chen zu müssen. Manchmal frage ich Leute, die das Heft kaufen, wenn ich eine Schlagzeile in der Zeitung nicht verstehe. Sie stellen mir Fragen zu meiner Herkunft und meinem Land und ich versuche, es ihnen zu erklären» An diesem Abend haben es die Leute eilig. Dubad teilt sich den Platz auf dem Trottoir mit den Pflanzengestellen, in denen kümmerliche Papyrusstauden und weisse Christrosen angeboten werden. «Früher stand ich wenn es ganz kalt war im Durchgang, aber irgendwann hat der Hausbesitzer reklamiert. Seither stehe ich immer auf dem Trottoir, aber auch das geht. Ich ziehe mich warm an und war noch nie krank.»
Tour de Suisse
Pörtner in Zürich Höngg Surprise-Standorte: Migros Einwohner*innen: 20 423 Sozialhilfequote in Prozent (Stadt Zürich): 3,1 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 24,7 Multikulti: In Höngg leben Ausländer*innen aus 120 Nationen
Die Filiale der Grossverteilers ist nach einer berühmten Höngger Wein- und Chipsdynastie benannt. Hier verkauft Dubad Cabdulahl, gebürtiger Somalier, der aus seiner Heimat flüchten musste und seit 2004 in der Schweiz lebt, Surprise. Vor über zehn Jahren hat er damit begonnen. Die Migros Höngg war der erste Standplatz, der ihm zugeteilt wurde. Bis heute ist er ihm treu geblieben. «Mir gefällt es, obwohl es natürlich Plätze gibt, auf denen man mehr Umsatz macht. Hier habe ich viele Stammkunden, es sind sogar welche darunter, die seit zehn Jahren kommen. Auch mit dem Team von der Migros habe ich ein gutes Verhältnis, einige kenne ich nun auch schon seit vielen Jahren. Wir helfen einander, wenn es etwas zu tun gibt.» Er selber wohnt allerdings nicht im Quartier, sondern im Zürcher Oberland. Surprise 514/21
An diesem eher kalten Herbstabend ist Dubad gut eingepackt, er steht den ganzen Tag hier. Wenn er einmal zur Toilette muss oder sich aufwärmen geht, lässt er seinen Rucksack und den Kessel mit den Surprise-Heften stehen. «Ich hatte hier keine schlechten Erlebnisse, die Leute sind nett. Es gibt natürlich auch solche, die seit zehn Jahren an mir vorbeigehen, ohne mich anzuschauen oder je ein Heft zu kaufen. Andere kaufen nur an Weihnachten oder wenn sie das Thema interessiert. Einmal gab es ein Heft zu einem Thema, das einem älteren Ehepaar nicht gefallen hat. Seither kaufen sie das Heft nicht mehr. Es gibt aber auch viele Leute, die mir sagen, dass sie das Heft interessant finden. So entstehen auch immer wieder Gespräche, und ich habe auf diese Weise Deutsch gelernt, ohne je einen Sprachkurs besu-
Ein Nachteil für Dubad ist das Parkhaus, über das die Leute in den Laden gelangen, ohne an ihm vorbeizukommen. In zehn Jahren hat er fast keine Ausgabe zu verkaufen verpasst. «Der Titel ist sehr wichtig. Beliebt sind im Sommer die Literaturausgaben mit den Kurzgeschichten, die nehmen die Leute mit in die Ferien.» Er selber nimmt seine Ferien im Frühling. «Meine Familie ist in Äthiopien und Kenia, meine Frau ist Äthiopierin, ich sehe sie und meine Kinder nur einmal im Jahr. Ich aber bin dort – wie hier – immer etwas am Arbeiten. Ich unterstütze meine Verwandten, zum Beispiel helfe ich ihnen, wenn sie krank werden, oder beim Renovieren ihrer Häuser. Der Frühling ist die schönste Zeit dort.» Noch aber ist es Winter in Zürich Höngg und eine Frau mit zwei Kindern will ein Heft kaufen. Ihr gefällt die Zeichnung auf dem Titel.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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