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Diskriminierung

Ohne Mutter

Bis vor fünfzig Jahren hat die Pro Juventute jenische Familien auseinandergerissen Seite 8

Strassenmagazin Nr. 545 3. bis 16. März 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–

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Über das Unfassbare reden

Jahrzehnte, nachdem der italienische Schriftsteller Primo Levi aus Auschwitz gerettet wurde, warf er die Frage auf: «Sind wir, die wir überlebt haben, imstande gewesen, unsere Erfahrung zu verstehen und verständlich zu machen?» Dahinter stehen grundsätzliche Zweifel: Gibt es Grenzen des Verstehens? Hürden des Sagbaren? Sie kommen oft im Angesicht des Unfassbaren auf: einer Krankheit etwa, von Gewalt, Folter und Flucht, dem Tod der Liebsten, einem Krieg oder Erdbeben – dies alles kann ein einzelnes Leben auf lange Zeit unterbrechen und in ein Vorher und ein Nachher zerteilen.

Was liegt dazwischen? Wie können die Erinnerungen an ein früheres Zuhause, ans Vertraute, Sichere und Schöne bewahrt werden, wenn plötzlich alles in Schutt und Asche liegt? Oder umgekehrt: Wie kann Schlimmes, Bedrängendes von früher einem heute noch Sicherheit geben?

Viele, die Unbeschreibliches erlebt haben, beginnen irgendwann darüber zu reden. So auch die in diesem Heft Porträtierten: Uschi Waser,

als Jenische entwurzelt und misshandelt, oder die Afghanin Azade, der Gewalt im eigenen Hause entflohen, oder vielleicht irgendwann einmal auch die Überlebenden der jüngsten Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Sie, die entfremdet wurden, reden über das Erlebte auch, um sich ihrer selbst wieder gewiss zu werden. Wir alle sind abhängig davon, unsere – gerade schlimmsten – Erfahrungen in eine Geschichte zu betten, die irgendwann hoffentlich wieder zu unserem Leben passt.

Levi übrigens hat sich geweigert, für sich allein Tagebuch über die Schrecken seines Lebens zu schreiben. Nur im Dialog mit anderen könne das Unbegreifliche begriffen werden –und zwar nicht als Erlebnis eines anonymen Opfers, sondern als das eines einzelnen Menschen.

Surprise 545/23 3 Editorial
4 Aufgelesen 5 Na? Gut! Vermerk: Hochzeitsspende 5 Vor Gericht Justiz statt Politik 6 Verkäufer*innenkolumne Ich schreibe 7 Moumouni … ... und Brotz 8 Diskriminierung Jenische auf der Suche nach Frieden 14 Daniel Huber von der Radgenossenschaft über die Zukunft der Jenischen 16 Trauma Erzählen ohne zu belasten 22 Katastrophe Wer wem hilft 24 Kino Die Vervielfältigung der eigenen Erfahrung 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Büren an der Aare 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Ich bin eine Super-Mama» TITELBILD:
KLAUS PETRUS
KLAUS PETRUS Redaktor

Auf g elesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Weiblich und wohnungslos

«Männlich, ungepflegt, Bierflasche und Kippe: dieses Bild geht vielen bei Wohnungslosen durch den Kopf», sagt Ingrid Stoll von der Anlaufstelle für Frauen in Not in Stuttgart. Doch seien auch viele Frauen betroffen, in ganz Deutschland voriges Jahr 78 000. Geraten Frauen in die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit, so sind oftmals Gewalterfahrungen im Spiel. «Wenn Frauen sich trennen und kein soziales Netzwerk haben, durch das sie aufgefangen werden, wird es schwierig», sagt Stoll. Während bei den Männern oft Alkohol ein Thema sei, seien es bei Frauen eher Essstörungen oder Medikamente.

Nie wieder fünf Tage

97 Prozent der Menschen, die Erfahrung mit der VierTage-Woche als Arbeitsmodell hatten, wollen nicht mehr fünf Tage die Woche arbeiten. So das Ergebnis einer Studie, für die 500 Berufstätige in den USA, in Irland und Australien befragt wurden. Auch seitens der Arbeitgeber*innen wird das Modell begrüsst: Würden die Leute bloss vier Tage die Woche arbeiten, seien sie konzentrierter und engagierter als sonst.

Steigende Armut in Griechenland

Rund 15 000 Menschen sind im Raum Athen arbeitslos. Auch die Anzahl der Obdachlosen ist in den vergangenen fünf Jahren stark angestiegen. Die Gründe sind höhere Mieten und mehr Arbeitslosigkeit – sie liegt derzeit landesweit bei 15 Prozent, die Zahl der Armutsbetroffenen sogar bei fast 30 Prozent. Da es in Griechenland keine Sozialhilfe gibt, hat die Regierung ein Hilfsprogramm lanciert, das die Unterbringung samt Lebenserhaltungskosten für 24 Monate ermöglichen soll. Die Investition für das Projekt liegt bei 1 Million Euro. Umgerechnet reicht das für gerade mal 56 Personen.

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FOTO STACEY KELLY TROTT-WAR, STUTTGART HINZ & KUNZT, HAMBURG ASPHALT, HANNOVER LUBNA AZABAL SALEH BAKRI AYOUB MISSIOUI EIN FILM VON MARYAM TOUZANI («ADAM») «Ein sinnlicher Film über die Liebe als treibende Kraft unserer Existenz mit einer grandiosen Lubna Azabal in der Hauptrolle.» ZURICH FILM FESTIVAL AB 9. MÄRZ IM KINO ANZEIGE

Vermerk: Hochzeitsspende

Sie mussten Hürde um Hürde nehmen, jetzt haben sie es geschafft: Zola und Nyah aus Bern haben geheiratet! Sie, die eigentlich anders heissen und aus Somalia geflüchtet sind, haben ihren Weg zum Zivilstandsamt, sinnbildlich gedacht, schon vor langer Zeit angetreten. Die erste Hürde, die sich ihnen in den Weg stellte: die Sprache. Genauer: die Behördensprache. Wer liebt sie nicht? Selbst wer seit frühester Kindheit Deutsch spricht, stösst bei diesen Formulierungen bald an Grenzen. Zola und Nyah meldeten sich mit den Briefen des Zivilstandsamts, der diplomatischen Vertretung Somalias und des Migrationsdienstes beim Solidaritätsnetz Bern.

Die erste Hürde kaum hinter sich gelassen, tauchte die zweite auf: die Aufenthaltsbewilligung. Am Anfang verfügten Zola und Nyah als abgewiesene Asylsuchende über keine. Erst bekam Zola eine vorläufige Aufnahme, nun auch Nyah.

Die dritte Hürde: der Pass. Somalia hat keine Botschaft in Bern, immerhin in Genf eine UNO-Vertretung –nicht jedes Land hat in der Schweiz eine diplomatische Vertretung. Um nachzuweisen, dass sie nicht verheiratet sind, müssen ausländische Staatsangehörige zudem an eine Ledigkeitsbescheinigung aus dem Geburtsregister kommen.

Damit zur vierten Hürde: dem Geld. Ein Pass kostet 350 Franken, eine Ledigkeitsbescheinigung 150 und das Zivilstandsamt 650. Monatlich bleiben Zola und Nyah, wenn Miete und Krankenkasse bezahlt sind, 700 Franken. Davon hunderte Franken auf die Seite legen? Schwierig, sagte sich das Solidaritätsnetz und machte in den sozialen Medien einen Aufruf, Vermerk: Hochzeitsspende. Nach zwei Wochen waren die 650 Franken auf dem Konto. LEA

Justiz statt Politik

Die Klimajugend hat demonstriert, gestreikt, Flüsse grün gefärbt, Banken blockiert. Nun machen junge Menschen seit Monaten Schlagzeilen damit, dass sie sich auf den Asphalt kleben. Das bringt ihnen nicht nur Sympathien ein, sondern auch Unverständnis und Ärger. Die Aktionen zeugen von wachsender Verzweiflung darüber, dass sich Politik und Gesellschaft Zeit lassen mit konkreten und konsequenten Massnahmen für den Klimaschutz.

Vermehrt gehen die Jugendlichen nicht mehr nur auf die Strassen, sondern auch vor Gericht, um für ihre Zukunft zu kämpfen. 2023 könnte sogar ein Wendepunkt der sogenannten Klimaklagen werden, und zwar weltweit. Dabei gehen Aktivist*innen sowohl gegen die Untätigkeit von Regierungen vor als auch gegen Projekte im Privatsektor. Dass etwa im Juni im US-Bundesstaat Montana die Klage einer Gruppe Kinder und junger Menschen zwischen 5 und 21 Jahren überhaupt angehört wird, kann bereits als Erfolg verbucht werden. Denn meist ist die Zulässigkeit solch umfassender Begehren höchst umstritten –immerhin sollen hier fossile Energien als Ganzes für verfassungswidrig erklärt werden. Bevor dies verhandelt wird, ist es in der Regel ein langer Weg: Vorab gilt es komplizierte Fragen zur Opfereigenschaft der Kläger*innen und dem Zusammenhang zwischen Massnahmen und Reichweite von staatlichen Schutzpflichten zu klären.

Dies gelingt nun aber immer öfter. In Kanada ist eine von sieben Jugendlichen

angestrebte Klage gegen die Regierung Ontarios bereits verhandelt worden. Im Verlauf des Jahres wird nun ein Urteil darüber erwartet, ob die Lockerung der Reduktionsziele für Treibhausgase rechtens war. In Südafrika, ein Hotspot für Klimaklagen, werden dieses Jahr gleich mehrere Klimaklagen spruchreif. Mit grösster Spannung fiebern Jugendliche am Kap dem Resultat einer verfassungsrechtlichen Beschwerde gegen die Pläne der Regierung für den Bau eines neuen Kohlekraftwerks entgegen.

Doch nicht bloss Regierungen stehen im Fokus des juristischen Kampfes; Klagen gegen nichtstaatliche Akteure haben mit dem viel beachteten Shell-Urteil Zähne bekommen. Ein Gericht in Den Haag hat 2022 entschieden, dass der Ölkonzern seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 45 Prozent reduzieren muss. Damit wurde erstmals ein Wirtschaftsunternehmen für Klimaschäden in die Verantwortung genommen. Dem australischen Energie-Riesen Woodside droht nach einer Klage das Aus für ein Projekt zur Erschliessung eines gigantischen Offshore-Gasfeldes. In Brasilien kommt es dieses Jahr zu einer Weltpremiere: Dort kommt erstmals ein Fall vor Gericht, mit dem ein Finanzinstitut zu konkreten Klimazielen verpflichtet werden soll: die Entwicklungsbank BNDES.

Aber ist die Durchsetzung von Klimaschutzmassnahmen per Gerichtsentscheid tatsächlich ein sinnvoller Weg, um die Wirtschaft zum Handeln zu zwingen? Ein Ausweg aus der politischen Sackgasse? Oder doch eher ein demokratieschädigender Irrweg, wie Kritiker*innen sagen? Den Jugendlichen dürfte das herzlich egal sein –Hauptsache, es geschieht etwas.

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Vor Gericht
ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Ich schreibe

… ich schrieb, ich habe geschrieben und ich schreibe weiter.

Als ich noch Sechstklässler war, da gab ich eine eigene Zeitung raus, da gab es halt noch keine Social Media. Ich war damals in der Schule noch einer der Besseren im Deutsch schriftlich.

Später, im Jahr 2000, schrieb ich ehrenamtlich beim Planeta. Diese Zeitschrift wurde vom Humanistischen Zentrum der Kulturen herausgegeben, hatte eine Auflage von ca. tausend Stück und erschien einmal im Monat. Es gibt sie schon länger nicht mehr. Ich habe zuhause aber auch eine Sammlung von Leserbriefen und Sachen, die ich in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht habe.

Ich habe über Energie- und Umweltschutzthemen geschrieben, weil ich mich da generell engagiere, und über Sozialversicherungen, weil sie sich direkt auf mein Leben auswirken. Über die Psychiatrie, weil ich Erfahrung als Patient habe, ebenso über Autismus, weil ich betroffen bin. Ich habe aus einer politischen Haltung und aus politischem Interesse heraus über das Militär (ich lehne es ab) und den Gazastreifen geschrieben – aber auch über Fussball und Social Media. Ich habe als Betroffener geschrieben, als Engagierter, als Beobachter und als interessierter Mitmensch.

Das Beste war im Jahr 2007, da schrieb ich im Surprise einen Bericht, der aufzeigte, wie der Planet Erde ohne Umweltschutzorganisationen aussehen würde. Diesen Bericht konnte ich im Jahr 2021 in der PS-Zeitung aktualisieren.

Schreiben fällt mir leichter als zu sprechen, so auch bei dieser Kolumne.

