Strassenmagazin Nr. 496 19. März bis 8. April 2021
CHF 6.–
davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen
Ist die Sozialhilfe noch zu retten? Seite 8
Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass
Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel
SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Naturseifen Handmade in Bern
www.bblubb.ch
Erlebnis
TITELBILD: BODARA GMBH
Editorial
Märchen Eigenverantwortung Als ich mir die Zahlen angeschaut habe, die Andres Eberhard zum schleichenden Ab bau der Sozialhilfe in den letzten 20 Jahren zusammengetragen hat, bin ich wütend geworden. Das mag emotional erscheinen, aber ehrlich: Wenn man all die verschie denen Kürzungsrunden in den einzelnen Kantonen so gesammelt vor sich sieht, erkennt man darin ein Muster der Menschenverachtung. Schritt für Schritt zwin gen wir Menschen, die schon mit sehr wenig auskommen müssen, dazu, mit noch weniger zurechtzukommen. Natürlich: Sie werden durch die Allgemein heit davor bewahrt, ganz ohne alles dazu stehen. Das ist eine Errungenschaft. Dahin ter sollten wir nicht zurückfallen. Aber ein Leben in Würde ist mit Sozialhilfe und den damit verbundenen Kontrollmechanismen sowie der Stigmatisierung kaum mög lich. Und wenn es nicht um Menschenwürde geht, worum denn dann? Nur das nackte Überleben zu sichern ist nichts, worauf wir heute noch stolz sein sollten.
4 Aufgelesen 5 Was bedeutet eigentlich …?
Einwanderung 5 Vor Gericht
Den Staaten dreinreden 6 Verkäufer*innenkolumne
Fremdbestimmt werden 7 Die Sozialzahl
Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt
Surprise 496/21
8 Sozialhilfe
Kritikerin Véréna Keller im Interview 10 Chronik des Abbaus 12 Steigende Kosten,
mehr Druck
14 Migration
EU-Grenzschutz mit Gewalt 18 Afghanistan
Wer sind die Hasara?
Dass es für die Sparmassnahmen einen volkswirtschaftlichen Grund gibt, halte ich in einem der reichsten Länder der Welt für einen schlechten Scherz. Ist einer der Hauptgründe für die Kürzungen nicht vielmehr, dass wir Armut immer noch als selbstverschuldet ansehen? Stichwort: Eigenverantwortung. Als hätten die Betrof fenen einfach nur an einer Kreuzung auf ihrem Lebensweg anders abbiegen müssen und die Armut wäre an ihnen vorbeige gangen. Dabei ist längst wissenschaftlich erwiesen, dass Armut strukturelle Gründe hat. Und dass es sinnvollere Lösungen gäbe, als die Betroffenen in dysfunktionalen Auf fangsystemen wie der Sozialhilfe zu halten. Können wir das anerkennen? Es würde bedeuten, dass wir endlich das Märchen von der Eigenverantwortung beiseitelegen müssten. SAR A
WINTER SAYILIR
Redaktorin
22 Frauenstimmrecht
26 Veranstaltungen
Ausstellungskuratorin 27 Tour de Suisse Fabienne Amlinger Pörtner in Wabern im Gespräch 24 Museumstour
zum Jubiläum
28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt
«Ich bin ein Kämpfer und Optimist»
3
Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Kämpferisch Die Argentinierin Nora «Norita» Cortiñas demonstriert seit über vierzig Jahren für die Wahrheit über den Verbleib ihres Sohnes. Am 15. April 1977 wurde der 24-jährige Gustavo auf dem Weg zur Arbeit vom Militär entführt. Gemeinsam mit vielen anderen Müttern startete die heute 91-Jährige regelmässige Proteste auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires. Sie fordern die Rückkehr der «desaparecidos», der Verschwundenen, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 entführt wurden. Bis heute wurde den betroffenen Familien keine Gerechtigkeit zuteil.
HECHO EN BS. AS., BUENOS AIRES
FOTOS: ALELI ALEGRIA CUBA
«Viele Mütter waren katholisch und abergläubisch. Sie verlegten die Proteste vom Freitag auf den Donnerstag, weil ‹ein Treffen an einem Freitag Unglück bedeuten› würde. Als wären wir durch das Verschwinden unserer Söhne nicht schon genug bestraft!»
ANZEIGE
sharity 28. 2. – 16. 5. 21 teilen tauschen verzichten Schönbodenstr. 1 8640 Rapperswil-Jona
4
Erfolgreich In den «Chancenhäusern» in Wien stehen Einzel- und Doppelzimmer mit Gemeinschaftsküchen und -bädern Obdachlosen rund um die Uhr offen. Der Zugang ist an keine Voraussetzungen geknüpft und kostenlos. 600 Plätze in fünf Häusern bietet die österreichische Hauptstadt an, das erste wurde 2018 eröffnet. 60 Prozent der Nutzer*innen haben keinen österreichischen Pass. Innerhalb von drei Monaten sollen die Betroffenen dank guter Beratung Wohnperspektiven entwickeln, in Einzelfällen ist eine Verlängerung möglich. Zwischenbilanz der Stadt: Die Hälfte zieht anschliessend in eine andere Hilfseinrichtung oder in die eigene Wohnung.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Surprise 496/21
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Was bedeutet eigentlich …?
Einwanderung Lange war die Schweiz ein Auswanderungsland. Später immigrierten vor allem Gastarbeiter*innen. So wurde Einwanderung hierzulande lange als etwas Temporäres ange sehen und Fragen der Integration wurden im Vergleich zu anderen Ländern spät diskutiert. Ein Blick auf die jüngere Geschichte zeigt: Ging es der Wirtschaft gut, stieg auch die Einwanderung. Während der Industrialisierung 1910 betrug der Ausländer*innenanteil 14,1 Prozent. Noch stärker nahm die Einwanderung in den Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Günstige Arbeitskräfte wurden aus Italien, Spanien und Portugal ins Land geholt, um den Bedarf im Baugewerbe und in der Hotellerie, in den Fabriken und der Landwirtschaft zu decken. Ihr Aufenthalt war auf eine Saison oder wenige Jahre beschränkt, der Familiennachzug untersagt, die Lebensbedingungen waren prekär – und mit der Ölkrise 1973/74 wurden sie zurück in die Hei mat geschickt. Als sich die Wirtschaft ab den 1980er-Jahren erholte, stieg die Immigration wieder an. Nun kommen Menschen vermehrt auch als Geflüchtete in die Schweiz. Eine weitere historische Konstante: Mit der Einwanderung nimmt immer auch die Angst vor Überfremdung zu. Diese führte im Jahr 2014 zur Annahme der Masseneinwanderungs initiative, die das bilaterale Abkommen mit der EU von 2002 gefährdet. Eine Einschränkung des freien Personenverkehrs bringt Arbeitgeber*innen im Tieflohnsegment, aber auch in Branchen wie Pflege oder Informatik in Schwierigkeiten. Diese sind auf Eingewanderte als Arbeitskräfte angewiesen. EBA Quelle: Marina Richter: Einwanderung. Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020.
Surprise 496/21
Vor Gericht
Den Staaten dreinreden Woran denken Sie beim Stichwort «fremde Richter»? Vielen, Ihre werte Gerichtsberichterstatterin eingeschlossen, fällt dazu sofort der EGMR ein, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Kaum verwunderlich, wurde die Schweiz dort wiederholt gerügt. Mehrfach in Fällen, in denen sich straffällige Ausländer*innen erfolgreich gegen ihre Ausschaffung gewehrt haben. Der Fokus auf den EGMR aber führt etwas in die Irre. Unbestritten sind Menschenrechte das höchste Rechtsgut überhaupt – doch von Interesse in Sachen «fremde Richter» sind auch das Gericht der Europäischen Union EuG und das oberste recht-sprechende Organ der EU, der Europäische Gerichtshof EuGH, beide in Luxemburg. Zusammen bilden sie das Gerichtssystem, die Judikative der EU. Sie tun das, wogegen sich die Schweiz so gern verwehrt: Den Staaten dreinreden. Nur: Wobei genau? Immer wieder werden die europäischen Gerichte dafür kritisiert, EU-Recht unzulässig auf nationale Rechtsfelder auszudehnen und damit Kompetenzen zu überschreiten. Selbstverständlich kann es problematisch sein, wenn Richter ohne Kenntnis der lokalen Begebenheiten Recht sprechen. Andererseits: Wie sonst als mit internationalen Verträgen und entsprechenden Gerichten will man eine globalisierte Welt mit ihren Problemen regeln? Siehe dazu die Corona-Krise. Oder den Klimawandel. Oder die Situation der Geflüchteten. Gleich in zwei Urteilen ging es letztes Jahr
um die Zustände an der serbisch-ungarischen Grenze, in der Transitzone Röszke. Afghanische und iranische Staatsangehörige waren über Serbien nach Ungarn eingereist und beantragten Asyl. Erfolglos. Ungarn wollte sie ohne Prüfung der Anträge nach Serbien zurückschicken, was das Land verweigerte: Die Voraussetzungen gemäss Rückübernahmeabkommen der EU seien nicht gegeben. Darauf änderten die ungarischen Behörden in den Ausweisungs entscheiden kurzerhand das Zielland: Die Geflüchteten sollten nun zurück in ihre Herkunftsländer. Dagegen klagten sie sich durch die Gerichte und Instanzen, von den örtlichen bis zum EuGH. Die geänderten Entscheide sollen für nichtig erklärt und die Asylbehörden zu einem neuen Verfahren verpflichtet werden, verlangten die Kläger*innen. Und sie wehrten sich dagegen, in der Transitzone festgehalten zu werden – und bekamen vollumfänglich Recht. Immer noch stecken Tausende an den EU-Aussengrenzen fest. Die Entscheide des EuGH halten nüchtern das Offensichtliche fest: Ja, es ist Haft. Und nein, es ist nicht rechtens. Personen, die internationalen Schutz beantragen, können an der Grenze festgehalten werden, bis geprüft ist, ob ihr Antrag überhaupt zulässig ist – das darf nicht länger dauern als vier Wochen. Sonst muss der Staat den Asylbewerber*innen die Einreise gestatten und sie unterbringen, bis ihr Begehren bearbeitet ist. Nach dem Entscheid des Luxemburger Gerichtshofs wurde die Transitzone Röszke geschlossen. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich.
Zur Lage der Geflüchteten an den EU- Aussengrenzen siehe auch Klaus Petrus’ Artikel auf den Seiten 14-17. 5
ILLUSTRATION: ELENA KNECHT
Verkäufer*innenkolumne
Fremdbestimmt werden Das Gefühl, nicht frei und nirgends daheim zu sein, kenne ich, seit ich denken kann. Gleich nach der Geburt kam ich zu Pflege eltern. Ich wurde verhätschelt, war ein dickes Kind, so gut genährt war ich. Ich war der Alfons Birbaum.
wo ich die nächsten fünf Jahre als Ver dingbub verbrachte. Ich konnte zwar die obligatorische Schulzeit absolvieren, aber der Bauer hätte mich lieber zum Ar beiten zuhause behalten. Zeit zum Ler nen blieb keine.
Als ich etwa sieben Jahre alt war, klopfte eines Tages meine leibliche Mutter an die Tür und wollte mich zu sich holen. Ge blieben ist mir, dass die Pflegemutter jeweils alle Läden zumachte, wenn es klopfte. Ich musste so tun, als sei nie mand daheim. Schliesslich gelang es der Mutter doch, mich ins Rheintal mitzu nehmen. Von diesem Tag an hiess ich plötzlich René und lebte bei meinen leiblichen Eltern mit zwei von vier neuen Geschwistern. Ich geriet vom Wohlstand in die Armut.
Mit fünfzehn kam ich als Hausbursche in ein Hotel. Ich hätte dort eine Kochlehre machen können, aber der Vormund und der Berufsberater entschieden von weit weg, dass ich in Vaduz eine Lehre als Au toservicemann machen sollte. Mit mir geredet hat keiner. Ich wollte die Lehre abbrechen, sie gefiel mir überhaupt nicht, aber das durfte ich nicht. Also packte ich meinen Koffer, stieg in den Zug und fuhr nach Basel an die Grenze. Das Geld vom Lehrlingslohn reichte gerade fürs Fahrticket.
Gesehen habe ich meine Eltern in dieser Zeit praktisch nie, sie arbeiteten meis tens, um sich irgendwie durchzuschlagen. Drei Jahre später liessen sie sich schei den. Nun musste ich wählen, ob ich in die Erziehungsanstalt oder zum Bauern gehen wollte. Ich entschied mich für den Bauern und kam ins St. Galler Oberland,
Das war der erste Tag meines Lebens, an dem ich selber etwas bestimmte. Per Autostopp fuhr ich nach Lyon, schmiss den Koffer in die Rhone und führte die Reise nur noch mit dem Nötigsten fort. Angst hatte ich keine. Ich dachte, solange ich nicht zurückkehre, könne mir nichts passieren. Ich schnupperte Freiheit.
6
Später wurde ich in Deutschland aufge griffen und in die Schweiz zurückge bracht. Das Fernweh blieb bestehen und wurde verstärkt durch die Schilderungen meiner älteren Brüder, die auf hoher See gewesen waren. Sie beschrieben mir in den schillerndsten Farben die Abenteuerreisen auf Bananendampfern und die Südseeländer mit ihren schönen Frauen. Das wollte ich auch! Immer, wenn es zuhause kritisch wurde, wenn der Alltag mit seinen Anforderun gen oder die Menschen oder die Drogen, die mir das Leben erträglich machen sollten, mich zu erdrücken drohten, über querte ich die Grenze, und der ganze Druck fiel von mir ab. So lebte ich viele Jahre, ich ging fort und kam wieder zurück – mein Leben war wie ein Pendel. Vielleicht konnte ich mich dadurch retten.
