Sumqayit kam es zu einem Pogrom an Armenier*innen mit 25 Toten und mehreren hundert Verletzten. Daraufhin flüchteten viele Armenier*innen aus der SSR Aserbaidschan ins Nachbarland. Gleichzeitig brachen in der Region Bergkarabach bewaffnete Kämpfe aus, während die weit entfernte Zentralregierung der UdSSR unter Michail Gorbatschow sich bemühte, die Lage am südlichen Rand der Union unter Kontrolle zu bekommen. Im sogenannten Schwarzen Januar 1990 kam es in Baku zu weiteren antiarmenischen Pogromen, nach denen die letzten verbliebenen Armenier*innen Surprise 483/20

das Land verliessen. Erst als die Gewalt bereits abebbte, griff Moskau ein. Über 20 000 sowjetische Soldaten gingen in Baku auf die Protestierenden los, es gab zahlreiche Tote. Es war das erste Mal, dass die sowjetische Armee eine sowjetische Stadt gewaltsam unter Kontrolle brachte. Das Vertrauen in die sowjetische Führung war endgültig dahin. Im August und September 1991 erklärten die Sozialistischen Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien kurz nacheinander ihre Unabhängigkeit von der UdSSR – deren Auflösung am Ende desselben Jahres verkündet wurde. Die Kämpfe um Bergkarabach dauerten bis 1994. Im Verlauf des Krieges kamen 20 000 Menschen ums Leben, etwa eine

Million wurden zu (teils im eigenen Land) Vertriebenen, die Mehrheit davon Aserbaidschaner*innen. Das damals militärisch überlegene und in sich geschlossenere Armenien nahm neben der umkämpften Region Bergkarabach sieben weitere Gebiete Aserbaidschans ein. Die 1994 vereinbarte Waffenstillstandslinie wird nicht international überwacht und ist von Gräben, Minenfeldern und Scharfschützen gesäumt. Immer wieder kommt es zu Gefechten. Die Friedensverhandlungen haben bisher kein nachhaltiges Ergebnis gebracht. Geleitet werden sie von der «Minsker Gruppe» der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), unter dem Co-Vorsitz von Russland, den USA und Frankreich und unter Beteiligung der beiden Kriegsparteien Armenien und Aserbaidschan. Die De-facto-Republik Berg­karabach hat sich zwar für unabhängig erklärt, besitzt eine Verfassung und ein Parlament, wird aber von keinem Staat der Welt anerkannt – nicht einmal von Armenien. Sie ist deshalb auch nicht als eigene politische Partei in den Friedensgesprächen vertreten. Viele Bedingungen Seit 2009 gibt es allerdings in Gestalt der «Madrider Prinzipien» einen Kompromissvorschlag für einen Friedensschluss. Dieser beinhaltet die Rückgabe der sieben besetzten Territorien an Aserbaidschan, einen Übergangsstatus für Bergkarabach unter Wahrung von Selbstverwaltung und Sicherheit, einen Landkorridor von Bergkarabach nach Armenien, die Abhaltung eines rechtlich bindenden Referendums über den zukünftigen politischen Status von Bergkarabach, das Rückkehrrecht für alle intern Vertriebenen und Geflüchteten an ihre ehemaligen Wohnorte sowie international garantierte Sicherheit inklusive einer Friedensmission. Bisher finden die Verhandlungen jedoch grossenteils hinter verschlossenen Türen und einzig auf hoher diplomatischer Ebene statt. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es vonseiten der Kriegsparteien keinerlei Anstrengungen, eine Annäherung zu erreichen. Im Gegenteil: Initiativen, die für Austausch, Verbindungen und gemeinsame Erfahrungen zwischen allen drei südkaukasischen Republiken gesorgt haben, sind mit dem immer autoritärer agierenden Regime in Aserbaidschan und dessen Druck auf NGOs ab 2014 grossenteils zum Erliegen gekommen. 21


Dabei wäre zivilgesellschaftlicher Austausch eine notwendige Voraussetzung für Frieden, auch weil ein Grossteil der eher jungen Bevölkerung in beiden Staaten die Zeit vor dem Krieg gar nicht mehr erlebt hat. Sie kennen niemanden aus dem anderen Land, haben keine Erinnerungen an ein friedliches Miteinander und hören seit ihrer Geburt nichts anderes als Kriegsrhetorik. Die negative Darstellung der gegnerischen Seite zieht sich durch die offizielle Geschichtsschreibung, durch Streitereien um die Herkunft gemeinsamer Kulturgüter wie Lieder, kulinarische Spezialitäten oder Bauwerke, aber auch durch innenpolitische Machtkämpfe. Als es in Armenien im April 2018 zur sogenannten Samtenen Revolution kam, keimte kurz Hoffnung auf einen neuen Anlauf im Friedensprozess auf. Mit dem neuen Premierminister Nikol Pashinyan steht erstmals in der Geschichte der Republik Armenien kein Kriegsveteran an der Spitze. Auch stammt er selbst nicht aus Bergkarabach, anders als viele bisherige hochrangige Politiker. Er ist mit 45 Jahren relativ jung und galt als Hoffnungsträger für einen Wandel. So ersetzte er zahlreiche ranghohe, der Korruption verdächtigte Funktionäre durch neue Leute, tauschte Russland-treue Politiker*innen gegen EU-orientiertes Personal aus. Pashinyans Machtübernahme wirkte sich zunächst tatsächlich positiv auf den Friedensprozess aus, die Zusammenstösse entlang der Kontaktlinie nahmen ab. Doch bald kühlte die Stimmung wieder ab. Im August 2018 trat Pashinyan einer Menschenmenge in Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert mit den Worten «Artsakh ist Armenien!» entgegen und plädierte für eine Vereinigung mit Armenien. In Aserbaidschan reagierte man verärgert. Im Juli dieses Jahr kam es dann zu den schwersten militärischen Auseinandersetzungen seit dem Vier-Tage-Krieg von 2016, und zwar untypischerweise nicht in Berg­ karabach selbst, sondern 300 Kilometer nördlich, an der internationalen Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan. Hier wurde seit den 1990er-Jahren nicht mehr gekämpft. Wer angefangen hat, ist ungeklärt. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig der Provokation. Zwei Tage nach Beginn der ersten Kämpfe versammelten sich inoffiziellen Schätzungen zufolge rund 30 000 Menschen in Baku, verlangten ein härteres Vor22