Ich sende auch lieber SMS statt dass ich anrufe.

Bereits vor der SMS-Zeit konnte ich besser schreiben als telefonieren, auch weil es mir nicht immer leicht fällt zu sprechen.

Ich hätte aber genug Sachen zu erzählen und wollte im Jahr 2019 ein Buch schreiben. Ich tat es auch, aber ich bin bei mehreren Verlagen abgeblitzt.

Somit schreibe ich jetzt im Surprise Texte.

MICHAEL HOFER, 42, verkauft Surprise in Zürich Oerlikon und Luzern. In der Stadtbibliothek Winterthur liest er so ziemlich alle Zeitungen, die dort aufliegen – und reagiert entsprechend schnell auf Aktuelles.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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Verkäufer*innenkolumne
ILLUSTRATION: ANNALISA ROMPIETTI

Moumouni …

… und Brotz

Ich habe eine Gesprächsreihe im Theater Gessnerallee, die heisst «Die Neue Unsicherheit». Es geht darum, Unsicherheit als positiven Motor fürs Weiterdenken wahrzunehmen. Ich möchte mit meinen Gästen in ein Gespräch kommen, in dem nachgedacht, Meinungen revidiert werden können, und nicht ein souveräner, sondern ein möglichst ehrlicher Abend herauskommt.

In der letzten Ausgabe hatte ich den SRFArena-Moderator Sandro Brotz zu Gast. Wir haben uns schon einmal gegenübergesessen, 2020, in der aufgrund von öffentlichem Druck wiederholten «Arena»Sendung zum Thema Rassismus in der Schweiz. Die Unsicherheit in unserem Gespräch war damit wohl gegeben: Ich wusste nicht, ob ich einen Rahmen schaffen können würde, in dem Brotz sich wohl genug fühlt, damit wir wirklich da-

rüber sprechen können, was damals falsch lief, was er seitdem über die Bearbeitung von Themen wie Rassismus in der «Arena» denkt und ob er selbst manchmal Zweifel am Format hat. Er dagegen wusste nicht genau, worauf er sich einliess, und hatte ausserdem mit einem Publikum zu tun, das sich nicht als Zielpublikum der «Arena» mitgedacht fühlt und das auch kundtat: queere, Schwarze, migrantisierte, behinderte Menschen, die auch in Schweizer Parteien kaum oder gar nicht vertreten sind – da sich die Diversitätsbestrebungen der «Arena» hauptsächlich auf die Meinungsvertretung aller regierenden Parteien beschränken, wie Brotz selbst sagte.

Das Publikum war schwieriger zu verunsichern: Ein Teil wollte, dass ich ihn «fertig mache» und fand entweder, dass

mir das gelungen war oder nicht, ein anderer Teil war so gerührt von der blossen Teilnahme von Starmoderator Brotz am Gespräch, dass es am liebsten gehabt hätte, wenn ich ihn schlicht zu seinem spannenden Job befragte. Wiederum andere hatten Mitleid: Sie spürten Unbehagen, Brotz beim «Versuch, alles richtig zu machen», zuzusehen – zumal es natürlich nicht einfach ist, vor einem so diversen und fordernden Publikum über Rassismus zu reden, als weisser Mann in Brotz’ Rolle und mit der Vorgeschichte von vor zwei Jahren. Bei diesen Zuschauer*innen war das Bedürfnis gross, ihn allein fürs Mitmachen zu belohnen.

Viele der Reaktionen waren vorhersehbar – eine hat mich irritiert. Nach der Veranstaltung fand ich mich schnell in einem technischen Feedbackgespräch mit zwei weissen Freunden wieder. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass sie vor lauter Schwärmen für den mutigen weissen Mann nicht mehr in der Lage waren, das Gespräch in Bezug auf den Anspruch der «Unsicherheit» zu bewerten: Sie verklärten Brotz als selbstlosen Gesprächspartner, der ja «nichts vom Gespräch gehabt» habe, und seine wohltätige Teilnahme als Ehre für mich. Weiter waren sie beeindruckt von seinen in der Tat imponierenden professionellen Skills, sodass sie meinten, er habe das Gespräch dominiert und eigentlich nichts gesagt, was ausserhalb seiner Komfortzone lag, während sie mein Interesse, über Rassismus zu sprechen, als naiv bewerteten. Und die Unsicherheit? Um die ging es doch. Aber die ging meinen beiden Herren technischen Beobachtern im Brotz-Rausch wohl verloren. Sie wussten nur, dass sie, wenn sie gross sind, ein Mann wie Brotz werden wollten. Ob man sich in der Bewertung, wie sich ein weisser Mann in einem Gespräch über Rassismus schlägt, auf weisse Männer verlassen kann – da bin ich mir nicht so sicher.

FATIMA MOUMOUNI hat Brotz noch gefragt, ob das Gespräch für ihn ok war. Er meinte, es sei fair gewesen. Die nächste Ausgabe der Reihe moderiert sie in der Gessnerallee am 10.03. Es geht es um «den Fall Brian».

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

«Wie menschenverachtend das war, hätte ich mir nie vorstellen können.» Als Uschi Waser

Einsicht in ihre Pro JuventuteAkte bekam, riss es ihr den Boden unter den Füssen weg.

«Ich brauche immer einen Fluchtweg»

Diskriminierung Viele Jahrzehnte riss die Pro Juventute mit ihrem «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» systematisch jenische Familien entzwei. Wie ergeht es den Betroffenen heute? Ein Blick zurück auf ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte.

Auf dem Esstisch ihrer Wohnung im aargauischen Holderbank stapeln sich mehrere Aktenordner. Das ist nur eine Auswahl unter vielen weiteren, die Uschi Waser im Laufe ihres Lebens angelegt hat. Ihre Vergangenheit hat die Jenische zu einer Archivarin werden lassen. Vorsichtig nimmt sie ein vergilbtes Blatt aus einem der Ordner und legt es auf den Tisch. Das Papier scheint einst sehr klein zusammengefaltet gewesen zu sein, an den Rändern ist es bereits leicht eingerissen. «Mutterliebe?», steht zuoberst in schmalen Schreibmaschinenlettern. «Dieses Gedicht habe ich mit fünfzehn Jahren geschrieben», sagt die heute 71-jährige Uschi Waser, «das muss man sich mal vorstellen. Einsamer kann man eigentlich nicht sein.» Mit fünfzehn Jahren – da hatte die junge Uschi bereits 25 Heime, Kliniken und Pflegefamilien hinter sich. Ihrer Mutter war sie mit knapp eineinhalb Jahren weggenommen worden. Seither hatte das Mädchen nie mehr als einige Monate am Stück mit ihr verbracht.

Treibende Kraft hinter der Trennung von Mutter und Kind war das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das 1926 auf Initiative von Dr. Alfred Siegfried von der Pro Juventute gegründet worden war. Ziel des «Hilfswerks» war es, jenische Kinder aus ihren Familien zu nehmen, um sie «sesshaft» zu machen und so das «Übel der Vagantität» zu bekämpfen, des Herumwanderns ganzer Familien. Letzteres wurde nicht nur als Ursache für eine «Verwahrlosung» der Kinder angesehen, sondern auch als eine Gefahr für die Gesellschaft. 586 jenische Kinder entrissen der ehemalige Lehrer Alfred Siegfried und seine Nachfolgerin Clara Reust zwischen 1926 und 1973 ihren Familien.1

Eines davon war Uschi Waser.

«Meine Mutter war ein leichtes Opfer für die Pro Juventute, sie wurde als Kind selbst vom ‹Hilfswerk› ihren Eltern weggenommen», sagt Uschi Wasers. Mit ihren vier unehelichen Kindern war ihre Mutter überfordert und schlug diese. «Aber sie

wurde von der Pro Juventute auch regelrecht gejagt und in die Ecke getrieben.» So setzte Alfred Siegfried, kaum war Uschi Waser 1952 geboren, alles daran, die Vormundschaft über das Mädchen zu erhalten. Er wollte «unter allen Umständen» verhindern, dass ein «neuer Ableger der Vagantität» entstehe. In den Heimen, in die er die kleine Uschi Waser schickte, erging es dem Mädchen allerdings nicht besser als zuhause. Strafen und Schläge waren an der Tagesordnung. «Ich erinnere mich, wie ich als Kind auf einem Tisch lag und von zwei Schwestern festgehalten wurde, damit mich die dritte mit dem Teppichklopfer verprügeln konnte.»

Über Jahre versuchte ihre Mutter, das Sorgerecht für ihre Kinder zurückzubekommen. Ohne Erfolg. Stattdessen wurde Uschi Waser von einem Heim zum nächsten geschoben. Ein Schicksal, das sie mit vielen anderen «Kindern der Landstrasse» teilte. Die Folge: Entwurzelung und Einsamkeit, auch Freundschaften waren

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TEXT JANINE SCHNEIDER FOTOS KLAUS PETRUS

schwierig. Verstanden sich zwei Mädchen gut miteinander, wurden sie so schnell wie möglich voneinander getrennt. Ein liebevolles Zuhause fand sich schon gar nicht. Über das Heim zum Guten Hirten, in dem Uschi Waser mehrere Jahre verbrachte, sagt sie: «Das war Repression, Lieblosigkeit, Einsamkeit.» Jeden Abend betete sie mit Inbrunst: Lieber Gott, schenk mir einen Vater und eine Mutter. «Ich habe so viel gebetet, das reicht für ein ganzes Leben.»

Einmal Heimkind, immer Heimkind Wer verstehen will, woher das pseudowissenschaftliche Fundament des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» stammt, muss sich in mittlere Höhen begeben. Die Psychiatrie Waldhaus befindet sich etwas oberhalb der Stadt Chur, auf einer breiten Terrasse, umgeben von Landwirtschaftsfläche, mit weitem Blick über das Rheintal und die Bündner Alpen. Unter den verschiedenen Heimen und Anstalten, in die «Kinder der Landstrasse» geschickt wurden, hatte die Anstalt Waldhaus für Alfred Siegfried und das «Hilfswerk» eine besondere Bedeutung. Die Churer Psychiatrie konnte auf eine lange Tradition der «Vagantenforschung» zurückblicken. Schon der erste Direktor der Klinik, Johann Joseph Jörger, erachtete «Vagantität» als ebenbürtig mit «gefährlichen Erbkrankheiten» und erstellte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Namenslisten und Stammbäume jenischer Familien, um die genetische «Degeneration» von «Vagantenfamilien» nachzuweisen. Das sogenannte «Sippenarchiv» wurde später von seinen Nachfolgern fortgesetzt und für psychiatrische Gutachten verwendet. Jörger unterstützte auch eine Politik der Sesshaftmachung und Zerstörung der jenischen Lebensweise, da er sich damit eine Besserung im Erbgut dieser Familien erhoffte. Eine Ansicht, an die Siegfried anknüpfte.

In Pflegefamilien sollten die Kinder zu «sesshaften Bürgern» erzogen werden. Ein Grossteil der Kinder landete allerdings in Heimen oder Anstalten, da sich zu wenige Pflegefamilien fanden. Ein Heimkind zu sein, blieb an den Betroffenen zeitlebens als Makel haften. «Ich habe meinen Le-

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«Ich habe meinen Lebenslauf stets beschönigt, ich hatte Angst, als Heimkind keine Arbeit zu finden. »
USCHI WASER «Ich kann nur denken, ich bin verloren, ach, wär ich nie, nie geboren», so die Schlusszeilen des Gedichts «Mutterliebe?», das Uschi Waser mit 15 Jahren geschrieben hat

benslauf stets beschönigt», meint Uschi Waser dazu, «ich hatte Angst, als Heimkind keine Arbeit zu finden.»

Besonders einschneidend: Wer von seinem Vormund als «schwererziehbar» eingestuft wurde, musste in eine Zwangsarbeits- oder Arbeitserziehungsanstalt, wie zum Beispiel die Etablissements de Bellechasse im freiburgischen Sugiez. In diesem Gefängnis, das sich mitten in einer unwirtlichen, von weiten Feldern und Äckern geprägten Ebene erhebt, wurden über hundert «Kinder der Landstrasse» administrativ versorgt – ohne je straffällig geworden zu sein. Der Freiheitsentzug wurde stattdessen mit fürsorgerischen Zielen begründet. Zwar waren die administrativ Versorgten grösstenteils in einem

Rassistisches Machwerk

Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» reiht sich in eine lange Geschichte der Diskriminierung und Verfolgung «Fahrender» in der Schweiz ein. So erliess der junge Bundesstaat 1850 das Heimatlosengesetz, das Grundlage für die Zwangseinbürgerung von rund 30 000 Personen war und auch Massnahmen enthielt, welche die fahrende Lebensweise bekämpfen sollten. Weiterhin galt von 1906 bis 1972 auf nationaler Ebene die sogenannte «Zigeunersperre»: Ausländische Roma, Sinti und Jenische durften nicht in die Schweiz einreisen. Das Eidgenössische Polizei- und Justizdepartement führte noch bis 1990 ein «Zigeunerregister», indem alle in der Schweiz kontrollierten Roma, Sinti und Jenische erkennungsdienstlich erfasst wurden.

anderen Trakt untergebracht als die Straffälligen. Die landwirtschaftliche Arbeit, die sie leisten mussten, und die Lebensbedingungen waren allerdings praktisch dieselben wie die der strafrechtlich Inhaftierten. Und die Gesellschaft unterschied nicht, aus weshalb jemand in Bellechasse war. Ohne triftigen Grund lande schliesslich niemand im Gefängnis, so die Meinung.