RENÉ SENN , 69, verkauft Surprise am Bahnhof Enge und Wiedikon in Zürich. Er meint nach wie vor: Wer die Freiheit sucht, wird immer selbstbestimmt sein.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 496/21
INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: ERWERBSLOSENSTATISTIK
Die Sozialzahl
Die wirtschaftliche Situation dieser Erwerbslosen ist unterschiedlich. Die einen beziehen noch Taggelder der Arbeitslosen versicherung, andere leben von der Sozialhilfe, dritte beziehen gar keine Unterstützungsgelder vom Sozialstaat, weil sie wie Sans-Papiers kein Anrecht darauf haben. Oder weil sie, wie Personen mit Jahresaufenthaltsbewilligungen, auf Sozialhilfe verzichten, um ihr Bleiben in der Schweiz nicht zu gefährden.
Nach einem Jahr COVID-19-Pandemie werden die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt sichtbarer. Die Zahl der Erwerbs losen steigt, die Unterbeschäftigung nimmt zu, das Ausmass an Langzeitarbeitslosigkeit wird grösser. Eine soziale Misére weitet sich aus. Nur dank dem Ausbau der Arbeitslosenversicherung und der Erwerbsersatzordnung konnte bisher Schlimmeres verhindert werden. Noch besteht Hoffnung, dass viele, die auf Kurzarbeit gesetzt sind, wieder an ihren angestammten Arbeitsplatz zurückkehren können.
So wichtig die materielle Unterstützung für Erwerbslose ist, so sehr muss man sich aber auch die Frage stellen, ob dies genügt. Kann man damit rechnen, dass diese Personen wieder eine Stelle finden, sobald das wirtschaftliche Geschehen sich der Normalität annähert? Aus einer konjunkturellen kann rasch eine strukturelle Arbeitslosigkeit werden. Die digitale Transformation der Wirtschaft hat sich in der Corona-Krise eher noch beschleunigt. Warum nutzt man die Zeit nicht besser und bereitet die Erwerbslosen mit kostenlosen und freiwilligen Weiterbildungs- und Umschulungsangeboten auf die sich ab zeichnende neue Arbeitswelt vor? Das wäre Ausdruck einer investiven Sozialpolitik, die nicht nur Geld verteilt. Doch die Arbeitslosenversicherung kommt dieser präventiven Aufgabe nicht nach. Dabei wäre es besser, Erwerbslosigkeit zu vermeiden, als diese zu bekämpfen.
Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt
Die Krise auf dem Arbeitsmarkt, die durch die notwendigen pandemiebedingten Einschränkungen ausgelöst wurde, trifft nicht alle gleich. Dies zeigt ein Blick auf den Verlauf der Erwerbslosenquote seit den frühen 1990er-Jahren. Zum Beispiel trifft es in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer wieder deutlich stärker ausländische als einheimische Erwerbstätige. Doch warum tragen ausländische Erwerbstätige ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden? Es ist nicht so, dass Arbeitsmi grant*innen generell eine tiefere berufliche Qualifikation aufweisen. Im Gegenteil: Der Anteil jener, die mit einem Tertiär abschluss in die Schweiz kommen, ist über die letzten beiden Dekaden deutlich angestiegen. Trotzdem arbeiten viele aus ländische Arbeitskräfte in Branchen, die besonders anfällig sind für eine steigende Arbeitslosigkeit. So ist es auch dieses Mal. Die höchsten Stellenverluste weisen Branchen wie die Gastronomie, die Hotellerie, der Detailhandel oder der Personenverleih auf, also Wirtschaftszweige mit tiefen Löhnen und einem hohen Anteil an ausländischen Arbeitskräften.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Erwerbslosenquote pro Quartal / 1991–2020 Total
12
Schweizer*innen
Ausländer*innen
10
8
6
4
2
0
1991
Surprise 496/21
1995
2000
2005
2010
2015
2020
7
Sozialhilfe 20 Jahre Abbau ist ein trauriges Jubiläum. Unser Überblick
zeigt, wie dringend grundlegende Reformen vonnöten sind und warum noch längeres Aussitzen keine Option sein darf.
«Armut ist ein Risiko für die Demokratie» Véréna Keller hat auf fast hundert Seiten den «Umbau der Sozialhilfe» dokumentiert. Als Chronistin bleibt die emeritierte Professorin nüchtern. Im Interview aber spricht sie Klartext. INTERVIEW ANDRES EBERHARD
Sie haben die politischen Vorstösse zur Sozialhilfe der letzten zwanzig Jahre aufgelistet. Ohne sie zu analysieren, wie Sie schreiben. Aber mal ehrlich: Was denken Sie darüber? Vor drei Jahren machte ich die Chronologie zum ersten Mal. Damals wurde mir richtig schlecht. Diese Aggressivität den Armen und Ausländer*innen gegenüber … Mich dünkte, dass SVP und Konsorten Menschen in der Sozialhilfe nicht mehr als Mitbürger*innen betrachten. Nun, wo ich die Chronologie aktualisiert habe, habe ich mich vielleicht etwas daran gewöhnt. Was konkret hat Sie derart schockiert? Im Wallis wollten rechte Kreise an ausländische Sozialhilfebezüger*innen Telefonkarten abgeben und ihnen dafür den Geldbetrag fürs Telefonieren streichen. Hinter dieser Idee steckt der Generalverdacht, dass diese Menschen das Geld ansonsten in ihre Heimat schicken würden. Ein anderes Beispiel: Im Kanton Aargau schlug die heutige SVP-Nationalrätin Marianne Bircher vor, man solle nur noch maximal drei Kinder von ausländischen Staatsbürger*innen unterstützen, um den «Fehlanreiz» bei afrikanischen Grossfamilien zu korrigieren. Ihre Dokumentation heisst «Chronologie des Umbaus in der Sozialhilfe». Was ist denn mit der Sozialhilfe passiert? Allgemein bekommen Sozialhilfebezüger*innen weniger Geld, weil die SKOS in ihren Richtlinien die Ansätze für den Grundbedarf herabgesetzt hat. Allerdings bekommen einzelne Sozialhilfebezüger*innen mehr als früher – für Ausbil8
dungen, Coaching, Begleitungen. Eine neue Philosophie wurde eingeführt: Man investiert in jene, bei denen etwas zu holen ist. In andere nicht. Dieses Konzept der Sozialinvestition hat vieles kaputt gemacht. Warum? Es ist gut, dass man jene unterstützt, die eine Chance haben, den Schritt in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Das Problem ist, dass man dies zum Preis von allen anderen tut. Es findet eine Selektion statt. Wer profitiert, wer ist benachteiligt? Die Ämter klären das individuell ab. Aber Frauen, Ausländer*innen oder Fremdsprachige haben aufgrund von Vorurteilen kleinere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, also werden sie auch bei der Sozialhilfe benachteiligt. Das ist unfair.
Sozialhilfe ersetzen Der Vorschlag «Existenzsicherung für alle» des Thinktanks Denknetz Schweiz basiert auf Ergänzungsleistungen, wie sie heute nur AHV- und IV-Bezüger*innen offenstehen. Dabei soll das Einkommen eines Haushaltes auf die Höhe einer definierten Existenz sicherung aufgestockt werden, falls es nicht für die Deckung von Lebensbedarf, Miete und medizinischer Grundversorgung reicht. Unerheblich ist dabei der Grund für das unzureichende Einkommen. Mit der Reform würde die Zuständigkeit von den Kantonen an den Bund übergehen, wofür eine Verfassungsänderung nötig ist. www.denknetz.ch
Liest man Ihre Dokumentation, fällt auf, dass es zwar in den Kantonen viele Angriffe auf die Sozialhilfe gab. Die meisten wurden aber abgelehnt. Trotzdem hatte die Kampagne von rechts einen schlimmen Effekt. Sozialarbeiter*innen sind unter enormen Druck geraten. Aus Angst, dass man ihnen etwas vorwirft, wurde auf den Ämtern das geltende Recht restriktiv durchgesetzt. Und Menschen, die Anspruch auf Leistungen hätten, bezogen aus Scham oder Angst vor Ausweisung keine Sozialhilfe. Es ist verheerend, wenn Menschen nicht zu ihrem Recht kommen. Sie sagen, dass die Ämter einer Art vorauseilendem Gehorsam folgten? Ganz klar. Der Druck war enorm, man wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, dass es zu einem Missbrauchsfall kommt, der öffentlich wird. Aber auch die politisch Verantwortlichen machten stets den Buckel und hoffen, dass es vorbeigeht. Aber es geht eben nicht vorbei. Wie meinen Sie das? Selbst linke Kreise akzeptierten die Kürzungen bei der Sozialhilfe. Dabei kamen zwei unabhängige Studien zum Schluss, dass der jetzige, von der SKOS errechnete Grundbedarf für eine Einzelperson um 100 Franken zu tief ist. Statt eine defensive Position zu vertreten, könnte die Linke auch in die Offensive gehen. Wie denn? Ich finde, dass die Zeit gekommen ist, um die Sache anders anzugehen. Wir sind ein demokratisches und reiches Land. Wenn Surprise 496/21
es Menschen schlecht geht, haben sie ein Recht auf ein Mindesteinkommen. Wir sollten die Sozialhilfe umbauen und zu einem anderen System übergehen. Der Thinktank Denknetz hat ein Modell ausgearbeitet, das auf Ergänzungsleistungen beruht (siehe Kasten, die Red.). Das sind radikale Ideen, die es politisch schwer haben dürften. Wäre es nicht pragmatischer, die Sozialhilfe zu reformieren? Man kann das eine tun und das andere nicht lassen. Bei der SKOS und den Kantonen sind viele intelligente Köpfe, die ihr Bestes tun, um das System zu verbessern. Die letzten zwei Jahrzehnte zeigen aber deutlich: Es läuft nicht gut. Bis Ende der Neunzigerjahre wurde die Sozialhilfe ausgebaut zu einem Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein. Leistungen wurden pauschalisiert. Sozialhilfebezüger*innen hatten die gleiche Rechte wie alle anderen. Dann drehte der Wind. Und nun haben wir eine Situation, wo selbst die Institutionen, welche die Sozialhilfe verkörpern, gar nicht versuchen, sie zu reformieren. Mir ist nämlich aufgefallen, dass immer wieder angeregt wurde, gewissen Bevölkerungsgruppen anders zu helfen als mit Sozialhilfe: eine Übergangsrente für ältere Arbeitslose, Weiterbildungsangebote und Stipendien für Junge, Ergänzungsleistungen für Familien. Diese Vorschläge kamen durch. Ist denn die Sozialhilfe wirklich nicht mehr zu retten? Ich bin mir nicht sicher. Es bräuchte ja 26 grundsätzliche Reformen, in allen Kantonen. Und nach wie vor sind in vielen Kantonen die Gemeinden für die Sozialhilfe verantwortlich, vor allem in der Deutschschweiz. Das sollte nicht sein. Warum nicht? Es ist wie im 19. Jahrhundert. Man kennt die Leute und erzählt sich: Der hockt die ganze Zeit nur auf dem Bänkli und tut nichts. Es herrscht die Einstellung: Wir sind ja sehr grosszügig, also solltet ihr dankbar sein. Das ist nicht professionell. Heute weiss man viel mehr darüber, warum Menschen arm sind und es auch bleiben – aus strukturellen Gründen, nicht aus Selbstverschuldung. Kommt dazu, dass im Lokalen die Rechtslage oft nicht bekannt und die Behörden nicht in Menschenrechten geschult sind. Surprise 496/21
Wir sollten die Sozialhilfe umbauen und zu einem anderen System übergehen. VÉRÉNA KELLER
Auch das beschreiben Sie: Es gab zahlreiche Vorstösse für ein Bundesgesetz. Doch alle sind gescheitert. Ich glaube, das ist wie mit dem Frauenstimmrecht. Man muss einfach dranbleiben. Gerade wurde ein neuer Vorstoss im Nationalrat eingereicht. Wir versuchen nun auch, das Modell der Ergänzungsleistungen für alle den politischen Parteien schmackhaft zu machen. Ein Vorteil dieser Idee ist ja gerade, dass es sich um eine nationale Regelung handelt. Das würde auch den schädlichen Wettbewerb der Kantone um die geringsten Sozialhilfegelder pro Kopf unterbinden. Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass die Sozialhilfe immer teurer wird. Und zwar, obwohl immer mehr gespart wird. Was sind die Gründe? Hauptsächlich, dass die Menschen immer länger in der Sozialhilfe bleiben. Es handelt sich vor allem um ältere Arbeitslose, die keine Stelle mehr finden. Diese Entwicklung liegt nicht in der Macht der Sozialhilfe, da muss man am Arbeitsmarkt schrauben. Ein anderer wichtiger Grund, warum die Kosten pro Fall steigen, sind die steigenden Mieten, die ungefähr einen Drittel der Totalkosten ausmachen. Schliesslich steigen bekanntlich auch die Gesundheitskosten seit Jahren an. In der Sozialhilfe dagegen zeigt sich vielmehr eine grosse Stabilität: Die Sozialhilfequote bleibt stabil bei rund drei Prozent. In einem Interview sagten Sie kürzlich, die Sozialhilfe sei bürokratisch und unfreundlich. Warum meinen Sie das? Soziale Dienste sind nicht immer sehr bürgerfreundlich. Man hat etwas für den Notfall, eine Art Feuerwehr, aber wenn die Menschen nicht kommen, heisst es, sie seien selber schuld. Hilfe zu bekommen ist sehr kompliziert. Wenn jemand endlich den Schritt macht und sich bei der Sozi-
alhilfe meldet, geht es oft Wochen, bis er oder sie einen Termin bekommt. Bei Avenir Social haben wir seinerzeit zudem eine Studie zur Ausbildung von Sozialarbeiter*innen gemacht. Und festgestellt: Nur die Hälfte hat eine Ausbildung in Sozialarbeit. Die anderen sind Soziologinnen, Psychologen, Geografinnen, Coiffeure. Und diese erhalten oft auch keine Weiterbildung. Die Armut in der Schweiz stieg schon vor Corona an. Nun wird aufgrund der Pandemie ein Anstieg in der Sozialhilfe um mehr als zwanzig Prozent prognostiziert. Eigentlich müssten die Zahlen jetzt schon raufgehen, selbst wenn manche noch Arbeitslosengeld erhalten. Dass das nicht der Fall ist, ist kein gutes Zeichen. Denn es zeigt einmal mehr, dass viele ihren Anspruch nicht geltend machen. Ich bin mir darum nicht sicher, ob die Zahlen wirklich derart stark steigen werden. Aber ich finde ohnehin, wir sollten weniger über Zahlen diskutieren und mehr darüber, was man mit und für diese Menschen macht: Weiter wie bisher, oder ganz anders? Statt sie zu kontrollieren und jeden Zweifränkler umzudrehen, müssten wir davon ausgehen, dass Armut unnötig und ein Risiko für die Demokratie ist. Ein wirkliches Recht auf freundliche Hilfe ist für alle gut.