gehen von der Armee und riefen Slogans wie «Karabach ist unser!» und «Schluss mit der Quarantäne, beginnt den Krieg!». Die Polizei liess die Menschenmenge grossenteils gewähren und griff erst ein, als eine Gruppe das Regierungsgebäude stürmte. Marode und korrupt In einem Interview mit der Nachrichtenplattform eurasia.net schätzte der Politologe Zaur Shiriyev von der International Crisis Group die Stimmung in Aserbaidschan wie folgt ein: «Dies ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass eine so breite Bewegung von der Regierung in Bezug auf die Entwicklungen an der Front aktiveres Handeln verlangt. Die Regierung wird das sicher nutzen, um internationalen Druck auf Armenien zu fordern.» Innenpolitisch aber stelle sich die Frage: Wie befriedigt man die Forderungen der Protestierenden? Investitionen in eine Verbesserung der schlechten Lebensbedingungen der Menschen in den Grenzgebieten und entlang der Kontaktlinie könnten eine Möglichkeit sein, um den Missmut der Bevölkerung zu dämpfen, so Shiriyev. Von offizieller Seite wurde die Grossdemonstration kaum kommentiert. In Armenien ist vor allem Nikol Pashinyans Umgang mit der Covid-19-Pandemie Gegenstand massiver Kritik vonseiten der extremen Rechten und von Vertreter*innen der ehemaligen Regierung. Allerdings geniesst Pashinyan weiterhin breite Unterstützung und äusserte sich kürzlich für eine friedliche Lösung in der Bergkarabach-Frage. Möglicherweise spielt die Pandemie auch eine Rolle in den aktuellen Auseinandersetzungen: Beide Regierungen stehen deswegen unter hohem Druck. Die Gesundheitssysteme sind marode und von Korruption gezeichnet, die Wirtschaft leidet, die Arbeitslosigkeit steigt und die hohen Ansteckungszahlen in direkter Nachbarschaft der Hot Spots Russland, Iran und Zentralasien geben wenig Anlass zu Hoffnung. Ein neuer Krieg würde die Situation nur verschlimmern, kleinere Gefechte aber könnten ein wirkungsvolles Ablenkungsmanöver von den massiven Schwierigkeiten darstellen, mit denen beide Regierungen zu kämpfen haben. Das werfen sich die Regierungen zumindest gegenseitig vor. Die grosse Demonstration in Baku hat gezeigt, wie schnell ein solches Kalkül auch nach hinten losgehen könnte.

Unruhige Region, instabiles Umfeld Wirtschaftlich hält der Konflikt beide Staaten gefangen. 2015 rechnete Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik SWP vor: Das durch Öl- und Gasvorkommen reich gewordene Aserbaidschan gibt mit damals mehr als vier Milliarden US-Dollar mehr Geld für sein Militär aus, als das gesamte armenische Staatsbudget umfasst. Allerdings besitze auch das deutlich kleinere und ressourcenarme Armenien proportional zu seiner Bevölkerungsgrösse und Wirtschaftsleistung eine der höchsten Verteidigungsausgaben weltweit. Das eher problematische internationale Umfeld mit Russland im Norden, Iran im Süden und der Türkei im Osten der Region sind nicht gerade förderlich für den Frieden. Dazu kommen die Öl- und Gasvorräte im Kaspischen Meer, die Aserbaidschans Oligarchen zu einem enormen Reichtum verholfen haben. Russland wird traditionell auf der Seite Armeniens verortet und positioniert sich als dessen Sicherheitsgarant, pflegt aber auch mit Aserbaidschan pragmatisch einen guten Austausch und hat vor allem Interesse an bleibendem Einfluss in der Region. Die Türkei hat aufgrund der historischen Last des Genozids an den Armeniern im Jahr 1915 ein hochproblematisches Verhältnis mit der Republik Armenien und sucht offen die Nähe mit Aserbaidschan, bleibt militärisch jedoch bisher zurückhaltend. Und Iran, entgegen aller religionspolitischen Klischees, unterstützt unter anderem aufgrund von Streitereien um die Grenzziehung im Kaspischen Meer sowie aus Angst vor dem Unruhepotenzial der grossen aserbaidschanischen Minderheit im Inland eher das christliche Armenien als das muslimische Aserbaidschan – unter anderem mit Gaslieferungen. WIN Surprise 483/20