Das Ende des Hilfswerks und der Anfang des Suchens

Schon seit den 1940er-Jahren hatten sich Jenische an die Medien gewandt, um sich über die Praktiken des «Hilfswerks» zu beschweren. Gehör geschenkt wurde ihnen zunächst keines, bis in den 1970er-Jahren eine breite Debatte zum Heimwesen ent-

brannte. 1972 erschienen dann die ersten Artikel im «Beobachter». Im März 1973, vor genau fünfzig Jahren, musste das «Hilfswerk» auf öffentlichen Druck hin aufgelöst werden.

Was folgte, war eine Zeit der politischen Bewusstwerdung und Identitätsfindung der Jenischen. Zahlreiche Vereine wurden gegründet. Vor allem aber war es eine Zeit des Suchens. Zwei Generationen jenischer Familien waren durch das Hilfswerk auseinandergerissen und zerstört worden. Nun begann die Suche nach den Eltern, Geschwistern und verlorenen Kindern.

Der Basler Jenische Venanz Nobel erinnert sich gut an diese Zeit: «Damals tauchten an jedem Tag Leute auf Standplätzen auf und fragten, ob jemand ihre

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Alfred Siegfried, Initiator und Drahtzieher des «Hilfswerks» von Pro Juventute, mit jenischen Kindern. BILDER: FOTOSTIFTUNG SCHWEIZ, WINTERTHUR

Familie kenne.» Diese Suche ist bis heute nicht abgeschlossen: «Jedes Jahr melden sich noch zwei bis drei Leute bei mir.»

Sein Vater, Sepp Nobel, war selbst den Eltern als Kind weggenommen und kam zu einer Pflegefamilie. In den Akten seines Vaters fanden sie später eine handschriftliche Notiz von Siegfried: Er wage ein Experiment, wenn er diesen Buben aus dem fahrenden Milieu herausnehme und zu einem sesshaften Alkoholiker gebe. Bezeichnend: Die Familie Nobel galt trotz festem Wohnsitz als «Fahrende» – aufgrund ihrer jenischen Herkunft. So erging es vielen sesshaften jenischen Familien.

Sepp Nobel hatte Glück im Unglück. Der «sesshafte Alkoholiker» starb und seine Pflegemutter zog ihn liebevoll auf. Sie erzählte ihm auch geradeheraus, dass er von «Zigeunern» abstamme. Das liess ihn nicht mehr los. «Jedes Jahr reiste mein Vater nach Zürich zur Pro Juventute und

bat sie darum, ihm zu sagen, wer seine Eltern und Geschwister sind.» Diese aber weigerte sich, und irgendwann gab sein Vater die Suche auf.

«Lügenhaft und bequem»

Erst als Venanz Nobel sich selbst für seine jenische Herkunft zu interessieren und nachzuforschen begann, wurde er fündig. Der Grossvater war bereits tot, die Grossmutter gerade erst gestorben. «An der Beerdigung lernten wir auf einen Schlag fünfzig neue Verwandte kennen.» Kurze Zeit später kaufte sich Venanz Nobel einen Wohnwagen und zog zwanzig Jahre von Platz zu Platz. Sein Vater besuchte ihn, irgendwann schloss er Frieden mit seiner Identität als Jenischer, die er bislang vor allem als Stigma wahrgenommen hatte.

Siegfried gelang es in vielen Fällen, Ehen zu verhindern oder über den Lebensweg seiner «Mündel» zu bestimmen. Was

in den Vormundschaftsakten über die «Kinder der Landstrasse» geschrieben stand, diffamierte die Kinder und jungen Erwachsenen aufs Stärkste.

Welche Auswirkungen das haben konnte, musste Uschi Waser mit vierzehn Jahren am eigenen Leib erfahren. Sie erstattete damals Anzeige gegen ihren Stiefvater, der sie über Jahre missbraucht und vergewaltigt hatte. Das Gericht sprach ihn jedoch frei, und zwar aufgrund von Aussagen und Akteneinträgen über Uschi Waser, die das Mädchen als unglaubwürdig darstellten. Heute sagt sie dazu: «Im Grunde hatte ich von vornherein keine Chance.»

Während des Prozesses versuchte sich Uschi Waser das Leben zu nehmen. «Ich erinnere mich, als wäre es heute: Wie ich mir überlegte, wer eine Blume auf mein Grab legen würde. Und zum Schluss kam: niemand.» Weder die Mutter, die sich im Prozess auf die Seite ihres Mannes gestellt hatte. Noch die Ordensschwestern, die sie als «von Natur aus lügenhaft» bezeichneten – also allein deswegen, weil sie ein jenisches Mädchen war. Genauso wenig der Vormund, der erst auftauchte, nachdem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Der Selbstmordversuch wurde als Eingeständnis ihrer Lüge gewertet und Uschi Waser in Therapie geschickt – nicht als Opfer, sondern weil sie für «krankhaft» befunden wurde.

Bis heute verschlägt es ihr die Sprache, wenn sie von dieser Zeit erzählt. Trotzdem hatte sie stets im Glauben gelebt, noch einmal Glück in ihrem Leben gehabt zu haben. Dies änderte sich erst, als sie ihre Akten zu Gesicht bekam; das war 1989, Uschi Waser war damals 37-jährig. «Wie perfide, wie menschenverachtend das war, hätte ich mir nie vorstellen können.»

Die Vormundschaftsakten der Pro Juventute waren jahrelang ein Zankapfel zwischen Betroffenen, Institution und Bund gewesen, bis sie schliesslich 1986 dem Bundesarchiv übergeben wurden. Nun konnten Betroffene erstmals die Akten einsehen. Für viele war es ein Teil ihrer Suche nach einer Familie und Identität. Keine leichte. So erzählt Venanz Nobel von den Gefühlen seines Vaters: «Auch wenn du den Unterschied zwischen Fakten und

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Akten kennst: Vier Bundesordner voller abwertender Äusserungen über dich und deine Familie lassen niemanden kalt.»

Ohne die Akten wäre Uschi Waser heute ein anderer Mensch. Ohne die Akten wäre sie aber auch nie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen. «Ich musste, sonst wäre ich daran erstickt, hätte mich doch umgebracht oder wäre im Alkohol gelandet», sagt sie heute. So gehört sie heute zu den Wenigen, die ihre Geschichte erzählen. Denn viele können oder wollen nicht mehr.

Und doch: Sogar Uschi Waser, die sich als Präsidentin der Stiftung Naschet Jenische stark für die öffentliche Aufarbeitung einsetzt, in ihrem Leben schon an verschiedensten Projekten mitarbeitete und unzählige Interviews gab, hat mit ihren Töchtern bisher noch nie im Detail über ihre Vergangenheit gesprochen.

Stattdessen hat sie ihre eigenen Strategien entwickelt, um mit dem Vergangenen umzugehen. Sie die Hoheit über die Akten erlangt, die so lange ihr Leben bestimmten, und sie kontrolliert jeden Schritt, den sie macht. Und hält sich stets eine Tür offen: «Ich brauche immer einen Fluchtweg, eine Via d’uscita.»

Eine Via d’uscita, das ist ein eigenes Auto, mit dem sie jederzeit wegfahren könnte, oder auch genügend Bargeld bei sich zu tragen, um in einem Hotel übernachten zu können.

Was bis heute bleibt, ist das Misstrauen gegenüber Autoritäten, die Angst, wieder in ein Heim zu müssen. «Ich habe mich bei Exit angemeldet», sagt Uschi Waser, «bleibt nur noch zu hoffen, dass ich den Absprung nicht verpasse.»

Ausgetilgt: Auf der Klassenliste der Schule, die Uschi Waser als Mädchen besuchte, sucht sie vergeblich nach ihrem Namen.

Auslöschung jenischer Kultur?

1 Zum «Hilfswerk» ausführlich: Thomas Meier und Sara Galle: «Von Menschen und Akten», Chronos Verlag 2009.

Zum «Hilfswerk» sind mehrere Publikationen erschienen. Eine Frage bleibt allerdings offen: Handelte es sich bei der Wegnahme jenischer Kinder aus ihren Familien um einen kulturellen Genozid? Nach der Völkermordkonvention der UNO fällt unter den Tatbestand des Genozids auch die «gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe». Zentral ist, dass diese Überführung in der Absicht begangen wurde, eben diese Gruppe zu zerstören. «Es ist sicher nicht einfach, diese Absicht zu belegen, aber vielleicht auch nicht unmöglich», sagt die Historikerin Sara Galle dazu, die zum «Hilfswerk» promoviert hat. Noch kaum untersucht sei bisher, wie kommunale und kantonale Behörden, aber auch private Organisationen, beispielsweise das Seraphische Liebeswerk, mit jenischen Familien umgingen. «Wir wissen zum Beispiel, dass es im Kanton Schwyz ebenfalls Bestrebungen gab, Kinder aus jenischen Familien in Heimen und Pflegefamilien unterzubringen.» Solche Untersuchungen würden es ermöglichen, das Ausmass dieser Fürsorgepraxis besser erfassen und auch die Frage beantworten zu können, ob die von der Pro Juventute propagierten systematischen Kindswegnahmen einen kulturellen Genozid darstellen.

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«Das Reisen gehört zu unserer Kultur, daran besteht kein Zweifel.» Daniel Huber im Dokuzentrum der Interessengemeinschaft «Radgenossenschaft der Landstrasse» in Zürich.

«Es geht um den Erhalt unserer Kultur»

Ein halbes Jahrhundert nach der rassistischen Pro-Juventute-Kampagne würden die Jenischen weiter diskriminiert und daran gehindert, ihre Kultur zu leben, sagt Daniel Huber, Vorsitzender der «Radgenossenschaft der Landstrasse».

Daniel Huber, vor fünfzig Jahren musste die Pro Juventute ihr «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» infolge öffentlicher Kritik einstellen. Was hat sich seither verändert?

Daniel Huber: Viel und doch zu wenig. Tatsache ist, dass wir Jenischen, zusammen mit den Sinti, seit 2016 als nationale Minderheit anerkannt sind, und zwar nicht als «Fahrende», sondern unter der Selbstbezeichnung Sinti und Jenische. Für mich ist das ein Fortschritt.

Inwiefern?

Zwar ist das «Scharotl», der Wohnwagen, das Symbol der jenischen Kultur. Von den heute in der Schweiz lebenden 30 000 bis 40 000 Jenischen leben jedoch höchstens zehn Prozent als Fahrende. Es wäre also falsch, alle Jenischen als «Fahrende» zu bezeichnen oder nur diejenigen zu den Jenischen zu zählen, die in ihren Wohnwagen reisen.

Der Bund sicherte den Opfern der Pro­JuventuteKampagne eine Wiedergutmachung in der Höhe von bis zu 20 000 Franken pro Person zu. Reicht das?

Wer würde dieses Geld, nach all den schlimmen Erfahrungen, nicht annehmen? Wiedergutmachung muss aber, soll sie nachhaltig sein, mehr beinhalten. Letztlich geht es um nichts weniger als den Erhalt unserer Kultur.

Wie meinen Sie das?

Der Bund hat sich dazu verpflichtet, unsere Kultur zu schützen. Und zu dieser Kultur gehört, dass wir im Wohnwagen unterwegs sein können. Dafür aber brauchen wir Standplätze für den Winter und Durchgangsplätze für die Monate zwischen Frühling und Herbst, während denen wir reisen. Allein für uns Jenische und die Sinti, die während den Sommermonaten auf Reise sind, bräuchte es in der Schweiz an die siebzig Durchgangsplätze, momentan gibt es bloss zwei Dutzend davon. Nimmt man die reisenden Familien aus dem Ausland hinzu, so fehlen heute an die hundert Plätze. Ohne Plätze sind wir nicht in der Lage zu reisen. Was eben darauf hinausläuft, dass unsere

Kulturkämpfer

Daniel Huber, 56, ist Präsident der 1975 gegründeten «Radgenossenschaft der Landstrasse», der einzigen Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz.