Véréna Keller
68, ist emeritierte Professorin und Fachbereichsleiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit in Lausanne. Als ehemalige Vize präsidentin von Avenir Social (Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz) veröffentlichte sie Anfang 2021 die Neuauflage der Schrift «Sozialhilfe Schweiz 2000–2020, Chrono logie eines Umbaus» (online verfügbar über avenirsocial.ch).
9
Angriffe auf die Sozialhilfe
Basel-Stadt 2002 führt der Kanton ein Anreizsystem ein. Dieses belohnt Sozialhilfebezüger*innen mit einer Arbeitsstelle und senkt die Ansätze für alle anderen. Eine SVP-Volksinitiative, welche die Einbürgerung für Sozialhilfebezüger*innen verunmöglichen soll, wird 2017 zurückgezogen. 2019 scheitert ein Antrag von links auf Erhöhung des Grundbedarfs nur knapp. Angenommen wird die Idee, mit einem Pilotversuch die Anzahl Fälle pro Sozialarbeiter*in zu reduzieren.
Kaum in der Verfassung verankert, geriet das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein unter Beschuss. Da die Sozialhilfe kantonal geregelt ist, blieb der Umbau für viele unbemerkt. Eine Übersicht.
BS
997.–
Franken (exkl. Miete und Gesundheitskosten) soll der Grundbedarf der Sozialhilfe für eine Person betragen, empfiehlt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Das ist der Betrag, den die 10 Prozent Ärmsten in der Schweiz zur Verfügung haben. 1998 lag er noch bei
1110.–
Franken. Damals orientierte man sich am Budget der 20 Prozent ärmsten Haushalte.
BL
Solothurn Seit 2015 weicht der Kanton von den Richtlinien der SKOS ab: Der Grundbedarf wird in zahlreichen Bereichen gekürzt: unter anderem bei Wohn- und Umzugskosten, Versicherungsprämien und Zahnbehandlungen. Forderungen nach Kürzung der Beiträge für Ausländer*innen bzw. des Grundbedarfs scheitern. 2019 beschliesst der Kanton, Massnahmen zu entwickeln, um die Sozialhilfequote zu reduzieren.
271 400 3,2%
SO
LU NE
VD
Menschen beziehen in der Schweiz Sozialhilfe, darunter 79 200 Kinder.
A
JU
BE
FR
der Bevölkerung. Das sind Diese Quote ist exakt gleich hoch wie 2005, als der Bund die Statistik ins Leben rief. GE
VS
Die Sozialhilfe ist in der Schweiz Sache der Kantone.
1905
wird erstmals die Forderung nach einer Bundeslösung vorgebracht – und seither alle Jahre wieder.
9
Vorstösse für ein Bundesgesetz gab es in den letzten 10 Jahren, um dem Wildwuchs in den Kantonen zu begegnen. 8 scheiterten, einer ist hängig.
Bern Seit 2012 werden Sozialdienste für tiefe Sozialhilfekosten belohnt und für hohe Aufwände bestraft. 2013 wird eine Volksinitiative der Jungen SVP angenommen: Wer Sozialhilfe bezieht, soll nicht eingebürgert werden. Nach einer SVP-Motion tobt ein jahrelanger Kampf um geplante Kürzungen in der Sozialhilfe. Eine Senkung um 10 Prozent wird 2014 durchgesetzt. Weitere Einschnitte von bis zu 30 Prozent schickt das Volk 2019 bachab. Die Beiträge für Asylbewerber*innen werden 2020 massiv gekürzt.
Grundbedarf für eine Person 977 Franken 986 Franken 997 Franken 1006–1110 Franken (Empfehlung SKOS ab 2022)
Januar 2000
2000–2005
2008–2010
Die neue Bundesverfassung garantiert erstmals ein Grundrecht auf Hilfe in Notlagen für ein menschenwürdiges Dasein.
Neoliberale Kreise wittern Missbrauch. Die SKOS kürzt den Grundbedarf in der Sozialhilfe und führt «Anreizleistungen» und Sanktionen ein.
Neues Bundesgesetz über Ausländer*innen: Wer Sozialhilfe bezieht, riskiert seine Aufenthalts-/ Niederlassungsbewilligung sowie den Familiennachzug. Unrechtmässiger Sozialhilfebezug führt nach Annahme der Ausschaffungsinitiative zum Landesverweis.
10
Surprise 496/21
Basel-Landschaft Die Regierung revidiert 2020 das Sozialhilfegesetz. Ihr Entwurf enthält unter anderem die Umsetzung zweier Motionen von Peter Riebli (SVP) – die Kürzung der Sozialhilfe um bis zu 30 Prozent sowie Senkung der Beiträge für Ausländer*innen. Der Vorschlag sieht ein kompliziertes, fünfstufiges «Anreizsystem» vor, bei dem Betroffene anfangs lediglich 690 Franken erhalten. Nach heftiger Kritik zieht die Regierung das Modell zurück. Der neue Entwurf behält den jetzigen Grundbedarf bei.
SH
Aargau Martina Bircher (SVP) fordert mehrfach Kürzungen für Ausländer*innen sowie die Möglichkeit, sie einfacher ausschaffen zu können. 2018 verlangt sie unter dem Schlagwort «Motivation statt Sanktion» eine Kürzung der Sozialhilfe um 30 Prozent. Das Parlament beauftragt den Regierungsrat, den Vorschlag zu prüfen – dort ist er nach wie vor hängig. 2019 sorgt die Aargauer Regierung für einen Eklat, als sie per Verordnung Armenhäuser wieder einführen will. Sie macht die Änderung rückgängig.
TG
ZH*
AG
AR AI SG
St. Gallen Im Jahr 2013 verhindert Stadtpräsident Thomas Müller (SVP), dass eine Sozialhilfebezügerin nach Rorschach zieht. Die Frau lässt sich in St. Gallen nieder. Nach einem Entscheid des Bundesgerichts muss Rorschach trotzdem für die Sozialhilfebeträge aufkommen. 2019 werden mehrere SVP-Anträge zur Senkung des Grundbedarfs um bis zu 30 Prozent abgelehnt.
ZG SZ
Zürich Zahlreiche Angriffe werden abgewehrt: Autoverbot, erschwerte Einbürgerung, Kürzungen für Ausländer*innen sowie Senkung des Grundbedarfs um 10 bzw. 30 Prozent. Erfolgreich sind Vorstösse, die Sozialhilfebezüger*innen Ferien, Studium und «medizinische Luxusbehandlungen» verbieten. Zudem können Weisungen (abgesehen von Sanktionen) nicht mehr angefochten werden. Dagegen kämpft die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) auf dem Rechtsweg.
GL
NW OW UR
GR
Luzern Als erste Gemeinde in der Schweiz führt Emmen 2005 Sozialdetektive ein – ein Beispiel, das Schule machen wird. Im Jahr 2013 kürzt der Kanton im Rahmen eines Sparpakets den Grundbedarf für Personen, die weniger als 18 Monate in der Schweiz gearbeitet haben, um 10 bis 15 Prozent.
TI
Wallis Der Kanton arbeitet derzeit an einer Totalrevision des Sozialhilfegesetzes. Der aktuelle Vorschlag sieht zahlreiche Verschärfungen vor. So zum Beispiel beim Datenschutz: Armutsbetroffene wären diesbezüglich schlechter gestellt als Schwerverbrecher*innen, kritisiert die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). Sie erachtet den Entwurf als teilweise verfassungswidrig.
Graubünden Der Kanton trennt die Sozialhilfe in wirtschaftliche und persönliche Hilfe. Geldleistungen erbringen die Gemeinden, Beratungen der Kanton. Ein Versuch, dieses «Bündner Modell» aus Spargründen zu kippen, scheitert 2018. Im gleichen Jahr tritt ein neues Bürgerrechtsgesetz in Kraft: Eingebürgert wird nur noch, wer die Sozialhilfegelder der letzten zehn Jahre zurückbezahlt hat. Die Regelung geht über das Bundesgesetz hinaus, welches eine Frist von drei Jahren vorsieht.
Juni 2015
2017–2019
März 2020–heute
Die SVP lanciert eine schweizweite Kampagne gegen die Sozialhilfe und legt dem Positionspapier Mustervorstösse für Lokalpolitiker*innen bei.
Die unter Druck geratene SKOS unterstellt sich politischer Kontrolle. Ein neues Bürgerrechtsgesetz erschwert Sozialhilfebezüger*innen die Einbürgerung. Zahlreiche Angriffe auf die Sozialhilfe in den Kantonen.
Corona-Krise: Die SKOS prognostiziert eine starke Zunahme Armutsbetroffener. Nationalrät*innen fordern Hilfen für Papierlose, die keinen Zugang zur Sozialhilfe haben.
Surprise 496/21
11
Sozialhilfe unter Druck Infolge der Corona-Pandemie benötigen immer mehr Menschen Unterstützung. Gemeinden denken bereits über Steuererhöhungen nach. TEXT SIMON JÄGGI
Allein im ersten Jahr der Corona-Krise stützte der Bund gangenen Jahr überdurchschnittlich stark gestiegen sind, die Wirtschaft und Arbeitnehmer*innen mit 14 Milliarwerden ebenfalls Steuererhöhungen geprüft, wie die Soden Franken. Damit finanzierte er die Kurzarbeit und zialdirektion mitteilt. den Erwerbsersatz, zudem sind in den Kantonen die «Insgesamt kommen massive Mehrausgaben und geHärtefallprogramme angelaufen. Für dieses Jahr budwaltige Herausforderungen auf die Gemeinden zu», sagt getiert der Bundesrat für diese Massnahmen weitere 18 Claudia Hametner, stellvertretende Direktorin des SchweiMilliarden. «Mich reut jeder Franken», sagte Finanzmizer Gemeindeverbands. Dabei sei zu erwartende Anstieg nister Ueli Maurer gegenüber den Medien, aber der Bund der Sozialhilfekosten durch die Corona-Pandemie der müsse schauen, dass nicht die Schwächsten durch die wichtigste Faktor, aber nicht der einzige. «In den verganMaschen fielen. genen Jahren hat eine zunehmende Verlagerung von der Trotz aller Hilfsmassnahmen: Wenn die Prognosen IV zur Sozialhilfe stattgefunden.» Aufgrund der restrikzutreffen, wird die Zahl der Armutsbetroffenen in der tiven Rentenpraxis bei der vom Bund finanzierten IV steigt Schweiz in den kommenden zwei Jahren deutlich steigen. die Zahl der Sozialhilfefälle und damit die Belastung für Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) prodie Gemeinden zusätzlich. «Vor dem Hintergrund der gnostiziert bis 2022 einen Anstieg von 57 800 zusätzlichen Corona-Pandemie sind diese Verlagerungen höchst beSozialhilfebezüger*innen, 21 Prodenklich, die Sozialhilfe muss vorzent mehr als 2019. Im schlimmsten ausschauend entlastet werden», Fall rechnet die SKOS sogar mit eisagt Hametner. ner Zunahme von 75 900 Personen. «Das wird in jedem Fall eine grosse Dauerbezug Herausforderung», sagt Markus Die Krise fällt zudem mit einer Entwicklung zusammen, die den SoKaufmann, Geschäftsführer der SKOS. «Einen Anstieg in dieser Grözialämtern seit einiger Zeit Sorgen ssenordnung gab es noch nie.» Es bereitet. Immer mehr Menschen ist ein Szenario, das ihm Sorgen bebleiben dauerhaft bei der Sozialreitet. Die Sozialhilfe müsse persohilfe und schaffen den Sprung zunell und finanziell aufgestockt werrück in den Arbeitsmarkt nicht. Was den, sagt Kaufmann. Die SKOS hat CL AUDIA HAME TNER, Sozialämter seit Längerem beobbereits einen Brief an den Bundesachten, zeigte vergangenes Jahr STELLVERTRE TENDE DIREK TORIN rat geschrieben, in dem sie mehr auch eine Studie der Berner FachSCHWEIZER GEMEINDEVERBAND Unterstützung vom Bund fordert. hochschule und der Städteinitiative. Wie die Daten zeigen, verlässt Finanziell trifft der Anstieg der Sozialhilfefälle in erster Linie die ein Drittel der Beziehenden die SoGemeinden, sie tragen den Grossteil der Kosten. Zugleich zialhilfe innerhalb eines Jahres wieder. Jedoch nimmt der rechnen viele Gemeinden als Folge der Corona-Krise mit Anteil von jenen, die bei der Sozialhilfe bleiben, stetig zu. einem Rückgang der Steuereinnahmen. Vielerorts brechen «Diese Fälle erhöhen die durchschnittliche Bezugsdauer, weitere Einnahmen weg, etwa aus Mieten für kommunale die Fallzahlen und die Kosten. Weil sie nicht nur wenige Liegenschaften wie Restaurants oder Läden. Zusammen Monate, sondern mehrere Jahre lang Sozialhilfe benötimit den steigenden Sozialhilfekosten könnten so viele gen», sagt Oliver Hümbelin, Professor für Soziale Arbeit Gemeinden unter Druck geraten. «Ich bin überzeugt, dass an der Berner Fachhochschule. Besonders gefährdet sind die Mittel nicht reichen werden», sagt Renate Gautschy. Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, ohne Sie ist Präsidentin der Gemeinde Gontenschwil und der Berufsbildung, Alleinerziehende oder Menschen mit Gemeindeammänner-Vereinigung des Kantons Aargau. Migrationshintergrund und tiefem Bildungsstand. «Die Sie rechnet damit, dass viele Gemeinden zu einer SteueSozialhilfe soll eigentlich eine Notlage überbrücken helrerhöhung gezwungen sein werden. Damit ist sie nicht fen», sagt Hümbelin. «Diese wichtige Funktion nimmt sie allein. Das Aargauer Städtchen Aarburg rechnet mit Mehrimmer noch wahr. Sie übernimmt zunehmend aber eine ausgaben von einer Million Franken für die Sozialhilfe. In Doppelrolle und sichert für einen Teil der Fälle die Exisder Stadt Luzern, wo die Sozialhilfefälle bereits im vertenz langfristig.»
