Sozialhilfe 20 Jahre Abbau ist ein trauriges Jubiläum. Unser Überblick
zeigt, wie dringend grundlegende Reformen vonnöten sind und warum noch längeres Aussitzen keine Option sein darf.
«Armut ist ein Risiko für die Demokratie» Véréna Keller hat auf fast hundert Seiten den «Umbau der Sozialhilfe» dokumentiert. Als Chronistin bleibt die emeritierte Professorin nüchtern. Im Interview aber spricht sie Klartext. INTERVIEW ANDRES EBERHARD
Sie haben die politischen Vorstösse zur Sozialhilfe der letzten zwanzig Jahre aufgelistet. Ohne sie zu analysieren, wie Sie schreiben. Aber mal ehrlich: Was denken Sie darüber? Vor drei Jahren machte ich die Chronologie zum ersten Mal. Damals wurde mir richtig schlecht. Diese Aggressivität den Armen und Ausländer*innen gegenüber … Mich dünkte, dass SVP und Konsorten Menschen in der Sozialhilfe nicht mehr als Mitbürger*innen betrachten. Nun, wo ich die Chronologie aktualisiert habe, habe ich mich vielleicht etwas daran gewöhnt. Was konkret hat Sie derart schockiert? Im Wallis wollten rechte Kreise an ausländische Sozialhilfebezüger*innen Telefonkarten abgeben und ihnen dafür den Geldbetrag fürs Telefonieren streichen. Hinter dieser Idee steckt der Generalverdacht, dass diese Menschen das Geld ansonsten in ihre Heimat schicken würden. Ein anderes Beispiel: Im Kanton Aargau schlug die heutige SVP-Nationalrätin Marianne Bircher vor, man solle nur noch maximal drei Kinder von ausländischen Staatsbürger*innen unterstützen, um den «Fehlanreiz» bei afrikanischen Grossfamilien zu korrigieren. Ihre Dokumentation heisst «Chronologie des Umbaus in der Sozialhilfe». Was ist denn mit der Sozialhilfe passiert? Allgemein bekommen Sozialhilfebezüger*innen weniger Geld, weil die SKOS in ihren Richtlinien die Ansätze für den Grundbedarf herabgesetzt hat. Allerdings bekommen einzelne Sozialhilfebezüger*innen mehr als früher – für Ausbil8
dungen, Coaching, Begleitungen. Eine neue Philosophie wurde eingeführt: Man investiert in jene, bei denen etwas zu holen ist. In andere nicht. Dieses Konzept der Sozialinvestition hat vieles kaputt gemacht. Warum? Es ist gut, dass man jene unterstützt, die eine Chance haben, den Schritt in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Das Problem ist, dass man dies zum Preis von allen anderen tut. Es findet eine Selektion statt. Wer profitiert, wer ist benachteiligt? Die Ämter klären das individuell ab. Aber Frauen, Ausländer*innen oder Fremdsprachige haben aufgrund von Vorurteilen kleinere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, also werden sie auch bei der Sozialhilfe benachteiligt. Das ist unfair.
Sozialhilfe ersetzen Der Vorschlag «Existenzsicherung für alle» des Thinktanks Denknetz Schweiz basiert auf Ergänzungsleistungen, wie sie heute nur AHV- und IV-Bezüger*innen offenstehen. Dabei soll das Einkommen eines Haushaltes auf die Höhe einer definierten Existenz sicherung aufgestockt werden, falls es nicht für die Deckung von Lebensbedarf, Miete und medizinischer Grundversorgung reicht. Unerheblich ist dabei der Grund für das unzureichende Einkommen. Mit der Reform würde die Zuständigkeit von den Kantonen an den Bund übergehen, wofür eine Verfassungsänderung nötig ist. www.denknetz.ch
Liest man Ihre Dokumentation, fällt auf, dass es zwar in den Kantonen viele Angriffe auf die Sozialhilfe gab. Die meisten wurden aber abgelehnt. Trotzdem hatte die Kampagne von rechts einen schlimmen Effekt. Sozialarbeiter*innen sind unter enormen Druck geraten. Aus Angst, dass man ihnen etwas vorwirft, wurde auf den Ämtern das geltende Recht restriktiv durchgesetzt. Und Menschen, die Anspruch auf Leistungen hätten, bezogen aus Scham oder Angst vor Ausweisung keine Sozialhilfe. Es ist verheerend, wenn Menschen nicht zu ihrem Recht kommen. Sie sagen, dass die Ämter einer Art vorauseilendem Gehorsam folgten? Ganz klar. Der Druck war enorm, man wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, dass es zu einem Missbrauchsfall kommt, der öffentlich wird. Aber auch die politisch Verantwortlichen machten stets den Buckel und hoffen, dass es vorbeigeht. Aber es geht eben nicht vorbei. Wie meinen Sie das? Selbst linke Kreise akzeptierten die Kürzungen bei der Sozialhilfe. Dabei kamen zwei unabhängige Studien zum Schluss, dass der jetzige, von der SKOS errechnete Grundbedarf für eine Einzelperson um 100 Franken zu tief ist. Statt eine defensive Position zu vertreten, könnte die Linke auch in die Offensive gehen. Wie denn? Ich finde, dass die Zeit gekommen ist, um die Sache anders anzugehen. Wir sind ein demokratisches und reiches Land. Wenn Surprise 496/21