Kultur in Gefahr ist. Wenn Sie danach fragen, was sich seit dem Ende der Pro-Juventute-Kampagne getan hat, muss ich sagen: Wir haben heute weniger Plätze als damals, was so gesehen ein kultureller Rückschritt ist.

Bleiben wir für einen Augenblick bei der jenischen Lebensweise. Wir alle kennen die Klischees, wenn es um «die Fahrenden» geht. Woher kommt das?

Diese Vorurteile sind tief verwurzelt. Fahrende werden als Leute gesehen, die «wild» leben, die sich nicht einschränken lassen, Freigeister, die tun und lassen können, was sie wollen. Das sind jetzt eher «positive» Projektionen und Vorurteile. Aber sie sind genauso falsch.

Inwiefern?

Man darf das Reisen und Hausieren der Jenischen nicht mit Campieren und Ferien verwechseln. Ich kann verstehen, dass es so etwas wie einen Neid von Sesshaften gibt, die von der grossen Freiheit träumen und dies mit dem Leben der Fahrenden in Verbindung bringen. Dabei wird ausgeblendet, dass wir Jenischen unterwegs sind, weil unsere Arbeit das verlangt. Auch ist das Leben im Wohnwagen oft anstrengend und geht nicht selten mit Armut und Diskriminierung einher. Zudem werden die Jenischen wie kaum ein anderer Teil der Schweizer Bevölkerung kontrolliert – sei es, was die Standplätze angeht oder die Gewerbepatente, die Miete für die Plätze, die Rechnungen für Wasser, Strom oder den Kehricht.

Würden mehr Jenische auf Reise gehen, wenn es mehr Plätze hätte?

Bestimmt. Ich sehe es daran, dass schon jetzt, also in Zeiten des Platzmangels, immer mehr Jenische wieder reisen, darunter viele junge. Das Reisen gehört zu unserer Kultur, daran besteht kein Zweifel.

Gibt es unter den Jenischen so etwas wie eine Kluft zwischen denen, die reisen, und den Sesshaften?

Es ist manchmal spürbar, dass die reisenden Jenischen sich gegenüber den sesshaften ein wenig abzuheben versuchen. Ich denke, vielleicht war am Ende genau dies das Ziel der Pro Juventute: einen Grossteil der Jenischen sesshaft zu machen und unser Volk so in Fahrende und Sesshafte zu spalten. Umso wichtiger ist, dass wir endlich mehr Plätze bekommen und das Reisen einfacher wird. Dann können sich die Jenischen frei entscheiden, ob sie weiter sesshaft bleiben wollen oder ein Leben im «Scharotl» vorziehen.

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«An vieles kann ich mich nicht gut erinnern»

Trauma Azade ist aus Afghanistan und dem Iran geflohen, mehrfach, vor Gewalt und Verfolgung. Wie erzählt man ihre Geschichte, ohne sie zu stark zu belasten? Ein Versuch.

Dies ist die Geschichte von Azade, die mit Anfang zwanzig aus dem Iran durch die Türkei über das Mittelmeer bis in die Schweiz geflohen ist, mit ihren kleinen Kindern und weiteren nahen Angehörigen. Eine solch gefährliche Reise tritt man nicht an, ohne schwerwiegende Gründe dafür zu haben. Es war nicht klar, dass sie es bis in die Schweiz schaffen und überhaupt: dass sie alle überleben würden. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, was es braucht, damit ich eine solche Entscheidung treffen würde. Gern wüsste ich, was sie zu diesem Schritt bewegt hat. Ich nenne meine Protagonistin Azade, das kommt vom persischen Wort für «frei». Auch die Namen aller anderen Personen, die vorkommen, sind anonymisiert.

«Geboren bin ich 1995 in Daikundi in Afghanistan, in einem Dorf. Ich gehöre zu den Hazara, wir sind Schiit*innen. Aber ich glaube nicht mehr an Schia, Sunna, Christentum und so. Ich glaube an Gott, aber egal, welche Religion. Als ich noch klein war, zogen wir in den Iran. Mein Vater hatte einen Onkel in der Nähe von Teheran. Dort fand er Arbeit in einer Ziegelei. Meine Mutter half ihm manchmal. Sie war damals schwanger. An meinen ersten Bruder, der wohl dort zur Welt kam, kann ich mich nicht erinnern, nur aus Erzählungen meiner Mutter. Er hiess Ali Reza Mohammed Davud. Viele Namen, die Eltern konnte sich wohl nicht auf einen einigen. Er wurde nicht einmal ein Jahr alt. Er starb an Gelbsucht. Ich hatte noch einen zweiten Bruder, Abdurrahim. Er war drei Jahre älter als ich. Als ich sieben war und er zehn, arbei-

tete er schon mit dem Vater in der Ziegelei. Einmal hatten die beiden Pause am Morgen. Meine Mutter kochte immer Tee für sie. Abdurrahim wollte den Tee holen gehen. Dazu musste er die Strasse überqueren. Ein grosser Lastwagen kam sehr schnell angefahren und hat ihn erfasst. Ich werde dieses Bild nie vergessen, wie er da lag. Einer der grossen Reifen war über seinen Kopf gefahren. Ich war wie taub, konnte nicht weinen. Ich war noch ein Kind! Ich konnte nicht glauben, dass er tot ist. Abdurrahim war immer der gute Sohn gewesen, der arbeitete und meinem Vater half. Ich habe immer meine Mutter angeschaut, wie sie weinte. Plötzlich lief sie ganz krumm.»

Verlust, Gewalt, Flucht – im Leben von Azade ist viel Belastendes, Traumatisierendes auch. Mir ist wichtig, meiner Gesprächspartnerin keine zusätzliche Last aufzubürden. Deshalb entscheide ich mich für ein spezielles Setting, angelehnt an eine Methode aus der Psychotherapie (siehe Box): Ein grosser Bogen Packpapier, darauf zeichne ich eine lange Linie. Ganz unten schreibe ich «Geburt» hin und ans obere Ende «heute». Auf dem Tisch liegen grosse Zettel in verschiedenen Farben, Tesafilm, bunte Magnete und Stifte sowie Post-its. Gemeinsam erarbeiten wir uns einen Einblick in das, was sie erlebt hat, unter der Prämisse, dass ich eher wenig frage, bohre oder lenke und sie so frei wie möglich auswählen kann, was sie teilen kann und möchte. Oft wiederhole ich, was sie erzählt hat, um sicherzugehen, dass wir vom selben sprechen. Manchmal tippt sie einzelne Sätze in ihr

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Telefon und lässt diese übersetzen. Dann hält sie mir den Bildschirm hin. Ich schreibe alles auf einen Zettel und wir entscheiden zusammen, wo ich die Erinnerung auf dem Zeitstrahl platzieren soll. Das funktioniert ganz gut. Als wir beim dritten Treffen mit der Übersetzerin alle von mir verschriftlichten Erinnerungen noch einmal abgleichen, gibt es nur wenige Korrekturen. Hier und da vertiefen wir etwas. Trotzdem ist der Wortlaut, den ich hier wiedergebe, nur eine Annäherung daran, wie Azade selbst erzählt.

«Nach dem Unfall und der Geburt meiner Schwester Farifteh gingen wir zurück nach Afghanistan. Im Iran ist ein afghanisches Leben nicht viel wert, hatte mein Vater gesagt. Ich hatte immer Angst vor meinem Vater. Er war nicht nett zu uns. Ich verstehe nicht, warum meine Mutter es mit ihm aushielt. Er schlug sie, und uns auch. Aber das war normal bei uns. Alle Männer waren so, im Iran und in Afghanistan. Mein Vater sagte, wir Mädchen sollten unseren Blick auf der Strasse immer auf den Boden richten, damit man nicht schlecht über unsere Familie dächte. Ältere Menschen, Männer wie Frauen, sollten wir höflich grüssen. Gleichaltrige aber durften wir nicht anschauen. In Mazar-e Sharif im Nordosten des Landes wurde ich eingeschult. Ich durfte die erste Klasse überspringen. Meine Mutter hatte im Iran einen Alphabetisierungskurs gemacht, und ich hatte abends immer mit ihr gelernt. Ich konnte also schon lesen und schreiben. Ich ging gern zur Schule, dann konnte ich zuhause raus. In der Schule war es besser. Zwei Mal wurde ich auch in der Schule geschlagen. Einmal war meine Mutter krank, und ich musste früher nach Hause gehen. Ich habe keine Erlaubnis bekommen, ging aber trotzdem. Ich musste ja zuhause helfen. Am nächsten Tag wurde ich zur Direktorin gerufen. Dort gab es Schläge. Doch meine Mathelehrerin kam dazu und hat mich in Schutz genommen. Azade sei eine gute Schülerin, hat sie gesagt, man müsste mich loben statt bestrafen. Das hat mich gefreut. Das andere Mal hatte ich mit einer Freundin den Paschto-Unterricht geschwänzt und die Direktorin hat uns erwischt und ausgeschimpft. Aber das war nicht so schlimm wie der Unterricht, wo ich geschlagen wurde, weil ich nicht gut war. Paschtunen sind nicht gut zu Hazara.»

Die Hazara gehören zu den besonders vulnerablen Gruppen in Afghanistan. Im 19. Jahrhundert bildeten sie dort die grösste Minderheit. Zwischen 1888 und 1893 wurden als Teil des sogenannten «Nation Building» Afghanistans mehr als sechzig Prozent der Hazara ausgelöscht. Es folgten weitere ethnische Säuberungen. Hazara-Frauen waren besonders betroffen, weil sie gezwungen wurden, Paschtunen zu heiraten und zum sunnitischen Islam zu konvertieren.

Als Azade 1995 auf die Welt kam, befand sich Afghanistan in einem brutalen Bürgerkrieg, nachdem die sowjetisch-gestützte Regierung in Folge des Zusammenbruchs der UdSSR gestürzt war. Wie zahlreiche andere Kampfverbände unterhielten auch die Hazara eine bewaffnete Partei, die Hezb-e Wahdat. Doch sie unterlagen im Kampf um die Vorherrschaft den mehrheitlich sunnitischen, radikalen Kräften: Islamisten und Warlords. Unter ihnen setzten sich 1996 die Taliban durch. Die Hazara als Schiiten

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«Ich hatte immer Angst vor meinem Vater. Er war nicht nett zu uns.»
AZADE

Lebenslinien

Das biografische Gedächtnis von Menschen mit Traumafolgestörungen ist häufig zerrüttet. Sie können nicht willentlich auf Erinnerungen zugreifen, oft gehen ganze Lebensabschnitte unter. Die sogenannte Lebenslinie ist ein möglicher erster Schritt in der Annäherung an das Traumamaterial, der auch bei Laienanwendung zu Erfolgen führen kann. Es geht darum, mithilfe einfacher Symbole die wichtigsten Ereignisse des Lebens in eine Reihenfolge zu bringen. Oft werden dazu Materialien wie Schnur, Blumen und Kiesel verwendet. Diese erlauben, in der sogenannten Narrativen Expositionstherapie (NET) erstmalig kontrollierten Kontakt zu den fragmentierten Erinnerungen aufzunehmen, um daraus später eine chronologische Erzählung zu entwickeln. NET wurde als kurzes und pragmatisches Verfahren zur Anwendung in Krisengebieten entwickelt.

galten und gelten den Taliban als Häretiker*innen und somit nicht nur als verfeindet, sondern mitunter als vogelfrei. Damals zog die Familie in den Iran. Nach dem Elften September 2001 drängte die US-geführte NATO-Operation «Enduring Freedom» die Taliban in Afghanistan zurück. Wie knapp 800 000 Afghan*innen kehrte auch Azades Familie in dieser Zeit wieder zurück. Nach einer bereits jahrhundertelangen Geschichte religiös begründeter Gewalt müssen die Hazara mit der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 nun ein weiteres Kapitel mit Hinrichtungen, Zwangsehen und Zwangskonvertierungen befürchten.

«2012 war ich fertig mit der Schule, als eine der besten meines Jahrgangs. Ich wäre gern weiter auf die Uni gegangen, aber meine Eltern haben das nicht erlaubt. Sie wollten mich verheiraten. Ich war erst siebzehn. Ich verstehe nicht, warum meine Mutter das wollte! Sie sah doch selbst, wie schlimm es mit meinem Vater war. Ich habe sie gebeten: ‹Mama, bitte nicht, ich will nicht›, aber sie hat gesagt, ich müsse die Hochzeit akzeptieren. Da waren zwei Cousins, die mich heiraten wollten: Einer war der Sohn des Bruders meines Vaters, der andere der Sohn der Schwester meiner Mutter. Sie haben sich für den Cousin mütterlicherseits entschieden. Der reiste extra mit dem Vater aus dem Iran an. Er hiess Nuruddin. Ich habe ihm direkt gesagt, dass ich nicht will. Er brach in Tränen aus. Auch er war erst 22, was sollte er tun? Er konnte auch nicht frei entscheiden. Und ich glaube, er liebte mich. Also gab ich nach und stimmte zu.»