Es kommen massive Mehrausgaben und gewaltige Herausforderungen auf die Gemeinden zu.
12
Surprise 496/21
Die zweite Schöpfung 6.11.20–11.7.21
Ein wichtiger Faktor für diese Entwicklung sind aus Sicht des Sozialwissenschaftlers die steigenden Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Einfache Tätigkeiten erledigen zunehmend Maschinen und Computer. Mit dem Einbruch von Gastronomie und Tourismus geraten Stellen im Tief lohnbereich nun noch weiter unter Druck. Zugleich führt die Pandemie in vielen Branchen zu einer weiteren Digitalisierung und zusätzlichem Leistungsdruck. «Für Menschen ohne Bildungsabschlüsse wird es immer schwieriger.» Wie stark die Armut infolge der Corona-Pandemie zunehmen wird, sei auch stark von den Hilfsmassnahmen von Bund und Kantonen abhängig, sagt Hümbelin. Deshalb sei es von grosser Wichtigkeit, dass der Bund die Unterstützungsmassnahmen fortsetzt. «Der Bund sollte die Kurzarbeit fortführen, bis auf dem Arbeitsmarkt eine Entspannung eintritt. Dasselbe gilt auch für die Härtefall entschädigungen. Möglicherweise führt Corona auch zu einer Beschleunigung des Strukturwandels. Dann wäre es angezeigt, die betroffenen Menschen mit Umschulungen zu unterstützen.» So könnten die Behörden einem weiteren Anstieg bei der Sozialhilfe entgegenwirken. Markus Kaufmann von der SKOS geht nicht davon aus, dass die Zahlen bei der Sozialhilfe nach der Pandemie rasch wieder sinken. «In unserer Prognose rechnen wir wieder mit einer Abnahme ab 2023.» Dass die Quote wieder so tief werde wie vor der Pandemie, sei aber eher unwahrscheinlich. «Möglich wäre das gegen 2030, wenn die bevölkerungsreichsten Jahrgänge in Pension gehen. Dann wird auch die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt wieder steigen.» Bis dahin aber könnte die Sozialhilfequote auf eher hohem Niveau verbleiben. Kaufmann sieht in der aktuellen Krise trotz aller problematischen Entwicklungen aber auch eine Chance. In den vergangenen Jahren wurde immer deutlicher, dass im Bereich der Sozialhilfe Weiterentwicklungen nötig sind. Bereits vor drei Jahren haben sich Bund und Kantone zum Ziel gesetzt, dass 95 Prozent aller 25-Jährigen in der Schweiz einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erreichen sollen. Das als Ansatz, um das Armutsrisiko zu verkleinern. «Zudem braucht es für Sozialhilfebeziehende mehr Integrationsarbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt.» In der Krise werde nun deutlich, wie stark Wirtschaft und Soziales zusammenhängen. «Aktuell ist die Politik bereit zu Investitionen in die Sozialwerke», sagt Kaufmann. Es zeige sich, dass Armut nur mit Investitionen in die Soziale Sicherheit bekämpft werden könne. «Wir hoffen, dass sich diese Einsicht nachhaltig durchsetzt.» Surprise 496/21
! ert a d ng h ä ic erl ling l d v En nd Früh U is b
2 2 0 2
Eine Stiftung von
Unterstützt von
www.mfk.ch
13 UBS Kulturstiftung
Gewalt an der Grenze Migration Die Polizeigewalt gegen Geflüchtete an den EU-Aussengrenzen
nimmt zu. Dafür gibt es immer mehr Beweise. Die verantwortlichen Regierungen streiten das ab. Und die EU schaut weg. TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS
Anzahl Geflüchtete, die zwischen 2017 und 2020 im Rahmen von sog. Pushbacks von der Polizei an den EU-Aussengrenzen in die benachbarten Länder zurückgeschafft wurden.
Kroatien:
6621 39% Betroffene Personen
davon Minderjährige
QUELLE: THE BLACK BOOK OF PUSHBACKS (2020) / BVMN
Zum ersten Mal davon gehört hatte ich im Spätherbst 2016, in Subotica, einer Stadt im Norden Serbiens, keine halbe Stunde von der ungarischen Grenze entfernt: von diesen «Pushbacks», bei denen Flüchtlinge von der ungarischen Grenzpolizei angeblich gewaltsam nach Serbien zurückgeschickt wurden; von kaputten Handys, den zerrissenen Kleidern, von Verletzungen, Prellungen und Hundebissen an Armen und Beinen; und davon, dass die Flüchtlinge von den Grenzpolizisten bespuckt und verhöhnt wurden. Im Frühjahr 2017, wieder an der serbisch-ungarischen Grenze, hatte ich sie dann mit eigenen Augen gesehen, Dutzende Vertriebene mit Bandagen an Beinen, Armen, auf dem Rücken oder am Kopf. Damals schrieb ich über Zarar Z., einen 24-jährigen Pakistani, der bereits seit Monaten in einer verlassenen Ziegelei unweit von Subotica hauste – ohne fliessend Wasser, ohne Strom – und der schon unzählige Male das «Game» wagte, wie die Geflüchteten ihren Versuch nennen, unbemerkt über die Grenze in ein EU-Land zu gelangen. Doch jedes Mal lauerte die ungarische Grenzpolizei ihm auf und schickte ihn nach Serbien zurück. In den folgenden Monaten begegnete ich Zarar Z. immer wieder, und jedes Mal zeigte er mir seine Blessuren. Mal war es ein Hundebiss am Unterschenkel, mal Verbrennungen am Unterarm, mal sein mit blauen Flecken bedeckter Rücken, immer aber – und wie zum Beweis dafür, wie grausam die Polizisten wirklich sind – sein zerschlagenes Handy, das Wichtigste, das Flüchtlinge bei sich tragen, um mit ihren Familien zu kommunizieren, um sich zu organisieren, um sich abzulenken, um zu überleben. (Zarar Z. lebt heute mit vier anderen Pakistani in einer 3-Zimmer-Wohnung unweit von Padua und arbeitet neun Stunden am Tag für einen Monatslohn von 550 Euro in einer Fabrik.) Dass bei den Pushbacks Gewalt im Spiel sei, bestritt die ungarische Regierung konsequent. Zwar hatten zahlreiche Organisationen – darunter Médecins sans Frontières (MSF) und Amnesty International – begonnen, entsprechende Vorfälle zu dokumentieren. Deren Berichte wischte Orbán indes mit der lapidaren Bemerkung beiseite, sie seien allesamt vom ungarisch-amerikanischen Milliardär George Soros finanziert, der die «Flüchtlingskrise» für seine politischen Zwecke instrumentalisieren wolle. Am Ende war Orbáns rigide und teils offen rassistische FlüchtSurprise 496/21
lingspolitik durchaus wirksam: Als Ungarn und die umliegenden Länder 2016 ihre Grenzen dichtmachten, wurde die sogenannte Balkanroute offiziell geschlossen. Zu jenem Zeitpunkt waren bereits mehr als eine Million Migrant*innen über den Balkan in die EU gelangt. Erdrückende Beweise Seither haben sich die Fluchtwege nach Westen verlagert. Speziell im Frühjahr und Sommer 2018 stieg die Zahl der Migrant*innen, die im Norden Bosniens die Grenze nach Kroatien überqueren wollten, auf 2500 pro Monat an. Anders als im flachen Norden Serbiens, wo seit 2015 ein 175 Kilometer langer und drei Meter hoher Zaun die Grenze zu Ungarn markiert, ist der dichtbewaldete und hügelige Norden Bosniens schwieriger zu kontrollieren. Entsprechend gross war das Aufgebot an kroatischen Grenzschützern; 6000 an der Zahl sollten es schon im Sommer 2018 sein. Weil die von der Regierung in Sarajewo beauftragten und von der International Organisation for Migration (IOM) betriebenen Lager schon bald überfüllt waren, mussten viele der Geflüchteten in verlassenen Häusern unterkommen oder in öffentlichen Parks von Velika Kladuša und Bihać, beides Städte nahe der kroatischen Grenze. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Von 8000 Migrant*innen, die derzeit im Nordwesten Bosniens festsitzen – manche Organisationen reden von 12 000 –, leben geschätzte 2000 ausserhalb der sechs offiziellen Camps unter sehr prekären Umständen.
Wie Adil N. aus Marokko, den ich zum ersten Mal im Herbst 2018 in einem Lager bei Velika Kladuša antraf, dann wieder im Winter 2019 in Bihać auf einer ehemaligen Müllhalde und zuletzt im Januar vor einem Jahr, erneut in Velika Kladuša, dieses Mal aber in einer verfallenen Automobilfabrik. Als Adil N. vor drei Jahren den Entschluss fasste, seinem Bruder nach Frankreich zu folgen, war er gerade 15 Jahre alt – ein Junge. Jetzt sass er seit Monaten kurz vor der EU-Grenze fest, zwischen Autoreifen, Plastikflaschen, feuchten Decken, Matratzen und Hundedreck. Wie oft er das «Game» schon gespielt hat, wusste Adil nicht zu sagen. Doch wenn er von den kroatischen Grenzschützern erzählt – wie sie sein Handy kaputtschlugen, sein Gesicht in den Matsch drückten, ihm die Arme verdrehten, den Mund mit faulem Obst vollstopften, ihn halbnackt im Kreis laufen liessen, ihm zwischen die Beine fassten und dabei grölten und johlten –, dann spricht der Junge laut und hastig, und er beginnt immer von Neuem, als würde ihm keiner glauben, als habe er sich das alles bloss eingeredet. (Ich habe Adils Geschichte in der Surprise-Ausgabe 471 aufgeschrieben.) Inzwischen sind die Beweise erdrückend. Im Dezember vergangenen Jahres publizierte das Border Violence Monitoring Network (BVMN), ein Zusammenschluss von NGOs und Menschenrechtsorganisationen, auf 1500 Seiten ein «Schwarzbuch der Pushbacks». Darin werden 892 Zeugnisse von Abschiebungen in Italien, Griechenland, Ungarn, Kroatien und Slowenien erfasst,
Spuren der Gewalt: Die Bilder zeigen Geflüchtete nach Pushbacks und sind in Ungarn, Serbien und Bosnien entstanden.