«Versöhnung ist möglich» Nach Auseinandersetzungen zwischen Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen im Ausland fordert die aserbaidschanische Publizistin Arzu Geybulla ein Ende der Gewalt. INTERVIEW  SARA WINTER SAYILIR

Arzu Geybulla, nach Zusammenstössen in Städten wie Moskau, Brüssel und Los Angeles haben Sie sich mit anderen aserbaidschanischen und armenischen Kollegen über die Sozialen Medien für gegenseitigen Respekt und Frieden ausgesprochen. Warum? Alle Menschen haben das Recht auf freie Meinungsäusserung. Ich komme aus einem Land, in dem dieses Recht nicht immer respektiert wird. Deshalb ist es wichtig, die Menschen an jenen Orten zu schützen, wo es möglich ist, sich kritisch zu äussern. Beide Seiten müssen lernen, die Meinung der anderen auszuhalten. Überträgt sich der Konflikt jetzt auch auf die Menschen im Ausland? Eigentlich hätten die Menschen in den Exilgemeinden die Möglichkeit, ihre eigene Perspektive kritisch zu hinterfragen. Sie sind schliesslich nicht länger darauf angewiesen, das zu glauben, was man ihnen von Regierungsseite vorsetzt. Trotzdem reproduzieren sie oft dieselben Ansichten in Bezug auf den Konflikt wie die Menschen in Armenien und Aserbaidschan selbst – nur dass sie woanders leben. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass es auch anders geht, dass gegenseitiges Verständnis, Anerkennung und Versöhnung möglich sind. Leider bedeutet dieser Weg momentan auch, dass man riskiert, von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Das ist nicht einfach.

chen auf Rückgabe der eroberten Gebiete erinnern, dann sollten sie doch auch all die anderen Dinge einfordern, die ihnen fehlen, wie Pressefreiheit, Recht auf freie Meinungsäusserung oder Zukunftsperspektiven. Sie haben den Krieg als Kind erlebt und waren derselben Propaganda ausgesetzt wie andere. Warum sind Sie dennoch für eine friedliche Lösung? Obwohl ich aus einer politisch aktiven Familie komme, erinnere ich mich nicht daran, dass mir je gesagt wurde, ich müsste Armenien hassen oder dass die Armenier*innen unsere Feinde seien. Natürlich las ich dieselben Geschichtsbücher in der Schule wie alle anderen, aber offenbar ist Hass nicht mein stärkster Charakterzug. Ich wollte immer die Gründe verstehen, warum die einen die anderen auf eine bestimmte Art und Weise sehen wollen – das hat auch meine Wahrnehmung von Armenien beeinflusst. Zudem lernte ich auf einem Auslandsaufenthalt mit sechzehn Jahren eine Armenierin kennen, die dasselbe Programm absolvierte. Der Kontakt mit ihr – die gar nicht das Monster war, als das die Armenier*innen in Aserbaidschan dargestellt wurden – hat meine Sicht auf den Konflikt und die beiden involvierten Seiten ebenfalls geprägt.

«Beide Seiten müssen die Meinung der anderen aushalten können.»

Sie selbst leben in Istanbul im Exil und ARZU GE YBULL A gelten in Aserbaidschan als «Verräterin» – weil Sie sich für den Frieden einsetzen? Nein, es geht nicht darum, dass ich mit dem sogenannten Feind zusammenarbeite, sondern um meine journalistische Arbeit. Allerdings wird das armenische Argument genutzt, um gegen mich Stimmung zu machen. Als ich begann, als Autorin mit internationaler Reichweite die Politik der Regierung Aliyev zu kritisieren, nutzten sie die Tatsache, dass ich unter anderem für die türkisch-armenische Zeitung Agos arbeitete, um mich als Vaterlandsverräterin zu brandmarken. An der Demonstration in Baku mischte sich Unzufriedenheit mit der Regierung mit der Forderung nach Krieg. Ist das nicht seltsam? Es ist wirklich erstaunlich, wie gut das Narrativ der Regierung verfängt. Die Menschen, die von der Regierung fordern, sie solle Armenien gegenüber aggressiver auftreten oder in den Krieg ziehen, sind genau dieselben, die sich sonst mit Kritik an der Regierung gänzlich zurückhalten. Obwohl sie genau wissen, dass dieselbe Regierung für ihre niedrigen Löhne und ihre schlechten Lebensbedingungen verantwortlich ist. Wenn sie schon ihre Rechte einfordern, indem sie jetzt die Regierung an ihre VerspreSurprise 483/20

Seitdem die aserbaidschanische Regierung im Laufe des letzten Jahrzehnts die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Region weiter erschwert hat, sind fast alle Initiativen zum Erliegen gekommen, die Menschen aus beiden Ländern Begegnungen ermöglicht haben. Es fehlen gemeinsame Räume, um etwas anderes als Hass zu erleben. Richtig, das ist ein grosses Problem. Viele meinen, ganz Aserbaidschan oder ganz Armenien sei verantwortlich für den Krieg. Dabei ist das falsch. Die Soldaten, die jetzt kämpfen, tragen keine Verantwortung für das, was damals passiert ist, sie können nicht zurückgeben oder -fordern, was damals genommen wurde. Doch sie denken so, weil sie nie etwas anderes gehört haben und nie die Chance hatten, mal mit jemandem von der anderen Seite zu sprechen, der oder die vielleicht dieselbe Popmusik gut findet oder sich ebenfalls für die Schönheit des Kaukasus begeistert.