Das ist der Moment, wo sie beim ersten Treffen einen dieser Sätze in ihr Handy tippt und mir den Bildschirm hinhält.

«Die Hochzeitsnacht war für mich wie eine Vergewaltigung. Ich war auch nie verliebt. Ich weiss gar nicht, wie das ist. Meine Söhne, die liebe ich. Meine Schwestern, meine Mutter. Aber einen Mann? Nein. Ich habe immer nur Angst. Ein Bruder meines Vaters, der mich auch für seinen Sohn wollte, war damals beleidigt, dass meine Eltern sich für den anderen Teil der Familie entschieden hatten. Er sagte, ich sei ihm schon als Baby als Schwiegertochter versprochen worden. Er war auch nicht zur Hochzeit erschienen. Zwei Monate später stand er plötzlich vor der Tür und bedrohte meinen Vater und uns. Einmal waren wir im Basar, da liefen plötzlich zwei Typen sehr nah bei uns, sagten anzügliche Dinge zu mir. Nuruddin sagte etwas zurück, sie griffen ihn an, einer hatte ein Messer und stach meinem Mann zwischen die Rippen. Dann sagten sie, ‹das nächste Mal töten wir euch›, und sind weggerannt. Das hatte mit diesem Onkel zu tun. Ich habe Nurudddin ins Spital gebracht, er musste genäht werden. Danach haben uns meine Eltern in ein Haus an einem anderen Ort gebracht. Wir konnten monatelang nicht rausgehen. Ich musste mit Burka einkaufen. Wir zogen deshalb zu seiner Familie in den Iran.»

Afghanische Geflüchtete sind im Iran vielfältigen Diskriminierungen und Barrieren ausgesetzt. Nicht nur ist offen zur Schau gestellter Rassismus gegenüber Afghan*innen weit verbreitet. Auch haben Migrant*innen aus Afghanistan in der Regel keinen

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gesicherten Status, sondern lediglich Aufenthaltstitel, die jährlich verlängert werden müssen. Arbeitserlaubnisse sind, sofern sie erteilt werden, befristet und beschränken sich grundsätzlich auf Tätigkeiten mit geringer Qualifikation. Viele, insbesondere jene, die nicht offiziell registriert seien, würden als Tagelöhner*innen auf dem Schwarzmarkt arbeiten und seien der Willkür ihrer Arbeitgeber*innen ausgesetzt, sagt der Analyst David Jalilvand gegenüber der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung. Besonders problematisch ist die Situation afghanischer Frauen. Angesichts tradierter kultureller Praktiken wie Kinder- und Zwangsehen oder Gewalt in der Ehe fehlt afghanischen Migrantinnen in Iran hinreichender Schutz. Denn das iranische Rechtssystem benachteiligt Frauen systematisch und die Zugangshürden sind für Afghaninnen in der Praxis sehr hoch.

«Meine Schwiegermutter war gemein zu mir, sagte, ich sei zu nichts nütze. Auch die grosse Schwester meines Mannes behandelte mich wie eine Angestellte. Später, als sie selbst verheiratet war, hat sie sich dafür entschuldigt. Sie sagte zu mir, sie habe nicht gewusst, wie es ist, in einer fremden Familie zu leben, es täte ihr sehr leid. Sie wusste es nicht besser, sie war noch jung. Ich hatte Heimweh, jeden Tag sagte ich zu meinem Mann, ich will zurück nach Hause. Anrufen war teuer, Nuruddin gab alles Geld, das er verdiente, seiner Mutter. Selbst Nuruddins Vater gab das Geld seiner Frau. Ich musste um alles bitten. Zwei Jahre haben wir dort gelebt. Dann wurde ich schwanger. Ich wollte kein Kind, ich habe schwere Sachen getragen, gehofft, es würde weggehen. Immer war ich müde und kraftlos. Meine Schwiegermutter sagte, dass sie nicht genug Geld hätten, um mich ständig zur Ärztin zu bringen. Zwei Wochen habe ich hochschwanger in einer Näherei ausgeholfen und Geld verdient. Die Chefin dort hat immer Druck gemacht, ich solle schneller machen.»

Hier wird Azade unsicher: Sie hat Mühe, die Abfolge der Ereignisse klar zu ordnen. Erinnerung ist etwas Wandelbares – auch wenn man sich mitunter einredet, man könnte sich ganz genau erinnern. In Wirklichkeit wandeln sich Erinnerungen im Laufe der Zeit, man übernimmt Teile aus den Erzählungen anderer, der Eltern, Geschwister und Verwandten, kann diese von eigener Erfahrung kaum unterscheiden. Unter hoher Belastung wird besonders Schmerzhaftes vom Gedächtnis mitunter eingekapselt und unzugänglich gemacht. Anderes wird einfach so vergessen. Wir haben nur begrenzt Einfluss auf diese Prozesse. Gleichzeitig erzählen wir gern in einer Weise über uns selbst, als gäbe es eine schlüssige, logisch zusammenhängende Folge von Erinnerungen, die zusammen eine wahre Lebensgeschichte bilden. Mancherorts, beispielsweise im Asylprozess, wird dies politisch sogar zur Bedingung für die Glaubwürdigkeit der Beantragenden gemacht. Dabei haben es gerade emotional schwer belastete Menschen nachweislich schwer, sich (immer gleich) gut an das zu erinnern, was sie durchgemacht haben.

«Ali kam 2014 auf die Welt. Mein Vater war da schon verstorben, das muss im Herbst 2013 gewesen sein. Als meine Mutter mit meinen Schwestern zu uns in den Iran kamen, war Ali etwa fünf Monate alt. Meine Mutter und Schwestern fanden schnell Arbeit im Iran. Erst zogen

wir in eine Wohnung gegenüber jener meiner Schwiegereltern. Dort waren wir aber nur kurze Zeit. Dann zogen wir in eine Kellerwohnung, dort war es sehr feucht. Ali hat dort Schmerzen in den Beinen bekommen, bis heute hat er das. Wir konnten uns keine bessere Wohnung leisten. Nuruddin arbeitete als Maurer, er wollte nicht, dass ich auch arbeite. Er war sehr eifersüchtig. Er dachte, wenn ich rausgehe zum Arbeiten, würde ich andere Männer treffen. Er sagte, ich solle auf die Kinder achtgeben. 2017 kam Yasin auf die Welt.»

Nur 15 Prozent der afghanischen Männer sind der Meinung, dass es Frauen erlaubt sein sollte, nach der Heirat zu arbeiten, und 60 Prozent beklagen, dass afghanische Frauen «zu viele Rechte» hätten, das sagt eine von UN Women und Promundo durchgeführte Studie aus dem Jahr 2019. Afghanistan verzeichnet laut UN Women eine der höchsten Raten von häuslicher Gewalt sowie

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Gewalt gegen Frauen; bereits vor der Pandemie erlebten neun von zehn Frauen mindestens einmal im Leben Gewalt vonseiten ihres Ehemannes.

«Nach dem Tod meines Vaters wurde die Bedrohung durch meinen Onkel für uns immer besorgniserregender. Meine Mutter und ich fingen an, über eine Flucht in den Westen zu sprechen, wo wir sicher sein würden vor seinem Zugriff. Nuruddin war nicht überzeugt, aber ohne ihn konnten wir nicht gehen – eine Gruppe aus Frauen mit kleinen Kindern, ausgeschlossen. Wir konnten ihn schliesslich überzeugen. 2018 machten wir uns mit dem Bus auf den Weg an die türkische Grenze. Drei weitere Männer, die wir nicht kannten, kamen mit und halfen uns unterwegs mit dem Gepäck und den Kindern. Zwei Jahre waren wir unterwegs. 2020 war ich diejenige, welche – zunächst allein – in die Schweiz einreiste. Als die

Polizisten mich in Lausanne aus dem Bus holten, nahmen sie mich zu dritt mit in ein Gebäude, ich hatte viel Angst. Wir stiegen in einen Fahrstuhl, als die Tür oben wieder aufging, war da eine Frau. Da hatte ich nicht mehr so viel Angst. Ich musste mich ganz ausziehen, aber da waren nur Frauen. Im Verhörraum wollte ich immer nur schlafen. Mir war kalt und schwindlig, ich war sehr erschöpft. Ich hatte 300 Franken, davon haben sie mir 200 weggenommen, als Busse wegen illegaler Einreise. Sie sagten, ich habe zehn Tage Zeit, das Land wieder zu verlassen. Sie haben mich an einer Bushaltestelle abgesetzt. Ich wusste nicht, wo ich war, es war dunkel, ich hatte kaum noch Geld, mein Telefon hatte keinen Akku mehr. Ich habe geweint, es war kalt, ich hatte zu dünne Kleider. Eine Frau kam mit einem Hund, eine Niederländerin. Sie hat mich mit nach Hause genommen. ‹Hab keine Angst›, sagte sie, ‹hier sind nur ich, ein alter kranker Mann und der Hund.› Ich durfte duschen, sie hat mir etwas zu essen gemacht, und ich konnte meine Familie anrufen. Die wussten nicht, wo ich war, wie es mir geht. Ich habe geschlafen. Sie brachte mich auch zum Bahnhof und setzte mich in den Zug nach Basel, dort wartete eine Freundin auf mich. Ich war so durcheinander, ich hatte mir nicht einmal ihren Namen aufgeschrieben. Ich würde mich so gern bei ihr bedanken, sie war so nett.»

Am Ende des dritten Gesprächs ist Azade aussergewöhnlich erschöpft. Wir haben alle Notizen mit der Übersetzerin noch einmal durchgesprochen. Sie erzählt, dass ihr jüngerer Sohn zwei Tage zuvor auf dem Schulweg verloren gegangen war. Eine Stunde lang wusste sie nicht, wo er war. Gemeinsam mit dem Vater, von dem sie mittlerweile getrennt lebt, suchte sie alles ab. Was für andere Eltern ein eher schnell überwundener Schock ist – Yasin ist unverletzt wieder aufgetaucht –, raubte Azade noch Tage danach den Schlaf. Immer wieder geht sie nachts zu ihm ans Bett, um nach ihm zu sehen., erzählt sie. Ich frage, ob sie unseren Aufzeichnungen noch irgendwas hinzufügen möchte.

«Ich erinnere mich an vieles nicht gut. Am liebsten möchte ich das alles nicht noch einmal erzählen müssen.»

Journalismus und Trauma

Viele Journalist*innen führen im Rahmen ihrer Arbeit Gespräche mit schwer belasteten, möglicherweise traumatisierten Menschen In der Regel haben sie hierfür keine entsprechende Ausbildung. Dies birgt Gefahren für die interviewte Person, re-traumatisiert zu werden; auch für die Journalist*innen kann das belastend sein. In der Branche gibt es dafür kaum ein Bewusstsein. Auch weil es oft schnell gehen muss, und weil jede zusätzliche Fachperson wie Therapeut*innen und interkulturelle Übersetzer*innen Geld kostet. Um Betroffene zu schützen, hat sich im angloamerikanischen Raum der sogenannte «trauma-informed journalism» entwickelt. Er vermittelt Journalist*innen ein Bewusstsein für die emotionale Ausnahmesituationen, in der sich die Interviewpartner*innen befinden. Zudem bietet er praktische Regeln und Tipps für verantwortungsbewusste Berichterstattung. Mehr dazu: dartcenter.org.

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Aufgeben ist keine Option

Katastrophe In der Folge des verheerenden Erdbebens in der Türkei und Syrien werden Rufe nach guter Regierungsführung und mehr Menschlichkeit laut.

Wieviel diese gegen die tiefen politischen Verwerfungen ausrichten können, ist fraglich.

Das letzte grosse Erdbeben liegt gar nicht so lange zurück: 1999 erschütterte ein Beben der Stärke 7,6 den Norden der Türkei rund um die Städte Gölcük und Izmit am Schwarzen Meer, auch Teile der Metropole Istanbul waren betroffen. Mehr als 18 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Bei den aktuellen Erdbeben im Südosten der Türkei und in Nordsyrien liegen die offiziell angegebenen Opferzahlen mit mehr als 42 000 Verstorbenen in der Türkei und gemeldeten mehr als 5800 in Syrien weit höher –Tendenz weiter steigend.

Und wieder wird in der Türkei darüber diskutiert, dass das Ausmass von Profitinteresse, Korruption und fehlendem Knowhow in der Baubranche massgeblich dafür verantwortlich ist, dass so viele Gebäude eingestürzt sind. Damals wurden einzelne Unternehmer vor Gericht gestellt, strukturell änderte sich offensichtlich kaum etwas. Auch führte die türkische Regierung vor 23 Jahren eine sogenannte Erdbebensteuer ein, deren Gesamteinnahmen laut der türkischen Zeitung Cumhuriyet heute 37 Milliarden US-Dollar betragen müssten. Doch anstatt in einen Fonds für Erdbebenkosten zu investieren, sei das Geld in den laufenden Staatshaushalt eingeflossen, vermuten Expert*innen.