Slowenien:
1266 36% Betroffene Personen
davon Minderjährige
Ungarn:
1114 69% Betroffene Personen
davon Minderjährige
die insgesamt 12 654 Personen betreffen. Offenbar verlaufen 60 Prozent der Pushbacks gewalttätig. Wie Jahre zuvor die ungarische Regierung weist aber auch Kroa tien die Vorwürfe vehement zurück. Zwar hatte 2019 die damalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF eingeräumt, dass ihr Land Abschiebungen vornehme und dabei «natürlich ein wenig Gewalt»
nötig sei. Inzwischen ist aber von «haltlosen Behauptungen» die Rede und davon, dass sich die Geflüchteten derlei Verletzungen bloss ausdächten oder gar sich selbst zufügten. Auch die kroatische Regierung weiss, dass Pushbacks gegen geltendes Recht verstossen – und zwar unabhängig davon, ob Gewalt im Spiel ist. Wer in seinem Heimatland bedroht oder verfolgt wird, hat nämlich grundsätzlich das
Recht, in einem anderen Land um Schutz und Asyl zu ersuchen. Dieses in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthaltene Recht auf Asyl wird von Staaten wie Kroatien verletzt, sobald Flüchtlinge aufgegriffen und auf der anderen Seite der Grenze wieder abgesetzt werden. Eine solche Abschottungspolitik wird von der EU gefördert. In ihrem Haushaltsrahmen für 2021–2027 hat die EU-Kommission unlängst eine Erhöhung der Finanzmittel für die Posten «Grenzsicherung» und «Migration» auf 34,9 Milliarden Euro vorgeschlagen; im Zeitraum 2014–2020 waren es noch 13 Milliarden. Kritiker*innen sagen, die EU versuche mit dem verstärkten Grenzschutz lediglich zu kaschieren, dass sie sich seit Jahren nicht auf ein funktionierendes Asylsystem einigen könne. Eine zentrale Rolle spielt die 2004 gegründete Grenzschutzagentur Frontex, welche Länder an den EU-Aussengrenzen bei ihrer Migrationskontrolle unterstützt. Dabei wurden die Mittel und Möglichkeiten der Agentur seit 2016 erheblich ausgebaut. So soll das Budget von Frontex bis 2027
ANZEIGE
Bis 18.7.21
auf 12 Milliarden Euro angehoben und die Zahl der Beamt*innen von 1500 auf 10 000 aufgestockt werden; diese werden in Zukunft mit Waffen und modernster Überwachungstechnik ausgerüstet sein. Auch die Kompetenzen von Frontex wurden in den vergangenen Jahren erweitert, namentlich dürfen sie Abschiebungen vornehmen. Kontrolliert wird die Agentur indes kaum. Das zeigen Menschenrechtsverletzungen bei Pushbacks in Bulgarien, Griechenland und Ungarn, die 2019 und 2020 bekannt wurden und die Frontex toleriert haben soll; das Verfahren gegen die Agentur ist noch im Gange. «Schutzschild Europas» Wo Frontex höchstens eine unterstützende Aufgabe wahrnimmt, werden die einzelnen Grenzländer von der EU umso mehr in ihrer Rolle als «Schutzschild Europas» bestätigt. Das gilt gegenwärtig vor allem für Kroatien. Seit sich die Balkanroute in Richtung Westen verschoben hat, unterstützt die EU den kroatischen Grenzschutz mit 6,8 Millionen Euro pro Jahr. Beim Treffen der EU-Innenminister*innen in Zagreb vor gut einem Jahr wurde Kroatien für sein Migrationsmanagement denn auch ausdrücklich gelobt. Der Regierung dürfte derlei nur recht sein. Zwar ist das Land seit 2013 Mitglied der EU, jedoch kein Teil des Schengenraums. Schon deswegen wird Kroatien einiges daransetzen, dem Rest der EU zu zeigen, dass es sehr wohl in der Lage ist, seine Grenzen zu schützen. Ob diese Abschottungs- und Abschiebungspolitik Menschen davon abhalten wird, in die EU zu flüchten, ist zu bezweifeln. In einem Interview mit Surprise (Ausgabe 486) sagte der Soziologe Jean Ziegler auf die Frage nach der Effizienz der EU-Flüchtlingspolitik: «Wer aus Idlib im Nordwesten Syriens, wo der Massenmörder Putin Wohnquartiere, Spitäler und Schulen bombardiert, fliehen muss, wird nach Europa kommen, egal wie schlimm die Zustände in den Lagern an den EU-Aussengrenzen sind.» Das dürfte auch für jene Migrant*innen gelten, die sich nach wie vor auf den griechischen Inseln und dem Festland befinden, an die 120 000 sollen es sein. Viele von ihnen werden trotz massivem Polizeiaufgebot den Weg durch den Balkan auf sich nehmen – und dabei neue und alte Routen ausprobieren. Wie zum Beispiel über Nordmazedonien nach Serbien oder von Rumänien via Serbien nach Ungarn – also genau dorthin, Surprise 496/21
wo vor Jahren die Balkanroute abgeklemmt wurde. Tatsächlich sind hier wieder vermehrt Flüchtlinge anzutreffen. Als ich mich im Herbst 2020 erneut an der serbisch-ungarischen Grenze aufhielt, war das Lager in Subotica überfüllt. Zahlreiche Migrant*innen hausten entlang der Grenze in verfallenen Häusern und warteten auf eine Gelegenheit, nach Ungarn zu gelangen – ob mithilfe von Schmugglern oder auf eigene Faust. Unter ihnen war auch Baltan N., ein 18-jähriger Afghane, der vor zwei Jahren aus Kabul flüchtete. Als ich ihn traf, war er gerade dabei, seinen Fuss zu kurieren. Wie viele andere, hatte er sich beim «Game» verletzt. Dass Baltan N. sein Glück unweit von Horgoš sucht, hat etwas Ironisches: Die kleine serbische Grenzstadt geriet ganz zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015 in den
Griechenland:
3632 64% Betroffene Personen
davon Minderjährige
Brennpunkt der Weltöffentlichkeit, als es zu schweren Zusammenstössen der ungarischen Polizei mit Flüchtlingen kam. Damals hatte Orbán bereits mit dem Bau des Grenzzauns begonnen; derweil sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre inzwischen berühmten Worte: «Wir schaffen das!» Baltan N. scheint zumindest den ersten Schritt geschafft zu haben. Anfang Jahr schreibt er per Whatsapp, er habe die Grenze überquert und sei in Deutschland angekommen.
Hintergründe im Podcast: Klaus Petrus erzählt mehr über seine Beobachtungen an den EU-Aus sengrenzen im Gespräch mit Simon Berginz: surprise.ngo/talk
Verfolgt von Taliban und Daesch Afghanistan Die Hasara stellen die drittgrösste Bevölkerungsgruppe des Landes. Sie gelten als liberal und bildungsaffin. Zusammen mit ihrem schiitischen Glauben und wechselnden politischen Allianzen macht sie dies dauerhaft zum politischen Gegner der sunnitisch-konservativen Mehrheit und der Radikalen. TEXT UND FOTOS MARIAN BREHMER
Kabul AFGHANISTAN
18
Surprise 496/21
der vier Dutzend Jugendlichen, die bei dem Attentat ums Leben kamen, waren junge Hasara, die für ein Jahr zum Grossteil aus den Kernprovinzen in Zentralafghanistan nach Kabul gezogen waren, um sich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorzubereiten. Angehörige der Hasara machen etwa ein Viertel der Kabuler Bevölkerung aus, sie leben zumeist im Westen der Metropole. Nach dem Sturz der Taliban im Dezember 2001 liessen sich in der Siedlung Dasht-e Barchi Zugezogene aus ländlichen Regionen nieder. Seitdem ist das Leben in der ungeplant gewachsenen Enklave improvisiert geblieben. Lebensmittelläden sind in Lkw-Containern untergebracht, anstelle von Strassen verlaufen matschige Feldwege zwischen den Lehmhäusern. Am nördlichen Rand des Viertels fliesst der Paghman, ein Nebenarm des einst malerischen Kabul-Flusses, der heute nur noch ein ausgetrocknetes, modrig riechendes Rinnsal ist. Seit 2015 greift Daesch immer wieder Ziele in Dasht-e Barchi an, die von den Hasara frequentiert werden: Moscheen und Schreine, politische Versammlungen, Schulen, einen Wrestlingclub, zuletzt sogar eine Geburtsklinik. Obwohl Anzahl und Brutalität der Terroranschläge in der Fünf-Millionen-Stadt zugenommen haben, verbinden viele Afghan*innen die Hauptstadt weiterhin mit dem Versprechen auf gute Bildungschancen und und ziehen dorthin. Das gilt auch für die Hasara, die mehrheitlich in den abgelegenen Bergregionen westlich von Kabul leben und schätzungsweise fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung Afghanistans ausmachen.
Gräber der Hasara-stämmigen Schüler*innen, die 2018 bei einem Selbstmordattentat ums Leben kamen.
Ein eisiger Januarwind weht über die 48 Gräber auf dem Qurigh-Hügel in Kabul. Es ist gespenstisch still. Die Winterbise zieht bis in die Knochen und lässt die Fahnen flattern, die zu beiden Seiten der Grabsteine an Holzstöcken befestigt sind. Eine ist die afghanische Nationalflagge, die andere zeigt das Emblem der Mawoud-Akademie: ein aufgeschlagenes Buch mit einem Füllfederhalter, über dem die Sonne aufgeht. Zwischen den Flaggen stecken Poster mit Porträtfotos im Schnee. Die Bilder sind teilweise zerrissen worden, aber soweit man sie erkennt, sehen sie aus, als hätten sie einmal auf Schüler*innenausweisen geklebt: eine Jugendliche, die ihr rosa Kopftuch locker ums Haar drapiert hat und ihr Lächeln nur andeutet, ein korrekt gescheitelter Teenager mit Jackett und gepunkteter Krawatte. Über jedem der Köpfe steht derselbe Vers aus dem Koran, einundachtzigste Sure: «Wegen welcher Sünde wurden sie getötet». Vor zweieinhalb Jahren, an einem Nachmittag im August 2018, betrat ein Selbstmordattentäter den Algebra-Unterricht der Mawoud-Akademie und zündete inmitten von hundert Schüler*innen seine Sprengstoffweste. Er gehörte zu Daesch, wie der sogenannte Islamische Staat auf Arabisch genannt wird. Die meisten Surprise 496/21
Verbindungen ins Ausland Der Name Hasara — nach den Paschtunen, Tadschiken und Usbeken die viertgrösste Ethnie des Landes — leitet sich vom persischen Wort für «tausend» ab. Sie gelten als Nachkommen der mongolischen Soldaten, die sich im 13. Jahrhundert im Gefolge von Dschingis Khans Eroberungszügen am Hindukusch ansiedelten. Die Hasara sind Zwölferschiiten und damit im sunnitischen Afghanistan eine religiöse Minderheit. Es wird angenommen, dass sie sich Ende des 16. Jahrhunderts unter dem Einfluss der iranischen Dynastie der Safawiden der Schia zuwandten, der kleineren der beiden grossen islamischen Glaubensrichtungen. In den blutigen Kriegen der Achtziger- und Neunzigerjahre unterstützten Agenten der Islamischen Republik im Kampf um Kabul schiitische Milizen der von den Hasara gegründeten «Einheitspartei», festigten damit deren Verbindung mit dem Iran und nahmen weitreichenden Einfluss auf die Hasara-Politik. Den Hasara hing bereits mit den anglo-afghanischen Kriegen im 19. Jahrhundert der Ruf an, mit ausländischen Feinden zu kollabieren; damals sollen sie die Russen unterstützt haben. Besonders die sunnitischen, zumeist schriftgläubigen Paschtunen betrachten die Hasara deshalb mit Misstrauen. Im Jahr 1893 liess der paschtunische Emir Abdur Rahman Khan im Zuge der Niederschlagung eines Hasara-Aufstandes mehr als die Hälfte aller Hasara im Land töten. Er trieb gleichzeitig den Aufbau des afghanischen Nationalstaats voran. Im Bürgerkrieg der Neunzigerjahre standen die Hasara immer wieder den (sunnitischen) Taliban gegenüber: Als die Hasara 1997 bei der Taliban-Offensive auf Masar-e Scharif Hunderte von paschtunischen Kämpfern umbrachten, rächten sich diese mit einer jahrelangen Verfolgungs- und Mordkampagne an den Hasara. Bis heute betrachten die Taliban sie als Ketzer*innen und 19
vertreiben sie aus ihren Dörfern. Der afghanische Ableger von Daesch wiederum bekämpft die Hasara aufgrund ihrer Verbindung zur sogenannten schiitischen Achse Syrien-Irak-Iran. So steht die Verfolgung der Hasara auch im Zusammenhang mit dem Tauziehen zwischen den beiden geopolitischen Riesen im Mittleren Osten: Saudi-Arabien und dem Iran. «Es gibt keine sichere Gegend», meinte Mina Rezai, die 2012 aus dem iranischen Exil nach Kabul zurückkehrte, vor Kurzem in der New York Times über die konstante Bedrohungslage. Rezai ist Hasara-Frau und Gründerin des Café Simple, eines geselligen Kabuler Treffpunkts. In dem 2018 eröffneten Lokal treffen sich viele Hasara, aber auch kriegsmüde Kabuler Jugendliche anderer Ethnien wegen seiner positiven Vibes. Das Café Simple liegt in einer geschäftigen Einkaufsstrasse. Vor dem Eingang knattert ein Stromgenerator. Eine Reihe Studenten mit Zigaretten zwischen den Fingern sitzt auf einer Holzbank. Ihre Hände umschliessen dampfende Suppenschüsseln, sie sind ins Gespräch vertieft. Neben der Tür hängt eine Pinnwand mit bunten Notizzetteln, auf denen Cafébesucher*innen ihre Gedanken festgehalten haben; manche auf Dari und manche auf Englisch. Auf einem steht «Ich habe mich verlobt», auf einem anderen «Auch dies geht vorüber», daneben «Freie Frauen sind schönere Frauen». Tatsächlich bietet das bunt eingerichtete Café seinen Kund*innen einen Raum mit kleinen, aber wertvollen Freiheiten — an kaum einem anderen Ort der Stadt können sich junge Pärchen so ungezwungen treffen. An den Wänden hängt neben Bilder-
rahmen mit poetischer Kalligraphie ein Porträt von Frida Kahlo. Diesen Freitagnachmittag ist das Café nur gefüllt mit Männern, die in Winterjacken um gläserne Teekannen sitzen, Heizkörper gibt es hier nicht. An einem Tisch wird Dichtung gelesen und debattiert, neben dem Masnawi des Mystikers Dschalaluddin Rumi liegt ein Roman von Dostojewski. «Sollte in Kabul eines Tages die Revolution ausbrechen, beginnt sie im Café Simple», sagt der Ethnologe Ali Abdi, ein Stammgast, und meint damit das intellektuelle Image des Ortes als Treffpunkt junger Denker*innen. «Die Hasara haben in Afghanistan den Ruf, liberal zu sein und mehr Wert auf Bildung zu legen als andere.» Junge Hasara-Frauen, die im iranischen Exil aufwuchsen, brachten bei ihrer Rückkehr progressive Werte mit und folgten deshalb noch häufiger als Frauen anderer Ethnien selbstbestimmten Lebensentwürfen. Während das Leben von Frauen in weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft weiterhin einer massiven soziokulturellen Kontrolle unterliegt und auf Familie und Haushalt beschränkt bleibt, sind die Iranerinnen – zumindest für regionale Verhältnisse – in Hochschulbildung und Berufsleben seit Jahren stark repräsentiert. Von der Regierung allein gelassen Bereits vor dem Taliban-Regime arbeiteten überdurchschnittlich viele Hasara-Frauen als Lehrerinnen oder Ärztinnen, manche zogen sogar in den Krieg. Doch heute erschweren Armut und die Angst vor Anschlägen die Existenz der Minderheit. Der Eindruck,
ANZEIGE
strauhof
Iris von Roten
mass&fieber
FRAUEN IM LAUF GITTER 2/3 — 30/5/21
Pikanterweise vermag keine andere Staatsform ung der Angehörigen blichen Geschlechtes ch zu veranschaulichen wie die demokratische,
Aktuelle Informationen zur Ausstellung unter www.strauhof.ch Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit
50
Oben: Café Simple, das erste Szenecafé Kabuls, das von einer HasaraFrau gegründet wurde. Unten: Stadtansicht Kabul im Winter 2020.