ARZU GEYBULL A,  37, ist eine aserbaidschanische Publizistin. 2014 wurde sie von der BBC zu einer von 100 «Women Changemakers» gewählt. Vor einem Jahr gründete Geybulla die Plattform «Azerbaijan Internet Watch», wo sie dokumentiert, wie in Aserbaidschan Informationsflüsse kontrolliert werden. az-netwatch.org

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«Es gibt sicher keine Idealgesellschaft» Literatur In seinem neuen Roman «Hyäne» entwirft Benjamin von Wyl eine Utopie,

die viel mit dem Hier und Jetzt zu tun hat – und die Erlösung verspricht. INTERVIEW  ANAÏS MEIER

Benjamin von Wyl, Ihr Roman eignet sich nicht, um bei der Lektüre ausgiebig zu essen. Eigentlich mag man gar nicht mehr essen, während man das Buch liest. War das Ihr Ziel? Benjamin von Wyl: Nein, gar nicht. Ich selber esse sehr gern gut. Aber es stimmt: Das Essen verkommt im Buch bestenfalls zur blossen Nahrungsaufnahme und hat wenig mit Genuss zu tun. Das Essen ist sehr zentral im Buch, ansonsten ist die Digitalität ein grosses Thema, Social Media, Chatten. Ist da das Essen eher ein mühsames Übel, das völlig veraltet ist? Nein, sicher nicht. Das haben wir ja gerade in den letzten Monaten gesehen: Während des Lockdowns war das Essen und der Genuss dabei für die Menschen vielleicht noch wichtiger als sonst.

ich schon einen Roman schreibe und keine Reportage, dann will ich mir auch die Freiheiten nehmen, die einem die Literatur gönnt. Es gibt zwei Hauptfiguren, die junge Frau und der Global Player. Welche der beiden ist wichtiger? Ich fühle mich der jungen Frau sicher sehr viel näher, und sie ist für mich klar die Hauptprotagonistin. Die Figur, die ich «Arschloch» nenne, kriegt allerdings viel Platz, das stimmt. Der Typ ist schrecklich, aber es ist einfach leider so, dass solche Typen so viel schwafeln, vor allem über sich selbst schwafeln. Aber wenigstens im Buch nützt ihm das am Ende ja nichts.

Die Sprache ist heutig und die Geschichte spielt, jedenfalls auf den ersten Blick, klar in der Gegenwart. Ist es Ihnen wichtig, mit der Literatur aktuelle Themen zu behandeln? Ja. Wohl, weil ich auch Journalist bin. Literarisch verarbeite ich oft all die Dinge, die ich als Journalist nicht aufschreiben darf, und die sind nun mal sehr gegenwartsbezogen. Als Journalist begegne ich Menschen, über die ich schreibe, aber eben nur auf ein Thema bezogen. Dabei fällt einem aber viel auf, das im Artikel keine Rolle spielt – oder was vielleicht, als Aussage über die Realität, auch beleidigend wäre. Dann bin ich wie ein Schwamm, irgendwann vermengt sich das mit allen Eindrücken, die ich sonst habe, zu einem längeren, literarischen Text. Daher sind meine Themen immer sehr aktuell. Im Verlauf der Geschichte gibt es immer wieder Geschehnisse, die einen an der Realität zweifeln lassen, bis die Geschichte komplett surreale Züge annimmt und in einer Dystopie endet. Ich weiss nicht, ob man das so negativ sehen muss. Ich finde das Ende sehr utopisch. Es ist halt nicht diese Art Utopie, wie wir sie gewohnt sind. Und das Surreale: Wenn 24

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FOTO: ZVG

Und? Nützt Widerstand etwas? Es ist wichtig, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren und widerständig zu sein. Was wirklich etwas bringt, weiss ich nicht. Es gibt sicher keine Idealgesellschaft. Aber das heisst auf keinen Fall, dass man sich mit der Gesellschaft, in der wir leben, arrangieren soll.

Benjamin von Wyl: «Hyäne. Eine Erlösungsfantasie», Roman, lector books 2020

Zwischen Realität und Science-Fiction Eine junge Frau mit Bachelor-Abschluss hangelt sich mit verschiedenen schlecht bezahlten und ihr sinnlos erscheinenden Jobs durch den Alltag. Nachts beobachtet sie einen Nachtwächter, dessen Leben noch festgefahrener und ereignisloser erscheint als ihr eigenes. Bis der Nachtwächter niedergeschlagen wird und eine überaktive Linksaktivistin auftaucht. Derweil kreist am Himmel ein ewig flugzeugfliegender, bulimischer Global Player, der sich auf einen wichtigen Job in einer mitteleuropäischen Stadt vorbereitet. Benjamin von Wyl changiert in seinem zweiten Roman gekonnt zwischen Gegenwart und Zukunft, Realität und Science-Fiction. Auf die Erlösung müssen die Leser*innen allerdings recht lange warten; und die ist dann auch ganz anders als erwartet. Benjamin von Wyl schreibt als Journalist auch regelmässig für Surprise.