Dies ist eines der leichter zu ertragenden Beispiele dafür, warum die Menschen im Erdbebengebiet derzeit lieber beispielsweise auf die gemeinwohlorientierte NGO Ahbap des Rockstars Haluk Levent vertrauen als auf den Staat – ein Staat, der in Form der Regierung Erdoğan trotz offensichtlich massiver Überforderung darauf drängt, alle Hilfe durch die eigenen Kanäle laufen zu lassen. Um ordentlich was abzuzweigen, befürchten Kritiker*innen. Um die eigene Klientel bevorzugt zu behandeln, es stünden schliesslich Wahlen ins Haus, ergänzen andere. So wurde mehrfach beobachtet, wie private Hilfslieferungen und sogar Baumaschinen beschlagnahmt oder mit dem Logo der staatlichen Katastrophenschutzbehörde AFAD umetikettiert und als eigene Leistung ausgegeben wurden. Und dem Roten Halbmond wurde schon vor den Beben eine grosse Nähe zur Regierung nachgesagt. Um die schnelle Verbreitung von Nachrichten über nicht-präsente Hilfe einzudämmen, hatte die AKP-Regierung bereits den Nachrichtendienst Twitter eingeschränkt und zahlreiche Accounts und Einträge auf sozialen Netzwerken sperren lassen. Kritiker*innen würden genau beobachtet und zu gegebener Zeit bestraft, warnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

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FOTO: ALESSIO PADUANO

So war auch niemand unter den Überlebenden in der von der alevitisch-kurdischen Minderheit bewohnten Region rund um die im Epizentrum befindliche Kleinstadt Pazarcık in der Provinz Kahramanmaraş überrascht, dass es mancherorts 36 Stunden und länger dauerte, bis überhaupt Hilfe den Weg in die Dörfer fand. Und es waren privat oder über alevitisch-kurdische Solidaritätsnetzwerke organisierte Hilfsgüter aus dem Aus- und auch Inland, die der Region zugutekamen. Von AKP-Seite war nichts zu sehen, abgesehen von einem Pflichtbesuch des Präsidenten in Pazarcık am 9. Februar. Es mangelte weiterhin an medizinischer Versorgung, an Zelten und Öfen gegen die Minusgrade in den Nächten, an Hygieneartikeln, warmer Kleidung und Medikamenten. Selbst wenn man der Regierung wohlgesonnen ist und keinen bösen Willen sehen will; allein die schiere Grössenordnung des zu bewältigenden Problems – das betroffene Gebiet ist fast so gross wie Deutschland – bietet Grund genug für das langsame Vorankommen der Rettungsarbeiten. Und doch zementiert die Negativ-Präsenz des Staates bestehende Ängste und Unzufriedenheit in einer Region, aus der bereits viele aufgrund politischer Verfolgung durch denselben Staat fliehen mussten. Angehörige der pro-kurdischen Partei HDP werfen der Regierung denn auch vor, den in den betroffenen Provinzen ausgerufenen Ausnahmezustand dafür zu nutzen, zivilgesellschaftliche Hilfsaktionen einzuschränken, um ihr eigenes Scheitern zu vertuschen. Auch fragen sich hier viele, wo das sonst so präsente Militär in der Region eigentlich abgeblieben ist.

Syrien im Stich gelassen

Die Lage in Nordsyrien ist noch drastischer. Die komplexe Situation durch den Krieg, die damit verbundene Isolation des Landes sowie die gegenläufigen Interessen der politischen Akteur*innen vor Ort machen Katastrophenhilfe schwierig. Zunächst blieb die internationale Gemeinschaft einfach untätig. Martin Griffiths, Chef des Uno-Büros für humanitäre Angelegenheiten, gab am 12. Februar in einem Tweet zu, die Syrer*innen im Stich gelassen zu haben. Die private Organisation der syrischen Weisshelme tat mit über 3000 Freiwilligen ihr Bestes, nach Überlebenden zu suchen und diesen zu helfen, es fehlt jedoch an Ausrüstung, Personal, Hilfsgütern. Auch wenige andere zivilgesellschaftliche Organisationen wie der Kurdische Rote Halbmond leisten wichtige Hilfe vor Ort und unterstützen auch kleinere Initiativen. Der UNHCR schätzt die Zahl der Betroffenen in Syrien derzeit auf mehr als 8,8 Millionen.

Viele Überlebende des Bebens in der Südosttürkei hatten aus dieser Sicht gewissermassen noch Glück im grossen Unglück, dass sie auf Solidaritätsnetzwerke aus der Diaspora zählen können, die selbst über tausende Kilometer Distanz an gewisse Orte schneller Hilfe zu schicken vermochten als die meisten Behörden vor Ort. Auch wurden innerhalb kürzester Zeit in ganz Europa Geld- und Sachspenden zusammengetragen, welche die tiefe Verbundenheit vieler Menschen etwa in der Schweiz mit der Region unter Beweis stellten – aber auch die Notwendigkeit informeller, personengebundener Netzwerke für das Überleben vieler Betroffener. Allein in Basel versammelten sich rund 2000 im engsten Umfeld betroffene Menschen zu einer Gedenkveranstaltung. Viele werden probieren, obdachlos gewordene Verwandte in die Schweiz zu holen, bis überhaupt an Wiederaufbau gedacht werden kann. Politiker*innen rund um die Basler Nationalrätin Sibel Arslan machten sich für ein vereinfachtes Visaverfahren

stark, kamen aber nur mit einem Teil ihrer Forderungen durch. Diese grenzüberschreitenden Solidaritätsnetzwerke brauchen denn auch einen wahrhaft langen Atem. Denn mit den Häusern sind nicht nur die konkreten Lebensmittelpunkte, sondern auch die Altersvorsorgen zahlreicher Re-Migrant*innen zusammengebrochen. Die Dimension der Armut, die dieser akuten Katastrophe auf dem Fusse folgen wird, ist noch schwer abzuschätzen. Millionen Menschen haben ihre Häuser verloren, offiziellen Angaben zufolge sind allein anderthalb Millionen in den von der türkischen Regierung bereitgestellten Notunterkünften untergebracht. Dabei ist das Land mit knapp vier Millionen Geflüchteten vor allem aus Syrien und Afghanistan bereits schwer belastet – auch weil Europa sich inklusive der Schweiz so gut abschottet. Und trotzdem, wie könnte es anders sein, warnen die üblichen Verdächtigen bei den Massenblättern Bild und Blick schon vor der nächsten «Fluchtwelle», obwohl wie auch bisher alles darauf hindeutet, dass die betroffene Region mit dem Grossteil des Leids weitgehend selbst zurechtkommen muss.

In solch emotionalen Grenzlagen mag es vielen gut tun, wenn einer Hoffnung auf Wandel formuliert: In einer Solidaritätssendung im Fernsehen sprach der Leadsänger und Songschreiber der Rockband Mor ve Ötesi, Harun Tekin, vom Geist der Solidarität, der nach den Erdbeben im ganzen Land entstanden sei. «Wir müssen darauf ein ganz neues Land aufbauen. Wir müssen alles ändern, was dieses Landes nicht würdig ist. Damit wir in zehn oder zwanzig Jahren nicht wieder dasselbe erleben – wir müssen uns ändern und auch diejenigen, die regieren.» Die Republik dürfe im Jahr ihres hundertsten Geburtstags kein Ort der Mut- und Hoffnungslosigkeit sein. «Das ist nicht unser Schicksal. Wir können das Leben, das wir führen, ändern», so Harun Tekin. Schön wär’s ja. Nur unterliegt politisches Lernen auch in Krisenzeiten der Logik der Politik und nicht dem Einfluss einer Notlage. Das behauptet zumindest die Soziologin Franziska Engels. Das bedeutet auch: Selbst wenn man Entscheidungsträger*innen im türkischen Staat auf den verschiedenen Ebenen zutrauen würde, dass sie erkennen, was derzeit falsch läuft und schon vorher falschgelaufen ist – beispielsweise die Nichteinhaltung von Bauvorschriften –, so werden die aus den Krisenerfahrungen gezogenen Lehren oftmals nicht oder nur unzureichend umgesetzt, wenn diese nicht mit den vorherrschenden Machtstrukturen und Praktiken vereinbar sind. Wer von Korruption und Klientelwirtschaft lebt, schafft diese nicht ab, heisst dies im Klartext. Nun ist aufgeben aber auch keine Option, und so kann man sich einstweilen an den kleinen guten Nachrichten festhalten, die ebenfalls aus dem Katastrophengebiet dringen: Menschen, die nach unglaublichen über hundert Stunden lebendig geborgen werden. Oder Bürgermeister, die sich rühmen, besonders streng die Bauvorschriften durchgesetzt zu haben und nun kaum Schäden zu verzeichnen haben. Und all die vielen kleinen Hilfsinitiativen und hilfreichen Einzelmenschen, die auch auf lange Sicht noch nötig sein werden, um die Menschen in der Südtürkei und in Syrien nicht in Armut und Elend versinken zu lassen.

Sara Winter Sayilir ist Mutter eines zehnjährigen Sohnes, dessen Lieblingsort das Haus der Familie im Dorf in der Türkei war. Das ganze Dorf liegt nun in Trümmern. Zum Glück haben die Grosseltern überlebt. Sie wünscht allen, die Angehörige, Freund*innen und Heimatorte verloren haben, Geduld und Kraft mit der Trauer.

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Die Vervielfältigung der eigenen Erfahrung

Kino Im März laufen zwei Filme über Schwarze Frauen an: der französische Spielfilm «Saint Omer» und der Schweizer Dokumentarfilm «Je suis Noires». Beide betten sie persönliche Geschichten in strukturelle Hintergründe ein.

TEXT DIANA FREI

In dem einen Film geht es um Alltagsrassismus, wie ihn Schwarze Schweizerinnen erleben. Im anderen um den Gerichtsfall einer jungen Schwarzen Mutter, die ihr Kleinkind im Meer ertränkt hat: «Saint Omer», ein Spielfilm, ist die Fiktionalisierung einer wahren Geschichte. Die Arbeit am Dokumentarfilm «Je suis Noires» begann mit der Auseinandersetzung der Filmautorin und Co-Regisseurin Rachel M’Bon mit ihrem eigenen Schwarzsein in der Schweiz. Beide Werke sind diskursive Beiträge in einem wichtigen gesellschaftlichen Prozess, in dem eingeübte Rollen und rassistische Muster langsam aufbrechen und in dem zunehmend ein Bewusstsein dafür entsteht, wie gesellschaftliche Strukturen und historische Vergangenheit auf das Leben Einzelner einwirken. Es ist dabei bemerkenswert, dass Alice Diop, die Regisseurin von «Saint Omer», im Presseheft ausdrücklich auch auf Anna Karenina und Madame Bovary hinweist – auf fiktionale weisse Frauen aus dem 19. Jahrhundert, die sich aus dem Korsett der Ehe befreien. Ja, es geht um weiss und Schwarz. Es geht dabei aber auch ganz spezifisch um die gesellschaftlichen Mechanismen, die einen zu dem machen, was man ist.

Der Schweizer Dokumentarfilm heisst «Je suis Noires», und was dabei ins Auge fällt, ist «noires» im Plural. «Ich bin Schwarz», genauso Schwarz wie viele andere Frauen auch. Obwohl der Film auch eine persönliche Suche der Filmautorin Rachel M’Bon ist,

beginnt er mit einer Umfrage auf der Strasse. Er reiht kurze Begegnungen mit Schwarzen Frauen aneinander; die Gesichter wechseln, die Erzählungen bleiben dieselben: Benachteiligungen, Übersehenwerden, Unterstellungen und intellektuelle Unterschätzung, Kriminalisierung, Exotisierung, auch Beschimpfungen. Der Film folgt dann sechs Protagonistinnen in Gesprächen. Zusammen mit ihrer Co-Regisseurin Juliana Fanjul sucht Filmautorin M’Bon sucht ihre eigene Geschichte in den Erfahrungen anderer. Sie vervielfältigt sich sozusagen im Schwarzsein, um die strukturellen Komponenten ihrer Erlebnisse offenzulegen.