Das durch die Attacken der letzten Jahre verstärkte Trauma führte in manchen Schulen dazu, dass nur noch die Hälfte der Schüler*innen den Unterricht besucht. nicht gewollt zu sein, hat sich tief in ihre Psyche eingegraben. Von der Regierung Aschraf Ghanis fühlen sich viele Hasara ungeschützt und allein gelassen. Um gegen die Umleitung einer Stromtrasse, die eigentlich durch Hasara-Provinzen führen sollte, zu protestieren, bildeten junge Hasara 2016 die «Aufklärungsbewegung». Bei den Protesten, die sich auch gegen die etablierten Hasara-Führer wandten – hauptsächlich ehemalige Warlords aus dem Krieg gegen die Sowjets – kamen damals bei einem Daesch-Anschlag hundert Menschen ums Leben. Um sich Gehör zu verschaffen und die Verteidigung ihrer Landsleute in den Provinzen selbst in die Hände zu nehmen, greifen manche der einst friedlichen Aktivisten inzwischen selbst zu den Waffen; etwa in der Provinz Maidan Wardak, wo nun eine Hasara-Miliz unter dem Namen «Widerstandsbewegung für Gerechtigkeit» operiert. Anstatt auf staatliche Hilfe zu warten, gründeten die Hasara in Dasht-e Barchi eine Reihe von Privatschulen, die den Ruf eines hohen Bildungsstandards geniessen, und sichern ihre öffentlichen Einrichtungen mit eigenen bewaffneten Sicherheitskräften. Das durch die Attacken der letzten Jahre verstärkte Trauma führte jedoch in manchen Schulen dazu, dass nur noch die Hälfte der Surprise 496/21
Schüler*innen den Unterricht besucht. Anlaufstellen für psychotherapeutische Unterstützung gibt es so gut wie keine. Trotz der Widrigkeiten definieren sich viele junge Hasara heute über ihre seit 2001 erzielten Errungenschaften in den Bereichen Bildung und Frauenrechte. Galten die Hasara noch Mitte des 20. Jahrhunderts als ungebildete Arbeiter*innen, so weisen die zwei Hasara-Kernprovinzen Bamiyan und Daikundi heute die höchsten Zulassungsraten zu den Universitäten auf. Die erste Frau an der Spitze einer afghanischen Provinz war Habiba Sarabi, die Hasara-Gouverneurin von Bamiyan. Auch im Ausland werden die Hasara seit 2001 oft als Hoffnungsträger*innen des kriegsgebeutelten Landes gesehen. Zurzeit allerdings verfolgen sie die laufenden Verhandlungen über ein Friedensabkommen zwischen den Taliban und den Vereinigten Staaten mit viel Sorge, denn die USA stellten eine Regierungsbeteiligung der Taliban in Aussicht. Zwar steht der Deal, der den Abzug der US-Soldaten*innen bis zum 1. Mai vorsieht und momentan von der Regierung Biden überprüft wird, noch auf wackligen Beinen. Doch die Hasara fürchten, dass ein politisches Wiedererstarken der Taliban ihre Fortschritte in Sachen Bildung und Frauenrechte zunichtemachen könnte. 21
der Schweiz nun politisch mitbestimmen. (K)ein Grund zum Feiern.
«Man könnte über eine Entschädigung nachdenken» Zum 50-jährigen Jubiläum zeigt eine Ausstellung im Bernischen Historischen Museum: Was damals erkämpft wurdeh, ist heute noch aktuell. Kuratorin und Geschlechterforscherin Fabienne Amlinger erklärt, wieso. INTERVIEW GIULIA BERNARDI
Fabienne Amlinger, Sie sind seit 2006 am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern tätig. Warum Geschlechterforschung? Seit ich denken kann, fallen mir Differenzen auf, die zwischen Frauen und Männern gemacht werden, und die Ungerechtigkeiten, die damit einhergehen. Entsprechend war ich schon früh politisch und feministisch aktiv. Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Sie besonders geprägt hat? Es gibt viele Beispiele, die ich nennen könnte. Ich erinnere mich, wie entsetzt meine Mutter war, als sie erfuhr, dass Lilian Uchtenhagen, die als erste Frau für die Schweizer Landesregierung kandidierte, von der bürgerlichen Mehrheit nicht als Bundesrätin gewählt wurde. Obwohl ich das Ereignis damals noch nicht richtig einordnen konnte – ich war sieben Jahre alt –, ist es mir bis heute geblieben. Mich interessieren solche Frauenfiguren. Wie beobachten Sie die aktuelle Medienberichterstattung über die Einführung des Frauenstimmrechts 1971? In erster Linie freut es mich, dass das Thema so ausgiebig aufgegriffen wird. Ich hatte anfänglich die Befürchtung, dass die Einführung vor 50 Jahren nun als «Jubiläum» gefeiert wird, finde aber doch, dass sie auch kritisch reflektiert wird. Welche Aspekte sollten heute dennoch stärker in den Fokus rücken? Man könnte das Unrecht stärker betonen und über eine Entschädigung nachdenken. Solche Worte zu verwenden, öffnet neue Denkräume und Diskussionen. In der medialen Debatte wird viel zurückgeschaut: Warum ging es so lange, bis das Frauenstimmrecht angenommen wurde? Wer waren die Kämpferinnen? Das sind wichtige Aspekte, und dennoch sollte die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Frage gelenkt werden, was sich seither verändert hat. Und da merkt man schnell: Wir leben noch immer in einer patriarchalen Gesellschaft. Fundamentale Einflüsse, welche die Einführung des Frauenstimmrechts lange verhindert hatten, sind noch heute präsent. 22
Inwiefern? Das Feld der institutionalisierten Politik wurde 1848 von Männern für Männer konstituiert und 123 Jahre so weitergetragen. Frauen können erst seit kurzer Zeit mitwirken. Was Politik ist und wie sie betrieben wird, ist entsprechend männlich konnotiert. Natürlich gibt es neue Themen, die von Frauen auf die politische Agenda gebracht wurden, etwa der Schwangerschaftsabbruch oder die Revision des Eherechts. Dennoch sind die Strukturen männlich. Das ist das Ursprungsproblem. Als Beispiel: Noch heute werden im Bundeshaus Sitzungen zeitlich so festgelegt, dass sie für Frauen mit Kindern unvorteilhaft sind. Auch die Logik, wie Demokratie funktioniert, ist eine männliche Setzung. Auch Ihr Buch «Im Vorzimmer der Macht?», das 2017 erschienen ist, stellte diese Frage: Haben Frauen nach der Annahme des Frauenstimmrechts überhaupt die Möglichkeit, ihre Anliegen in einer männlich dominierten Politik anzubringen? Im Zuge dessen thematisiere ich im Buch auch die vielseitigen Anpassungsleistungen, die Frauen erbringen mussten, damit sie überhaupt mitwirken konnten. Das fängt etwa bei der Architektur an, da es im Bundeshaus anfänglich keine Frauentoiletten gab. Aber auch die Sprache spielt dabei eine Rolle. Als Hanna Sahlfeld, eine der 1971 gewählten Nationalrätinnen, während einer Parlamentssitzung mit der Antwort des Nationalrats auf einen ihrer Vorstösse nicht zufrieden war, drückte sie das mit der protokollarisch vorgesehenen Aussage «teilbefriedigt» aus. Daraufhin lachten ihre männlichen Kollegen, weil sie das Wort sexuell konnotierten, sobald es von einer Frau ausgesprochen wurde. So sah sie sich gezwungen, ein anderes Wording zu finden. Aktuell sind in der Schweiz verschiedene Ausstellungen zur Einführung des Frauenstimmrechts zu sehen, unter anderem die von Ihnen kuratierte. Wie gestaltet man eine Ausstellung zu einem unrühmlichen Jubiläum? Mittlerweile ist es gesamtgesellschaftlich mehrheitlich anerkannt, dass es ein Demokratieverstoss war, das Frauenstimmrecht so spät einzuführen. Doch wie kann man dieses Unrecht spürbar Surprise 496/21
FOTO: UNIVERSITÄT BERN, VERA KNÖPFEL
Frauenstimmrecht Ein halbes Jahrhundert dürfen Frauen in
Fabienne Amlinger ist am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung an der Universität Bern tätig und kuratierte die Ausstellung «Frauen ins Bundeshaus! 50 Jahre Frauenstimmrecht» im Bernischen Historischen Museum. Im Jahr 2017 erschien ihr erstes Buch «Im Vorzimmer der Macht?» und 2020 ein Essay im Sammelband «Jeder Frau ihre Stimme», welcher die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit der Einführung des Frauenstimmrechts thematisiert.
«Mittlerweile ist es gesamtgesellschaftlich anerkannt, dass es ein Demokratieverstoss war, das Frauenstimmrecht so spät einzuführen.»