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FOTO: XENIXFILM

Die Figur des Global Players ist literarisch interessant, weil seine Sprache und sein Gebaren stark an jene in populären Romanen der 1990er-Jahre erinnern, etwa von Frédéric Beigbeder oder Bret Easton Ellis. Nur waren sie in den Romanen jener Zeit die absoluten Gewinner, während der Machtmensch bei Ihnen eigentlich ein ziemlich kümmerlicher Typ ist, der dann auch scheitert. Kann man das als Abgesang auf die Heroisierung solcher weisser, wirtschaftlich erfolgreicher Männer sehen? Ich als weisser Mann fände es toll, wenn es solche Typen nicht mehr geben würde. Wenn das als Abgesang auf solche Typen gelesen werden kann, dann finde ich das super. Ob es einer ist, weiss ich nicht. Ich denke, was wichtig ist, ist die Tatsache, dass solchen Typen etwas entgegengesetzt wird. Dass sie auf Widerstand stossen. Das passiert heute vielleicht häufiger als vor dreissig Jahren. Und davon handelt mein Buch auch: von verschiedenen Arten von Widerstand und davon, ob und in welcher Form Widerstand etwas bringt.

Der Sündiger predigt Film Der polnische Spielfilm «Corpus Christi» erzählt von einem jungen Häftling, der sich als Priester ausgibt. Daniels Blick bleibt im Gedächtnis haften. Grosse blaue Augen in einem eigentümlich feinen und zugleich kantig geschnittenen Gesicht, die am Schluss, nach einer brutalen Prügelei, inmitten all des Blutes geisterhaft aussehen. Jugendknast in Polen. Zugedröhnte junge Männer zwischen Drogen und Alk. Wenn der Wärter wegschaut, fällt man als Rudel über einen Kollegen her und klemmt ihm bei der Arbeit im Sägewerk zwischendurch die Eier ein. Entsättigt die Farben, grau die Welt, die Handlung anfangs bruchstückhaft in blossen Szenenfragmenten erzählt. Die Kamera bleibt oft lange auf Daniel. Es sind Grossaufnahmen, die an Porträtfotos erinnern. Daniel wird bald aus dem Jugendgefängnis entlassen, und eigentlich möchte er ein Priesterseminar besuchen. «Es gibt einfachere Wege, Gutes zu tun», sagt ihm der Gefängnispfarrer, denn ein Krimineller im Priesterseminar, das geht natürlich nicht. Also zieht er weiter, um in einem Sägewerk in einem anderen Winkel des Landes zu arbeiten. Am neuen Ort nimmt man ihm aber ab, dass er ein junger Pfarrer sei. Und weil gerade Bedarf besteht, übernimmt er vorübergehend das Priesteramt. Mit Zigarette in der Hand bereitet er sich im Schein der iPhone-Taschenlampe auf seine Predigt vor, die Beichte nimmt er mithilfe einer christlichen Smartphone-App ab, weil er die Texte nicht beherrscht. Es sind absurde Situationen, die nie ins Komische kippen, sondern davon erzählen, wie einer um ein Leben kämpft, das ihm eigentlich verwehrt ist. Doch alte Feinde tauchen auf, und Daniel schafft sich neue, indem er sich in die Aufarbeitung einer Dorftragödie einmischt. In ruhigem Rhythmus reiht sich das eine an das andere, am Schluss bleiben diese erschreckten Augen. «Corpus Christi» war dieses Jahr als bester Internationaler Film für den Oscar nominiert. DIF

Jan Komasa: «Corpus Christi», Polen 2019, 115 Min., mit Bartosz Bielenia, Eliza Rycembel, Aleksandra Konieczna u.a. 25


Dornach «Die Macht der Musik – mit Zwischentönen», Benefizkonzert zugunsten des Surprise Strassenchors, Sa, 12. September, 19 Uhr, Klosterkirche Dornach; Eintritt frei – Kollekte, Reservationen erwünscht bis Mi, 9. September an paloma.selma@surprise.ngo. Das Konzert wird mit einem Live-Stream auf facebook.com/surpriseNGO übertragen. surprise.ngo/angebote/strassenchor/auftritte

Aus der musikalischen Zusammenarbeit zwischen dem Surprise Strassenchor mit dem international bekannten Umbria Ensemble aus Italien und der Flötistin Myriam Hidber Dickinson aus Arlesheim ist das Projekt «Die Macht der Musik – mit Zwischentönen» entstanden. Für dieses spezielle Benefizkonzert haben Musiker*innen verschiedener geografischer Regionen und unterschiedlicher musikalischer Stilrichtungen zusammengefunden. Lieder aus der Schweiz sind dabei und Songs aus Südafrika, klassische Musik für Flöte, Klavier, Viola und Violoncello und zum Abschluss ein Medley mit Sinti- und Romaliedern. Denn der Surprise Strassenchor unter der neuen Leitung von Anna-Marina Sadeghi findet: «Musik kennt keine Grenzen und macht uns gerade in ungewissen Zeiten Mut, lässt uns träumen und hoffen.» DIF

Zürich «Videoex», Experimentalfilmund Videofestival, Fr, 11. bis So, 20. September, Kunstraum Walcheturm, Kanonengasse 20, Festivalkino Cinema Z3, Zeughaus 3. videoex.ch

Videoex ist das einzige Festival in der Schweiz, das sich explizit dem experimentellen Film- und Videoschaffen widmet. Jedes Jahr fokussiert es auf das Filmschaffen einer bestimmten Region, diesmal mit dem Gastprogramm «Argentina: David Lamelas». Der in Argentinien geborene Lamelas war ursprünglich Bildhauer und begann erst später über die Arbeit mit Fotografien und Text mit filmischen Arbeiten: Es war der Wunsch,