Alice Diop macht in ihrem Spielfilm «Saint Omer» etwas Ähnliches, indem sie Laurence Coly (Guslagie Malanda), die Kindsmörderin auf der Anklagebank, in der Figur der Autorin und Professorin Rama (Kayije Kamage) spiegelt, die den Verhandlungen über mehrere Tage hinweg folgt, um ein Buch zu schreiben. Auch hier teilt sich das Schwarzsein auf zwei Frauen auf, aber auf zwei einander fremde, die jedoch zusätzlich die Mutterschaft verbindet, in der immer auch die Frage nach dem Erbe steckt – dem familiären, aber auch dem gesellschaftlichen. Laurence hat ihr Kind umgebracht, und je weiter sich der Film entspinnt, desto stärker wird dieser Tod zur fast logischen Folge einer gesellschaftlichen Auslöschung der Mutter. Rama trägt ein Kind in sich. Die Frage, was aus ihm werden wird in einer Gesellschaft, an der

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Laurence Coly (Guslagie Malanda, links) wird des Mordes an ihrem Baby angeklagt. Schriftstellerin Rama (Kayije Kamage) reist zum Prozess und verliert im Laufe des Gerichtsdramas ihre Gewissheit, wer hier schuldig ist.

diese andere Schwarze Mutter zerbrochen ist, steht unbeantwortet im Raum. Es gibt diesen einen Moment, in dem Laurence Rama in den Zuschauerrängen wahrzunehmen scheint. Ein Blick, ein leises Lächeln ihrerseits, während Rama weint. Sie scheinen sich gegenseitig zu erkennen in dem, was sie sind, was sie ausmacht, was sie prägt.

Interessant ist, dass die Mutterschaft auch in «Je suis Noires» vorkommt, als Vererbung der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Gegen Schluss sehen wir die Protagonistin Armelle Saunier, Bankkader mit Eltern aus Kamerun, mit ihrer kleinen Tochter die Strasse entlanglaufen, während sie über die Erfahrungen spricht, vor denen sie das Kind bewahren möchte – und letztlich vielleicht nicht kann.

Gefangen in Projektionen

«Saint Omer» rollt Laurences Geschichte in der Frage-Antwort-Situation vor Gericht auf. Ein Mosaiksteinchen fügt sich so ans andere: Die Angeklagte wird von ihrem Partner Luc gesellschaftlich verleugnet, sie existiert nicht für sein Umfeld und zieht sich, als sie schwanger ist, ihrerseits zurück. Sie verlässt das Atelier, das sie bewohnen, nicht mehr – und dort gebärt sie auch das Kind, als ihr Partner auf Reisen ist, alleine. Es ist nicht registriert, nie hat jemand die Mutter schwanger gesehen. Es ist, als habe dieses Kind nie existiert.

Angestossen wurde die Dynamik der Entwicklungen offensichtlich von grundlegenden Missverständnissen, genährt durch Projektionen, stereotype Vorstellungen, Machtgefälle, Altersunterschiede. Hier ein alter weisser Mann, der punktuell aus seiner konformen Lebensplanung ausbricht, dort die junge Schwarze Frau, die finanziell abhängig ist. In Luc kann man leicht einen Mitschuldigen an der Tragödie finden, gleichzeitig versteht man unmittelbar: Auch er ist ein Opfer der eigenen Prägung, unfähig, zu Entscheidungen zu stehen, Fragen anzusprechen, eine Situation zu klären. Fadenscheinige Begründungen, wieso das Kind nicht registriert sei, nimmt er hin, die Vaterschaft anerkennt er nicht: «Es war einfacher so.»

Die Katastrophe ist bereits Vergangenheit, nun wird vor Gericht nicht nur nach Erklärungen gesucht, sondern auch die Gesellschaft porträtiert, in der so etwas passieren konnte. Da ist die Anklage, die Verteidigung, die Richterin. Dazu das Publikum, das stumm dasitzt und aus dem sich ab und zu Zeug*innen lösen, wenn sie aufgerufen werden. Auch Luc tritt aus dieser Masse der Allgemeinheit hervor, sozusagen ins Licht der Öffentlichkeit. All die Figuren, das Gerichtspersonal ebenso wie diejenigen im Zeugenstand, bringen ihre eigenen Perspektiven und Projektionen auf die Angeklagte Laurence Coly mit. Die Verurteilungen haben in ihrem Leben im Grunde längst schon stattgefunden.

Auch in «Je suis Noires» kommen sie vor, die alltäglichen Verurteilungen. Der Film thematisiert denn auch, wie sehr die Schweiz immer zuerst ihr eigenes Idyll verteidigt. Und dabei ein Land geblieben ist, das die eigene Haltung nie zu hinterfragen gelernt hat. Das nicht fähig ist, sich mit den unangenehmeren Seiten der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Und «auch ohne eigene Kolonien» die zugehörigen Bilder in den Köpfen – etwa in der (Schokolade-)Werbung – unreflektiert übernommen hat.

Alice Diop hat in ihrem Spielfilm nun den filmischen Raum auch in der Bildsprache explizit den Schwarzen Frauen übergeben und hält fest, auch die Ästhetik des Films sei für sie politisch: «Ich möchte diesen Frauen das Kino als einen Raum anbieten, in dem man sich ihrem Blick nicht mehr entziehen kann, ohne dass es zu sehr stilisiert wird.» Auf diese Weise sind Filmbilder entstanden, denen die Anmut von Gemälden innewohnt.

Läuft zurzeit im Kino.

«Je suis Noires», Regie Rachel M’Bon und Juliana Fanjul, Dokumentarfilm, CH 2022, 50 Min, mit Tallulah Bär, Brigitte Lambwadio,

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«Saint Omer», Regie Alice Diop, Spielfilm, F 2022, 122 Min, mit Kayije Kamage, Guslagie Malanda, Valérie Dréville u. a. Carmel Fröhlicher, Amelle Saunier, Paula Charles, Khalissa Akadi u. a. Läuft ab 9. März im Kino.
BILDER: ZVG
Rechtsanwältin Brigitte Lambwadio (links) und Regisseurin Rachel M’Bon setzen sich in «Je suis Noires» mit ihrer Sichtbarkeit auseinander. Die US-amerikanische Dichterin Audre Lorde sah darin einen Grund für Angste und Verletzlichkeit, aber auch eine Quelle der Stärke.

Veranstaltungen

Basel

«Screening invisibilities», Performance, Sa bis Mi, 4. bis 8. März, auf Deutsch und Englisch, in Gebärden- und Lautsprache. Publikumsgespräch mit Übersetzung in die dt. Gebärdensprache am 7. März.; Kaserne Basel, Klybeckstrasse 1b. kaserne-basel.ch

eindrücklich die immensen Leistungen der Frauen auf dem Weg zu ihren politischen Rechten. Die Multimediashow wird nun im Landesmuseum Zürich nochmals gezeigt. Dort trifft die Projektion ab Mitte März auf die grosse Wechselausstellung «Zum Geburtstag viel Recht – 175 Jahre Bundesverfassung». Sie wird begleitet von Gesprächsveranstaltungen wie «Leiden an der Demokratie. Die tapfersten aller Männer» oder «Backlash für die vorwärtsstürmende Frauengleicheit. Ist Gleichheit (immer) gut?» DIF

Basel/ Winterthur

St. Gallen

«Tschabalala Self – Inside Out», Ausstellung, bis So, 18. Juni, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Kunstmuseum St. Gallen, Museumstrasse 32. kunstmuseumsg.ch

«Screening invisibilities» ist eine assoziative Auseinandersetzung mit dem politischen Begriff der Unsichtbarkeit. Wer wird in der Gesellschaft gesehen und wer nicht? Und wie kann ich jemanden verschwinden lassen? Gemeinsam mit einem Ensemble aus hörenden und Tauben Künstler*innen initiiert der Basler Regisseur Zino Wey eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen. («Taub», gross geschrieben, als Selbstbezeichnung von «Menschen, die sich den Gebärdensprachen, den Gemeinschaften und Kulturen der Gehörlosen verbunden fühlen».) Aus Gebärden, Gesten, Bewegung, Tanz und Musik wird ein neuer Raum entworfen, der nach Gemeinsamem anstelle von Unterschieden fragt: ein poetisch-politisches Manifest. DIF

Emmenbrücke

«Haut», Ausstellung, bis So, 12. März, Fr/Sa, 14 bis 17 Uhr, So 10 bis 16 Uhr, Akku Emmen, Gerliswilstrasse 23. akku-emmen.ch

tionen, Ängsten und Träumen. Gastkuratorin Claudia Waldner wird 2023 die dreiteilige Ausstellungsreihe «Hauthaus» in der akku Kunstplattform in Emmen zeigen, die Gruppenausstellung «Haut» ist der Start. Die letzte Ausstellung, «ohne Haut – ohne Haus», wird sich Menschen widmen, die ohne Heimat sind – und Räumen, die ohne Menschen sind. DIF

Zürich

Die Haut ist Organ, Sinn, Grenze, Erinnerungsträger, Schutz, Metamorphose und Metapher. Im Akku Emmen geht es um die Frage, was hinter oder unter der eigenen Haut liegt und wie wir damit umgehen. So thematisieren die ausgestellten Künstler*innen – Barbara Hennig Marques, Heidi Bucher, Nesa Gschwend, Rochus Lussi, Ronja Römmelt, Victorine Müller – die Empfindung von Schmerz, die Haut als Schutzorgan. Und als grösstes Sinnesorgan. Oder als Spiegel unserer Seele, als Speicher von Emo-

«Kraftakt Frauenstimmund Wahlrecht – Projektion Hommage 2021», Ausstellung, bis So, 16. April, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 19 Uhr, Landesmuseum Zürich, Museumstrasse 2. landesmuseum.ch

Das Ringen um Frauenrechte seit dem 19. Jahrhundert war zäh, der Weg zur politischen Partizipation steinig. Das 1971 eingeführte Frauenstimm- und Wahlrecht war ein entscheidender Schritt im Kampf um die Umsetzung der Rechtsgleichheit. Mehr als 350 historische Bilder wurden in der mehrsprachigen Projektion des Vereins Hommage 2021 verarbeitet und zeigen

«Der Andere – Pippo Pollina und Mike Müller», musikalische Lesung, Do, 9. März, 20 Uhr, Volkshaus Basel und So, 12. März, 19 Uhr, Theater Winterthur. keinundaber.ch/de/ autoren-regal/pippo-pollina

Zwei Stühle, ein Tisch und eine Gitarre: Wenn Pippo Pollina und Mike Müller sich zusammen auf die Bühne stellen, begegnen sich Musik und Literatur. Wobei Pollina nicht nur die Lieder singt, sondern auch den Roman (sein Debüt: «Der Andere») geschrieben hat, aus dem Müller vorliest. Der Roman handelt von zwei Männern, beide Ende der 1950er-Jahre geboren; sie wachsen aber weit voneinander entfernt auf. Frank Fischer lebt im niedersächsischen Wolfsburg, einem Industriestandort mit vielen Emigranten aus den südlichen Ländern Europas. Der andere, Leonardo Conigliaro, lebt in einem Bauerndorf in Sizilien. Ihre Geschichten entwickeln sich in scheinbarer Distanz voneinander, dennoch gibt es viele Berührungspunkte. DIF

Die New Yorker Künstlerin Tschabalala Self bearbeitet in ihrer Malerei die Bildfläche nicht nur mit Farbe, sondern auch mit Stoff und Faden, mit selbst eingefärbten wie mit gefundenen Textilien. In ihren Gemälden bildet Self Individuen oder Paare ab, die vor einem monochromen oder aber gemusterten Hintergrund teils in ihrer eigenen Welt zu schweben scheinen und isoliert wirken. Sie schöpft dabei aus ihren persönlichen Erfahrungen als Schwarze Frau in Amerika. In diesem Kontext inszeniert sie gemalte Körper, die innerhalb von imaginierten Umgebungen oft überhöht und isoliert gezeigt werden. Selfs Arbeiten stellen die historisch, kulturell und gesellschaftlich geprägten Vorstellungen gegenüber Schwarzen Körpern in Frage. Gezeigt werden in der Einzelausstellung in St. Gallen Gemälde, Skulpturen und ein Performance-Video.

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DIF BILD(1): ALONA ROHDE, BILD (2): VICTORINE MÜLLER, BILD(3): COURTESY OF TSCHABALALA SELF, PILAR CORRIAS, LONDON, UND GALERIE EVA PRESENHUBER
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Büren an der Aare

Surprise-Standort: Gemeindehaus

Einwohner*innen: 3707

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 18,2

Sozialhilfequote in Prozent: 2,1

Preis für Hundetaxe: CHF 80.—

Gäbe es in der Schweiz, ähnlich wie in Frankreich, eine Auszeichnung für die schönsten Dörfer (oder Städtchen), wäre Büren an der Aare eine Kandidatin. Viele der Gebäude sind alt – und gut erhalten. Auf einigen Fassaden lassen sich noch die ehemaligen Geschäftsnamen ablesen, ein Hotel, ein Eisen- und Kohlehandel etwa. Es gibt enge Gässlein und versteckte, eingefriedete Hinterhöfe, hölzerne Balkone. Auffällig sind die Holzbeigen vor einigen dieser Häuser. Wer darauf verzichtet hat, sein Gebäude mit moderner Heiztechnik aufzurüsten, hat nun gut lachen und braucht die hohen Energiepreise und drohende Mangellage nicht zu fürchten.