machen? Das Kernstück der Ausstellung, die auf die Jahre nach 1971 fokussiert, besteht aus zwölf Interviews, in denen Politikerinnen verschiedener Parteien und Generationen zu Wort kommen. Mir war klar: Man muss diesen Frauen zuhören, wenn man Politik verstehen will. Die Gespräche, die auf grossformatigen Screens zu sehen sind, machen einem breiten Publikum die Erinnerungen und Erfahrungen der Politikerinnen zugänglich. Sie sollen auch zeigen, dass nach dem Kampf um das Frauenstimmrecht der nächste folgte – jener um die politische Teilhabe von Frauen. Was hat Sie an den Geschichten besonders berührt? Die Gespräche führen einem vor Augen, mit welchen Ungerechtigkeiten und Angriffen viele dieser Politikerinnen zu kämpfen hatten. Ich finde aber auch die Kraft eindrücklich, mit der sie sich oft trotz Widrigkeiten in die Politik einbrachten und ihre Überzeugungen vertraten. Die Ausstellung soll auch eine Anregung sein, die eigene Position zu reflektieren. Wie ist das gemeint? In der Ausstellung erzählen Frauen beispielsweise, was ihnen Unerhörtes passiert ist – etwa, dass ihnen Kompetenzen abgesprochen oder dass sie wüst beschimpft wurden. An dieser Stelle wird die Befindlichkeit der Besucher*innen abgefragt: Was macht Surprise 496/21
das Video mit ihnen? Um diese Frage zu beantworten, muss man reflektieren, was man gesehen und gehört hat, und sich dazu positionieren. Sich seiner Position und des eigenen politischen Handelns bewusst zu werden, ist zentral: Denn letztlich geht es darum zu überlegen, wie wir zusammenleben und die Gesellschaft gestalten möchten. Die Ausstellung soll demnach nicht nur Rückblick sein, sondern auch ein Blick auf die aktuelle Lage. Wie wird Gleichstellung heute diskutiert? Einerseits sind viele überzeugt, dass heute die Geschlechtergleichstellung erreicht ist oder dass die letzten Ungerechtigkeiten mit der Zeit schon noch verschwinden. Andererseits rückten in den letzten Jahren durch den Frauenstreik oder die #MeToo-Debatte die nach wie vor bestehenden Gleichstellungsdefizite und der omnipräsente Sexismus ins kollektive Bewusstsein. Nicht zuletzt gab die Black-Lives-Matter-Bewegung der Gleichstellungsdebatte einen Anschub, vermehrt einen intersektionalen Ansatz zu berücksichtigen. Das heisst, es werden auch die Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen – etwa aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Klasse – und die spezifisch daraus resultierende Benachteiligung stärker aufgegriffen. Heute wird von blinden Flecken in der Gleichstellung gesprochen. Welche sind Ihrer Meinung nach die dringlichsten? Dass überhaupt von «blinden Flecken» gesprochen wird. Denn das impliziert, dass die Gleichstellung fast erreicht ist und es nur noch einige wenige Randbezirke gibt, die der Besserung bedürfen. Dabei hängt alles zusammen: Sexismus, geschlechtergerechte Sprache, Transphobie, häusliche Gewalt etc. Genau das macht die Diskussion über Geschlechtergleichstellung so komplex und ja – auch anstrengend. Tatsache ist, dass die gesellschaftliche Geschlechtergleichstellung nicht erreicht ist. «Frauen ins Bundeshaus! 50 Jahre Frauenstimmrecht», Ausstellung, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, bis So, 14. November, Bernisches Historischen Museum, Helvetiaplatz 5. www.bhm.ch 23
2
Ist jetzt alles gut? In der ganzen Schweiz widmen sich Museen der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 – mit unterschiedlichen Perspektiven. TEXT MONIKA BETTSCHEN
«50 Jahre Frauenstimmrecht. Ist jetzt alles gut?» fragen zwölf Politikerinnen, unter ihnen die Alt-Bundesrätinnen Ruth Dreifuss und Elisabeth Kopp oder die Parlamentarierin Tamara Funiciello in Videointerviews, die in der Ausstellung «Frauen ins Bundeshaus!» im Bernischen Historischen Museum gezeigt werden (siehe Interview auf Seite 22). Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, bieten etliche Museen und Institutionen unterschiedliche Denkanstösse. Die Geschichte neu schreiben Gleich mehrere Ausstellungen schärfen den Blick dafür, dass die Geschichtsschreibung männlich geprägt ist. So sind Frauen in Lehrmitteln stark untervertreten. Um das zu ändern, stellt der Verein «Hommage 2021» 52 Frauenporträts in der Berner Altstadt aus. Expertinnen trugen dafür 180 Biografien zusammen, aus denen Schulklassen 52 auswählen konnten. «Wir wollten bewusst Frauen porträtieren, die nicht mehr leben. Es geht um ihr Erbe, dem wir heute Sorge tragen müssen», sagt Marie Theres Langenstein, Produktionsleiterin des Vereins. 24
Auch dem Haus der Museen in Olten ist es ein Anliegen, mit «Pionierinnen. Eine Würdigung» zu einer ausgewogeneren Geschichtsschreibung beizutragen. Im Zentrum stehen Frauen aus dem Kanton Solothurn, die sich vom Mittelalter bis heute im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die Gesellschaft einbrachten. Zum Beispiel Barbara von Roll, die sich im 16. Jahrhundert grosses Wissen in der Pflanzenheilkunde aneignete, Arme und Kranke pflegte und manche von ihnen in ihr Haus aufnahm. «Es ist bemerkenswert, dass ihr Testament die Jahrhunderte überdauert hat und uns heute vorliegt», sagt Museumsleiterin Luisa Bertolaccini. «Erst seit den 1970er-Jahren wird bei Recherchen mehr darauf geachtet, Überlieferungen über den Beitrag von Frauen aufzuspüren.» Unter den porträtierten Frauen sind auch Maria Felchlin (1899–1987), die erste praktizierende Ärztin des Kantons Solothurn, oder Lilian Uchtenhagen-Brunner (1928–2016), die erste Bundesratskandidatin. Das Historische Museum Luzern fasst den regionalen Ansatz noch etwas weiter. «Eine Stimme haben» rückt Akteur*innen
ins Zentrum, die sich im Kanton Luzern für, aber auch gegen das Frauenstimmrecht einsetzten. So zum Beispiel die Historikerin Josefine Steffen-Zehnder, die das Frauenstimmrecht mit dem Argument bekämpfte, Frauen müssten zu ihrem eigenen Schutz vom männlichen Bezirk der Politik ferngehalten werden. «Trotz solch starkem Gegenwind wurde das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene am 25. Oktober 1970, also einen Wimpernschlag früher als auf nationaler Ebene, deutlich angenommen. Das lässt sich unter anderem mit dem Wunsch erklären, nicht als rückständig, sondern als modern zu gelten», sagt die Historikerin und Projektmitarbeiterin Silvia Hess. «Zudem dürfte sich der eine oder andere Politiker des grossen Wählerinnenpotenzials der Frauen bewusst geworden sein.» Die Ausstellung schafft auch einen Gegenwartsbezug, indem generell dafür sensibilisiert wird, wer heute in der Gesellschaft Gehör findet und wer nicht. «Die heutigen Debatten rund um das Mitspracherecht von Minderheiten oder Menschen mit Einschränkungen weisen zahlreiche Parallelen zum Diskurs vor Surprise 496/21
BILD (1): SCHWEIZERISCHES NATIONALMUSEUM, BILD (2): MUSEUM FÜR GESTALTUNG ZÜRICH, PLAKATSAMMLUNG, BILD (3): GHETTY IMAGES
1
3
fünfzig Jahren rund um das Frauenstimmrecht auf», sagt Hess. Nicht nur die Geschichten von Frauen, sondern auch ihre Besitztümer und Accessoires fanden in Museumssammlungen oft kaum Eingang, da sie als nicht genügend erinnerungswürdig erachtet wurden. Das Museum Appenzell möchte dies mit seiner Sonderschau «Amalie, Josefa, Ottilia – Frauenportraits aus Appenzell Innerrhoden» ändern. Objekte aus dem Alltag von fünf Frauen, wie zum Beispiel ein Hebammenkoffer der Hebamme Ottilia Grubenmann (1917–2003), gewähren Einblick in weibliche Lebensrealitäten. Von viel Selbstsicherheit zeugen die Kleider einflussreicher Frauen wie Margaret Thatcher oder Jacky Kennedy, die in der Ausstellung «Robes politiques. Frauen Macht Mode» im Textilmuseum St. Gallen zu bestaunen sind. Ebenso wie ausgewählte Kleidungsstücke aus dem Fundus von Schweizer Politikerinnen wie Doris Leuthard oder Karin Keller-Sutter. Ebenfalls einen visuellen Schwerpunkt setzt das Historische Museum Schloss Arbon: Es zeigt zwölf Plakate von Abstimmungen rund um das Frauenstimmrecht. Teilweise stammen diese von bekannten Kunstschaffenden wie Hans Erni. Der internationale Fokus In der Ausstellung «Klug und kühn. Frauen schreiben Geschichte» erinnert das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz im Historischen und Surprise 496/21
1 Dass Frauen keinen Militärdienst leisten, wurde oft als Argument gegen das Frauenstimmrecht ins Feld geführt. Männer hatten ein Stimmrecht unabhängig davon, ob sie Militärdienst leisteten oder dienstuntauglich waren. Sanitätsfahrerinnen des FHD, 1939 – 1945. 2 Die Wirtschaftskrise und politisch konservative und faschis tische Strömungen förderten in den 1930er-Jahren die Betonung der Aufgaben der Frau im häuslichen Bereich. In der Aufbruchstimmung der ersten Nachkriegsjahre fanden dann einige kantonale Abstimmungen über das Frauenstimmrecht statt, die aber alle negativ ausgingen. Plakat des Zürcher Kantonalkomitees gegen das Frauenstimmrecht, 1946. 3 Das Textilmuseum St. Gallen legt den Fokus auf die öffentliche Wahrnehmung von Politikerinnen, Frauen, deren Erscheinen oft mit (Stil-)Kritik bedacht wird. Die Schweizer Bundespräsidentin Doris Leuthard und der chinesische Präsident Xi Jinping im Mai 2017 in Beijing.
Völkerkundemuseum St. Gallen daran, wie stark das Geschlechtermodell des 19. Jahrhunderts mit seinem Rollenverständnis bis heute in vielen Lebensbereichen nachwirkt. Vom Kampf für Gleichstellung auf rechtlicher Ebene erzählt «Frauen. Rechte. Von der Aufklärung bis in die Gegenwart» im Landesmuseum Zürich. «Frauenrechte sind Menschenrechte» war und ist eine der Kernbotschaften der Frauenbewegung. Die Ausstellung zeichnet das über 200 Jahre andauernde Ringen um Frauenrechte nach. Aus dieser Zeit sind Exponate wie zum Beispiel ein Exemplar der «Déclaration des droits de l’homme» zu sehen. So wird nachvollziehbar, welche Strömungen den Boden für die heutige Gleichheit der Geschlechter vor dem Gesetz bereitet haben. Wo steht die Frauenbewegung heute? Das Buch «Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten (1917–1990) sorgte bei seiner Publikation 1958 für rote Köpfe. Unverblümt und direkt spricht von Roten, die als eine der wenigen Frauen jener Zeit als Juristin promovierte, über sexuelle Selbstbestimmung oder Mutterschaft. Themen, die bis heute Stoff für hitzige Debatten liefern. Die nach Rotens Werk benannte Ausstellung im Literaturmuseum Strauhof in Zürich zeigt, dass ihre Botschaften auch heute, fünfzig Jahre nach der Annahme des Frauenstimmrechts, nichts von ihrer Dringlichkeit und Sprengkraft verloren haben.
«Hommage 2021», 52 Porträts in der Berner Altstadt, bis Mi, 30. Juni, hommage2021.ch «Pionierinnen. Eine Würdigung», bis So, 8. August, Haus der Museen Olten hausdermuseen.ch «Eine Stimme haben», bis So, 29. August, Historisches Museum Luzern historischesmuseum.lu.ch «Amalie, Josefa, Ottilia – Frauenportraits aus Appenzell Innerrhoden», bis Fr, 31. Dezember, Museum Appenzell, museum.ai.ch «Robes politiques. Frauen Macht Mode», bis So, 6. Februar 2022, Textilmuseum St. Gallen, textilmuseum.ch «Frauen. Die bunte Welt der Plakate von 1920 – 1971», frühestens ab Mitte April, Historisches Museum Schloss Arbon, museum-arbon.ch «Klug und kühn. Frauen schreiben Geschichte», bis So, 19. September, Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen, hvmsg.ch «Frauen. Rechte. Von der Aufklärung bis in die Gegenwart», bis So, 18. Juli, Landesmuseum Zürich, landesmuseum.ch «Iris von Roten – Frauen im Laufgitter» bis So, 30. Mai, Strauhof Zürich strauhof.ch Diese und weitere Ausstellungen unter www.ch2021.ch: Veranstaltungen. 25
BILD(1): KOSTAS MAROS, BILD(2): PRAVOSLAV SOVAC, HOMMAGE Ö DUBCEK, 1968, KUNSTHAUS ZUG, BILD(3): GIOVANNI JUSSI
Veranstaltungen Online «Nachbeben», Podcast auf Spotify, iTunes und nachbeben.ch
Wie Krisen unser Leben prägen – darum geht es ganz grundsätzlich im noch jungen Podcast des Radiojournalisten (und Surprise-Reporters!) Simon Jäggi, des – ebenfalls – SRF-Journalisten Sedrik Eichkorn und der Psychologin und Buchautorin Rea Hoppler. Zum Beispiel: Ron Feller ist etwa sechs Jahre alt, als seine Eltern den Zeugen Jehovas beitreten. Während jahrzehntelangem Mitlaufen in der Sekte führen die Dogmen zu Spannungen in seiner Familie, Feller entschied sich – trotz der Angst vor den weitreichenden Konsequenzen – auszusteigen. Es war ein Entscheid für die eigene Meinungsbildung und die Vielfalt an Weltbildern. Oder Folge 2: Mirjam Indermauer hat ihr halbes Leben mit ihrem Ehemann verbracht. Dann wird er schwerkrank. Und sie stellt sich die Frage: Wer bin ich ohne meinen Mann? Folge 3: Henning Krauses Leben besteht aus: Adrenalin kicken und Leben retten. Es gleicht einer tempogeladenen Fernsehserie mit viel Action, Notfallmedizin, Krankenwagen, Rettungshubschrauber. Bis er mehrere Einsätze im Irak und in Afghanistan hat. Plötzlich macht dem Adrenalin etwas ganz anderes Platz: das Gefühl kompletter Machtlosigkeit, das Erleben der Gewalt. Bilder, die nachbeben. Alle drei bis vier Wochen erscheint eine neue Folge. DF
Zug «ZuZug aus Osteuropa», Ausstellung, bis So, 1. August, Kunsthaus Zug, Dorfstrasse 27. kunsthauszug.ch
Mit dem Beginn des Kalten Krieges zerfiel Europa in «den Osten» und «den Westen». Obwohl Länder wie die Tschechoslowakei, Polen,
26
ngarn und Russland geografisch U gar noch in Europa liegen, schienen sie ein Stück weiter weg zu rücken. Die Ausstellung «ZuZug» verbindet nun verschiedene Generationen mittel- und osteuropäischer Kunstschaffender. Hier richtet der Schweizer Guido Baselgia seine Kamera auf den russischen Künstler Pavel Pepperstein und seinen Freundeskreis. Dem ge genüber stehen die Porträts des gebürtigen Pragers Jan Jedlička von westlichen Kunstschaffenden wie Gerhard Richter, Sol LeWitt und Roni Horn. Mit Pravoslav Sovak, Jan Jedlička und Tomas Kratky kamen tschechische Künstler dreier Generationen nach der nieder geschlagenen Reformbewegung des Prager Frühlings 1968 in die Schweiz. Von Luzern und Hergiswil aus bereiste Sovak dann während Jahrzehnten die USA, was sich in einem druckgrafischen Oeuvre niederschlug, während sich Tomas Kratky in seinen Zeichnungen und Gemälden existenziellen Fragen
von Religion und Sexualität, Leben und Tod widmete. In diesem schöpferischen Beziehungsgeflecht von Ost und West hat auch der Appenzeller Roman Signer seinen Platz, der in den 1970er-Jahren in Warschau Kunst studierte und dessen Werk bis heute davon geprägt ist. Freiheit und Toleranz, Weggang und Flucht bleiben in «ZuZug» präsent. So bezieht sich die Ausstellung auch auf gegenwärtige Proteste, Aufstände und revolutionäre Geschehnisse in Polen, Russland, Ungarn, Belarus und der Ukraine. D IF
Bern «Wo ist Walter?», Walking Theatre, ca. 90 min., ab 10 Jahren; 9./10. April, 17 Uhr, 11. April, 15 Uhr, im Rahmen von «Schlachthaus Theater im Quartier», alle Tickets und Infos: schlachthaus.ch Das «Tscharni» ist von März bis Mai die auserwählte Bühne mit internationalen Produktionen für Kinder, Jugendliche, Familien und Leute, die Theater einmal anders erleben wollen. Rundherum gibt’s eine Projektwoche mit der Schule
Tscharnergut und Workshops für Kinder und Jugendliche. Aber erst einmal ist da vor allem Walter. Oder eben auch nicht. Also gilt es, ihn zu suchen, mithilfe von Maria, der GPS-Begleitung. Sie gibt die Richtung vor, das Tempo. Aber auch Gedanken. Die Zuschauer*innen geraten in Bewegung und bald auch die Stadt selbst. Die Zuschauer*innen als Beobachter*innen mittendrin. Der Alltag gibt klare Wege vor, von A nach B. Jetzt interessiert das Dazwischen: anhalten, sich umschauen. Was hat diese Stadt zu bieten? Und was bieten ihr die Bewohner*innen? DIF
ANZEIGE
Schau .Lager bis 5. September 2021
Seefeldstr. 317 8008 Zürich Di bis Fr 13–17 Uhr Sa und So 10–17 Uhr Mo geschlossen
Surprise 496/21
kleinlich, auch ein Auto, dessen Batterie in der Kälte schlapp gemacht hat, darf aufgeladen werden.