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«skulpturale Formen ohne jedes physische Volumen» herzustellen, bestehend aus Zeit, Raum und Sprache. Weiter sind die argentinische Künstlerin Narcisa Hirsch, die französische Filmemacherin Laure Provost und die englische Turner-Preisträgerin Charlotte Prodger vertreten. Zudem stellt das Festival jeweils eine Persönlichkeit aus der Schweizer Experimentalfilm- oder Videoszene vor: Das Künstlerduo collectif_fact – Annelore Schneider und Claude Piguet, beide aus Neuchâtel – beschäftigt sich in seinen Videoarbeiten mit der Dekonstruktion kinematografischer Codes in unserer visuellen Kultur. In den Collagen aus vertrauten Bildern, Anspielungen auf Kinoklassiker, Fragmenten von Dialogen, Voiceovers und Musik verleiten die Hollywoodreferenzen das Publikum zu Trugschlüssen. Die Videokünstler *innen verwenden digitale Mittel, die an die Ästhetik von Games erinnern. Ziel ist es, die Zuschauer*innen zu ermutigen, sich kritisch mit ihren Wahrnehmung der medialisierten Realität auseinanderzusetzen. DIF

Basel «Critical Whiteness auf und hinter der Bühne – eine Einführung», Workshop, Fr, 11. September, 19 Uhr, Kaserne Basel, Reithalle, Klybeckstr. 1b. Die Teilnahme am Workshop erfolgt über Voranmeldung per Mail an basel@tpunkt.ch, im Vorfeld erhalten die Teilnehmer*innen eine kurze vorbereitende Aufgabe. kaserne-basel.ch Es sind Fragen, die in den letzten Monaten gerade auch in der öffentlich-rechtlichen Medienwelt viel zu reden gaben: Wenn wir davon ausgehen, dass Theater, Podien, Diskussionssendungen und andere Orte der öffentlichen Meinungsbildung weiss dominierte Räume sind – wie tragen wir dann diesem Umstand Rechnung? Die Sekundarlehrerin und Musikerin Dshamilja Gosteli, die Tänzerin, Sozialanthropologin und Theaterwissenschaftlerin Pascale Altenburger und die Geschäftsleiterin Stiftung Cooperaxion und Koordination Gruppe «Kritisches_WeissSein Bern», Marianne Naeff, diskutieren diese Fragen in Zusammenhang mit dem lokalen Theaterschaffen. Weil sie sagen: Es ist an der Zeit für eine rassismuskritische Selbstreflexion. Die Veranstalterinnen beleuchten das weiss-Sein als politisches und soziales Konstrukt. Gemeint ist damit seine dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus, die meist unbenannt bleibt. Der Workshop hat Bildungsanspruch, hält aber sicher auch alltagstaugliche Antworten bereit. DIF

Zürich «REDENsingen», Kammer­ oper, Sa, 19., Mi, 23., Do, 24., So, 27., Mi, 30. September und Do, 1. Oktober, jeweils 19 Uhr, Sa und So jeweils 17 Uhr, sogar theater, Josefstrasse 106 (im Innenhof). sogar.ch

Der Komponist und Theatermusiker Till Löffler hat real gehaltene Reden aus den letzten fünfzig Jahren vertont und zu einer Kammer­ oper zusammengeführt: Sie stammen von Politikern wie George W. Bush, Angela Merkel oder Richard von Weizsäcker bis hin zur Klimaaktivistin Greta Thunberg oder zum Soziologen Jean Ziegler und zur Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai. Ihnen gemeinsam ist im weitesten Sinn das Thema Menschenrechte. Auf der Bühne bewegen sich nun in einem Wald von Mikrofonen ein Schauspieler, ein Sänger und eine Sängerin; die drei feuern sich mit ihren Texten an, bekämpfen oder verbünden sich oder reden, schreien, singen aneinander vorbei. Begleitet werden sie von einer Cellistin, einem Pianisten und einem Sound-Designer, der Samples mit O-Tönen aus den Reden untermischt. Die Komposition versucht der Musikalität politischer Reden auf die Spur zu kommen und legt bewusst (oder unbewusst) eingesetzte musikalisch-rhetorische Mittel offen. DIF

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BILD(1): KLAUS PETRUS, BILD(2): DAVID LAMELAS, BILD(3): AYSE YAVAS

Veranstaltungen


es zu heiss. Einfach für alles ist es zu heiss, die ganzen Sommervergnügen, auf die man sich das ganze Jahr gefreut hat, schmelzen dahin wie das soeben erstandene Glace, das gar nicht so schnell ­gegessen werden kann, wie es zerläuft. Ein ausgefuchster Profi isst seines darum im gekühlten Eingangsbereich des Ladens. Der Bäcker wird bemitleidet, weil er in der Backstube arbeiten muss, obwohl er diese schon lange verlassen hat, wie die Schrift über dem Laden verkündet: Jedi Nacht vo eusne Händ gmacht.