Auswirkungen hat die aktuelle Lage auf die Energieversorgung Büren AG, an deren Hauptsitz auf das 20-jährige Be-

stehen hingewiesen wird. Das Zentrum besteht aus schmalen, alten Häusern, die einen Kopfstein-gepflasterten Platz umgeben. Dass sich hinter den altmodischen Fassaden durchaus auch dynamische Menschen verbergen, ist an der Verkaufsstelle für eine bekannte deutsche Sportwagenmarke abzulesen. Der auf dem unteren Teil des Platzes stattfindende Markt besteht hingegen nur aus einem Käse- und einem Fleischstand, der Traditionelles wie Gnagi und Burehamme anbietet, ein dritter, vermutlich der Gemüsestand, hat sich abgemeldet, «Witterungsbedingt», wie auf einem Zettel an einem rot gestrichenen Holzbock zu lesen ist. Bestellungen sind möglich.

Gegenüber, in alter Schrift an der Fassade angeschrieben, das Radio und TVGeschäft. Davor eine Tafel: China Offen.

Es handelt sich dabei aber nicht um Informationen über die Lockerung der Null-Covid-Politik des Landes, sondern um den Hinweis auf ein geöffnetes China-Restaurant. Die Kulinarik von Büren ist in asiatischer Hand. Neben dem chinesischen gibt es thailändische und indische Lokale. Im Gesundheitszentrum Lotos wird bewusstes Haareschneiden angeboten, neben Tantra-Massagen und Einzelsitzungen.

Die Uhr des imposanten Schulhauses zeigt fünf vor zwölf, dies kein Kommentar zum Zustand der Welt, sondern die aktuelle Uhrzeit.

Davor stehen ein exakt rechteckiges, graues Gebäude und ein futuristischer Bau, der an einen Felsen oder ein Gürteltier erinnert. Vielfältig ist das Kulturangebot. Es werden Töpferkurse angeboten, eine Musikschule bietet Kontrabassunterricht. Es gibt eine Steinhandlung, Art on Stone, Galerien, ein Geschäft für hier hergestellte Gitarren, eine Fashion Manufaktur und die Skulp-Tour. Diese führt an den zahlreichen im Ort verteilten Skulpturen vorbei, neben den offiziellen Stücken sind auch Werke in privaten Gärten zu sehen. Etwa farbige Emaille-Pfannen auf den gestutzten Stämmen eines Haselstrauchs, wobei hier nicht ganz klar ist, ob es sich um Kunst oder Baumpflege handelt.

Die namensgebende Aare fliesst unterhalb des Zentrums vorbei, über die schöne Holzbrücke gelangt man ins Nachbardorf Reiben. Am Fluss gibt es etwas, das wie ein kleiner Badesteg aussieht, sich aber als Bootsparkplatz entpuppt. Offenbar kommen die Leute per Boot nach Büren, wo sie das Tourismusbüro erwartet.

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse STEPHAN PÖRTNER

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellscha . Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

BODYALARM – time for a massage

EVA näht: www.naehgut.ch

TopPharm Apotheke Paradeplatz

AnyWeb AG, Zürich

Cobra Software AG www.cobrasw.ch

Praxis Dietke Becker

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

InhouseControl AG, Ettingen

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

unterwegs GmbH, Aarau

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel

Tochter auf Zeit. Winterthur

Barth Real AG, Zürich

flowscope. B. & D. Steiner-Staub

Lebensraum Interlaken. Coaching & Therapie

Infopower GmbH, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Be Shaping the Future AG

Hofstetter Holding AG, Bern

Fontarocca Natursteine, Liestal

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

iris-schaad.ch Qigong in Goldau

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

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Surprise, 4051 Basel

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Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA

Das Programm

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom He verkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei nanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten

Negasi Garahlassie gehört unterdessen schon fast zum Winterthurer Stadtbild. Seit rund 15 Jahren ist Negasi Garahlassie als Surprise-Verkäufer tätig. Entweder verkau der gebürtige Eritreer seine Magazine auf dem Wochenmarkt oder am Bahnhof Winterthur. Der Arbeitstag des 65-Jährigen beginnt frühmorgens und dauert meist so lange, bis der abendliche Pendelverkehr wieder abgenommen hat. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Söhnen ist er auf das Einkommen des Strassenmagazinverkaufs angewiesen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das SurPlus-Programm unterstützt ihn dabei: Mit Krankentaggelder, bezahlten Ferientagen und einem Abonnement für den ö entlichen Nahverkehr. Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

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Frau Matter und der Strassenverkäufer

Frau Matter geht durch den Bahnhof. Beim Lift vom Gleis 1 sieht sie den SurpriseVerkäufer. Er steht häufig dort und verkauft seine Hefte. Ihn peilt Frau Matter an, denn sie will ihm etwas erzählen. Er ist immer sehr freundlich und freut sich, wenn er sie sieht. Auch hilfsbereit ist er. Einmal trug er ihr die schwere Tasche vom Einkauf nach Hause, und kürzlich legte er ihr ein Surprise in den Briefkasten.

Damals, erinnert sich Frau Matter, als ihr Mann gestorben war, überlegten sie sich bei der Vorbereitung auf die Abdankung, wem man die Kollekte gebe sollte. Der Kirche, fragte Frau Matter? Nein, meinte der Pfarrer, die Kirche habe genug Geld. Geben wir es lieber den Armen. Also wählte man Surprise für die Spende. Der Verkäufer freute sich riesig, dass die Wahl auf Surprise fiel – wegen seiner Freundlichkeit.

Ich muss Ihnen etwas erzählen, sagt Frau Matter also zu ihm. Haben Sie es schon gemerkt? Die Grünphase für die Fussgänger bei der Ampel da vorne, ja, ja, die hinüber zur Metalli, ist jetzt länger und man muss nicht mehr hetzen. Man kommt drüben an, wenn es noch grün ist! Die vielen Fussgänger können die Strasse nun ruhig überqueren. Alle meine Nachbarinnen werden sich freuen. Der Stadtrat hat es mir geschrieben, nachdem ich nun ein Jahr lang immer wieder darauf hingewiesen habe, sagt Frau Matter. Sie lacht und freut sich über ihren Erfolg. Ein Geschenk zum neuen Jahr 2023 ist das, oder nicht? Probieren Sie es aus.

MARGARITA MEIER, Zug

Imp ressum

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Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Alessio Paduano, Annalisa Rompietti Janine Schneider, Sarah Weishaupt

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#541: Weiterentwicklun g «Erfrischend»

Schon lange habe ich nicht mehr einen so erfrischenden, ehrlichen, toll geschriebenen und witzigen Artikel gelesen wie die Kolumne von Urs Habegger. Merci und herzliche Gratulation.

NICOLE INDRA, ohne Ort

«Kant beiseite»

Herr Habegger, lassen Sie den Kant ruhig beiseite, und seien Sie weiterhin stets so gut gelaunt in Ihrem «Revier», der Bahnhofunterführung von Rapperswil!

GIERI BATTAGLIA, Rorschach

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«Ich bin eine Super-Mama»

«Ich heisse Genet Weldu und stamme aus Eritrea. Dieses Jahr werde ich 50 Jahre alt. Ich habe also die Hälfte meines Lebens bereits gemeistert. Diese Jahre waren alles andere als einfach. Mein Mann starb vor 26 Jahren, er war Soldat in Eritrea. Seither bin ich alleine für meine fünf Kinder verantwortlich. Ein zweites Mal heiraten, das wollte ich nicht. Ich bin lieber unabhängig.

In Eritrea habe ich in der Landwirtschaft gearbeitet, um meine Familie zu ernähren. Ich stand am morgen sehr früh auf, versorgte die Kinder und ging auf die Felder. Abends kam ich meistens müde nach Hause. Aber ich war glücklich, denn ich konnte mich und meine Kinder ernähren. Je älter meine Kinder wurden, desto mehr begann ich mir Sorgen um ihre Zukunft zu machen. Mein ältester Sohn wollte unbedingt nach England. Als er ins militärfähige Alter kam, floh er aus Eritrea.

Auch ich wagte die Überfahrt nach Europa mit meinen vier jüngeren Kindern. Ich hatte grosse Angst, denn ich wusste, dass die Flucht gefährlich sein würde. Es gibt viele Geschichten von Gewalt, Ausbeutung und Ermordungen. Wir wurden für ein paar Monate in Libyen festgehalten, konnten dann aber zum Glück weiter über Italien in die Schweiz gelangen. Ich war erleichtert, als wir hier ankamen. Ich dachte, dass meine Kinder endlich in Sicherheit seien. Doch da habe ich mich geirrt.

Wir sassen in dem Zug der Südostbahn, wo sich am 13. August 2016 eine brutale Gewalttat ereignete. Wir erlebten hautnah mit, wie der Angreifer unsere Sitznachbarin mit einer brennbaren Flüssigkeit übergoss und anzündete. Wieso er das tat, weiss man nicht. Auch wir wurden verletzt, meine damals 6-jährige Tochter und ich überlebten nur mit viel Glück. Meine Tochter lag drei Monate lang im Koma, sie wurde insgesamt 37-mal operiert. Lange hatte ich Angst, wieder in einen Zug zu steigen. Ich weiss, dass solche schrecklichen Dinge in der Schweiz nur sehr selten passieren, aber dieses Gefühl von Unsicherheit werde ich wahrscheinlich nie wieder los. Heute bin ich vor allem traurig, insbesondere wenn ich an meine Tochter denke. Ihr Leben wird nicht einfach werden.

Auch unsere unsichere Aufenthaltssituation macht mir zu schaffen. Wir leben seit neun Jahren in der Schweiz. Es dauerte drei Jahre, bis wir unseren Asylentscheid erhielten. In dieser Zeit mussten wir ständig umziehen, meine Kinder konnten nicht regelmässig zur Schule. Mit dem F-Ausweis kann ich mittlerweile zwar arbeiten und meine jüngeren Kinder dürfen zur Schule gehen.

Doch Reisen ist uns nicht gestattet. Meine Kinder fragen mich immer wieder, warum wir nicht in die Ferien können, wie ihre «Schul-Gspöndli». Ich selbst mache mir mehr Sorgen, wie ich auf diese Weise eine anständig bezahlte Arbeit finden werde. Ich hoffe, dass wir irgendwann einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten.

Im Moment glaube ich nicht daran, denn mit meinem Einkommen bei Surprise verdiene ich nicht genügend Geld, um finanziell unabhängig zu sein. Seit zwei Jahren verkaufe ich nun Surprise-Hefte. Bei Surprise kann ich zum Glück flexibel arbeiten. Wenn meine Tochter mal wieder ins Spital muss, kann ich sie begleiten. Und kommen meine beiden jüngsten Kinder über Mittag von der Schule nach Hause, bin ich für sie da. Ich würde sehr gerne am Flughafen arbeiten, aber das ist eben wegen des F-Ausweises leider nicht ganz einfach.

Fast jeden Sonntag kommen meine ältere Tochter und mein erstes Enkelkind zu Besuch. Der Sonntag ist unser Familientag. Wir gehen zusammen spazieren, trinken Kaffee und plaudern. Meine ältere Tochter sagt mir oft, dass ich für sie mehr wie eine Schwester bin. Für meinen jüngsten Sohn wiederum bin ich die «SuperMama» – was auch immer das heissen mag. Wahrscheinlich, dass ich eben vieles bin – eine Mama, eine Schwester, eine starke Frau.»

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Surp rise-Porträt Genet Weldu, 50, verkauft Surprise in Zürich-Oerlikon und verbringt gerne Zeit mit ihrer Familie.
FOTO: BODARA
Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2023!

Surprise nimmt im Sommer 2023 mit zwei StrassenfussballNationalteams am Homeless World Cup in Kalifornien teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!

Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!

ACHTUNG, FERTIG, STRICKEN!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 4. Juni 2023 an: Surprise | Strassenfussball | Münzgasse 16 | CH-4051 Basel

Café Surprise – eine Tasse Solidarität

Zwei bezahlen, eine spendieren

Café Surprise ist ein anonym spendierter Kaffee, damit sich auch Menschen mit kleinem Budget eine Auszeit im Alltag leisten können. Die spendierten Kaffees sind auf einer Kreidetafel ersichtlich.

Bild: Ole Hopp Beteiligte Cafés oder bestelle die aktuelle Liste unter +41 61 564 90 90.
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