Surprise 483/20

Page 14

Von Mund zu Mund Wissenschaft Geschichten verbreiten sich wie Viren und prägen unser Verhalten. Nun wollen Forscher*innen aus Epidemien lernen, um soziale Krisen vorauszusehen. TEXT  ANDRES EBERHARD

Was wird über die Coronakrise dereinst in unseren Geschichtsbüchern stehen? Vielleicht: «Die Pandemie war die Kehrseite der starken Globalisierung.» Oder: «Das neue Virus beschleunigte die Digitalisierung.» Auch als Weckruf für solidarische Werte in einer individualisierten Gesellschaft oder als Zerreissprobe für moderne Demokratien könnte Covid-19 in Zukunft gelten. Ein bisschen Wahrheit steckt vermutlich in jeder dieser Erzählungen. Dennoch werden wir uns in hundert Jahren kaum an alle erinnern. Die eine oder andere Geschichte wird sich durchsetzen, wir werden unsere Lehren daraus ziehen, woraufhin Historiker*innen die Dinge so aussehen lassen werden, als wären sie unvermeidbar gewesen. Wir neigen dazu, Ereignisse in runde, stimmige Geschichten zu packen, die weitererzählt und damit nicht vergessen werden. Solche Narrative

Geschichten werden erzählt, seit es Menschen gibt. Neu ist, dass sie sich schneller und unkontrollierter verbreiten. prägen unser Denken. Dass die Realität komplexer ist, geht vergessen. Was war noch einmal der Grund für die Ausbreitung der Pest? Ach ja, fehlende Hygiene. Aids? Freie Liebe ohne Schutz. «Menschen sind ein Geschichten erzählendes Tier», sagt der Philosoph Alasdair MacIntyre. Tatsächlich wird und 14

wurde schon immer auf der ganzen Welt erzählt, in jeder Kultur, jedem Milieu, jedem Alter. Anthropolog*innen schlagen vor, unsere Spezies von «Homo sapiens» (der weise Mensch) in «Homo narrans» (der erzählende Mensch) umzubenennen. Und Neurowissenschaftler*innen sehen in unserem Hang zum Geschichtenerzählen den Grund dafür, warum wir nachts träumen. Schliesslich erscheinen uns im Schlaf nicht Gleichungen oder geometrische Figuren, sondern Narrative: Menschen, Orte und Ereignisse. Geschichten werden erzählt, seit es Menschen gibt. Neu ist, dass sie sich schneller und unkontrollierter verbreiten als je zuvor. Über soziale Medien gehen Storys «viral». Das ist für Leute aus der Werbung interessant, aber auch für Politiker*innen. Diese versuchen mithilfe von Narrativen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. In der Coronakrise waren das etwa Versuche, das Virus als «kleine Grippe» kleinzureden, es als «chinesischen Virus» zu verunglimpfen oder den eigenen heroischen Kampf gegen den unsichtbaren Feind in den Vordergrund zu rücken: Tests statt Tote. Narrative prägen den öffentlichen Diskurs auch in der Schweiz. Ein Beispiel: Seit Jahren steigen die Sozialkosten. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Bevölkerungszunahme, ein härterer Arbeitsmarkt oder steigende Wohnungsmieten gehören dazu. Diese komplexe Realität lässt sich nur schwer für den viel zitierten Stammtisch übersetzen. Besser eignet sich der Krimi von denen, die den Staat um viel Geld bringen. Solche Geschichten gibt es im Einzelfall tatsächlich, und sie lassen sich gut weitererzählen. Jedoch ist SozialSurprise 483/20


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.