Tour de Suisse

Pörtner in Greifensee Surprise-Standort: Migros Einwohner*innen: 5379 Sozialhilfequote in Prozent: 2,1 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 20 Anzahl Vereine: 70

Es ist heiss. Besonders heiss ist es in dem kleinen Innenhof des Einkaufszentrums. Ein junger Mann stöhnt und schwitzt, entledigt sich seines T-Shirts und betritt nur noch mit Shorts be­ kleidet den Discounter, vor dem über die Bäckeranlage im nicht weit entfernten Zürich geplaudert wird. Vor der Post hat sich eine Schlange gebildet. Pakete ­werden angeschleppt, unhandlich grosse, wahrscheinlich Fehlkäufe aus dem ­Internet, die über die Ferien ihren Glanz verloren haben. Jene, die aus der Post­ filiale heraustreten, sind erleichtert, die Ware losgeworden zu sein. Aus dem Discounter kommen junge Frauen mit Glaces, dort sind sie wohl am günstigsten. Im Restaurant wird die Kaffeemaschine gereinigt, darum gibt es keinen Espresso. Ein Rollbrett rattert vorbei, ein Bub trägt eines, das fast gleich gross ist wie Surprise 483/20

er selber. Männer schieben Kinderwagen, Frauen ziehen Einkaufswagen. Der ­Kellner kauft das italienische Mineralwasser im Discounter, ein vorbildlich kurzer Transportweg. Den auf der Stelltafel vor dem Restaurant angepriesenen heissen Stein wird er heute wohl nicht servieren müssen. Die aus kreisrunden Metallrohren gefertigten Bänke, die um durstig wirkende Bäume angelegt sind, se­hen in der Sonne aus wie Heizkörper und laden nicht dazu ein, sich niederzulassen. Es schwitzt auf dem Palett die plastikverpackte Gartenerde, niemand denkt heute ans Gärtnern. Günstig und in rauen Mengen zu haben ist das gestapelte ­Toilettenpapier, nicht weniger als sechs Sorten mit bis zu fünfzig Prozent Rabatt. Der Absatz hält sich in Grenzen, auch die daneben angebotene Holzkohle wird nicht nachgefragt. Zum Grillen ist

Eine Frau im schwarzen Sommerkleid trifft ihre Freundin im weissen Sommerkleid. Die Handwerker betreten das ­Restaurant und wollen ausdrücklich nicht draussen sitzen, weil es dort zu heiss ist, lassen sich dann aber doch noch überzeugen, in den Loungesesseln unter den Sonnenschirmen bei den Thujapflanzen Platz zu nehmen. Die Kaffeemaschine ist inzwischen wieder im Betrieb, es werden entsprechende Heissgetränke aufgetragen. Im Aushangkasten kann – demokratisch vorbildlich – jede im Gemeinderat vertretene Partei ein Traktat im Format A4 anbringen. Diese sind schlicht gehalten und stechen neben der Absage des Seniorenausflugs in die Taminaschlucht, den Öffnungszeiten der Bibliothek, der Konzertabsage der Kunstgesellschaft und dem leer gebliebenen Feld der Trachtengruppe nicht besonders hervor. Der Jazzclub hingegen ist zuversichtlich und wirbt auf dem Platz für ein anstehendes Montagskonzert. Schutzkonzept vorhanden. Eintritt frei.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

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19 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 20 Zubi Carosserie, Allschwil 21 Kaiser Software GmbH, Bern 22 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 23 RLC Architekten AG, Winterthur 24 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 25 Neue Schule für Gestaltung, Bern Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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Wir alle sind Surprise #481: Der Stern des Anstosses

#481: «Wir können wirklich etwas verändern»

«Störend beim Lesen»

«Immer noch ein Machtgefälle»

Beim Lesen der aktuellen Ausgabe sind wir etwas abgestossen worden. Sie nutzen, ähnlich wie der Frauenstreik, einen Stern in Wörtern. Die Erklärung im Heft stellte uns nicht zufrieden, wir wurden nicht ganz schlau daraus. Dafür fanden wir es störend beim Lesen, denn dieses Zeichen ist sehr auffällig und lenkt stark ab, vor allem wenn man älter ist und nicht mehr so gut sieht. Wir fragen uns darum, warum Sie Ihre Texte nicht leserfreundlicher gestalten. Auch auf Ihrer Webseite verwenden Sie in einigen Wörtern den Stern. Wir freuen uns darauf, in Zukunft wieder lesbare Texte von Ihnen zu erhalten. P. UND M. GÄMPERLE,  Olten

«Wieder nur Anhang» Das Strassenmagazin und somit auch Surprise wird für mich als «normale» Frau immer mehr zu einer Organisation, die ich nicht mehr unterstützen will. Im aktuellen Heft führen Sie den Gender-Stern ein. Was soll denn das für eine Sprache sein? Werden wir Frauen wieder nur als Anhang zu den Männern gesehen? Ich finde das extrem frustrierend, wenn sogar das Strassenmagazin, eigentlich ein soziales Heft, wieder die männliche Form bevorzugt. Die Argumentation von Herrn Urech überzeugt absolut nicht, sie ist ideologisch. T. HÖRLER,  ohne Ort

Anm. d. Red.

Je nach grammatikalischer Ausgangsform ist mal die männliche, mal die weibliche Form Basis für die gegenderte Version mit Stern, siehe Beispiel «Jede*r» auf dem Titel.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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Surprise 483/20

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Isabel Albertos, Dimitri Grünig, Eva Hirschi, Anaïs Meier, Miriam Suter, Jan Zychlinski Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Mich überzeugt der Ansatz, als weisse Redaktion vier Aktivist*innen zu Wort kommen zu lassen und sich auf das Zuhören zu beschränken. Eine Frage ist mir dabei geblieben: Auch in diesem Fall gibt jemand (Sie) den andern (Aktivist*innen) das Wort; «geben» im Sinne von gewäh­ren, schenken, machen lassen. Dahinter steht aber immer noch ein Machtgefälle, weil die Eigentümerin der Zeitschrift entscheidet, wer wie in welcher Form zu Wort kommt. Ist es für Sie denkbar, dass eines Tages die verlegerische und redaktionelle Macht auch auf die betroffenen Leute verteilt wird? Ich sehe diese Frage als Teil eines umfassenderen Problems, nämlich des verbrieften Anspruchs auf Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen, wie zum Beispiel beim Stimm- und Wahlrecht auf allen Ebenen. Generell überzeugt mich am Strassenmagazin die Qualität der Sprache und des Layouts, dabei vor allem der ­Abbildungen. Die Inhalte scheinen mir wirklich immer relevant; ich schätze es, dass es keine Bla-bla-bla-Kolumnen gibt. J. BROGLI,  ohne Ort

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 483/20

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Arbeit ist für mich die beste Schule» «Ich bin vor acht Jahren aus politischen Gründen aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Zuerst war ich zwei Wochen im Sudan, später zweieinhalb Jahre in Äthiopien, dann kurz in Italien, und von dort kam ich in die Schweiz. In Äthiopien habe ich mich eigentlich am wohlsten gefühlt, abgesehen von der Schweiz natürlich. Die äthiopische Sprache ist meiner sehr ähnlich, die Kultur ist ähnlich und vor allem: das Essen! Mein Lieblingsessen ist Injera, ein weiches, rundes Brot aus Teffmehl. Das nimmt man in die Hand und isst es mit Sauce, Gemüse und Salat. Ich lebe in Strengelbach, dort habe ich eine eigene Wohnung. Seit etwas mehr als sechs Jahren habe ich den B-Ausweis und vor zwei Jahren habe ich ange­ fangen, in Zofingen beim Coop Surprise zu verkaufen. Ich liebe diese Arbeit sehr. Man kommt mit so vielen Leuten in Kontakt und man lernt deren Sprache. Die meisten Leute sind nett zu mir, ich hatte vor dieser Arbeit gar keine richtigen Freunde – jetzt schon, und das macht mich sehr glücklich. Aber nicht alle Leute sind freundlich, wenn ich Surprise verkaufe. Manchmal sagen sie gemeine Sachen zu mir. Zwei, drei Mal hat mich ein Mann rassistisch beleidigt, da musste ich weinen. Aber zum Glück sind andere Passanten gekommen und haben ihm gesagt, er solle aufhören. Ausserdem arbeite ich in einem Altersheim in Strengelbach. Das ist auch eine tolle Arbeit, mein Chef ist nett, und ich verstehe mich gut mit den anderen Angestellten. Der Kontakt mit den alten Menschen macht mir grosse Freude, sie sind so lieb. Arbeit ist für mich die beste Schule. Bevor ich anfangen konnte, in der Schweiz zu arbeiten, sprach ich praktisch kein Deutsch. In meiner Freizeit besuche ich gern meine Schwester, sie lebt in Suhr und hat vier Kinder. Sie arbeitet im Kantonsspital und ihr Mann in der Migros in Aarau. Bis vor vier Monaten lebte ich alleine, aber jetzt ist mein Mann jetzt in die Schweiz gekommen, und wir leben endlich wieder zusammen. Ich habe ihn vier Jahre lang nicht gesehen. Wir haben noch keine Kinder, ich war in dieser Zeit alleine und habe ihn sehr vermisst. Er ist Äthiopier, wir haben uns dort kennengelernt, verliebt und sofort geheiratet. Deshalb durfte er erst nachkommen, als ich in der Schweiz Arbeit gefunden hatte. In Äthiopien war er Pastor in einer Kirche, das möchte er auch hier in der Schweiz wieder sein. Doch zuerst muss er besser Deutsch lernen. Wir sind beide gläubige 30

Emnet Kelemework, 37, verkauft in Zofingen Surprise und singt im äthiopischen Gottesdienst im Chor mit.

Christen, und wenn ich keinen Sonntagsdienst habe, gehen wir zusammen in Strengelbach in die Kirche. Es gibt in Aarau ausserdem einen äthiopischen Gottesdienst mit Chor, meine Schwester und ich singen dort beide mit. Ich lebe sehr gerne in der Schweiz. Praktisch alle Schweizer*innen, die ich kennengelernt habe, haben ein gutes Herz. Ein Schweizer Paar, sie heissen Kathrin und Peter, hilft mir sehr viel. Ich habe sie kennengelernt, als ich vor dem Coop Surprise verkauft habe. Mit Kathrin habe ich hier so etwas wie eine Schweizer Mutter gefunden. Ich muss viel weinen, wenn ich daran denke – auch, weil ich meine eigene Mutter fest vermisse, mein Vater ist schon länger gestorben. Ich habe meine Mutter seit zehn Jahren nicht gesehen, aber wir telefonieren so oft wir können miteinander. Es geht mir hier aber sehr gut, ich bin so dankbar für alles: Meine Schwester lebt hier, ihr geht es gut, ich bin jetzt mit meinem Mann zusammen, habe Arbeit und bin zufrieden. Eigentlich möchten wir gerne noch Kinder – aber die sind ein Geschenk Gottes, ich hoffe einfach fest darauf!»

Aufgezeichnet von MIRIAM SUTER Surprise 483/20


SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank der gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufs­regeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand. Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Die Heft- und Geldübergabe erfolgt via Kessel.

Zahlen Sie möglichst passend in den Kessel.

Nehmen Sie das Heft bitte selber aus dem Kessel.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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