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JAZZ
VON RALF DOMBROWSKI
Poesie und Gegenwart
Der Jazz wäre nicht das, was er ist, ohne seine theatralischen Ursprünge, das Vaudeville und die Minstrel-Shows, ist Cécile McLorin Salvant überzeugt. Ihr farbenprächtiger Liederzklus »Ogresse« handelt von einer Menschenfresserin – eine moderne Fabel im Jazzgewand
Cécile McLorin Salvant ist die Jazzstimme einer neuen Generation. Das klingt nach einem Superlativ lobender Ankündigungsprosa. Es spricht aber einiges dafür, dass sich die Behauptung auch belegen lässt. Denn Cécile McLorin Salvant ist eine Sängerin der künstlerischen Selbstermächtigung. Sie macht, was sie will, weil sie kann, was sie sich vorstellt. »Ogresse« ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist ein polymediales Projekt, eine Fabel, ein Animationsfilm, eine stilübergreifende Ensemblekomposition, Poesie und Bild, Klang und Geschichte. Der Plot erzählt von einer dunklen, furchterregenden Frauengestalt, einer Menschenfresserin am Rande einer Siedlung, die ihr Umfeld in Angst und Schrecken versetzt bis zu dem Tag, an dem jemand erscheint, der ihr Herz gewinnt. Es geht um Liebe, Leidenschaft, um Menschlichkeit und Konsequenz, ein Spiel mit Klischees, aber auch mit den Grenzen der Gefühle im Bild der Musik. Cécile McLorin Salvant hat die Fabel konzipiert, geschrieben und komponiert, sie singt und leitet ihr Ensemble gemeinsam mit Darcy James Argue. Inspiriert von Gemälden des haitiani-
schen Künstlers Gerard Fortune hat sie außerdem eine animierte Bilderwelt entworfen, die der musikalischen noch eine optische, in Lichteffekte übersetzte Ebene hinzufügt. Als Klangkörper hat sie ein 13-köpfiges Kammerensemble zusammengestellt, das ungewöhnliche und die Terrains überschreitende Toninszenierungen zulässt. Da ist zum einen das Mivos Quartet für die klassisch kammermusikalischen Farben. Vier Bläser bilden das jazzgetönte Pendant, zur Rhythmusgruppe gesellen sich Gitarre und Vibraphon, multiinstrumentale Ausflüge in Richtung Banjo, Oboe, Horn oder auch Melodika inbegriffen. Damit ermöglicht »Ogresse« einen Streifzug durch nahezu alle Soundgefilde der modernen, jazzigen, kammer- und weltmusikalischen Gestaltungswelt, in die Cécile McLorin Salvant ihre feinsinnig modulierende, von sanftem Soul bis theatralischer Wucht changierende Stimme einbetten kann. Und auch da fällt die Amerikanerin mit kulturell-familiären Wurzeln in Haiti und der Frankophonie aus dem Rahmen. Sie ist klassisch ebenso ausgebildet wie im Jazzfach und studierte außerdem Politologie und Jus in Frankreich, bevor sie sich auf die Musik konzentrierte und mit ihren Alben in kurzer Folge drei Grammys gewann. Ihre Programme sind oft thematisch gebündelt und widmen sich mythischen Figuren, starken Frauen, intensiven Gefühlen. Sie beinhalten oft eigene Texte und Kompositionen und wurzeln in einer Tradition dramaturgisch erzählenden Jazzgesangs, wie ihn etwa Betty Carter oder Abbey Lincoln entwickelt hatten, werden aber durch Elemente aus Soul und Chanson, Folk und Spoken Word ergänzt. Man spürt die Theaterwelt im Gesang ebenso wie die Kraft, formale Grenzen künstlerisch zu ignorieren. Und dieses ganze Spektrum wird mit der Leichtigkeit der Selbstverständlichkeit präsentiert. Damit wirkt Cécile McLorin Salvant eben wie die Protagonistin einer neuen Generation, so selbstbewusst wie unaufgeregt im Verkörpern der Vielfalt.