Tour de Suisse
Pörtner in Wabern Surprise-Standort: Coop Einwohner*innen: 7997 Sozialhilfequote in Prozent: 4,4 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 18,7 Höhe des Gurtens in Metern: 864
Ein Ort, der gleichzeitig ein Verb ist, das laut Duden «sich hin und her bewegen» bedeutet. In Wabern befindet sich die Talstation der Gurtenbahn, die sich hin und her bzw. auf den geradezu mysti schen Berner Hausberg hinauf und wie der hinab bewegt. An der Talstation wurde einst das gleichnamige Bier ge braut. Wer viel Bier trinkt, kommt mit unter auch ins Wabern oder nach Wabern oder auf den Gurten, wo ein berühmtes Open-Air beheimatet ist. An Open-Airs wird bekanntlich viel Bier getrunken und sich hin und her bewegt. Wahrscheinlich hört man es dann Wummern in Wabern. Die Bahnstation wirkt topmodern, und ist flankiert von einer riesigen, mehr stöckigen Wohnsiedlung. Da wirkt das alte, hölzerne Bahnhofsgebäude fast wie das chinesische Nagelhaus, aus der Surprise 496/21
Zeit gefallen, umzingelt von Beton und Bauzäunen. Ebenfalls etwas aus der Zeit gefallen ist das Gelände der Heiteren Fahne, das aussieht wie ein alternatives Kulturzentrum. Doch weil die Kultur ruht, ruht auch das Zentrum, immerhin, vor dem Eingang können an einem Schleifstein Messer geschliffen werden, der Kiosk hingegen ist geschlossen. Eingeschneit hinter dem Haus wartet das Blöffertaxi, ein alter grosser Mercedes. Wenig nützt hingegen das runde Pano rama weiter vorne am Weg, mithilfe dessen die umliegende Landschaft be stimmt werden könnte. Wenn das Panorama nicht unter einer Eisschicht und die Landschaft nicht im Nebel läge. Im Laden, in dem Elektrovelos vermietet und verkauft werden, ist man nicht
Neben der Tramhaltestelle Wabern be findet sich das Bundesamt für Landesto pografie. Auf dem Vorplatz steht eine geometrische Plastik. Ein Stück weiter ist einer Informationstafel zu entneh men, von wem sie stammt. Damals aber stand sie offenbar noch in der Tram schleife, war jedoch schon im Besitz des Bundesamts. Ein Amt, das wahrschein lich zu denjenigen gehört, die selbst die härtesten Gegner von Behörden und staatlichen Leistungen nicht abschaffen wollen. Es versorgt uns mit den unent behrlichen Landeskarten, die auf keiner Wanderung oder Velotour fehlen dürfen, auch wenn sie heutzutage eher als App mitgeführt werden. An diesem Tag ist aber alles andere als Wanderwetter, und die elektronische Anzeige im Tram zeigt für die nächsten Tage gleichbleibend trübe Aussichten. Dagegen hilft vielleicht das Optikgeschäft ICU, englisch für «Ich sehe dich», aber auch für «Intensive Care Unit», was so viel wie Intensivsta tion bedeutet. Eine hübsche Oase bildet die Villa Bernau, noch ein Kulturzentrum, auf einem verwunschenen Areal mit einer ausführ lichen Verhaltensregeltafel am Eingang. Viel ist aber auch hier nicht los, wegen Corona und den Temperaturen, denen ein paar kleine Kinder auf dem Spielplatz frohgemut trotzen. Es gibt einen Ge meinschaftskühlschrank gegen Food waste, Madame Frigo genannt, darin herrschen wahrscheinlich angenehmere Temperaturen als draussen, denn zurzeit ist Schlottern angesagt in Wabern.
STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
27
IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
Schweizerische Kriminalprävention SKPPSC
02
Scherrer & Partner GmbH, Basel
03
Breite-Apotheke, Basel
04
Coop Genossenschaft, Basel
05
EVA näht: www.naehgut.ch
06
Restaurant Haberbüni, Bern-Liebefeld
07
AnyWeb AG, Zürich
08
Echtzeit Verlag, Basel
09
Beat Hübscher, Schreiner, Zürich
10
Lebensraum Interlaken GmbH
11
Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel
12
Yogaloft GmbH, Rapperswil SG
13
unterwegs GmbH, Aarau
14
Infopower GmbH, Zürich
15
Hedi Hauswirth, Privatpflege, Oetwil am See
16
Gemeinschaftspraxis Morillon, Bern
17
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
18
sinnovec GmbH, Strategie & Energie, Zürich
19
Barth Real AG, Zürich
20
Simplution Software GmbH
21
Ueli Mosimann, ehemals Abt. Ausbildung Coop
22
Fontarocca Natursteine, Liestal
23
Christine Meier, raum-landschaft, Zürich
24
www.deinlohn.ch
25
TopPharm Apotheke Paradeplatz
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm
Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkäufer*innen fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 47-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor rund 10 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»
Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 16 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.
Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!
Wir alle sind Surprise #Strassenmagazin
#492: «Der Staat spuckt den Schwächsten weiter ins Gesicht»
«Selbsterkenntnis»
«Grenzüberschreitung»
Gerade lese ich die «Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken rund um den Strassenverkauf von Surprise» von Urs Habegger (Band 2). Das ist eine Sammlung von ganz wunderbar unter haltenden und zärtlichen Texten! Als Leser*in realisiert man: Hoppla – diejenigen, auf die man vielleicht hinabschaut (ich natürlich nicht ;-)), beobachten uns ja! Der Leser (z.B. ich) könnte sich dabei vielleicht ertappt vorkommen, aber das ist ab und zu ganz schön, weil der Selbsterkenntnis förderlich.
#491: Endlich vereint
#493: Städte werden aktiv
«Mehr Hund»
«Housing First»
In diesem Heft hat es ein Bild von einem ganz schönen Hundschi, das mit einem Buben spielt. Das hat mich sehr gefreut! Ich fände es schön, wenn Ihr in Eurem tollen Heft mehr über Tiere schreiben würdet. Solidarische Grüsse, Kalpi (ich bin ein Hund).
Ergänzend möchte ich anfügen, dass das Konzept Housing First eine mögliche Antwort zur Bekämp fung von Obdachlosigkeit und überteuerten Gammelzimmern sein könnte. Wohnen ist ein Menschen recht. Deshalb sollte eine eigene Wohnung nicht erst verdient werden müssen. Vielmehr sollte sie am Anfang eines jeden Prozesses stehen, um ein sicheres und würdevolles Leben führen zu können.
Als langjährige Surprise-Käuferin bin ich schockiert über den Titel dieses Heftes. Ich finde Ihr Heft super, und dass Sie Miss stände publik machen ist (leider) eine Notwendigkeit, doch diese Titelseite ist für mich eine Grenzüberschreitung. Ich bitte innerlich alle guten und redlichen Menschen, die bei der IV arbeiten, um Verzeihung. Ich empfinde diese Aussage als so destruktiv und menschenentwürdigend, und dies für eine ganze Institution, welche gegründet wurde, um krankgewordenen Menschen eine Existenzgrundlage zu sichern. Ich fühle tiefe Beschämung über das vielgepriesene Etikett «Huma nitäre Schweiz».
N. SCHWARZ, Bern
S. PLÜSS, ohne Ort
R.-M. SCHÄFER, Zürich
D. BARTH, Rapperswil
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Klaus Petrus (kp), Diana Frei (dif) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
Surprise 496/21
Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Giulia Bernardi, Marian Brehmer, Dina Hungerbühler, Elena Knecht, René Senn Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 40 200 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort
Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 496/21
Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo
29
FOTO: BODARA GMBH
Surprise-Porträt
«Ich bin ein Kämpfer und Optimist» «Unfälle scheinen mich zu verfolgen. Vor Kurzem bin ich bei meiner Arbeit in der Pferdepflege von einer Leiter gefallen und habe mir den Ellbogen gebrochen. Ich war fünf Tage im Spital, die Ärzte mussten meinen Arm mehrere Stunden zusammenflicken. Wenige Tage später erlitt ein guter Freund von mir während eines gemeinsamen Spaziergangs einen Schlaganfall. Das schlimmste Erlebnis in meinem Leben war jedoch, als ich im Alter von vier Jahren zusehen musste, wie ein zweijähriges Kind von einem Lastwagen überrollt wurde. Dieses Trauma werde ich wahrscheinlich nie über winden können. Etwa zur gleichen Zeit begannen meine epileptischen Anfälle. Heute habe ich zwar keine Anfälle mehr, ich musste aber viele Jahre behandelt werden. Wenn ich nicht aufpasse, können die Anfälle jederzeit zurückkommen. Doch solche Schicksals schläge haben mich auch zu dem gemacht, was ich heute bin: Heini Hasler, ein Kämpfer und Optimist. Ich bin als eines von sieben Kindern im bündnerischen Domat/Ems aufgewachsen. Im Alter von vier Jahren begannen die epileptischen Anfälle und Absenzen. Dies brachte meine Familie in eine schwierige Situation. Mein Papa hatte mit seinem geringen Lohn keine Chan cen, für die Spital- und Behandlungskosten aufzukom men. Hätte mein damaliger Churer Arzt nach einigen erfolglosen Behandlungsversuchen nicht insistiert, dass ich in der schweizerischen Epilepsie-Klinik unter gebracht werde, wären meine Überlebenschancen gering gewesen. In den 1960er- und 1970er-Jahren waren die verschiedenen Behandlungs- und Unterstützungs möglichkeiten bei uns im Bündnerland noch wenig be kannt und der Kanton war bezüglich der Invalidenversicherung eher restriktiv. Meinem Arzt verdanke ich es auch, dass meine Behandlung und Betreuung von der Invalidenversicherung übernommen wurde. Ohne deren Einsatz wäre mein Leben wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Nach über sieben Jahren Behandlung konnte ich mit sechzehn Jahren die Klinik verlassen und in einer Be hindertenwerkstatt in Chur und Davos arbeiten. Im Jahr 1985 stieg ich in die Privatwirtschaft ein und habe seither alles Mögliche gemacht: Damenschneiderei, Auto branche, Sanitär, Stahlbau. Jetzt arbeite ich als Pferde pfleger und verkaufe das Surprise. Ich hätte sehr gerne eine Lehre als Schreiner absolviert. Leider hatte ich trotz grosser Anstrengungen Mühe mit Lesen und Schrei ben. Dafür konnte ich ganz viele unterschiedliche Be rufe kennenlernen. Auch meine neue Stelle bei Surprise gefällt mir gut. Ein Freund hatte mir immer wieder von 30
Heini Hasler, 62, verkauft in Chur, Davos, Schaffhausen und Zürich Surprise und war schon mal Olympiasieger im Eiskunstlaufen.
Surprise erzählt, doch ich habe gezögert, selbst einzu steigen. Eigentlich gefällt mir mein jetziger Job mit den Pferden sehr gut. Zudem bin ich für diese Firma seit siebzehn Jahren in unterschiedlichen Bereichen tätig und muss schauen, dass ich nicht zu viel arbeite. Doch mein Bedürfnis nach Abwechslung und neuen Heraus forderungen hat dann doch überhandgenommen. Herausforderungen suche ich auch im Sport. Als Eis kunstläufer habe ich zwei Mal an den Special Olympics teilgenommen. Bei meiner ersten Olympiade 2001 in Alaska gewann ich die Bronze-Medaille und habe dabei Altbundesrat Adolf Ogi kennengelernt. Ich erinnere mich noch genau, wie er sagte: ‹Für euch Sportler bin ich einfach dä Dölf.› Vier Jahre später gewann ich an den Special Olympics in Japan sogar Silber und Gold. Ich nahm auch am Murten-Lauf teil und gehörte zu den 2000 Sportler*innen, die das Rennen in der vorgegebe nen Zeit von 1 Stunde und 58 Minuten schafften. Ich hatte unzählige Blasen, wollte aber nicht aufgeben. Da nach wurde ich für das SRF-Sportpanorama interviewt. Sie wollten mal nicht Markus Ryffel porträtieren, son dern einen ‹Pechvogel›, der als Letzter in der vorgegebenen Zeit ins Ziel kam. Als Pechvogel würde ich mich selbst jedoch nicht bezeichnen, weder damals noch heute – dann eben eher als Kämpfer und Optimist.»
Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 496/21
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L‘Ultimo Bacio, Güterstr. 199 | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 IN BERN Äss-Bar, Länggassstr. 26 & Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont/ Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN BURGDORF Specht, Hofstatt 5 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt, Baselstr. 66 & Alpenquai 4 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Bistro Quai4, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WIL Caritas Markt, obere Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 | Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir sind froh, dass Sie auch in dieser schwierigen Zeit das Strassenmagazin kaufen. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank! Wo nötig tragen wir Masken.
Halten Sie Abstand.
Wir haben Desinfek tionsmittel dabei.
Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.
Zahlen Sie möglichst passend.
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo